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Wenn nur ein Ereignis im Leben zum Scheideweg der eigenen Zukunft wird, kann es ein großes Glück sein, den Neuanfang mithilfe schlummernder Erinnerungen wagen zu dürfen. Franziska, eine Frau wie du und ich und doch so ganz anders, so glaubt sie. Diese erkennt erst spät durch die gerade überlebte Katastrophe, bei der sie ihr eigenes Ich komplett verliert, welcher unwiederbringliche Schatz die eigene Persönlichkeit sein kann. Egal, wie schräg und ungewöhnlich diese dem Beobachter auch erscheinen mag. Schmunzelnd, sich bequem zurücklehnend, kann man sich in diesen Episoden und Geschichten, welche dieses Leben schrieb - und jede Einzelne vollgeschtopft mit jeder Menge Abenteuer und ebensoviel Erotik - durchaus verlieren ... Wozu es hierfür jedoch eine Parkbank braucht? Nun, der Leser wird es sicher herausfinden ...
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Seitenzahl: 394
Veröffentlichungsjahr: 2019
Franziska - Eine Reise in die Zukunft
… wenn Bäume reden könnten …
Heike Gehlhaar
©2019 Heike Gehlhaar
Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN:
978-3-7482-8475-8 (Paperback)
978-3-7482-8476-5 (Hardcover)
978-3-7482-8477-2 (e-Book)
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Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Nicht alles, woran wir glauben, uns zu erinnern, hat auch einen realen Hintergrund. Doch immer dann, wenn Erinnerungen und Realität miteinander verschmelzen, werden daraus unbezahlbare Geschenke des Lebens … Dieses Buch ist all’ den Menschen gewidmet, die sowohl real als auch Erinnerung sind und deshalb niemals vergessen werden …
Diese Geschichte folgt der grenzenlosen Fantasie des Erzählers. Tatsachen und Fiktion fließen nahtlos ineinander. Es braucht keine Grenze; diese ist auch nicht gewollt. Deshalb sind jegliche Ähnlichkeiten mit realen Personen oder Orten rein zufällig und von der Autorin nicht beabsichtigt.
Autorin
Durch einen Schicksalsschlag entdeckte Heike Gehlhaar die Lust am Schreiben. Um sich zu beschäftigen, schrieb sie ihren ersten Roman. Mit ihrer Familie wohnt die 51-jährige Autorin im grünen Herzen Deutschlands.
Prolog
Ein kalter, grauer Montag. Nicht anders zu erwarten im Februar. Etwas nervös stand ein junges Mädchen auf dem neuen Schulhof und wusste nicht so recht wohin. ”Bin wohl etwas früh?”, dachte sie. Nun, nicht ungewöhnlich für eine wie Franzi. Denn als Sportler musste sie generell auf Pünktlichkeit achten. ”Sportler …!” Naja, ganz so freiwillig war das damals eben nicht. Das sich dieses unangenehme Gefühl, allein bei dem Gedanken an Sport, sofort bei ihr breitmachen konnte, lag wohl daran, dass sie seit frühester Kindheit nichts anderes kannte wie Training, Disziplin und immer wieder Wasser. Doch damit war ja nun endgültig Schluss. Sie hatte sich geschworen, niemals wieder eine Schwimmhalle zu betreten. Was für ein Irrtum!
Ein Schulwechsel im Halbjahr, erscheint zunächst etwas ungewöhnlich, aber als sie die Entscheidung getroffen hatte, den Leistungssport aufzugeben, wurde das Verlassen der Sportschule unumgänglich. Langsam füllte sich der Schulhof. Zu jener Zeit war es noch üblich, zu Beginn eines jeden Halbjahres einen Appell zu veranstalten. Alle Klassen standen im Halbkreis, vorn das Lehrerkollektiv und der Direktor. Man spielte ein kämpferisches Lied, ebenfalls durchaus üblich, und nach einer kurzen Ansprache wurden neue Lehrer und Schüler vorgestellt.
So stand sie nun neben Lehrern und zwei neuen Schülern, die ebenfalls vorgestellt werden sollten. Starr vor Kälte, schien es, als würde das Ganze eine Ewigkeit dauern. Endlich war Franzi an der Reihe. Der Direktor ging zum Mikrofon und stellte sie vor. In kurzen Sätzen nannte er Name, zukünftige Klasse, und so ganz nebenbei erwähnte er, dass sie aus privaten Gründen den Schwimmkader der Jugendmannschaft verlassen hatte, und wünschte ihr einen erfolgreichen Neustart.
In diesem Augenblick fühlte sie zwei neugierige Augen auf sich gerichtet. Rechts neben ihr stand ein junger Mann, nicht sehr groß, scheinbar Anfang zwanzig. Er musste sich etwas vorbeugen, um sie gut sehen zu können. Sie sah sich um und plötzlich trafen sich ihre Blicke. Freche, große, neugierige blaue Augen lächelten sie an. Etwas Seltsames begann, sich in ihr zu regen. So neu wie die gesamte Situation, so neu und zugleich aufregend war nun auch das für sie. Kein Wunder und durchaus verständlich, wenn man gerade einmal vierzehn Jahre alt ist. Auch wenn es ihr allmählich unangenehm wurde, so konnte sie sich doch nur schwer von diesen Augen abwenden. Eine gefühlte Ewigkeit fesselte sie dieser Blick und achtunddreißig Jahre später sollte sie genau wieder in diese Augen sehen.
… frech, groß, neugierig und so blau …
Kapitel 1
Fünfunddreißig Jahre später …
Eine Spezialklinik mitten im Wald …
Wieder war es Februar und wie damals kalt und dunkel. Vor ihrem Fenster fielen große weiße Flocken.
Franzi saß auf ihrem Bett und wollte gar nicht hier sein. Vier lange Jahre Quälerei lagen hinter ihr, eigentlich hatte sie lange aufgegeben. Von dem, was sie einst ausmachte, war nicht mehr viel übrig. Nach diesem fürchterlichen Unfall war nichts mehr so wie zuvor. Oh, mit den Schmerzen konnte sie umgehen. Das hatte man ihr vor langer Zeit beigebracht. Aber fühlen konnte sie nichts mehr. Wut und der immerwährende Gedanke an Flucht waren jetzt ihre ständigen Begleiter. Einst ein geborener Sonnenschein, immer gut gelaunt und nicht unterzukriegen. Sie hatte keine Erklärung für ihren Zustand. Am meisten quälten sie aber diese immer wiederkehrenden aggressiven Gefühle, unkontrollierte Wutausbrüche, die sie überfielen, wann immer sie sich eingeengt fühlte. Und nun sollte ihr eine Psychologin darüber hinweg helfen.
Nach ein paar Tagen kam sie nun zu ihrem ersten Termin. Sie hatte den festen Vorsatz, gleich wieder zu gehen. Der Drache, der in ihr tobte, breitete schon seine Flügel aus, als sie den Raum betrat. Doch die Frau, die ihr gegenübersaß, zog Franzi sofort in ihren Bann. Die Psychologin war eine kleine Frau, mittleren Alters und schwer körperbehindert. ’Geburtsfehler’, dachte sie. Doch all’ das schienen diese klugen Augen, deren Blick Franzi sofort wie Nadeln fixierte, nicht zu stören. Dieses Selbstbewusstsein und die enorme Willenskraft, die diese Frau ausstrahlte, erschreckte sie. Jegliche Wut erstickte im Keim.
”Na, Frau Ullmann”, fragte diese aufgeweckt. ”Was kann ich denn für Sie tun?” Und schon spürte sie wieder diese fürchterliche Enge …
”Ich glaube nicht, dass Sie irgendetwas für mich tun können”, sagte Franzi in einem Ton, der so nicht beabsichtigt war. ”Es sei denn, Sie können mir mein altes Leben zurückgeben! Und außerdem bin ich nur hier, weil man es von mir verlangt hat. ”Stille … ”
Diese aufmerksamen Augen ließen sie nicht los. Nach einer gefühlten Ewigkeit kam endlich eine Reaktion auf diese unmögliche Provokation.
”Sagen Sie … Was macht Sie eigentlich so sicher, dass ich das nicht kann? Geben Sie mir einfach eine Chance, zunächst muss ich doch erst einmal wissen, wie Ihr früheres Leben so war. Erzählen Sie doch mal davon …”
Und plötzlich wurde Franzi ruhiger. Vertrauen konnte man das kleine Pflänzchen noch nicht nennen, das gerade begann zu wachsen. Und doch fing Franzi langsam an, zu erzählen …
Still, ohne sie zu unterbrechen und sehr aufmerksam, hörte die Psychologin zu. Als eine Pause entstand, holte diese Luft, beinahe klang es wie ein leises Stöhnen. Doch vielleicht war es auch eher Erleichterung als Sorge. ”Also”, begann sie. ”Wir können es kurz machen. Ich denke, ich weiß, wo Ihr Problem liegt. Das heißt, ich sage Ihnen, was passiert ist. Im Grunde ist es ganz einfach. Sie sitzen noch immer in diesem Unfallwrack und sind nie ausgestiegen!”
Fassungslos starrte Franzi die Psychologin an, die sie lächelnd anschaute. Sie schwankte zwischen Neugier und Zweifel. Entschied sich aber dann schnell, auf großen Abstand zu dieser krassen Diagnose zu gehen.
”Das ist doch total verrückt”, dachte sie. Franzi wusste zwar, dass mit ihrem Kopf einiges im Argen war, aber das …
”Okay, okay”, fuhr die Psychologin lächelnd fort. ”Ihr riesiges Ego hat Sie beschützt, warum weiß ich im Moment noch nicht. Aber dafür kenne ich Sie auch noch zu wenig. Es sieht so aus, als hätte Ihr Körper sehr gut reagiert auf diese lebensbedrohliche Situation, hat alles ausgeschaltet, was ein Überleben schwieriger machen könnte. Zum Beispiel alle Emotionen. Nun hat er aber später, als die Gefahr vorüber war, die Emotionen nicht wieder zugelassen. Heißt, Ihr Körper benimmt sich noch immer so, als wären Sie in einer lebensgefährlichen Lage. Ich sage Ihnen, was wir machen, ich öffne Ihnen die Tür und Sie steigen einfach nur aus. Verstehen Sie? Wir müssen Ihren Körper davon überzeugen, dass die Gefahr vorüber ist und er Sie jetzt freilassen kann!”
”Na super”, dachte Franzi. ”Die ist ja noch verrückter als ich. Und wie bitte soll das gehen?” Als hätte die Psychologin gehört, was Franzi gerade durch den Kopf ging, fuhr diese lächelnd fort.
”Wir schauen einmal, was Sie in den nächsten Wochen für Therapien haben.” Dabei stand sie mühevoll auf und hüpfte mehr als sie ging, wie selbstverständlich um den Tisch herum zum gegenüberstehenden Schreibtisch und setzte sich an den Rechner.
”Na, das passt ja super”, frohlockte sie. ”Entspannung, das könnte funktionieren!”
”Entspannung, toll!”, dachte Franzi. ”Und was genau soll das bringen?” Sie konnte sich überhaupt nicht mehr erinnern, wie sich ein paar entspannte Minuten anfühlten. ”Und das als Therapie, das kann ja nur schief gehen!” Ihre Gedanken überschlugen sich geradezu.
”Oh, ich kann Ihre Zweifel sehen, aber schauen Sie. Erfahrungsgemäß reagiert jeder Mensch anders auf solch’ eine Therapie. Die Einen erinnern sich, Andere träumen, wieder Andere erleben ein vergangenes Trauma neu. Doch in Ihrem Fall ist es im Grunde egal. Die Hauptsache, wir wecken eine Emotion, die nicht Wut oder Flucht beinhaltet. Wenn uns das gelingt, haben wir einen Ansatz, mit dem wir gut arbeiten können. Vertrauen Sie mir, ich habe schon einige Patienten erlebt, denen es auf diese Weise gelungen ist, zurückzukehren.”
Später, in ihrem Zimmer, kam sich Franzi nun noch verwirrter vor. Doch da ihr Leben so, wie sie es wollte, ohnehin vorbei war, konnte ihr auch egal sein, was man hier mit ihr veranstaltete.
Tage später, als Franzi ihren Wochenplan aus dem Kasten nahm, erfasste sie Panik. So schlimm wie jetzt war es schon lange nicht mehr. Diese Panik bereitete ihr Schmerzen, reale Furcht überkam sie, als sie las, wer für diese Art Therapie vorgesehen war. Um frische Luft zu bekommen, öffnete sie das Fenster und schaute den weißen Flocken zu, die leise auf das Fensterbrett rieselten. Langsam kam nun die Erinnerung an etwas, das bereits vier Jahre zurücklag …
Kapitel 2
Zehn Tage nach dieser schwierigen Operation schickte man sie bereits in eine Rehaklinik. Erstaunlich, wie schnell man einen Menschen wieder zusammenflicken kann. Mit diesen Gedanken saß Franzi auf ihrem Bett. Das ganze Leben auf den Kopfgestellt, und es sollte noch schlimmer kommen.
Zwei Wochen quälte sie sich nun schon, um einigermaßen wieder für ein normales Leben fit zu werden.
Jetzt stand eine Therapie an, die sie auf den Alltag vorbereiten sollte. Solche Dinge wie Strümpfe und Schuhe anziehen standen auf dem Stundenplan. Es war beinahe zum Lachen, nichts ging mehr von allein. Als Franzi nun am Therapie-Treffpunkt wartete, kam da ein junger Mann um die Ecke, groß, schlank und voller Tatendrang.
”Und der soll nun das Wunder vollbringen?”, dachte sie. Wenig später versicherte ihr dieser, dass er schon so manchem Patienten wieder auf die Beine geholfen habe. Am Abend erfuhr Franzi von anderen Patienten, dass man diesen jungen Mann ’den Herrn fürs Grobe’ nannte. Er wird oft bei vermeintlich schwierigen Fällen hinzugezogen. Offensichtlich eilte Franzi ihr Ruf bereits voraus.
Patrik hieß dieser vermeintliche Heilsbringer. Patrik, was für ein Name! Innerhalb kürzester Zeit lernte Franzi, diesen jungen Mann zu hassen. Wie beschreibt man einen solchen Menschen? Etwa dreißig Jahre alt, studierter Sportlehrer mit Sonderausbildung Sporttherapie, krankhafter Ehrgeiz, gepaart mit unnachgiebigem Durchsetzungsvermögen und ausgeprägtem autoritären Verhalten.
Was auch immer sie tat, nichts konnte ihn von seinem Ziel abbringen. In Seelenruhe wartete er jeden Weinkrampf, Wutausbruch und schlimmste Beschimpfungen der Patientin ab. Gelassen setzte er sich auf eine kleine Mauer, die das Kneippbecken, an dem sie sich stets trafen, umgab.
”Bist du jetzt fertig?”, fragte er. Dabei sprühten seine Augen von unnachgiebiger Strenge. ”Gut, dann fangen wir halt noch einmal von vorne an!” Wenn Franzi in diesem Augenblick ein Gewehr gehabt hätte, ganz sicher hätte sie ihn erschossen. Irgendwann, in dieser ewig dauernden Woche, nach endlosen Diskussionen, schien auch er einigermaßen erschöpft zu sein. Vermutlich baute sich in ihm die gleiche Abneigung auf wie in ihr.
”Also gut”, sagte er. ”Wenn du es schaffst, ohne meine Hilfe deine Strümpfe und Schuhe anzuziehen, mit feuchten Füßen, dann hören wir auf!”
Das war alles, was sie hören musste. Wieder erwachte in Franzi der Drache, der mehr als dreißig Jahre geschlafen hatte. Wie lange sie mit Socken, Handtuch und Schuhen in der Dusche zubrachte, konnte sie später nicht mehr sagen. Aber nach einer Woche schmerzhaftem Training war sie ihn los. Doch nur vorübergehend.
”Okay”, sagte er. ”Super, ich bin stolz auf dich, da können wir uns ab nächste Woche in der Schwimmhalle treffen. Da bringen wir dir das Rückenschwimmen bei!”
Diesmal lag der Irrtum auf seiner Seite. Franzi hatte geschworen, nie wieder eine Schwimmhalle zu betreten. Dreißig Jahre war es ihr auch gelungen, daran festzuhalten. Sogar den eigenen Kindern brachte sie das Schwimmen im Freibad bei. Und nun alles auf Anfang. Sie hasste es schon, wenn sie nur die Halle betrat. Allein der Geruch von Chlor und Quälerei erinnerte sie an manch’ verhasste Trainingseinheit.
Aber am Ende folgte Franzi ihm doch. Was blieb ihr auch anderes übrig? Patrik hätte ohnehin seinen Plan gnadenlos durchgesetzt. Doch als sie die Füße ins Wasser steckte und sich auf den Rücken legte, erlebte sie ein Déjà-vu. Dieser Körper, von den Strapazen der vergangenen Operationen gepeinigt, steif und unbeweglich, entspannte sich plötzlich. Und als ob es die letzten dreißig Jahre nicht gegeben hätte, erinnerte sich dieser an jede Bewegung, die er bereits im Alter von drei Jahren gelernt hatte. Franzi lag ruhig und entspannt auf dem Rücken und verspürte plötzlich kaum noch einen Schmerz.
In diesem Augenblick trafen sich die Blicke von Patientin und Therapeut. Staunend sah Franzi in diesen sonst so strengen, unerbittlichen Augen ein strahlendes Lächeln. ”Sehr gut”, sagte er. ”Damit bin ich zufrieden, mehr will ich gar nicht. Auch wenn ich denke, du kannst mehr!” Das geübte Auge des Sportlehrers hatte natürlich augenblicklich die professionell erlernte Technik gesehen. Sofort war die Mauer wieder da. Aber dieses Mal trat er einen Schritt zurück und beließ es dabei.
Von nun an bestimmte wieder Wasser ihren Alltag, zunächst sehr widerwillig, auch kehrte sie oft um, wenn ihre Nase das Chlor wahrnahm. Aber irgendwann gewann die Sehnsucht nach ein paar Minuten schmerzfreier Zeit die Übermacht und Franzi gewöhnte sich allmählich an den regelmäßigen Gang zur Schwimmhalle. Nur zu Einem war sie nicht bereit. Mehr zu tun, als sich treiben zu lassen, Brustschwimmen rückwärts gewissermaßen.
Und so kam es, dass sie nun vier Jahre später wieder in diese strengen Augen sah, die sie eigentlich lange vergessen hatte.
Die erste Therapie und nun das, wo doch für Franzi ohnehin alles egal schien. Sie legte sich wie gewohnt aufs Wasser und ließ sich treiben, ohne irgendetwas zu tun und genoss die kurze Zeit der Entspannung, die der Körper ihr erlaubte. Am Ende der Therapie sah Patrik sie frustriert und wütend an.
”Ist das alles, was du in den vier Jahren fertiggebracht hast? Ich habe wirklich geglaubt, du machst etwas aus deinem riesigen Potenzial!”
Innerhalb von Sekunden erwachte der Drache in ihr. Was bildete sich dieser Schnösel überhaupt ein? Franzi war mindestens fünfzehn Jahre älter und immer noch Patientin mit riesigen Problemen und kein Leistungssportler mehr.
Von nun an wurden die beiden zu Hund und Katze. Wo auch immer sie miteinander zu tun bekamen, hielt Franzi mit ihrem Ärger nicht hinterm Berg. Ohne Schonung sagte sie Patrik ganz klar, was ihr adrenalingeschwängertes Ego von ihr verlangte. Sie setzte ihm klare Grenzen und begann, eine Mauer um sich herum zu bauen, die mit jedem Tag ein Stück größer wurde.
Und nun hielt Franzi diesen Wochenplan in den Händen. Ja, da stand es schwarz auf weiß, bei Patrik sollte sie sich nun entspannen und dabei den Weg zurück finden.
”Das gibt keine Entspannung, sondern eine Prügelei!”, sagte Franzi der kleinen Psychologin, vor deren Tür sie umgehend stand. ”Warum?”, fragte diese völlig gelassen, was Franzi nur noch mehr in Panik versetzte. Sie spürte, wie ihr Herz zu rasen begann und wie sich ihre Atmung beschleunigte. Am Ende ihrer Kräfte erzählte sie ihr nun endlich von Patrik. ”So”, sprach diese. ”Sie duellieren sich also ständig mit dem Therapeuten? Und wer gewinnt für gewöhnlich diesen Kampf?”, wollte sie noch wissen. ”Er”, stöhnte Franzi. ”Er hat das größere Ego!” Ein schelmisches Lächeln umspielte plötzlich die rosa Wangen der Psychologin. ”Ich denke, dieser junge Mann ist genau der Richtige für diese Aufgabe!”
”Hat sie nicht zugehört?” Jetzt lief Franzi Gefahr, dass die Panik sie übermannte.
”Hören Sie, Sie werden wenigstens eine Therapiestunde besuchen, das muss ich verlangen! Das ist für uns eine große Chance. Wenn Sie es dann nicht mehr aushalten können, werden wir uns etwas anderes überlegen!”
Und deshalb stand Franzi nun vor dieser Tür, halb zitternd, panisch und auf Flucht programmiert. Mit ihr noch fünfandere Patienten voller Begeisterung und Ungeduld auf eine Stunde Ruhe und Entspannung. Wenig später kam Patrik um die Ecke geflitzt. Da die Wege innerhalb der Klinik fürchterlich weit werden konnten, bewegte sich das Personal meist im Laufschritt vom einen Ende zum Anderen. Einige Therapeuten nutzten diese täglich als Lauftraining. Die Klinik verfügte sogar über eine beachtliche Mannschaft, die regelmäßig gemeinsam und durchaus sehr erfolgreich an diversen Wettkämpfen in der Umgebung teilnahm.
Insbesondere bei Patrik handelte es sich um einen sehr ehrgeizigen Sportler. Ständig mit seinem Training vor Augen, vergaß er nur allzuschnell, dass er es hier keineswegs mit Sportlern, sondern mit Patienten zu tun hatte.
Strahlend und gut gelaunt begrüßte er seine Patienten. Franzi bemerkte es sofort, irgendetwas ist heute anders. ”Wo hat er sein riesiges Ego?”, fragte sie sich. ”Hat er wohl im Spind gelassen? Was sollte denn das?” Ungläubig beobachtete Franzi den jungen Mann. Wenig später saßen sich alle im Kreis gegenüber. Patrik erklärte den Patienten, was man unter Entspannungstechniken versteht und was sie alle in den nächsten drei Wochen erwartete. ”Drei Wochen!”, dachte Franzi, ”oh Gott, nein! Wie soll das gehen, und immer eine volle Stunde? Also, wenn die Frau Doktor denkt, dass ich mir so etwas antun werde, dann liegt sie aber völlig daneben!”
Wie ein wildes Tier suchte sie nach einem Fluchtweg. Um so mehr Patrik erklärte, was er mit ihnen vorhatte, umso nervöser wurde Franzi. Das Atmen fiel ihr schwer und der Puls fing an, zu rasen. Mehrfach betonte dieser, wobei er Franzi direkt in die Augen sah, dass er nach dieser ersten Therapiestunde von niemandem erwartete, dass er wiederkam. Denn er wusste aus Erfahrung, Entspannungstherapien sind nicht für jeden Patienten geeignet. Leider konnte Franzi von diesem Angebot keinen Gebrauch machen. Sie musste bleiben, schließlich erwartete man es von ihr. Möglicherweise dachte Patrik ähnlich wie Franzi, denn offenbar befürchtete er, sie würde ihm die Veranstaltung aufden Kopfstellen. Er wollte die aufsässige Patientin so schnell wie möglich loswerden. Und diese wäre nur zu gern gegangen. Doch das durfte sie leider nicht.
Das Einzige, was sie tun konnte, so viel Abstand wie möglich zwischen sich und ihren vermeintlichen Peiniger zu schaffen. Deshalb baute sich Franzi ein Bett direkt an der Tür. Bestehend aus mehreren Decken und Kissen, versuchte sie, es sich einigermaßen bequem zu gestalten. Aus dem Augenwinkel bemerkte Franzi, wie Patrik sie beobachtete und dabei leicht mit dem Kopf schüttelte. Doch zum Glück ließ er sie dieses Mal gewähren, ohne weiteren Kommentar. Nur nicht ansprechen. Das schien von nun an seine Devise zu sein.
Alle Patienten lagen nun auf dem Boden, jeder so bequem, wie er es brauchte. Denn hier ging es um Wohlfühlen und Genießen, um sonst nichts. Aber davon war Franzi in diesem Moment meilenweit entfernt. Patrik setzte sich im Schneidersitz auf eine Massageliege, dann begann er mit den Worten: ”Schließe deine Augen!”
Diesen Augenblick sollte Franzi nie im Leben wieder vergessen. Denn zum ersten Mal in den vergangenen vier Jahren beruhigte sich ihr Körper. Innerhalb von Sekunden hüllte sich ihr Ego in Schweigen. Es schien, als würde es sich fügen, wie ein Löwe, der sich in die Mittagssonne zum Schlafen legte. Sie bekam ein Gefühl von Geborgenheit und dabei umfing sie eine Sicherheit, die sie so sehr vermisste. Aber warum? Wegen drei kleiner Worte? Franzi hatte keine Ahnung, was hier vorging. Im Grunde konnte es ihr auch egal sein. Wie ein Ertrinkender folgte sie Patriks leiser, beinahe zärtlicher Stimme und ließ sich entführen in eine Traumwelt. Ohne Gegenwehr würde sie ihm folgen bis ans Ende der Welt. Diese sanfte, leise Stimme wirkte wie eine Hypnose.
Patrik erzählte seine Geschichte gekonnt, mit Pausen und entsprechenden Wiederholungen. Dabei gab er ihr unbewusst das Gefühl, er könne sie beschützen, wann immer sie loslassen müsse.
Am Ziel einer solchen Geschichte sollte es dem Patienten möglich sein, Schmerz, Wut und alle damit verbundene negative Gefühle in ein fiktives Kästchen zu stecken, dieses in einen leeren Raum zu stellen, den Raum zu verschließen und sich dann zu entfernen. Als Nächstes malte sich jeder Patient ein Bild mit seinen Lieblingsfarben. Dieses Bild sollte nun das Kästchen mit all dem Schmerz und der damit verbundenen Wut ersetzen. Das Erlernen einer solchen Technik ermöglichte es einem Patienten, mit seinem Schmerz oder anderen Belastungen umzugehen und somit eine Erleichterung zu erfahren.
”Bitte stell’ dir jetzt ein Kästchen vor!”, flüsterte Patrik.
Und was Franzi nun erlebte, wird sie niemals verstehen, egal wie es auch die Psychologen zu erklären versuchten. Als das Wort ’Kästchen’ fiel, hörte sie den Therapeuten nicht mehr. Stattdessen vernahm sie eine Stimme, die ihr bereits vor mehr als dreißig Jahren regelmäßig eine Gänsehaut verpasste.
”Stell’ dir bitte ein Kästchen vor. Dieses öffnen wir und alles, was du jetzt fühlst, jedes Wort, das ich dir eben gesagt habe, vertrauen wir diesem Kästchen an. Wir werden es verschließen und du bewahrst es auf. Und sollte es dir eines Tages nicht gut gehen, hole es hervor, öffne es und dann wirst du dich erinnern …!”
”Was geschieht hier?” Es fühlte sich an, als würde sich ein Fenster öffnen und die Nebel lichteten sich. In den nächsten Minuten begann Franzi, sich zu erinnern.
Fünfunddreißig Jahre lag diese Erinnerung zurück, wie konnte das sein? Und vor allem, wie kann man so etwas völlig vergessen? Und mehr noch, nicht nur, dass Franzi seine Stimme hörte - nein, sie konnte ihn sogar riechen. Alles fühlte sich so an, als hätte sie es gerade erlebt. Dann plötzlich, wie aus heiterem Himmel, vernahm sie Worte, die sie fortan verfluchte.
”Ich werde jetzt von fünf rückwärts zählen, bei null wirst du zurückkehren und deine Augen wieder öffnen. Fünf, vier… ”, alles in Franzi begann, sich zu wehren.
”Nicht zählen! Hör’ auf damit! Ich will nicht zurück …!” ”Und null … öffne nun bitte deine Augen!” Sie öffnete schweißgebadet ihre Augen und seltsamerweise war Patriks Blick auf sie fixiert, ganz so, als hätte er Franzis Erinnerungen mitangesehen.
Von nun an fragte sich Franzi am Ende einer jeden Stunde, was er gesehen hatte. Doch von diesem Augenblick an, begann sich zwischen beiden ein unsichtbares Band zu bilden, das sie für lange Zeit verbinden sollte. Seine staunenden, fragenden und lächelnden Augen sahen Franzi an. Wärme machte sich in ihr breit und Dankbarkeit. Wie war so etwas möglich? Noch vor einer Stunde wollte sie Patrik erschießen, wenn sie die Möglichkeit dazu bekommen hätte. Und jetzt konnte sie für Sekunden ihren Blick nicht von diesen lächelnden Augen abwenden.
Zunächst glaubte Franzi, von nun an würde sich Patrik immer so verhalten. Doch auch das stellte sich schnell als großer Irrtum heraus. Denn bereits bei der nächsten Therapie benahmen sich beide wieder wie Hund und Katze, ganz so, als hätte es diese erste entspannende Stunde nie gegeben.
Zumindest die Psychologin bemerkte sofort die Veränderung, die Franzi ausstrahlte. Auch wenn sie es selbst noch nicht richtig wahrnahm, sie begab sich auf einen guten Weg. Lächelnd gestand die junge Frau ihrer Patientin, dass sie mindestens genau so aufgeregt gewesen sein muss. Über die gesamte Stunde erwartete sie Franzi vor ihrer Tür, wutentbrannt und nicht zu beruhigen. Mit diesem Geständnis wuchs jedoch das Pflänzchen des Vertrauens allmählich zu einem stattlichen Baum. Endlich, seit mehr als vier Jahren, begann Franzi, wieder einem Menschen zu vertrauen. Man sagt zwar, Psychologen seien in ihrem Beruf nur deshalb so gut, weil sie oft selbst ein großes Problem mit sich herumtragen. Da ist sicher auch etwas dran, nur spielte das jetzt für diese zwei Frauen keine Rolle mehr. Franzi begab sich auf den Weg zurück, und langsam bekam sie eine Ahnung davon, dass diese Tragödie nicht nur Schlechtes mit sich brachte. So hätte sie diese wunderbaren Momente und verrückten Erinnerungen nicht wiederfinden und erleben dürfen. Menschen wie Patrik und die Psychologin Steffi Roberts wären ihr nie begegnet, welch’ ein großer Verlust.
In jeder neuen Therapiestunde erinnerte sich Franzi mehr. Dabei fühlte es sich an wie Achterbahn fahren. Doch am aufregendsten empfand sie dieses hintergründige, freche Lächeln, das ihr jedes Mal entgegen strahlte, wenn sie bei ”null” die Augen öffnete. Dieses war schon lange nicht mehr das Lächeln eines Therapeuten, nein, hier kam ein Mann zum Vorschein, aufregend, fordernd, neugierig und verführerisch zugleich.
Was dachte er? Konnte Patrik spüren oder gar sehen, was Franzi erlebte? Wie selbstverständlich gab er ihr immer mehr Zeit, um zurückzukehren. Völlig ungewöhnlich für einen, der so korrekt seinen Job versah, wie Patrik. Irgendwann kam er regelmäßig zu spät zur nachfolgenden Therapie. Was ging hier vor? Eines Tages begann er sogar, ihr von sich zu erzählen, seiner Vergangenheit, Erlebnisse aus der Studienzeit und Dinge aus seinem Privatleben. Dabei war es kein Geheimnis, dass dieser Therapeut, außer Fakten zu therapeutischen Zwecken, nie etwas von sich preisgab. Nicht, dass es da etwas zu verbergen gab. Doch Patrik war ein Mann, der Privates und Dienstliches streng auseinanderhielt. Umso erstaunter war Franzi, als er sie um Rat im Umgang mit der Freundin bat. Durch die Blume gab er ihr zu verstehen, dass er sich gern in Franzis Nähe aufhielt, obwohl er es sich nicht erklären konnte. Und so ganz nebenbei wuchs seine Neugier. Mehr und mehr spiegelte es sich in diesen aufgeweckten Augen wieder. Offensichtlich gab es hierfür auch einen Grund.
Auf ihren langen Spaziergängen durch den nahe gelegenen Forst, versuchte Franzi zurückzudenken, um herauszufinden, wie diese pikante Geschichte eigentlich begann, an die sich ihr Ego so vehement zu erinnern versuchte.
Kapitel 3
Fünfunddreißig Jahre zuvor auf einem Schulhof …
Damals trafen sich Blicke, neugierig und mit einer Spur Erotik. Der junge Mann, der Franzi ganz offiziell bestaunte, entpuppte sich als ein neuer Sport- und Literaturlehrer. Frisch vom Studium, fünfundzwanzig Jahre alt und hörte auf den Namen Manfred Krüger. Er übernahm die derzeitige neunte Klasse, Franzi, ein Jahr jünger, kam in die Achte. Mit ’Manne’, wie man ihn schnell liebevoll nannte, hatte Franzi im Schulbetrieb nichts zu tun. Aber das machte es nicht weniger verboten.
Nun war sie nicht irgendeine Schülerin. Nach dem Verlassen der Sportschule wurde sie an der neuen Schule von Staatswegen immer mit einer extra Aufsicht bedacht. Schließlich hatte man viele Jahre in dieses Mädchen investiert, und das sollte nicht umsonst gewesen sein. Das eigentliche Problem stellte das Elternhaus dar. Vater Musiker und die Mutter Betriebsteilleiterin in einem der größten Unternehmen des Landes. Eine explosive Partnerschaft, die zunehmend in Alkoholexzessen endete. Nun waren Kinder aus Elternhäusern mit Alkoholproblemen in dieser Zeit durchaus nichts Ungewöhnliches und auch nicht selten. Doch hier lagen die Dinge etwas anders. ”Weil eben nicht sein kann, was nicht sein darf!” Schlussendlich wurde die Lehrerschaft damit beauftragt, auf ihr Mündel achtzugeben und dieses entsprechend staatlicher Vorstellungen zu erziehen.
Die Hauptlast trug Frau Uta Gerst, Klassenleiterin und Lehrerin in Deutsch und Biologie. Ein mütterlicher Typ Ende vierzig. Weil sie selbst spät erst eine Tochter bekam, wusste diese sofort, was auf sie zukam. Ihr eigenes pubertierendes Kind war eine echte Plage und kostete jede Menge Nerven. Zwei von dieser Sorte musste man nun wirklich nicht haben. Doch was sollte sie tun? ’Parteiauftrag ist eben Parteiauftrag’. Es dauerte aber nicht lange, da kam ihr der Zufall zu Hilfe.
Dieser neue Sportlehrer bot sich schnell als Lösung für ihr Problem an. Jung, enthusiastisch, ehrgeizig und voll neuer Ideen, ein neuer Besen im alten Gemäuer.
Die neueste Idee sollte das bald anstehende internationale sportliche Groß-Event an die Schule holen. Er verstand es, die ’Seinen der 9a’ zu begeistern. Wandzeitungen, Veranstaltungen, Basars, oh, es fehlte nicht an ausgefallenen Vorschlägen. Und dann gab es ja auch noch diese kleine freche Göre mit den großen blauen Augen, die einen Eindruck vermittelten, als würden sie gar nicht zu ihrem Alter passen. Wissend, erfahren und fordernd, schauten sie in die Welt, und Franzi wusste bereits, diese für ihre Zwecke einzusetzen.
So viel Frechheit faszinierte Manne, wobei ihm sofort klar wurde, auf welches Risiko er sich dabei einließ. Trotzdem - Versuch macht klug - dachte er sich. Schließlich verfügte dieses Mädchen über die richtigen Verbindungen und Informationen für seine wichtigen Projekte. Zugang zu echten Trainingszentren, Trainingsplänen und vielem mehr, was ihn so ungemein interessierte.
Und so kam es, dass Manne sie für die Umsetzung seiner Pläne dazuholte. Obwohl ein Jahr jünger, fiel es ihr leicht, die Älteren mit ihrer Persönlichkeit in den Bann zu ziehen. Staunend beobachtete Manne, wie alle ihr bedingungslos folgten. Wie konnte das sein, wie sollte man in diesem Alter eine solche Reife erklären? Unfassbar, ein erwachsener Geist in dem Körper eines Kindes.
Mit einem Wunder hatte diese Tatsache allerdings nur wenig zu tun. Seit man Franzi mit drei Jahren praktisch dem Leistungssport überließ, war sie stets nur von Erwachsenen oder Halbwüchsigen umgeben. Jeder vom Ehrgeiz zerfressen und nur sein eigenes Weiterkommen im Sinn. Für eine verspielte Kindheit gab es da nur selten Platz. Dieses große Selbstbewusstsein, ihr Freiheitsdrang kam also nicht von ungefähr und war keineswegs gottgegeben, aber ebenso oft überlebensnotwendig.
Franzi genoss über eine lange Zeit den Schutz ihres Trainers, der irgendwann auch das Elternhaus ersetzen musste, als hier der Alkohol immer öfter Einzug hielt. Der Trainer, damals schon Ende fünfzig, als er Franzi in seine Gruppe holte, ging in Pension und für Extra-Touren war sie inzwischen zu alt. Da wurde es Zeit, dem Sport den Rücken zuzukehren. Doch die Verbindungen und Erfahrungen aus diesem Sportlerleben waren natürlich noch vorhanden, frisch und verfügbar. Genau das wollte sich Manne zunutze machen.
Von Beginn an verstanden sich die beiden ehrgeizigen Charaktere blind. Ohne viele Worte, meist schon mit einem Blick. Sie sprachen dieselbe Sprache. Obwohl jeder für sich genommen eine sehr schwierige Persönlichkeit sein Eigen nannte, zwei Alphatiere, bei denen sich ein gemeinsam normalerweise ausschloss.
Schon früh empfand es Manne als Segen, dass er als Pädagoge ihr gegenüber nicht wirklich weisungspflichtig wurde, da es im Schulalltag keine Berührungspunkte gab. Nur ein Mal kam er in diese Verlegenheit. Dabei stellte sich schnell heraus, wer bei diesem Spiel die Fäden in der Hand hielt. Manne hatte praktisch keine Chance gegen dieses Ego. Doch er nahm es mit einem Schmunzeln hin, ja, er genoss es geradezu. So einfach hatte er sich noch nie manipulieren lassen. Doch diesen Waffen hatte er nur wenig entgegenzusetzen. Die Tatsache, dass Manne offensichtlich der Einzige im Lehrerkollektivzu sein schien, dem es beinahe mühelos gelang, einen Zugang zu diesem schwierigen Charakter zu finden, blieb nicht lange unentdeckt. Und wenig später hatte er die Verantwortung für Franzi. Von nun an sollte er sie beschützen und erziehen.
Die Planungen der Schulaktionen fanden prinzipiell bei Manne zu Hause statt, da er sich ungern beobachten oder bevormunden ließ. So dauerte es auch nicht lange, bis er immer wieder bei seinen Kollegen aneckte. Aber unter den Schülern genoss er eine Art Kultstatus. Man verehrte ihn beinahe wie einen berühmten Rockstar. Er genoss dieses Privileg sichtlich und wusste, es für sich zu nutzen, was ihm auf lange Sicht ebenfalls wenig Verständnis unter der Lehrerschaft einbrachte. Aber vorerst wusste man zumindest das Problemkind in guten Händen.
Manne war der geborene Pädagoge. Er hatte ein natürliches Gespür für sich entwickelnde Persönlichkeiten und dank seinem ausgeprägten autoritären Verhaltens hatte er stets alles und jeden seiner Schutzbefohlenen unter Kontrolle, ohne dass diese sich dessen bewusst wurden. Und so ließ man ihn gewähren, trotz seiner unkonventionellen Art, die Dinge anzugehen.
Nun konnte auch in Mannes Wohnung jedes Treffen ungestört stattfinden, obwohl er seit gut einem Jahr verheiratet war. Seine junge Frau hatte gerade ihren achtzehnten Geburtstag gefeiert, und für gewöhnlich blieb diese die ganze Woche über am Campus der Universität. So konnte Manne frei über die gemeinsame Wohnung verfügen. Lisa hatte er kurz vor seinem Abschluss kennen- und lieben gelernt. Damals glaubte er noch, diese junge Frau pädagogisch formen zu können. Und so heiratete er sie mit Erlaubnis der Eltern trotz ihrer erst siebzehn Jahre.
Immer mittwochs traf sich nun die Planungsgruppe bei ihm, um die einzelnen Aktionen in die Tat umzusetzen. Und Franzi mittendrin. Irgendwann, bei der Absprache eines neuen Termins, fragte er sie so ganz nebenbei.
”Wann gehst du eigentlich trainieren?” Für ihn stand der Sport immer an erster Stelle, sogar noch vor der Schule. Für einen Sportler wie Manne war dieses Verhalten nicht weiter verwunderlich. In ihrem ganzen Leben traf Franzi nie einen ehrgeizigeren Sportler wie Manne. Alles Asiatische, vom Kampfsport über Meditation, bis hin zur Perfektion von Entspannungstechniken, faszinierte ihn einfach. Stundenlang konnte er sich auf ein und denselben Bewegungsablauf konzentrieren. Immer und immer wieder wiederholte er seine Übungen. Und Franzi sollte später keinem anderen Menschen begegnen, der seinen Geist und Körper so gezielt steuern, formen und unter Kontrolle halten konnte, wie Manne.
Als Franzi ihm sagte, dass sie nicht mehr vorhatte, zu trainieren, da sie ja den Leistungssport - an den Nagel gehängt hatte - konnte man ihm sein Entsetzen kaum ansehen. Dabei fing es an, in ihm zu arbeiten. Die Miene völlig unbewegt, nur das Grübchen an seinem Kinn zuckte leicht, sah er ihr in die Augen. Wie Schwerter fühlte sich sein unnachgiebiger Blick an.
”Du musst trainieren!”, sagte er leise. ”Wieso?”, gab sie trocken zurück. ”Nie wieder werde ich eine Schwimmhalle betreten!” Davon war sie ernsthaft überzeugt. Franzi sah, wie er den Kopf schüttelte. Er kochte vor Wut über so viel Unvernunft. Laut wurde er dabei nie, und das brauchte er auch nicht. Sein autoritärer Blick genügte vollkommen aus, um ihr wildes Wesen zu lenken. Mit unbewegter Mine sah er sie an und sagte: ”Okay, Ende der Diskussion. Ab Morgen wirst du wieder trainieren. Und zwar mit mir. Um halb zwei stehst du mit deinen Schwimmsachen vor meiner Tür. Haben wir uns verstanden?”
Völlig bewegungsunfähig saß sie ihm gegenüber. Ohne klar denken zu können, nickte Franzi nur. Zuwidersprechen wagte sie nicht, es schloss sich praktisch aus. Aber Manne, mit seinem pädagogischen Geschick, rettete die Situation. Ruhig und ohne Vorwürfe erklärte er den Zusammenhang zwischen Leistungssport, Lungenvolumen, vergrößertem Herzmuskel und der damit verbundenen Notwendigkeit, abzutrainieren.
Gern investierte er seine Zeit. So schlug er doch zwei Fliegen mit einer Klappe. Zum einen hatte er diese wilde Göre unter Kontrolle und zum anderen wollte er sich, durch sein eigenes Training im Wasser, die Fitness erhalten. Seit einiger Zeit machte ihm nämlich sein Knie wieder Probleme. Vielleicht kam er um eine Operation doch nicht herum. Dass Franzi effektive Trainingspläne mitbrachte, machte dieses Vorhaben nicht unattraktiver für ihn.
Erstaunlicherweise kamen sich diese zwei Egos nicht in die Quere, ganz im Gegenteil. Ebenso spielte der Altersunterschied von zehn Jahren kaum eine Rolle. Wenn es um sportliche Aktivitäten ging, ordnete er sich Franzi unter. Sie hatte einfach die größeren Erfahrungen und so befanden sie sich immer öfter auf Augenhöhe. Dass dieser Zustand auf Dauer nicht gut gehen konnte, war nur eine Frage der Zeit. Schließlich steckte Franzi mitten in der Pubertät. Man sah es ihr nicht an, doch mit zunehmender Sorge verfolgte Manne Franzis Augen, wenn sie ihn ansah. Umso länger er sie kannte, umso mehr wurde ihm bewusst, wie ähnlich sie sich waren. Über manche Dinge brauchten sie nicht sprechen, beide wussten ohnehin vom Anderen, was er dachte. Doch wo sollte das hinführen? Noch hatte Manne alles unter Kontrolle. Aber wie lange noch?
Selbst kein Kind von Traurigkeit, und dass er ein verheirateter Mann war, spielte dabei nur eine untergeordnete Rolle. Denn schon bald nach der Hochzeit bemerkte er, wie sehr er und Lisa sich in ihren körperlichen Bedürfnissen unterschieden. Doch zunächst glaubte Manne noch, er könnte sie mit der Zeit auf sein Level heben. Doch da irrte er. Was ihm Lust bereitete, entwickelte sich für Lisa immer öfter zur Qual. Dass dies sich bessern würde, darüber machte er sich keine Illusionen mehr. Im Gegenteil, seine Zweifel daran wurden stetig größer, was seine Ehe zusehends belastete. Nachgeben, den Weg in der Mitte suchen, dafür war dieser Mann nicht gemacht. Egomanisch und unnachgiebig verlangte er von ihr, dass sie stets nur seinen Bedürfnissen nachkam. Schließlich war Lisa seine Frau und im Grunde fühlte er sich schon allein deshalb im Recht.
Und zu allem Übel kam nun auch noch dieses Mädchen, das ihn mit jedem Blick auszog. Rückzug kam überhaupt nicht infrage. Manne spürte einen inneren Zwang, sie ständig beschützen zu müssen. Umso mehr Zeit verging, umso schwieriger wurde es jedoch für ihn. Schließlich war es Franzi gewöhnt, frei zu sein. Das kaum existierende Elternhaus brachte das zwangsweise mit sich. Franzis Umfeld bedeutete deshalb nur wenig Gefahr für sie. Hiervor sah Manne sich weniger berufen, seine schützende Hand über sie zu halten. Ihr eigenes, ungestümes und wildes Wesen, gepaart mit pubertären Träumen, bereitete im jedoch zunehmend Kopfzerbrechen. Dieses konnte ihr durchaus eine sehr unangenehme Zukunft bescheren. Doch wie nur sollte Manne dieses Mädchen vor sich selbst schützen? Er hatte keine Ahnung.
Die Sport-Events und Aktivitäten der 9a wurden ein voller Erfolg. Als sich das Schuljahr zum Ende neigte, bot man der 9a eine Reise an. Es sollte in ein ’Lager für Arbeit und Erholung gehen, zu jener Zeit eine echte Auszeichnung. Alle Schüler des Jahrgangs wurden hierfür eingeladen. Auch Franzi hatte man nicht vergessen. Schließlich hatte sie am Erfolg der Veranstaltungen einen recht großen Anteil.
Und so fuhren sie zwei Wochen vor den Ferien in eine gut bereiste Gegend, ein von allen gern genutztes und sehr beliebtes Naherholungsgebiet. Mitten im Wald, außerhalb einer kleinen Ortschaft, lag ein wunderschöner See, umringt von einem Bungalow-Dorf. Üblicherweise wurden die angereisten Schüler während der Woche bis in die Mittagsstunden zu Arbeitseinsätzen herangezogen. Meist in der nahegelegenen Obst-Plantage. Am Morgen Früchte ernten und ab dem Mittag Freizeit. Der Erlös des Arbeitseinsatzes kam der jeweiligen Klassenkasse zugute.
Es war Sommer, ungewöhnlich heiß für Mitte Juni. Auf der einen Seite des Sees standen jede Menge Bungalows. Gegenüber diverse Sozialgebäude und die Verwaltung, eben alles, was ein solches Lager benötigte. Wollte man auf die andere Seite des Sees gelangen, so lief man um den See herum oder schwamm hindurch. Eigentlich standen dafür mehrere Fahrräder und Ruderboote zur Verfügung. Doch wie es manchmal so ist, wenn man ein Verkehrsmittel benötigt, steht keins zur Verfügung. Da man jedoch des Öfteren etwas in der Verwaltung zu erledigen hatte, blieb einem nichts anderes übrig, als über den See zu schwimmen. Manne suchte stets vergeblich nach einer Begleitung für diesen nassen Weg. Und so schwammen nur Franzi und Manne hinüber. Keiner dachte sich etwas dabei, es war allgemein bekannt, dass beide gemeinsam trainierten. Schließlich hatte er im Beisein der Anderen dafür gesorgt, dass sie wieder mit dem Schwimmen beginnt.
Leider konnte Manne nur eine Woche bleiben, am kommenden Wochenende hatte er mit Lisa Urlaub geplant. Wenn er am Samstagmorgen abreist, würde ihn seine Kollegin ablösen. Die Woche verging wie im Flug. Am Freitagmittag musste Manne in der Verwaltung noch etwas erledigen. Abermals bat er Franzi, ihn zu begleiten. Sie hatte nämlich noch keine Ahnung von seiner bevorstehenden Abreise. Tatsächlich ergatterte er ein Ruderboot, das erste Mal in dieser Woche. Wenig später saßen sie im Boot und ruderten hinüber. Die Sonne brannte heiß und erbarmungslos auf die Rudernden herunter. Doch für diese Hitze konnte man nun wirklich nicht nur die Sonne verantwortlich machen. Eine Ruderpartie, die den weiteren Lebensweg der beiden nachhaltig beeinflussen sollte…
Am nächsten Morgen, gegen fünf, stand Manne mit einer Rose in der Hand vor Franzis Zimmer, betrat es leise und setzte sich vorsichtig auf ihr Bett. Nur der Tatsache, dass eine ungerade Anzahl von Mädchen anreiste, war es zu verdanken, dass Manne sie hier alleine vorfand. Heute Morgen würde seine Kollegin das zweite Bett beziehen. Doch bis dahin hatten sie noch jede Menge Zeit. Die Rose in seiner Hand fand er albern und unpassend, denn so wütend wie jetzt war er selten. Doch irgendwann in dieser Woche hatte Franzi die Rosen im Vorgarten bewundert. Da konnte er nicht widerstehen. Manne sah in dieses scheinbar unschuldige Gesicht und konnte noch immer nicht glauben, was er gestern in diesem Boot erlebt hatte.
Vorsichtig strich er ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Da erwachte Franzi. Mit großen Augen sah sie ihn an.
”Schön, dass du wach bist, es ist noch sehr früh. Aber ich wollte mich noch persönlich von dir verabschieden”, flüsterte er. Manne war sich der Gefahr, in die er sich begab, sehr wohl bewusst. Wenn man ihn bei ihr fand, kam er in ’Teufels Küche’. Dabei wollte er keineswegs ihre Avancen erwidern. Aber nichts zu tun, hieße, den Dingen ihren Lauf zu lassen. Das konnte er unmöglich zulassen. Krampfhaft hatte er in der letzten Nacht nach einem Ausweg gesucht und sich dann einen Plan zurecht gelegt. Doch zunächst einmal musste er seine Wut loswerden.
”Es ist erst fünf, ich habe noch Zeit. Ich könnte jetzt gehen, kann aber auch noch bleiben. Nur müssen wir sehr leise sein. Du weißt, warum, wir haben oft genug darüber gesprochen.” In ihrem Gesicht sah er ein leichtes Nicken.
”Rutsch mal ein Stück, dann lege ich mich zu dir ins Bett.” Wie in Zeitlupe nahm er wahr, wie dieses Mädchen ganz selbstverständlich nach hinten rutschte und ihm Platz machte. Fassungslos sah er sie an. Franzi ließ ihn tatsächlich in ihr Bett, einfach so. Als hätte er es geahnt. Und plötzlich verschwand sein verständnisvoller Blick. Es gab kein wissendes Lächeln mehr in seinem Gesicht. Außer sich vor Wut, beobachtete er diesen beinahe unschuldigen Blick.
”Wie kannst du es wagen, mich in dein Bett zu lassen, einfach so?” Es kostete ihm all’ seine Beherrschung, um nicht laut zu werden. Seine leisen Worte verfehlten ihre Wirkung jedoch nicht. Ängstlich sah Franzi ihn an.
”Dir ist schon klar, was du gestern in diesem Boot abgezogen hast? Mit wie vielen Männern hast du das vor mir schon gemacht?” Entsetzt und total verstört sah sie ihm in die Augen. Langsam wurde ihm klar, wie weit er gerade über das Ziel hinaus schoss. Natürlich war er der Einzige. Manne konnte es in ihrem blassen Gesicht sehen. Nach und nach beruhigte er sich.
”Also gut, ich denke, das war ein wenig weit gedacht! Aber so, wie du mich gestern angemacht hast, könnte man durchaus davon ausgehen, dass du das nicht zum ersten Mal getan hast.” So schnell, wie er sich beruhigte, so schnell kam das Fordern in ihre Augen zurück.
”Na schön”, dachte er. ”Ich weiß, dass du mich willst. Schätzchen ich werde ganz gewiss nicht der Erste sein. Vor drei Jahren ist das schon einmal schiefgegangen.” Aber wenn er jetzt ginge, hätte er verloren. Jeder Erstbeste würde an seine Stelle treten und das sofort, er wusste es nur zu gut.
”Schön, dann wollen wir mal etwas zurechtrücken. Ich weiß, was du von mir erwartest. Franzi, ich werde nicht mit dir schlafen! Du weißt ich mag dich - vielleicht zu sehr. Doch nachdem, was ich gestern erlebte habe … na lassen wir das! Es ist zu früh, wobei du vermutlich reif genug wärst; du hast jetzt schon einen Instinkt für Erotik. Den wird meine Frau nicht in hundert Jahren haben. Aber dein Körper ist zu klein. Du musst noch wachsen, verstehst du? Lass ihm Zeit, etwas größer zu werden. Gott … Mädchen, wie soll ich dich nur beschützen - vor allem vor dir selbst? Mal ganz davon abgesehen, dass solch’ ein Verhältnis, das du von mir verlangst, verboten ist und das vollkommen zu Recht. Viele Dinge schließen sich im Grund hier schon von selbst aus. Und trotzdem werde ich jetzt deine romantischen Mädchenträume durch Realität ersetzen. Eigentlich nimmt man einem kleinen Mädchen nicht seine Illusionen. Doch du lässt mir keine Wahl. Nicht nach gestern Mittag! Versteh’ mich nicht falsch. Dass du schon jetzt Interesse am Sex hast, ist nicht das Problem. Wenn du einen Jungen in deinem Alter wolltest, würde ich dich vielleicht loslassen. Nur den Umgang mit Kondomen müsstest du lernen. Denn du kannst nicht wissen, wozu ein solcher Junge schon fähig ist. Und dann könnte ich es möglicherweise zulassen, dass ihr einfach eure Körper entdeckt. Aber du stellst dir Sex mit einem erwachsenen Mann vor, wie ein großes Abenteuer; und das offenbar auch noch mit mir! Dafür bist du zu jung und dein Körper zu klein. Ich denke, das Einzige, womit ich dir Schutz geben kann, ist, dich mit Wissen zu füttern. Und ich werde dir beweisen, dich spüren lassen, dass dein Körper noch wachsen muss.”
Nun war der Pädagoge wieder da, und er genoss jeden Augenblick, welchen ihm diese Lehrstunde bot. Er hatte sich wieder vollständig unter Kontrolle. ”Nun, wie Sex im Allgemeinen funktioniert, brauchen wir nicht besprechen. Ich denke, du hattest bei Frau Gerst genug Aufklärung.”
Franzi sah ihn mit großen und fordernden Augen an, voller Erwartung und ohne jede Furcht.
”Gut, aber das ist die Theorie. Schauen wir mal, wie es um die Praxis steht. Warst du denn schon einmal verliebt?” Fragend sah Franzi ihn an. ”Unabhängig von mir!”, sagte er und rollte die Augen. Ganz vorsichtig, begann sie, zu nicken. ” Wie alt warst du da? Komm, erzähl’ mir davon!” ”Neun!”, sagte sie leise. ”He, du fängst doch jetzt nicht an, dich zu schämen? Ich will dich nicht aushorchen. Nur Zeit sparen, deshalb ist es wichtig, zu wissen, wo ich anfangen muss. Also sag es mir!” ”Erwar elf und ich neun, im Kinderferienlager”, erzählte Franzi zögernd. Jetzt konnte sich Manne ein Grinsen nicht verkneifen. Dieses Mädchen war von einer Offenheit, die ihn faszinierte.
”Gut so! Und was habt ihr gemacht?”
”Uns geküsst.”
”Und wie?”, wollte er noch wissen. Wieder zögern. Er stöhnte, ”okay, zeig’ es mir, küss’ mich!” Jetzt war ihre Verblüffung perfekt. Allmählich dämmerte es ihr nämlich, dass das nichts mehr mit Träumerei zu tun hatte. Nun wurde es ernst. Manne war ein Mann, der wusste, was er tat. Es gab kein Zurück. Und jetzt fing er doch an, zu lachen.
”Na hör mal, du willst mit mir schlafen und kannst mich nicht küssen? Wie hast du dir das vorgestellt? Na, nur Mut, zeig’ es mir!”
Ihre offensichtliche Naivität gefiel ihm. Und dann, ganz vorsichtig, begann sie, ihn zu küssen. Sanft und unschuldig. Nun musste Manne doch ein wenig nachhelfen. Schließlich sollte ihr klar werden, dass sie sich einen Mann ins Bett geholt hatte und keinen kleinen Märchenprinzen. Langsam, aber fordernd, schob er seine Zunge in ihren Mund, spielte mit ihrer Zungenspitze. Sie musste ein Gefühl dafür bekommen, wie aufregend allein schon ein Kuss sein konnte, vorausgesetzt, man weiß wie. Einen Kuss, dachte er - dieser Verantwortung würde er sich stellen. Tausend Gefühle stürzten auf sie ein. ”Was geschieht hier?”, dachte sie. Ihr Körper vibrierte und wenig später übernahm dieser vollkommen die Kontrolle über sie. Die Veränderung, die eben in ihr vorging, blieb Manne natürlich nicht verborgen.
”Fein, fein”, dachte er. ”Nur die Ruhe, wir sind auf dem richtigen Weg.” Sanft zog er sich zurück und schaute sie schmunzelnd an. ”War es in etwa so?”, wollte er wissen. Manne erwartete keine Antwort auf seine Frage. Ihr aufgewühltes Wesen zu sehen, reichte ihm vollkommen.
”So”, sagte er. ”Nun werde ich dir noch ein paar wichtige Dinge erklären, die du im Bio-Unterricht vermutlich nicht gehört hast. Wie fühlt sich denn dein Körper an? Ich weiß es! Soll’ ich es dir sagen? Du spürst ein Kribbeln, es raubt die Luft, hast Herzklopfen. Hab’ ich Recht?” Wieder nur ein zartes Nicken, mehr kam nicht von ihr. Aber das war für ihn völlig in Ordnung.
”Was du fühlst, ist Lust, unabdingbar, wenn Sex Spaß machen soll. Und was man unter einem Orgasmus versteht, weißt du?”
”Ich glaube”, raunte Franzi langsam. ”Habe ich im Lexikon nachgeschlagen.” Jetzt färbten sich ihre Wangen doch tiefrot. Eigentlich sollte Manne gefallen, was er sah. Doch er zog es vor, sie auf sein Level zu heben.