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Ein siebenhundert Jahre währender Familienfluch - uralte Mauern verbergen unsagbaren Reichtum und eine unrühmliche Geschichte, versteckt und vergessen unter dunklen Fichtennadeln … Als die Autorin Rita Dankeschön den Landsitz der Familie Balandero mietet, haben sie und die zehn Gäste ihres Erzähl-Wochenendes keine Ahnung, worauf sie sich damit einlassen. Schon bald geschehen bösartige und gefährliche Dinge, die so alt sein könnten, wie die vom Efeu überwucherten Mauern. Dabei erscheinen ihnen zunächst die absurden Vorfälle und unheimlichen Begegnungen, die jeden in Angst und Schrecken versetzen, wie Einbildungen. Doch als die ersten Gäste spurlos verschwinden wird klar, einer von ihnen spielt ein doppeltes Spiel. Zu spät für eine Flucht wird es bald zur Lotterie, wer von ihnen das Landgut lebend verlassen wird.
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Seitenzahl: 409
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Niemand hört dich schreien
Heike Gehlhaar
©2021 Heike Gehlhaar
Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg ISBN:
978-3-347-49959-1 (Paperback)
978-3-347-49960-7 (Hardcover)
978-3-347-49961-4 (e-Book)
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Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Autorin
Durch einen Schicksalsschlag entdeckte Heike Gehlhaar die Lust am Schreiben. Um sich zu beschäftigen, schrieb sie ihren ersten Roman: ’Franziska - Eine Reise in die Zukunft’. Bereits ein Jahr später erschien: ’Warum ein Hase aus einer Trabant-Tür schaute. Die aufregendste Reise nach dem Orient-Express’. Schreiben ist für sie inzwischen eine Leidenschaft, die sich nicht aufhalten lässt. Mit ihrer Familie wohnt die Autorin im grünen Herzen Deutschlands.
www.heikegehlhaar.de
Jegliche Ähnlichkeiten mit realen Personen sind rein zufällig und von der Autorin nicht beabsichtigt.
Liliana schaut sich ängstlich um. Für ihren letzten Weg hat sie keine Tränen mehr. Jedes Gefühl verloren und schwer atmend lehnt sie sich an die kalte Mauer. Sie hebt ihren Kopf, blickt zurück und horcht. Jetzt kann sie ihre Verfolger hören. Sie sind sehr nah und könnten ihre Flucht noch immer vereiteln. Wie lange ihre blutigen Füße noch über die spitzen Steine laufen können, weiß sie nicht. Unregelmäßig und rußend flackert die Flamme der Fackel in ihrer Hand.
Nur noch ein Tunnel des feuchten Gewölbes, dann hat sie es geschafft. Niemals wieder wird sie es zulassen, dass die Männer des Clans sie so zurichten. Liliana hatte beschlossen, sie wird nicht einfach aus dem Leben scheiden. Jeden der verdammten und dem Wahnsinn verfallenen Familie wird sie mit sich nehmen.
Ein letztes Mal sieht sie sich um. Dunkle schwarze Haarsträhnen hängen wild über ihrem vom Schweiß glänzenden Gesicht. Trauer und Wut geben ihr die Kraft, allem hier und jetzt ein Ende zu setzen. Entschlossen stößt sie das Feuer ihrer Fackel ins Stroh.
Entsetzliche Schreie und schwarze Rauchwolken ziehen über die dichten, dunklen Fichten des furchtbaren Ortes. Aus den Trümmern der heruntergebrannten Mauern tritt eine blasse Gestalt. Humpelnd zieht sie ihr verbranntes Bein nach. Vorsichtig suchend schaut sie sich um. Schnüffelnd hält sie die rußverschmierte Nase in den Wind. Mit einem zufriedenen Grunzen verschmilzt ihr Schatten mit den Steinen des verfluchten Gemäuers.
Es hat begonnen…
Kapitel 1
Siebenhundert Jahre sind vergangen…
Schwer, wie ein Marathon durch die Sahara, fühlt sich heute Morgen ihr Weg durchs Verlagshaus an. Die Autorin Rita Dankeschön verließ vor wenigen Minuten das Büro der Lektorin. Ungläubig verliert sich ihr starrer Blick im langen Flur zum Treppenhaus. Dabei war vor einer Stunde ihre Welt noch in Ordnung. Obwohl sie inzwischen beinahe im Parkhaus steht, fühlt sie, wie sich in ihrer Brust das Herz noch immer überschlägt. Mit einem unangenehmen Rauschen im Ohr und wie durch einen Tunnel hallen die Worte der Lektorin in ihrem Gehirn wider.
Nie hätte sie damit gerechnet, dass das Manuskript vom ’Feuervogel’ auf so viel Ablehnung stößt. Nach dem Erfolg ihres Romans vom ’Hasen’ und der ’Trabant-Tür’ vertraute man ihr und wartete gespannt auf ein ebensolches faszinationsgeladenes Werk. An Spannung mangelte es dem neuen Buch keineswegs, dennoch schrieb sie etwas komplett anderes. Dass sich diese Tatsache zu einem Problem entwickeln könnte, war ihr nicht klar. In den vergangen Monaten fragte man seitens des Verlages nicht einmal nach. Sie gingen eben davon aus, dass sie eine Fortsetzung schreiben würde. Um ehrlich zu sein, war es auch so abgesprochen. Darüber hinaus ließ man ihr freie Hand. Aber seit einer halben Stunde weiß sie, so frei dann eben doch nicht.
Eine Fortsetzung, wie soll das gehen? Die Frage treibt sie um.
Viele Geschichten des so erfolgreichen Romans stammten ja schließlich nur bedingt aus ihrer Feder. Vor beinahe drei Jahren befand sich Rita schon einmal in einer ähnlichen Situation. Wie heute, saß sie damals vor jenem Büro und fühlte sich wie im Vorzimmer des Rektors ihrer Schule. Die Sichtung ihrer ersten Geschichte für das neu entstehende Buch gefiel der Frau mit dem ernsten Gesichtsausdruck hinter dem riesigen Schreibtisch offensichtlich nicht.
»Die Ansätze sind gut!«, begann sie. »Sie haben wirklich Talent. Auch Ihr Exposee ist durchaus vielversprechend. Aber ich sage Ihnen: Eine Geschichte dieser Art ist in Ordnung, jedoch nicht mehrere! Sie müssen mehr Pep und Spannung in die Geschichten bringen, sonst langweilen wir die Leser. Vielleicht sollten Sie eine Spur Erotik oder Anrüchigkeit hineinbringen. Auch von kriminalistischen Inhalten lässt man sich gern verführen!«
Nur der Zufall sorgte damals dafür, dass sie diesen Anspruch erfüllen und mit ihrem so entstandenen Roman einen recht beachtlichen Erfolg feiern konnte. Die chaotische Fahrt mit dem IC 2029 von Hamburg nach Nürnberg, der beinahe zehn Stunden vor einer Schneewehe stand, versorgte Rita mit so viel Stoff, dass es für einen vollständigen Roman reichte. Es war göttliche Fügung, dass sie ausgerechnet mit diesen Menschen im selben Abteil saß. Davon ist sie heute überzeugt. Allesamt fantastische Erzähler, mutig und mit einem goldigen Humor gesegnet. Noch immer pflegt sie mit allen einen regen freundschaftlichen Kontakt.
Bei der Lesung zur Markteinführung ihres Buches hatte keiner von ihnen gefehlt. Auf dem Heimweg sah es zunächst so aus, als könnte es eine Wiederholung der damaligen Erlebnisse geben. Der Halt des IC währte allerdings nur kurz und so ging man auseinander. Jedoch nicht, ohne zu versprechen, sich in Zukunft nicht aus den Augen verlieren zu wollen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass das auch gelingt. Die Ereignisse, die diese unterschiedlichen Menschen so eng zueinander brachten, waren schon einmalig und somit unvergesslich.
Das nützt ihr jetzt überhaupt nichts. Inzwischen ist sie im Parkhaus und hält den Autoschlüssel in der Hand. Noch immer reagiert ihr Gehirn wie gelähmt. Es arbeitet, als hätte man es in ein Glas mit klebrigem Honig gesteckt. Ratlos sitzt sie in ihrem altersschwachen Polo. Der Vorschuss von fünftausend Euro ist lange aufgebraucht. Vier Monate, mehr Zeit will und kann man ihr nicht mehr einräumen. Ein neues Konzept in so kurzer Zeit? Achtzehn Monate schrieb sie an der Fantasiegeschichte. Als dünn und wenig verkäuflich bezeichnete es die Lektorin.
Und nun? »Aufhören, nie wieder schreiben! Ich packe meine Sachen und verschwinde einfach!«
Auch nach der zweiten Zigarette sitzt sie unbeweglich und kopfschüttelnd hinterm Lenkrad - sieht in den Rückspiegel und findet, dass sie furchtbar aussieht.
»Na klar, den Kopf in den Sand! Und wovon soll ich den Vorschuss und die Vertragsstrafe zahlen, die damit auf mich warten?«
Schon frühzeitig begann der Verlag, für sie und das erwartete Buch zu werben. Rita empfand es als eine große Ehre und hoffte auf einen sicheren Erfolg, wenn sie mit so vielen Vorschusslorbeeren an den Start gehen kann. Dumm nur, dass ihr neues Buch komplett durchfiel. Sie wirkt völlig apathisch und der Wagen steht noch immer auf dem Parkplatz. Wie lange, weiß sie irgendwann nicht mehr. Sie hat jegliches Zeitgefühl verloren. Dann kehrt sie langsam aus ihrer Starre zurück. Ihr Blick hängt am Armaturenbrett und ihre Ohren folgen den Werbesprüchen des Radios, die auf sie einprasseln. Mit beinahe leerem Kopf legt sie den Gang ein.
»Der Wagen wird schon den Weg nach Hause finden«, murmelt sie.
Wie von Geisterhand gesteuert fährt er tatsächlich los.
In einem Jogginganzug, neben sich eine Flasche Rotwein, in ihre Kuscheldecke eingewickelt und mit verheulten Augen findet sie sich Stunden später auf dem häuslichen Sofa wieder. Die vergangenen Stunden erlebte sie wie in Trance. Ein Gehirn aus Watte, was jedes Bild durch einen Schleier sieht. Wie sie heimkam, ist ihr nicht wirklich bewusst. Gut, dass ein panisches Gehirn auch durchaus automatisierten Abläufen folgen kann. Rita ist der beste Beweis dafür. Schon das zweite Glas Rotwein!
Eine halbe Packung nasser Tempos stapeln sich vor ihr auf dem Kissen und plötzlich kommt Leben und Bewegung in das Häufchen Unglück. Im Nebelschleier des nun wirkenden Alkoholspiegels erinnert sich ihr Unterbewusstsein an das Letzte was sie hörte, bevor der Automatismus sie einfach nur noch handeln ließ. Wovon der Werbespot berichtete, weiß sie nicht. Aber vor den glasigen Augen entsteht eine Idee und der letzte Strohhalm nach dem sie greift. Etwas, was nüchtern komplett verrückt und zum Scheitern verurteilt wäre. Aber Rita ist Gottsei-Dank alles andere als nüchtern. Krakelig und nur mit viel Fantasie ist nachzuvollziehen, was die wackelige Hand aufs Papier kritzelt. Erneut entsteht eine Erinnerungslücke.
Als sie wieder zu sich kommt, sieht sie sich am Schreibtisch sitzend. Das Display des Laptops blendet ihre müden Augen. Ratlos steht sie auf und alles, was sie noch bemerkt, ist das Kuschelkissen der Sofalandschaft an ihrem heißen Gesicht. Dann gehen alle Lichter aus.
Nachmittag - 16:30 Uhr - ihre Augen werden erneut geblendet. Jetzt ist es die Sonne, die Rita ins Gesicht scheint. Sie weigert sich, die schweren Lider zu heben und doch schreit ihr Gehirn: »Aufstehen, dein Körper hat Bedürfnisse!«
Eine halbe Stunde wird es dauern, ehe sie bereit ist, den neuen Tag, der sich schon dem Abend zuneigt, zu akzeptieren. Viel kaltes Wasser, eine Kanne Kaffee und drei Aspirin sollten Rita wiederbeleben. Eine weitere Stunde später schleppt sie sich in die Küche. Auf dem Weg dorthin kommt sie am Laptop vorbei und klappt ihn im Vorbeigehen, quasi aus Gewohnheit auf. Er ist noch immer an. Offenbar war sie gestern nicht mehr in der Lage, ihn ordnungsgemäß herunterzufahren. So ein vollständiger black out ist ihr noch niemals passiert.
»Grund genug hatte ich und um ehrlich zu sein, würde ich gerne dort weitermachen, wo ich in der letzten Nacht aufgehört habe!«
Stöhnend bleibt ihr Blick an dem Rest Rotwein im Glas hängen.
»Was ist denn das?«
Stirnrunzelnd verfolgt sie die geöffneten Pfade im Netz, denen sie gestern Nacht noch mühelos folgen konnte. Ganz langsam, beinahe in Zeitlupe erkennt sie, was sie im Vollrausch getan hatte. Noch auf einen Irrtum hoffend, starrt sie auf die Bestätigungsmail, die 10:15 Uhr bei ihr einging.
»Vielen Dank für Ihre Anzeige! In den nächsten sechs Ausgaben unserer Infoliteratur werden wir Ihre acht Zeilen veröffentlichen. Anbei erhalten Sie online die Rechnung…«
Was für ein Blödsinn?, denkt sie und liest fassungslos die Worte, die sie in dem Aufruf unter der Rubrik Kleinanzeigen veröffentlichte.
»…Erzähler gesucht… auch jeder Spinner ist hierzu gern eingeladen…«
»Die im Verlagshaus haben gesagt, ich hätte mein schriftstellerisches Talent verloren! Irrtum, da steht es klar und deutlich und das auch noch stockbesoffen formuliert!«
Noch hat sie die Hoffnung, dass sich auf so einen Quatsch niemand meldet.
»Aber was tue ich, wenn doch?«
Bei dieser Frage läuft es ihr eiskalt über den Rücken. Und dennoch, es belebt sie und lässt sie anfangen zu recherchieren.
»In jedem Fall sollte ich vorbereitet sein. Ich suche mir jetzt einen passenden Ort, der für so ein verrücktes Vorhaben geeignet scheint. Sollte ich dort tatsächlich alleine sein, hilft mir die Umgebung vielleicht bei einem Neuanfang. Ansonsten bleibt mir nur noch eine Option: Erschießen!«
Ihre Worte hallen von den Wänden wider.
Nun beginnt sie zu suchen. Lange muss sie graben und recherchieren. Irgendwann glaubt Rita gefunden zu haben, wonach sie so lange und intensiv auf der Suche war. Sie sieht sich das alte Gemäuer an und geht mit der Maus auf eine virtuelle Besichtigungstour. Fasziniert verfolgen ihre Augen den Kameraschwenk über das gesamte Anwesen. Plötzlich packt sie eine enorme Unruhe, es hält sie kaum noch auf ihrem Stuhl. Zwei Wochen später hat sie das Landgut für ein verlängertes Wochenende, komplett mit mehr als zehn verfügbaren Gästezimmern, vorhandenem Personal und allem, was sonst noch dazugehört, gemietet.
Kapitel 2
Mit einem lauten Knall verabschiedet sich der Motor ihres alten Polos und das scheinbar für immer.
Egal!, denkt Rita frustriert. Von hier aus geht es ohnehin nur noch zu Fuß weiter.
Zumindest ist ihr Ziel gut ausgeschildert. Sie öffnet den Kofferraum, hängt sich die Handtasche über die Schulter, holt den Laptop und den Koffer heraus, schließt den Wagen ab und schaut sich stöhnend um.
»Ich muss komplett irre gewesen sein! Klar, besoffen, wie sonst kann man an solch einem unwirklichen Ort landen?«
Nervös kramt sie nach einer Zigarette in der Handtasche.
Wie selbstverständlich greift sie nach ihrem Smartphone.
»Super, kein Netz! Wie auch? Das kommt davon, wenn man am Arsch der Welt ein Wochenende verbringen will! Hoffentlich verfügen die wenigstens über einen Festnetzanschluss.«
Zum Jammern ist es viel zu spät. Jetzt muss sie endlich handeln. Die fehlende Internetverbindung ist kein größeres Problem, denn jeder der eingeladenen Erzähler bekam einen genauen Routenplan mit Karte und vollständiger Adresse.
Das dürfte doch zu schaffen sein!, grübelt sie.
Schließlich lud sie die Leute nicht auf den Mars oder gar in eine ferne Galaxie ein.
Aber bereits nach kurzer Zeit beschleichen sie erste Zweifel. Der schmale Pfad dem sie folgt, verschwindet scheinbar mit jedem weiteren Meter in der Wildnis. Ein dichter Nadelwald, der durch sein mageres Unterholz an Hänsel und Gretel erinnert, wird nach jeder Wegbiegung dichter und undurchdringlicher.
Plötzlich weiß Rita, dass sie seit Minuten kein Geräusch mehr hört. Kein Vogel, kein Insekt und schon gar keine Zivilisationsgeräusche dringen an ihr Ohr. Sofort dreht sie sich um. Niemand zu sehen! Das Licht wird zunehmend spärlicher. Zum einen ist es das schlechte Wetter und zum anderen die fortgeschrittene Tageszeit, die die alten Bäume in dunkle Umrisse verwandeln.
Nun ja, Anfang Oktober muss man durchaus mit ungemütlichem Wetter rechnen. »Aber warum ausgerechnet heute?« Inzwischen schreit die bis auf die Knochen durchgefrorene Frau ihre Worte den Bäumen entgegen. Die Zweige biegen sich immer weiter nach unten in dem nun stärker werdenden Wind.
»Zwei Kilometer stand auf dem Schild! Das kann doch nicht so weit sein?«
Allmählich macht sich bei ihr Erschöpfung breit. In den letzten Monaten hatte sich Rita nur selten an frischer Luft bewegt. Sie saß Stunden vor ihrem Laptop.
Und wofür das alles?
Sie beschließt aufzuhören, sich selbst zu bemitleiden.
Dann fange ich eben noch einmal von vorne an! Das verspricht sie sich.
Nur müsste sie dafür zunächst dem Walddickicht entkommen. Plötzlich bleibt sie stehen. Der Koffer fällt um. Nach dem knackenden Geräusch aus dem schwarzen Unterholz des unheimlichen Waldes hat sie sich nicht einen Zentimeter weiter bewegt.
Ihr Gehirn schreit: »Lauf, beweg dich! Los!«
Die zu Tode erschrockene Frau steht noch immer auf diesem einen Fleck. Nicht ein Haar von ihr bewegt sich noch im Wind. Rita weiß, sie könnte sich in den nächsten Minuten selbst in eine der dunklen Fichten verwandeln. Unter ihren Füßen spürt sie bereits die Wurzeln, die notwendig wären, um in dem Walddickicht für immer zu verschwinden.
Wieder ein Knacken, noch näher!
Ihre Augen beginnen zu tränen. Dabei muss sie sich sehr anstrengen, um etwas zu entdecken, wo nichts zu entdecken ist. Dann ist es wieder vollständig still. Selbst der Wind hält den Atem an. Wie im Auge eines Hurrikans steht die Zeit still. Jetzt läuft sie los, zerrt den Koffer hinter sich her, ihr Atem überschlägt sich und als sie stolpert, glaubt sie, dass rechts aus dem Wald Wurzeln auf sie zukommen, bereit sich um ihren Fuß zu wickeln und sie in die Tiefen des Dickichts zu zerren.
Der Schmerz im Knie weckt sie. Rita steht auf und beginnt wieder zu laufen, ohne sich nochmals umzusehen.
Inzwischen befindet sie sich in einem Tunnel. Tränen der Erleichterung laufen ihr übers Gesicht, als sie in der Ferne rote Ziegel entdeckt. Wie ein Ertrinkender krallt sich ihr Blick an den hinter den gewaltigen Wipfeln der Fichten hervorlugenden roten Punkte fest. Mit jedem weiteren Schritt auf das rettende Ziel zu werden ihre Füße schneller. Mit letzter Kraft lässt sie sich von den roten Ziegeln ziehen, die wie ein kaum wahrnehmbarer Hoffnungsschimmer durch die sich im Wind bewegenden Äste der Fichten aufblitzen.
Dann endlich lichtet sich vor ihr der Wald. Der Weg wird breiter und heller. Er scheint nun gerader und führt augenscheinlich direkt zum Anwesen. Der Waldweg wird rechts und links von flachen welkem Gras gesäumt. Es ist ungepflegt wie die blattlosen abgestorbenen Stämme uralter Bäume, die wie ein warnendes Hinweisschild in einer Reihe angeordnet stehen. Dann ist es geschafft. Vor ihr erstreckt sich eine zirka zwei Meter hohe Mauer. Sie umschließt das gesamte Gelände und reicht soweit der von Tränen verschleierte Blick sieht.
Hätte ich mich doch erschossen!, denkt sie.
Auf den unregelmäßigen Steinen der Mauer befinden sich rote Ziegel. Denen verdankt es Rita, dass sie dem endgültigen Zusammenbruch bereits im Wald noch einmal entkam. Ein weiterer Waldweg führt am Landsitz vorbei. Die wild wuchernden Wurzeln, die Rita vermutlich bis ans Lebensende Albträume bescheren werden, durchziehen jeden Weg und die Wiesen. Sie machen nicht einmal vor den Mauersteinen halt. Vielleicht werden sie eines Tages endgültig die Macht über das Areal übernehmen. Über die gesamte Mauer wuchert wilder Efeu bis hoch zu den Ziegeln. Die mächtigen Blätter haben sich bereits rot verfärbt.
Für die Schönheit des natürlichen Farbenspiels hat Rita keinen Blick. Der haftet stattdessen an einem alten verwitterten Stein, groß wie ein Felsbrocken und ähnlich einem alten, antiken Grabstein dessen Ränder wie abgefressen wirken. Obwohl seine raue, unebene Oberfläche einen anderen Eindruck erwecken sollte, zuckt sie zusammen.
»Was soll der Grabstein hier? Hoffentlich bin ich hier überhaupt richtig?«
Augenblicklich ist ihre Panik zurück. Bevor der schlagende Puls ihren Hals sprengen kann, sieht sie im Augenwinkel ein Schild auf zwei Metallpfosten. Das Metall sah vermutlich so lange es das Schild trägt, keinerlei Farbanstrich. Und doch wirkt das Schild neu.
»Willkommen im Landgut Balandero«
Über ihm hängt auf jeder Seite eine kleine Laterne. Sie spenden ein spärliches mattes Licht. Der Metallrahmen ist am oberen Ende mit einer Eisenfigur verziert. Ein Adler, der seine gefährlichen Krallen in den Rahmen eingräbt, breitet über dem gesamten Schild seine Flügel aus. Sein Kopf wirkt zum Angriff bereit, wobei die gelblichen Augen zu funkeln scheinen.
Was für ein bizarrer Anblick!
Ritas Erschöpfung ist nun nicht mehr aufzuhalten. Sie lehnt an der Mauer und schaut an sich hinunter. Entsetzen ist das Einzige, was ihr völlig überfordertes Gehirn noch wahrnehmen kann.
Die Turnschuhe zerkratzt, die graue Jeans am rechten Knie zerrissen, der Schal hängt nur noch in Fetzen um ihren Hals und von einer Frisur ist sie Lichtjahre entfernt.
Sie schnieft, sie heult und die zittrigen Hände wollen einfach kein Taschentuch in der Seitentasche der Jacke finden. Ihre Handtasche, der Laptop und der Koffer liegen noch immer wie ein wilder Haufen zwei Meter von der Mauer entfernt auf dem Waldweg, der plötzlich aussieht, wie ein ganz gewöhnlicher Wanderpfad.
Obwohl es langsam zu dämmern beginnt, suchte sie weder nach einer Klingel, Gegensprechanlage oder einer anderen Möglichkeit, sich bemerkbar zu machen. Das riesige Metalltor, quasi vor ihrer Nase, sah sie nur wie durch einen vergilbten Spiegel. Dabei sieht das Tor noch unheimlicher aus als das, was sie bereits zu sehen bekam. Aber ihr vor Angst und Erschöpfung gelähmtes Gehirn weigert sich zunehmend, noch erschreckendere Details aufzunehmen.
Das zweiflüglige Eingangstor wurde aus langen, nach obenhin spitz zulaufenden Metallstreben gefertigt. Die eng aneinanderliegenden Verstrebungen sind oben und unten mit Ornamenten verziert. In der Mitte des Gitters befindet sich eine Figur in Form einer Medusa. Ihre Schlangenhaare verbinden elegant und gespenstisch beide Torhälften. Ihr Schlund soll das Schloss und dessen Schlüsselloch darstellen.
Wie mag der Schlüssel dazu aussehen?
Rita steht mit lethargisch starrem Blick, der sich wie gebannt im dunklen Hain verirrt, noch immer im Schatten der Steine. Plötzlich - eine Stimme hinter der Mauer!
»Hallo? Ist jemand vor dem Tor?«
In sekundenschnelle erwacht der Teil ihres Gehirns, der scheinbar noch nicht den Weg zur Realität verloren hat. Ihre Stimme klingt weinerlich, schrill und panisch. Einen halben Meter neben ihr an der Mauer öffnet sich quietschend das eiserne Tor. Jetzt registriert sie das im Efeu versteckte Gitter, das ihre Augen lange gesehen haben müssen.
Eine ältere robust wirkende Frau steht im Tor und eilt zu dem offenbar verunglückten Gast. Fürsorglich schaut sie Rita an und als die zunächst nicht auf ihre Frage reagiert, schüttelt sie die komplett neben sich stehende Autorin an der Schulter. Endlich zerreißen die Panikschleier vor ihren Augen und als hätte es die letzte Dreiviertelstunde nicht gegeben - länger brauchte sie nicht für den Fußmarsch vom Parkplatz bis zum Landsitz - sieht sich Rita verwundert um.
»Sie sind sicher Frau Dankeschön. Geht es Ihnen gut? Sie sehen aus, als hatten Sie einen Unfall! Soll ich Ihnen einen Arzt rufen?«
Die kopfschüttelnde Frau sieht besorgt den Zustand des gerade eingetroffenen Gastes.
»Ach, es geht schon. Danke! Ich bin gestürzt. Es war meine eigene Schuld. Ich bin ein wenig durcheinander. Entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht erschrecken! Ja, ich bin Rita Dankeschön.«
Dann reicht sie ihr die schmutzige und blutverschmierte Hand. Die Frau zieht die Augenbrauen hoch, mustert sie besorgt und sagt nichts mehr. Stattdessen geht sie zwei Meter auf dem Weg entlang und holt Ritas Gepäck, nimmt den verwirrten Ankömmling am Arm und zieht sie auf das Gelände des Landsitzes. Mit einem Quietschen fällt das uralte gusseiserne Tor ins Schloss.
Dabei erschreckt Rita so heftig, dass die Furchen auf dem erstaunten Gesicht der Frau spontan noch tiefer werden. Leider kann Rita ihr nichts von dem gerade überlebten Albtraum erzählen. Wie hätte sie beschreiben sollen, dass der Wald dabei war, sie mit Haut und Haaren zu verschlingen.
So beginnt ein Nervenzusammenbruch! Kein Wunder nach dem Stress!
Sie muss unbedingt daran glauben. Anderenfalls wäre ein Notarzt und der Aufenthalt in einer entsprechenden Einrichtung der beste Weg, um ihrem völlig überreizten Geist zu entkommen.
Als Rita aufsieht, beruhigt sie sich. Das ausladende und weiträumige Gelände, des wie in einem Dornröschenschlaf wartende Gut, strahlt eine Ruhe und Gelassenheit aus, als hätte es nur auf sie gewartet. Verträumt und verspielt trotzt das Gemäuer eigenwillig den Unbilden der Jahrhunderte. Dabei wirkt es, als hatte der Bauherr einst keinen Bauplan zur Hand. Ihr Blick fällt auf einen Innenhof, dessen Ausmaße nicht sofort zu erfassen sind.
Mit Erstaunen betrachtet sie einen alten steinernen Springbrunnen. Er ist etwa zwei Meter hoch und mit alten verwitterten Bruchsteinen in runder Form gemauert. Beinahe vollkommen mit Moos bewachsen, erzählt sein Anblick Geschichten aus längst vergangenen Tagen. Von Rabatten umschlungen, deren Buchsbaumhecken sehr streng geschnitten wurden, steht er wie ein Mahnmal und nichts kann ihm etwas anhaben. Die Hecken passen nicht zur alten Schönheit des Brunnens. Trotzdem zeugt ihr exakter Schnitt, der einer schaurig verzerrten Fratze ähnelt, von einer kürzlichen und regelmäßigen Pflege. Wasserfontainen sprudeln aus einer auf der Empore aufragenden offenen Steinmuschel an dem steinernen Becken hinunter.
Auf den Wiesen und Beeten rings um den Innenhof, wobei jede von ihnen in geschwungene flache Steinborde gefasst wurde, stehen Blumen und Sträucher der Saison. Alles wirkt sehr liebevoll umsorgt und gepflegt. An jeder Seite der Rabatten thront eine sehr hohe und alte Laterne, deren lange Metallstäbe scheinbar endlos in den grauen Herbsthimmel ragen. Die daran befestigten geschwungenen Metallarme beherbergen eine schlichte geschlossene Lampe, aus deren Gehäuse ein Leuchtmittel ragt.
Auf dem Gelände stehen unzählige Laubbäume. Ihre Blätter haben sich bereits in bunte Farben gehüllt. Warum es bei solch einem Gehöft keine gepflasterten oder geteerten Wege gibt, ist unverständlich. Allein die Größe der Fläche bedarf sicher enormen Aufwand und entsprechender Fahrzeuge. Dennoch sieht sie nirgends Schmutz oder Pfützen. Vielleicht ist das die Handschrift eines genialen Bauherrn. Nur an wenigen Stellen bemerkt man überhaupt, dass man versuchte, vorsichtig zu sanieren. Aber dazu braucht es einen zweiten Blick.
Wenn der Landsitz auch optisch einen sehr professionellen Eindruck hinterlässt, so bleibt ein nagendes Gefühl. Hier passt etwas nicht zueinander. Alles wirkt unnatürlich und inszeniert. Was bei näherer Betrachtung nicht sein kann.
Rita stöhnt, schüttelt den Kopf und eilt der vor ihr zügig gehenden Frau hinterher. Je näher sie dem Haupthaus kommt, desto unruhiger wird sie. Sie versucht sich zusammenzureißen. Aber das mulmige Gefühl, das wie eine böse Vorahnung über ihr schwebt, bleibt dennoch.
Die Frau mit Ritas Gepäck an der Hand geht zielstrebig um ein rundes großes Blumenbeet herum, das mit sehr viel gärtnerischem Geschick angelegt wurde und steht beinahe vor dem Eingangsportal. Sie dreht sich besorgt nach ihr um. Rita hat inzwischen ein neues Problem.
Rechts, gegenüber dem Portal, direkt hinter dem Springbrunnen, steht ein alter, seltsam verschnörkelter blattloser Baum. Nur ein kurzer Augenblick, in dem sie das Gebilde wahrnimmt, doch er genügt, um sie dem Wahnsinn ein Stück näher zu bringen. Spontan hat sie das Gefühl, dieses Geästgerippe winkt nach ihr mit seinen knorrigen Holzfingern und ein langer Ast will nach ihr greifen. Schon hört sie wieder das knackende Geräusch. Sofort schließt sie die Augen und hastet, atemlos vor Entsetzen, ihrem vor ihr schwebenden roten Koffer hinterher. Mit starrem Blick, der nur noch an die Silhouette vor ihr geheftet ist, nicht mehr nach rechts oder links schauend, stolpert sie dem Eingang entgegen.
Dabei entgeht ihr der atemberaubende Anblick, den das Landgut dem Besucher bietet. Ihre Begleiterin stellt bereits den Koffer vor der Tür ab und greift nach der Klinke, da dreht sie sich ein weiteres Mal zu ihrem seltsamen Gast um.
»Kommen Sie herein! Ich kümmere mich sofort um Sie.
Zunächst bringe ich Ihr Gepäck in Sicherheit!«
Unendlich viel Kraft kosten Rita die letzten Meter. Die schwere alte Eingangstür fällt hinter ihr ins Schloss und sie ahnt: hier komme ich niemals wieder heraus…
Kapitel 3
Noch immer schwer atmend sitzt Rita auf einem mit scharlachrotem Samt bezogenen Sofa. Ein wenig zittrig greift ihre schneeweiße Hand nach der feinen Porzellantasse, über der sich der Qualm des heißen Kräutertees in kleinen Wölkchen kräuselt. Seufzend lehnt sie sich zurück, umfasst mit beiden Händen die Tasse und langsam schweift ihr Blick durch die Empfangshalle. So etwas hat sie noch nie gesehen.
Jeder Mitarbeiter eines Museums würde hier vermutlich freiwillig und mit feuchten Augen Jahre verbringen. Allein der Anblick des antiken, wie gerade erst einem Königshaus entzogenen Mobiliars, lässt jedem Betrachter den Mund offen stehen. Das schrullige Sofa, auf dem sie völlig entkräftet niedersank, als die Angestellte in die Küche eilte, um sie mit einem heißen Getränk zu versorgen, scheint für sie im Augenblick wie der letzte Zufluchtsort.
Zärtlich erobern ihre Finger das dunkle lackierte Holz, das mit geschwungener Schönheit den Samt beschützt. Seine leicht nach außen gebogenen Beine halten zuverlässig jeden, der auf ihm nach Bequemlichkeit sucht. Helle Kissen mit Goldfäden gestickten Blumenornamenten laden zum Verweilen ein. Ein flacher runder Tisch, der auf einem gedrechselten Fuß steht, passt ebenso gut ins Ambiente, wie zwei hohe Ohrensessel aus dem gleichen Holz und samtbezogenen Armlehen. Trotz ihrer offensichtlich vielen Lebensjahre sieht Rita nicht einen Kratzer oder gar ein Stäubchen an der Sitzgruppe.
Die weinrote Auslegware, gepaart mit feinen Teppichen, deren rotgold leuchtenden Ornamente hell und klinisch rein wirken, verführen zum Barfußgehen. Für wenige Sekunden kämpft sie mit dem Drang, sich ihrer Schuhe zu entledigen und die wunden Füße im weichen Flor zu vergraben. Sie stellt die Tasse zurück auf den Tisch neben die zarte Porzellanvase, deren Dekor dem des Teegedeckes sehr ähnlich ist. Ein duftender Blumenstrauß steht stolz in uraltem Porzellan.
Die weiträumige Empfangshalle bildet den Mittelpunkt und das lebendige Zentrum des Hauses. Hier beginnen alle Wege in jeden Winkel des Gebäudes. Man trifft sich, empfängt Gäste oder verweilt staunend. Jeder Zentimeter des hohen Raumes, der scheinbar keine eigene Decke hat und somit direkt im Dachstuhl endet, wirkt düster und einschüchternd. Seine Weite und Eleganz können die Wärme von Tageslicht nicht ersetzen. Ein goldener Käfig aus dem es kein Entkommen gibt.
Kaum fünf Minuten brauchte dieses Flair, um Rita in einer Gänsehaut ertrinken zu lassen. Der fensterlose Raum mit seinen vielen Katakomben ähnlichen Durchgängen, meist von schweren Stoffvorhängen umhüllt, nehmen ihr die Luft zum Atmen. Schon wünscht sie sich in den fürchterlichen Fichtenwald zurück. Die überreizten Nerven machen ihr zusehends zu schaffen. Selbst eine Fliege an der Wand würde für sie zu einem grausamen Monster werden, das sie umgehend verschlingen will.
Dabei wäre ein Freund von Relikten alteingesessener Familien Wochen allein nur damit beschäftigt aufzulisten, was er in der Halle sieht. Aber sie fühlt sich im Inneren des Hauses noch unwohler als draußen. Auch wenn es hier keinerlei Enge gibt. Die dunklen Stofftapeten, abgesetzt mit hellen Holzborden, verschlucken gefühlt jegliches Licht. Dennoch ist der Raum hell. Unzählige elegante antike Metallleuchter ragen in gleichmäßigen Abständen von den Wänden. Sobald sich dieser Glanz unter interessierten Gruppen herumgesprochen hat, kann sich das Haus vermutlich vor Gästeströmen und Anfragen Neugieriger nicht mehr retten.
Das zählt für Rita nichts mehr. Selbst eine ins Schloss fallende Zimmertür wird zum Problem. Es schallt aus dem vorderen Bereich des Raumes zu ihr herüber. Schon hört sie Schritte und noch ehe sie die Angestellte sehen kann, krallen sich ihre Hände in die auf dem Sofa liegenden Kissen. Ihr tobender Herzschlag hallt wie ein Echo von den hohen Wänden wider.
Ein wenig außer Atem kommt die Servicemitarbeiterin auf die Sitzgruppe zu. Unterm Arm klemmt ein Sanitätskasten und in dem rosigen Gesicht strahlt ein Lächeln, das nicht echt sein kann.
»So, Frau Dankeschön! Jetzt wollen wir Sie erst einmal verarzten!«
Mit geübten Handgriffen versorgt sie die Wunde am Knie, schaut nach ihrer verletzten Hand und reinigt die zerkratzten Finger.
»Kommen Sie, ich zeige Ihnen Ihr Zimmer! Ich denke, Sie sollten sich zunächst zurückziehen und etwas ausruhen!«
Ohne Widerrede erhebt sich Rita und folgt ihr in Richtung Treppe.
»Oh, entschuldigen Sie. Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. So früh hatte ich noch nicht mit Ihnen gerechnet. Mein Name ist Belinda Romanowski. Aber jeder sagt hier nur Belinda zu mir, die gute Seele des Hauses. Ich bin schon so lange in diesem Landsitz, dass manche Gäste glauben, ich wäre mit dem Haus verwandt. Ich bin hier die Hausdame und für das Wohl der Besucher verantwortlich. Wenn Sie sich etwas erholt haben und alle Gäste eingetroffen sind, stelle ich Ihnen das restliche Personal vor. Jetzt brauchen Sie erst einmal Ruhe. Kommen Sie!« Damit dreht sie sich zum Gehen.
Rita schlurft mit starrem Blick hinterher. Kurz vor der Treppe bleiben ihre erschrockenen Augen am Wandteppich in der Ecke gegenüber der Treppe hängen. Es ist ein Gemälde, unheimlich, mit dunkelroten und schwarzen Schatten gezeichnetes Porträt eines früheren Besitzers oder gar dem Erbauer des einstigen Herrschaftssitzes. Sein dunkler Blick verfolgt sie auf jeder Stufe des knarrenden Holzes, die sie nun nach oben steigt. Auf dem Podest glaubt sie einen Windhauch zu spüren und eine leise Stimme, weit entfernt säuselt unheimliche Worte die sie nicht versteht.
Hört denn der Albtraum nie auf?, denkt sie erneut.
Nur mit Mühe reißt sie sich von dem magischen Antlitz an der Wand los und steht auf dem Flur einer großzügigen Empore. Das Treppenhaus mit seinem geschwungenen emporragenden Verlauf folgt den mit düsteren Tapeten gestalteten Wänden in die nächste Etage. Wenn auch das Holz der Stufen dank seines vermutlich hohen Alters nachgibt und jede Belastung mit einem empfindlichen Ächzen beantwortet, wirken die Stufen keineswegs abgenutzt.
Der rot-schwarz gemusterte Läufer folgt dem Treppenverlauf und geht in dieselbe Auslegware über, wie im Eingangsbereich. Es dämpft den Schall der sehr hohen Halle. Das rotbraune Holz der Geländerelemente passt perfekt zur gesamten Inneneinrichtung. Ein aus zartem hellen Holz gefertigter Handlauf schmeichelt hingegen dem sonst schaurigen Anblick.
Geländer, Teppiche und Handläufe folgen der Empore, die sich über dem gesamten Eingangsbereich erstreckt. Die Treppen werden von zwei durchgehenden Marmorsäulen gehalten, die bis unters Dach reichen. Auf Höhe des Podestes ragen aus dem Marmor zwei geschnitzte Figuren in Form wilder Hunde hervor. Bedrohlich fletschende Zähne empfangen sie am Ende des Treppenaufganges.
In dem Spiegel an der gegenüberliegenden Wand sieht Rita eine Frau, der das Entsetzen ins Gesicht geschrieben steht. Das blasse Antlitz und die tiefen Augenringe unter den hübschen braunen Augen, erzählen von dem gerade durchlebten Albtraum. Ihr Gesicht scheint in der kurzen Zeit um Jahre gealtert zu sein. Dabei hinterließ die Vier vor der Null bisher noch keine Spuren auf ihrer glatten Haut.
Währenddessen eilt Belinda vor ihr her, durchquert einen Torbogen, der von der Empore aus in einen weiteren Flur führt. Die weiche Auslegware auf dem Boden entzieht auch hier jeglichen Ton, zumal auf ihr der rot-schwarze Läufer wie ein leuchtender Leitpfad den Weg weist.
Vielleicht ist das alte Gemäuer sehr kalt und neigt zu feuchten Wänden?, überlegt sie.
Wie der Eingang eines Tempels wirkt jeder der Bögen, die in verschiedene Richtungen führen. Marmorsäulen an ihren Seiten werden von hellbraunen Samtvorhängen umspielt. Die lassen zumindest auf eine gemütlichere Atmosphäre in den Gästezimmern hoffen.
Ritas Blick ist noch immer auf ihren Koffer fixiert, dessen Gummirollen sich quietschend über die Teppiche bewegen. Als sie um die nächste Ecke biegt, sieht sie Belinda gerade auf einen kleinen Vorraum zugehen. Offenbar befinden sich hier bereits Gästezimmer, wobei keines von ihnen für sie bestimmt ist. Zwei kleine Stufen, begleitet von einem flachen Holzgeländer, führen hinauf und um die Ecke.
Das ist eine durchaus typische Bauweise für ein so altes über Jahrhunderte gewachsenes Gemäuer, denkt sie. Entweder baute man nach der Fülle des Geldbeutels oder es kam mit jedem neuen Besitzer auch ein neuer Anbau hinzu, da ist sie sich ganz sicher.
Alle Wände, Decken und Böden sind im selben Stil gehalten. Zahlreiche Gemälde mit Landschaften rund um den Landsitz, Porträts oder Stillleben hängen in goldfarbenen Rahmen an den Wänden. Ebenfalls goldfarben sind die zweiarmigen Leuchter dazwischen. Sie spenden das notwendige Licht. Auch in diesem Bereich des Hauses fehlt es an Tageslicht. Antike Möbel wie Sitzgruppen, Sekretäre und Vitrinen verführen ganz sicher jeden zum Relaxen. Rita hingegen braucht nur noch eines: ein eigenes Zimmer mit einer abschließbaren Tür.
Der nächste Flur ist ebenso mit einem Torbogen und Samtvorhang gestaltet wie die anderen zuvor. Wenn auch seine Decke mit vermutlich edlem Holz getäfelt wurde, scheint es als würde es den Betrachter erdrücken. Es nimmt ihm schlichtweg die Höhe. Wie die vielen Palmen und andere hochgewachsene Grünpflanzen, die in allen Fluren der Halle und im Treppenhaus stehen - jede von ihnen im edlen Tontopf gewachsen - mit dem immer währenden künstlichen Licht zurechtkommen, ist ihr ein Rätsel.
Vor der zweiten Tür bleibt Belinda endlich stehen, zieht einen großen gusseisernen Schlüssel aus der Spitzenschürze und schließt sie auf. Unverzüglich ist sie mit Ritas Gepäck dahinter verschwunden.
»So, Frau Dankeschön. Da wären wir!«
Sie schließt hinter sich die Tür, geht zum Kamin und prüft, ob genügend Holz aufgelegt wurde.
»Jetzt ruhen Sie sich aus. Um den Kamin brauchen Sie sich nicht kümmern. Es ist für genügend Wärme gesorgt!«
Sie dreht sich zur Tür und mit einem unergründlichen Lächeln sieht sie Rita an. Bevor sie nach draußen geht, steckt sie ihren Kopf noch einmal herein.
»Wie ich Ihnen bereits sagte, sobald alle Gäste eingetroffen sind und ihre Zimmer bezogen haben, wecke ich Sie!«
Dann zieht sie die Tür ins Schloss und sie hört ihre Schritte, die sich auf den Teppichen schnell entfernen. Sind es Sekunden oder Minuten, sie weiß es nicht. Ihr erschöpfter Körper und der überforderte Geist verlangen, dass sie sich entspannt. Sie setzt sich aufs Bett und lässt den Blick schweifen.
Bereits der erste Eindruck zeigt, sie befindet sich in einem normalen Gästezimmer. Langsam und sich dabei immer weiter beruhigend, schaut sie sich um. Allmählich wird ihr der Scharm bewusst, den dieses Ambiente versprüht.
Gut, ich werde mich jetzt ausruhen und mir dann das gesamte Terrain genauer ansehen. Ich brauche Stoff zum Schreiben - deshalb bin ich hier! Zufrieden mit ihren Gedanken vergisst sie die unruhige Atmung und auch ihr Puls normalisiert sich.
Das Himmelbett, auf dem sie sich niederließ, hat einen Metallaufsatz ohne entsprechenden Vorhang. Die Auslegware ist ebenso angenehm, wie jede zuvor. Jetzt endlich entledigt sie sich ihrer Schuhe und streckt die Zehen auf dem hellblauen, mit zarten weißen Punkten verzierten weichem Velur aus.
Anders als im restlichen Haus, beherrschen hier helle Farben die Wände und Decke. Die zarten luftigen Vorhänge und Gardinen an der großen Fensterfront lassen sie erleichtert aufatmen. Gegenüber des Bettes steht eine zwar ebenfalls sehr alte, jedoch mit sehr feinem Holz gearbeitete Kommode. Sie steht auf hohen kunstvoll gedrechselten Beinen, die ihr Alter nur bedingt verschweigen können. Zwei breite Schubladen mit siberfarbenen Griffen sind wunderschön. Beim Blick auf die Kommode verspürt sie spontan den Drang, sie zu öffnen. Warum denn auch nicht? Schließlich befinde ich mich in einem Gästezimmer. Da darf ich davon ausgehen, jegliches
Möbelstück nutzen zu dürfen.
Die erste Schublade ist erwartungsgemäß leer. In der Zweiten liegt ein Bilderrahmen, oval aus zartem hellen Holz und mit der Rückseite nach oben. Bereits als sie nach dem Bild greifen will, glaubt sie wieder eine Stimme zu hören. Sie klingt hilflos, jammernd oder weinend, in jedem Fall mit viel Verzweiflung. Erschrocken lässt sie das Bild fallen. Dabei schaut sie auf und in den an der Wand hängenden Spiegel. Er wirkt edel und wird von zwei Porzellanleuchtern umrahmt. Ein weiteres Mal sieht sie in ihr vor Entsetzen erstarrtes Gesicht. Es trägt die Züge einer Frau, die am Ende ihrer Kräfte angekommen ist. Eine lange schwarze Haarsträhne hängt ihr wirr über das linke Auge. Früher trug sie ihr Haar sehr kurz, fand ihre Locken zu widerspenstig. Seit dem Ende der Dreißig ließ sie es wachsen, überzeugt davon: langes Haar verhindert das Älterwerden.
Ohne die Kommode zu schließen, geht sie rückwärts und lässt sich aufs Bett sinken. Leise schluchzend fällt sie allmählich in einen unruhigen Schlaf.
Sie hört Geräusche, sie rennt, sie schreit… und plötzlich ist sie wach…
Sofort setzt sie sich auf und versucht, mit der Hand die Fetzen des Albtraumes wegzuwischen. Im Zimmer ist es still. Nur das zarte Knacken des brennenden Holzes im Kamin dringt an ihr Ohr. Endlich fühlt sie sich besser. Sie lässt die Beine aus dem Bett baumeln. Da fällt ihr Blick auf die offene Kommode. Wie von einem Magneten angezogen steht sie auf und geht auf sie zu. Rita greift hinein und ohne irgend einen weiteren Vorfall kann sie nun das Bild umdrehen. Es ist ein Porträt, alt aber wunderschön. Es zeigt das Gesicht einer strahlenden lebensfrohen Frau.
Was ist mit ihr geschehen? Augenblicklich schweifen ihre Gedanken ab.
Das leise weinende Jammern über dem Spiegel verbirgt vielleicht ein Geheimnis aus längst vergangener Zeit. Sofort ist die Neugier der Autorin geweckt und ihr Instinkt begibt sich auf alte verlockende Spuren und vielleicht auf den Weg zu neuen Geschichten.
Zunächst begutachtet sie ihr Gästezimmer. Die hellblauen Tapeten wirken sehr frisch. Als sie diese berührt, fühlt sie Stoff oder Seide. Rita kann es nicht definieren. Ähnlich wie die zarten Holzhandläufe im Treppenhaus sieht der getäfelte Sockel am unteren Teil der Wände aus. An der Ecke steht ein rustikaler museumsreifer Metallständer mit einer Waschschüssel obenauf. Obwohl aus einem anderen Jahrhundert, ist er dennoch komplett ausgestattet mit allem, was man für die kleine Wäsche benötigt. Sofort schaut sie sich um.
Wo ist das Badezimmer? Das gibt es hier offenbar nicht. Vielleicht geht man im Allgemeinen hierfür an den Brunnen?
Zum ersten Mal seit heute Morgen folgen ihre Mundwinkel einem zarten Lächeln. Sie stellt sich vor, wie eine Gruppe Geschichten erzählender Leute beim gemeinschaftlichen Bad am Brunnen aufgeregt ihre Badeschwämme zücken.
Kapitel 4
Wenig später folgt Rita Belinda, sowie dem roten Läufer durch die verwinkelten Flure nach unten. Anders als bei ihrer Ankunft, herrscht jetzt geschäftiges Treiben in der Empfangshalle. Aufgeregte Stimmen hallen von den Wänden zu ihnen hinauf.
Vor einer halben Stunde wurde sie von der Hausdame informiert, dass nun alle Gäste eingetroffen sind, ihre Zimmer bezogen haben und zur Begrüßung im Salon zusammenkommen werden.
Ritas Blick, der von der Empore über die Halle streift, ist nun klar und erfasst die Andersartigkeit des Ortes, den sie gemietet hat. Von oben sieht sie im hinteren Teil des Raumes etwa in seiner Mitte ein Denkmal. Das ähnelt einem dunklen Monolith, der quadratisch geformt in einem seltsam grün leuchtenden Licht strahlt. Unter ihm steht ein gemauerter Block. Rundherum verläuft ein flaches Geländer mit demselben Handlauf wie im Treppenhaus. Auf dem schwarzen Stein befindet sich eine kupferfarbene Tafel mit einer eingearbeiteten Gravur, deren Inhalt Rita von oben nicht erkennen kann.
Vielleicht handelt es sich hierbei um eine Ahnentafel aus längst vergangener Zeit oder die Geschichte des ehemaligen Herrschaftssitzes? In jedem Fall scheint sie dem Eigentürmer sehr wichtig zu sein.
Vor dem Gedenkstein steht ein ebenfalls kupferfarbener Globus, gehalten von schmalen Metallringen. Sein Anblick lässt sie sofort an ein Planetensystem denken. Dieser Eindruck war vermutlich auch genauso beabsichtigt. An einigen Stellen ragen aus ihm Pfeile, die aussehen wie übergroße Stecknadeln. Sie könnten Hinweise zu weiteren geheimnisvollen Orten sein, die eine uralte Verbindung mit dem Landgut hatten.
Vor ihrem nervösen Blick schwebt das leuchtende Samtgrün von Belindas Overall. Darüber trägt sie eine weiße bestickte Schürze. Was Rita vor zwei Stunden noch nicht wahrnehmen konnte, bemerkt sie jetzt. Es lässt sie ihre glatte Stirn nachdenklich runzeln. Belindas Auftreten wirkt unnatürlich und einstudiert, ebenso wie das zuvorkommende Lächeln. Selbst das weiße Häubchen über dem kurzen grauen Haar erzählt von Extravaganz und Geheimnisvollem.
Wobei ihr Benehmen auch durchaus zum gesamten Ambiente gehören könnte. Vielleicht empfindet der Besitzer und Vermieter des Gutes eine solche Atmosphäre, als geniale bizarre Geschäftsidee. Nach dem Motto: »Exzentrisches Haus sucht gruselsüchtige Gäste!«
Das oder ähnliche Gründe könnten natürlich hinter all dem stecken. Es würde ihr zumindest Das erklären, wofür ihr Gehirn nicht bereit ist, eine logische Antwort zu finden.
Sie folgt der Hausdame zum Haupteingang. An dessen linker Wand bleibt sie vor einer zweiflügligen Holztür stehen. Sie ist sehr hoch und verfügt über silberfarbene Beschläge sowie eine elegant geformte Klinke. Ihr rotbraun leuchtender Holzrahmen sticht sofort ins Auge.
Gemeinsam betreten sie den Salon. Er ist ein ebenfalls sehr hoher und großzügiger Raum. Seine breite Fensterfront, die die gesamte Wand einnimmt und deren Fenster vom Boden bis zur Decke reichen, erhellen augenblicklich Ritas Stimmung. Sie scheinen tatsächlich die Letzten zu sein.
Ihr Blick hängt wie gefesselt an den langen locker herunterfallenden, aus dunkelgrünem Samt gefertigten Vorhängen. Sie wurden rechts und links mit einer geflochtenen Kordel an der Wand befestigt. Es erlaubt ihr freie Sicht nach draußen. Sie sieht einen Park mit Brunnen und alten Laubbäumen. Der ovale Teich, mit kräftigen bereits im kalten Herbstwind absterbenden Wassergräsern macht hingegen einen verlassenen und vernachlässigten Eindruck.
Auch hier sind Teppiche, Wände und Möbel im gleichen Stil gehalten, wie in den anderen Bereichen des Hauses. Hohe, gut gepflegte Grünpflanzen, deren Art Rita teilweise noch nie gesehen hat, geben dem Salon etwas Lebendiges. Eben genau das, was der Eingangsbereich so schmerzlich vermissen lässt. An den runden klobigen Holztischen sitzen bereits ihre Gäste. Beim Eintreten drehten sich alle Köpfe gleichzeitig zu ihr. Augenblicklich spürte sie eine große Nervosität und musste schlucken.
Ihre zarte grazile Figur versteift sich noch immer. Verlegen fährt sie sich durch das locker über ihre Schultern fallende Haar. Obwohl sie den Umgang mit Fremden von Messen, Lesungen und anderen Veranstaltungen gewohnt ist, bietet diese Zusammenkunft eine andere intimere Atmosphäre.
Das kann ja heiter werden! Egal, da muss ich jetzt durch!
Vielleicht hört dann endlich der Spuk in meinem Kopf auf. Denn immerhin bin ich nicht mehr allein. Ihre Gedanken geben ihr Mut. Der Versuch, sich selbst zu beruhigen, funktioniert leider nur bedingt.
Nicht jeden ihrer Gäste hat sie schon einmal gesehen, geschweige denn gesprochen. Der Blick auf Manchen von ihnen setzt der Verrücktheit ihrer bescheuerten Idee noch die Krone auf. Sie reckt ihren Hals, strafft den schlanken Körper und räuspert sich.
»Werte Gäste!«, kommt überraschend aus Richtung Tür.
Jeder dreht sich automatisch der vernommenen Stimme zu. Die gehobene Aussprache der Hausdame ist klar und deutlich. Sie passt weder zu ihrem Äußeren und noch weniger zu dem derben Auftreten. Selbst ihre Worte klingen einstudiert und aufgesagt wie ein unerwünschtes und verhasstes strophenlanges Gedicht.
Ihre grünen Augen, die etwas tief in den Höhlen liegen, geben ihrem strengen Gesichtsausdruck, gemeinsam mit dem stechenden Blick, eine Vorahnung und ein unangenehmes Gefühl mit auf den Weg. Rita bekommt spontan den Eindruck, sie hat es mit einer zwielichtigen Person zu tun, die schon einiges erlebte. Das aufgesetzte, sehr übertriebene Lächeln sowie das beinahe unterwürfige Benehmen können darüber nicht hinweg täuschen.
Die erstaunten Gesichter einiger Gäste bestätigen ihr, dass sich das Gefühl auch bei anderen sofort breit macht. Vielleicht können auch sie das Kribbeln im Nacken spüren, das Rita befällt, bei jedem Blick den sie dem alten Landsitz widmet. Dieses Phänomen, das jeden anderen empfindsamen Menschen ebenso überkommt, würde ihr natürlich sofort den beängstigenden Gedanken nehmen, nervlich vor dem totalen Zusammenbruch zu stehen.
»Ich begrüße Sie alle recht herzlich im Landgut Balandero. Das ist Ihre Gastgeberin Rita Dankeschön. Bevor ich das Wort an sie weitergebe, möchte ich die Gelegenheit nutzen und Ihnen das Personal unseres uralten Gemäuers vorstellen.« Bei dieser Formulierung schüttelt der Mann im minzgrünen samtbezogenen Sessel seinen Kopf und schaut sich fragend um.
So, du glaubst also auch im falschen Jahrhundert gestrandet zu sein? Bei dem Gedanken zieht ein sanftes Lächeln über Ritas Wangen.
Er bemerkt es und schaut sie zweifelnd an. Sie antwortet ihm mit der Hand. Ein kleines Zeichen, was er auch sofort versteht.
Warte es ab! Das wird sich sicher bald aufklären!
Nach und nach kommen die Angestellten herein und stellen sich wie zu einer Parade in einer Reihe vor ihnen auf. Die Szene wirkt gespenstisch, wie auferstanden aus hunderten von Jahren der Vergangenheit, als es noch üblich war, demütig den angekommenen Herrschaften seine Aufwartung und Ehrerbietung entgegen zu bringen. Leise kommt Gemurmel auf.
Zwei junge Männer, die sehr geschäftstüchtig aussehen finden den Auftritt amüsant.
»Wie für uns gemacht! Besser geht es nicht!«, wirft der eine dem anderen leise und grinsend entgegen.
Er nickt nur und notiert eifrig auf einem mitgebrachten Schreibblock, was er vermutlich in der kurzen Zeit erlebte.
»Nochmals: Guten Abend! Mich kennen Sie ja bereits. Bevor ich Ihnen meine Kollegen vorstelle, möchte ich ein weiteres Mal darauf hinweisen, dass jeder hier im Haus für alle Anliegen der Gäste, ganz egal ob Tag oder Nacht, zur Verfügung steht. Und nun der Reihe nach: Zum ersten wäre da unser Haus- und Hofmeister Hubertus. Natürlich dürfen Sie ihn auch so ansprechen. Wenn es allerdings nicht unbedingt notwendig ist, wird er sich nicht im Haus aufhalten. Seine Hauptaufgaben umfassen ohnehin zumeist den äußeren Bereich des Hauses, sowie der Pflege des Gartens. Nur für Reparaturarbeiten und zum Beheizen der zahlreichen Kamine in den Zimmern kommt er ins Haus. Aber Sie werden schnell bemerken, von Hubertus werden Sie weder etwas sehen noch hören!«
Der Stallmeister ist ein Mann, dessen ungepflegtes Äußere die Aussage durchaus bestätigt. Er sagt kein Wort und schaut nur mit unbewegter Miene in die Runde. Wobei sich in den undurchdringlichen Augen ein aufmerksames Beobachten vermuten lässt. Sein Alter ist schlecht einzuschätzen, vielleicht zwischen fünfzig und sechzig Jahren. Eine Tatsache die natürlich täuschen kann, denn eine ordentliche Rasur und angemessene Kleidung könnten hierbei schon helfen.
Seine wilde schwarze Mähne, der braune Teint, die dunklen Augen und die kräftige Statur lassen eine südländische Herkunft vermuten. Seine gelblichen Finger, deren Nägel vermutlich lange keine Pflege oder Seife gesehen haben, zeugen von starkem Rauchen. Die Haut an Oberarmen, Hals und Gesicht wirken wie gegerbtes Leder. Der Mann ist beinahe zwei Meter groß, schlank fast dünn, aber mit kräftigen Oberarmen. Er gehört offenbar zum Inventar des Hauses. Seine Bleibe ist über dem Stall und der Werkstatt.
Na dem möchte ich im Dunklen nicht begegnen. Bei so einem Angestellten kann man getrost auf einen Wachhund verzichten!, denkt Rita erschauernd.
Beim Blick in das entsetzte Gesicht der jungen Frau vorm Kamin erkennt sie sofort. Auch sie beschleicht ein ähnliches Gefühl. Man bleibt besser in den Räumen des Hauses. Vielleicht ist das auch genauso beabsichtigt. Warum sonst beschäftigt man einen Menschen mit diesem äußeren Erscheinungsbild? Hinzu kommt ein Ambiente, was vor Prunk und Reichtum protzt. Will man von Anfang an vermeiden, dass sich die Gäste auf dem Außengelände herumtreiben?
Das Gefühl, hier passt etwas nicht zueinander, wird sofort wieder stärker und beim Blick in die Runde der teils zweifelnden Gesichter weiß sie. Alle haben mehr oder weniger Gleiches erlebt, seit sie sich auf den Weg zu dem geheimnisvollen Ort begaben. Wobei jeder von ihnen mit dem Stallmeister bereits Bekanntschaft gemacht hat. Er stand zu einem verabredeten Zeitpunkt am Parkplatz und brachte die Gäste samt ihrem Gepäck zum Anwesen. Nur Rita machte hiervon keinen Gebrauch. Sie wollte unbedingt zuerst anwesend sein, um vielleicht einen Vorteil zu haben. Was für ein Irrtum!
»Diese junge Frau ist Nicole. Sie ist unser Stubenmädchen und wird sich um Ihre Zimmer kümmern. Darüber hinaus können Sie sich natürlich mit jeglichem Anliegen auch an sie wenden«, setzt Belinda ihren Vortrag fort.
Nicole ist blond, schlank, etwa zwanzig Jahre alt, ebenfalls mit einem grünen Overall und bestickter Schürze gekleidet. Sie tritt einen Schritt nach vorn, macht einen altmodischen Knicks und danach wieder einen Schritt zurück. Das schulterlange Haar ist ordentlich zu einem Knoten gebunden. Ihre sehr angenehme Erscheinung lässt ein Leuchten über die Gesichter der anwesenden Männer ziehen.
Rita und die ältere Dame im Rollstuhl neben ihr, ziehen verwundert die Augenbrauen hoch. Als sich Nicole nach ihrer Verbeugung zurückzog, breitete sich ein wärmendes intimes Lächeln mit Augenzwinkern auf dem sonst so distanzierten Gesicht der Hausdame aus. Sicher nur für den Bruchteil einer Sekunde. Sie reichte jedoch aus, um allgemeine Verwirrung zu stiften.
Abermals befällt sie das Gefühl von unerklärlichen, jedoch nur zu offensichtlichen Ungereimtheiten, zusätzlich zu ihren einstudierten und vorgetragenen Floskeln. Noch unverständlicher findet sie die Tatsache, dass Nicole nur zu den Semesterferien im Haus ist. Sie studiert Archäologie. Nach diesem Wochenende wird sie in den wohlhabenden Rechtsanwaltshaushalt ihrer Eltern zurückkehren.
Wie kann das sein?, denkt sie verwirrt.
Ein so warmherziger Umgang passt nicht zu Belinda. Noch dazu gegenüber einer Angestellten, die sie angeblich erst seit wenigen Wochen kennt. Nicole ist vermutlich hochgebildet und allseits interessiert. Auch hat sie hervorragende Umgangsformen. Alles Voraussetzungen, um sich schnell in ein neues Umfeld einzufügen. Und doch, der Zweifel nagt an ihr und wenn sie in die Gesichter der anderen schaut, ist sie nicht die Einzige.
»Unser Haus verfügt über eine exzellente Küche. Dafür sorgt unsere Köchin Berta!«