Flowers & Bones, Band 2: Kuss der Catrina - Sandra Grauer - E-Book

Flowers & Bones, Band 2: Kuss der Catrina E-Book

Sandra Grauer

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Beschreibung

Am Tag der Toten erwacht die Magie zum Leben Ausgerechnet vor einer Fernsehkamera verwandelt sich Valentina erneut in ihre Catrina-Gestalt und wird dadurch zur Zielscheibe bei der Jagd auf übernatürliche Wesen! Doch das ist nicht ihre einzige Sorge, denn ihr Bruder holt Tote aus dem Jenseits zurück – ohne zu wissen, welchen Preis er dafür bezahlen muss. Gleichzeitig versucht die Hexe Lily alles, um Valentina von ihrer Unschuld zu überzeugen. Kann Valentina ihr wirklich wieder vertrauen? In all dem Trubel merkt niemand, dass sich eine noch viel größere Bedrohung zusammenbraut … *** Urban Romantasy vor der atmosphärischen Kulisse des Día de los Muertos! Episch. Traumhaft. Magisch! *** Entdecke die fantastisch-romantischen Buchwelten von Sandra Grauer bei Ravensburger: Flowers & Bones Band 1: Tag der Seelen Band 2: Kuss der Catrina Flame & Arrow Band 1: Drachenprinz Band 2: Elfenkriegerin Clans of London Band 1: Hexentochter Band 2: Schicksalsmagie

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Seitenzahl: 507

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2024

Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag

© 2024 Ravensburger Verlag

Text © 2024 Sandra Grauer

Dieses Werk wurde vermittelt durch die litmedia.agency, Germany.

Lektorat: Franziska Jaekel

Umschlaggestaltung: Zero Werbeagentur, München

Verwendete Bilder von © Dmitriy Rybin, © WhyWork, © Siam Vector, © kostins, © k_yu, © Olga_Rusinova, alle von Shutterstock

Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.

ISBN 978-3-473-51207-2

ravensburger.com

 

Für Christian, Niklas und Betty

  

Und für alle, die sich manchmal andersoder einsam fühlen. Ihr seid nicht allein!

 

Playlist

Wiz Khalifa, Charlie Puth    See You Again

Neoni    Darkside

J Balvin, Ed Sheeran    Sigue

Fireboy DML, Ed Sheeran    Peru (Acoustic)

Ishawna, Ed Sheeran    Brace It

Layto, Neoni    Ghost Town

Neoni    Loser

The Gaslight Anthem    The ’59 Sound

Tonight Alive    The Other Side

We Are The In Crowd    Reflections

Hit The Lights    Fucked Up Kids

Hey Violet    Better By Myself

Against The Current    Paralyzed

Go Radio    I Won’t Lie

Alicia Keys    If I Ain’t Got You

Alicia Keys    Fallin’

Panic! At The Disco    House Of Memories

Black Veil Brides    In The End

Egzod, Maestro Chives, Neoni    Royalty

Stileto, Madalen Duke    Dead Or Alive

Muse    Map Of The Problematique

Thirty Seconds To Mars    This Is War

Prolog

Irritiert blickte Cassandra sich um. Sie hatte sich das Jenseits nie bildlich ausgemalt, nicht einmal, nachdem sie gestorben und als Geist zwischen den Welten gefangen gewesen war. Trotzdem hatte sie automatisch eine Vorstellung gehabt, wie ihr nun bewusst wurde, doch sie entsprach ganz und gar nicht dem, was sie vor sich sah. Sie hatte mehr Licht, mehr Farbe, mehr Fröhlichkeit erwartet. Lag es an Valentina, die sie zusammen mit ihrem Zwillingsbruder hergebracht hatte und die stets bunt gekleidet und gut gelaunt war? Oder an Emiliano, der Cassandra von seinem kurzen Aufenthalt im Jenseits erzählt hatte? Sah das mexikanische Jenseits vielleicht anders aus? Gab es überhaupt unterschiedliche Orte, an die man nach dem Tod kam? So oder so, ein Ort, der für den Rest des Daseins vorgesehen war, sollte definitiv einladender wirken als das hier.

Sie befand sich in einem dunklen Gang, der von Fackeln erleuchtet wurde und zu einer Art Höhlensystem gehörte. Sie schluckte. War sie möglicherweise gar nicht im Jenseits gelandet, sondern in der Hölle?

Vorsichtig folgte sie dem Gang, der wenige Schritte später nach links abbog und in einer gewaltigen Halle mündete, die zu beiden Seiten von Wachen flankiert wurde. Zumindest nahm Cassandra an, dass es sich bei den Männern und Frauen, die in Rüstungen steckten und mit Schwertern bewaffnet waren, um Wachen handelte. Unsicher blickte sie ihnen entgegen, doch niemand beachtete sie, weshalb sie ihren Weg langsam fortsetzte.

An der hinteren Wand der Halle erspähte sie ein großes Holztor neben einer mehrere Meter hohen, T-förmigen Konstruktion aus dunklem Holz, an deren beiden Auslegern Schalen aus poliertem Kupfer hingen. Das Gebilde wirkte wie eine Waage. Auf der anderen Seite des Tores erhob sich ein Podest aus schwarzem Marmor mit einem rotgoldenen Thron, auf dem ein Mann saß. Ob das der Seelensammler war? Allein bei dem Gedanken stieg eiskalte Wut in Cassandra auf. Sie hatte nicht vor, sich ihm kampflos zu ergeben, und spürte das vertraute Summen ihrer Magie in sich. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie dieses Gefühl während der letzten Wochen nie wahrgenommen hatte. Zwischen ihren Fingern knisterte die Elektrizität, bereit, sich in einem gewaltigen Blitz zu entladen, doch Cassandra zwang sich, ruhig zu atmen und sich nichts anmerken zu lassen, während sie auf den Thron zuging.

»Tritt vor.«

Die tiefe, dunkle Stimme des Seelensammlers ließ den Boden erzittern und jagte Cassandra einen Schauer über den Rücken. Noch nie zuvor hatte sie etwas Derartiges gehört. Diese Stimme war nicht nur alt, sie existierte bereits seit Anbeginn der Zeit. Cassandra konnte sich nicht erklären, woher sie das wusste, aber diese Stimme gehörte einer Macht, die größer war als jede andere, der sie in ihrem Leben begegnet war.

Sie und den Seelensammler trennten nur noch wenige Meter, als ein Mann aus dem Schatten trat und vor dem Thron auf die Knie sank. Der Seelensammler hatte also gar nicht mit ihr gesprochen.

Er sah auf den knienden Mann hinab. »Darragh O’Rourke, Sohn von Isabel Fitzgerald und König Rian III O’Rourke …«

»Darragh!« Cassandra schlug sich eine Hand vor den Mund. Das konnte nicht sein, Darragh konnte unmöglich hier sein, doch als der Mann den Kopf herumriss, erkannte sie eindeutig Aidens und Sharnis Onkel, der auch ihr angeheirateter Onkel war.

»Cassie! Bei Voldragor, was …«

Er brach ab und sah kurz zum Seelensammler hinauf, der die Szene regungslos verfolgte. Dann sprang Darragh auf. Er und Cassandra rannten aufeinander zu und fielen sich in die Arme. Sie konnte ein Schluchzen nicht unterdrücken.

»Was machst du hier?« Darragh sprach leise, als sei er sich nicht sicher, ob sie sich unterhalten durften.

Sie wusste, dass er gestorben war. Aiden hatte es ihr mithilfe von Valentina erzählt. »Das fragst du mich? Ich dachte, du wärst längst übergetreten. Und was will der Seelensammler von dir?«

Darragh stutzte. »Seelensammler?«

»Können wir dann bitte weitermachen?«, mischte sich der Mann auf dem Thron ein.

Er klang eher belustigt als genervt, doch Cassandra konnte er nichts vormachen. Egal, wie freundlich er sich geben mochte, er war ein Monster. Niemals würde sie zulassen, dass er auch noch Darragh versklavte. Auch wenn sie nicht damit rechnete, ihn überwältigen zu können, schoss sie einen Blitz auf den Seelensammler ab, der ihn mitten in der Brust traf. Sofort zogen die Wachen ihre Schwerter und stürzten auf Cassandra zu. Weitere Magie sammelte sich zwischen ihren Handflächen.

»Was tust du denn da?!«, schrie Darragh neben ihr entsetzt auf.

In diesem Moment durchbrach ein dröhnendes Lachen das Chaos. Überrascht hielt Cassandra inne, auch die Wachen blieben stehen. Der Seelensammler lachte so laut, dass die Wände vibrierten und der Boden bebte. Er war vollkommen unversehrt. Erneut floss Wut durch Cassandras Adern, doch bevor sie einen zweiten Blitz auf den Weg schicken konnte, ergriff der Seelensammler das Wort.

»Du kannst mich nicht verletzen, Cassandra Murphy, denn ich bin nicht derjenige, den du verletzen willst.«

»Aber …«

»Erlaube, dass ich mich vorstelle. Ich bin der Schöpfer jener wundervollen Wesen, die du Drachen nennst. Mein Name ist …«

»Voldragor«, hauchte Cassandra. »O mein Gott!« Sie hatte versucht, Voldragor zu töten. Die Erkenntnis schnürte ihr beinahe die Luft ab. Was würde er jetzt mit ihr machen?

»An diesem Punkt wird es spannend, denn eigentlich bin ich nicht dein Gott, sondern seiner.« Voldragor wies auf Darragh, der fassungslos den Kopf schüttelte. »Aber dazu kommen wir gleich, erst möchte ich mich um deinen Onkel kümmern.«

Darragh erwachte aus seiner Starre, trat erneut vor Voldragor und ging auf die Knie.

Die Miene des Drachengottes wurde ernst. »So habe ich zu den Meinen gesprochen: Wer mein Zeichen trägt und sich als würdig erweist, dem gewähre ich nach seinem Tod Einlass nach Drachenheim.«

Voldragors Ritual, schoss es Cassandra durch den Kopf. Am Vorabend der ersten Schlacht gegen die Fae hatte sie daran teilgenommen. Sharni hatte ihr Voldragors Zeichen auf die Stirn gemalt, obwohl Caroline sie gewarnt hatte, das Ritual nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Was soll schon schiefgehen?, hatte sie daraufhin nur erwidert.

Unterdessen fuhr Voldragor fort. »Darragh, du trägst mein Zeichen und hast dein Volk im Krieg verteidigt. Du hast dein Leben gegeben, um das Leben deines Königs zu schützen.«

In der Luft erschien eine Art Hologramm, und Cassandra sah, wie Darragh Aiden vor dem Eingang zum Höhlensystem der Drachen beiseitestieß und dadurch selbst von einem Pfeil getroffen wurde. Das Bild wechselte und zeigte Darragh extrem bleich auf einer Pritsche liegen. Neben ihm saß seine Frau Isla, Cassandras Tante, und zu den Klängen von Fairytale of New York tat Darragh seinen letzten Atemzug.

Cassandra konnte die Tränen nicht länger zurückhalten, auch Darragh wischte sich mit dem Ärmel über die Augen.

»Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass dein Bruder und seine Frau aufgrund deiner Handlungen durch die Hand des Feindes sterben mussten.«

Das Hologramm zeigte, wie eine sehr viel jüngere Isla von einem Balkon auf den Rücken eines blau geschuppten Drachen sprang und mit ihm davonflog. Das Bild wechselte und zeigte Kaileys Onkel Damian, der drei Pfeile in die Brust einer Drachin schoss, die daraufhin abstürzte und starb. Cassandra riss die Augen auf, als ihr klar wurde, dass die Drachin Aidens und Sharnis Mutter sein musste. Kaileys Onkel hatte sie umgebracht?

Das Hologramm wechselte ein letztes Mal und zeigte nun einen Mann, der in eine tiefviolette Robe gehüllt war und Drachenwein trank. Das war sicher Aidens und Sharnis Vater, er hatte die gleiche Nase wie die Geschwister und auch wie Darragh. Er begann zu zittern und legte sich mit letzter Kraft in sein Bett, wo er unter heftigen Krämpfen verstarb.

Voldragors Blick lag ernst auf Darragh, der sichtlich um Fassung rang. »Du hattest die Aufgabe, dein Volk anzuführen. Stattdessen hast du dich für die Liebe zu einer Frau entschieden. Obgleich ich deine Wahl verstehen kann, hatte sie zur Konsequenz, dass dein Bruder die Rolle des Königs übernehmen musste, wodurch seine Familie zum Ziel der Fae wurde.«

Darragh wischte sich über die Augen und sah den Drachengott an. »Haben mein Bruder und meine Schwägerin Frieden in Drachenheim gefunden?«

»Ich habe beide für würdig befunden.«

Erleichtert atmete Darragh aus. »Wenigstens das. Ich danke Euch.«

»Doch deine Schwägerin trug mein Zeichen nicht. Ich bedaure es sehr, aber ich konnte ihr keinen Einlass gewähren.« In Voldragors Stimme schwang echtes Bedauern mit. »Dein Bruder Roarke trug zwar mein Zeichen, wenn auch nur blass, aber aus Liebe zu seiner Gemahlin kehrte er mir und Drachenheim den Rücken und machte sich auf die Suche nach ihr im Finsterreich.«

»Nein!«, flüsterte Darragh.

Voldragor erhob sich und trat auf die Waage zu. »Nun ist es an der Zeit zu prüfen, was schwerer wiegt – deine Verdienste um dein Volk oder die Konsequenzen deiner Liebe. Senkt sich die rechte Schale, bist du würdig. Sollte sich jedoch die linke Schale –«

»Stopp!« Darragh stand auf, ohne sein Haupt zu erheben. »Verzeiht mir, aber ich möchte noch kein Urteil. Solange Roarke und Grace im Finsterreich sind, gehöre ich nicht nach Drachenheim. Ich muss die beiden finden, das bin ich ihnen schuldig.«

Voldragor senkte respektvoll den Kopf. »Eine sehr ehrenwerte Entscheidung. Möge deine Suche erfolgreich sein, doch nimm dich vor den Dämonen des Finsterreichs in Acht. Stirbt deine Seele durch ihre Hand, ist sie für immer verloren.«

Darragh verneigte sich vor seinem Gott, bevor er sich zu Cassandra umdrehte und sie in seine Arme zog. »Pass auf dich auf.« Einige Sekunden hielt er sie fest an seine Brust gedrückt, dann löste er sich von ihr und entfernte sich mit schnellen Schritten.

»Warte!«, rief sie ihm hinterher. Er blieb nicht stehen und drehte sich auch nicht um, stattdessen verschwand er in dem dunklen Gang. Cassandra wollte ihm folgen, doch Voldragor hielt sie zurück.

»Dies muss nicht dein Weg sein, Cassandra, Tochter von Edward Murphy und Sybil O’Brien. Dir stehen drei Möglichkeiten offen: Folge Darragh ins Finsterreich und fürchte jeden Tag um deine Seele. Begib dich in das dir zugedachte Jenseits, und der Seelensammler wird dich verschlingen, wodurch du unsägliche, niemals endende Qualen erleiden wirst.«

Cassandra fröstelte. Sie hatte geglaubt, dass der Seelensammler ihre Seele nur hatte besitzen wollen, was schlimm genug gewesen wäre. Aber dass er sie verschlingen wollte? »Und die dritte Möglichkeit? Soll ich etwa nach Drachenheim? Ich bin keine Drachin.«

»Fürwahr, du bist keine Drachin. Dennoch hast du an meinem Ritual teilgenommen und trägst mein Zeichen. Du hast Seite an Seite mit den Meinen gekämpft und dafür mit deinem Leben bezahlt.«

Erneut erschien das Hologramm in der Luft und zeigte, wie Cassandra im Connemara-Nationalpark mit ihren Blitzen versuchte, die Fae-Armee aufzuhalten, und schließlich von Lily erschossen wurde. Sie konnte immer noch nicht glauben, dass die Voodoohexe für ihren Tod verantwortlich war.

In diesem Moment krachte die rechte Waagschale mit solcher Wucht nach unten, dass sie zerbrach. Cassandra zuckte zusammen.

Voldragor erhob sich, stieg von seinem Thron und trat vor Cassandra. »Du bist würdig, Cassandra Murphy.«

Langsam schüttelte sie den Kopf. »Aber ich bin keine Drachin«, wiederholte sie. »Ich gehöre nicht hierher.«

Voldragor schmunzelte. »Ich habe nie gesagt, dass nur den Draconis der Weg nach Drachenheim offensteht. Wer mein Zeichen trägt und wen ich als würdig erachte, dem gewähre ich Zutritt. Du, Cassandra Murphy, wurdest ohne dein Wissen zu einer Figur in einem viel größeren Spiel gemacht. Ich biete dir die Möglichkeit, selbst über dein Schicksal zu entscheiden. Doch sei gewarnt. Auch wenn Drachenheim ein Ort des Friedens ist, kann ich dir nicht garantieren, dass auch du hier Frieden finden wirst.«

Cassandra schloss die Augen. In das für sie angedachte Jenseits konnte sie nicht, das stand außer Frage. Aber sollte sie sich Darragh anschließen oder sich nach Drachenheim zurückziehen?

»Entscheide weise. Wählst du das Finsterreich, gibt es kein Zurück. Wählst du Drachenheim, bist du vielleicht nicht glücklich, aber zumindest in Sicherheit. Außerdem kann Emiliano dich hier erreichen.«

»Aber bringe ich ihn nicht in Gefahr, wenn ich hierbleibe? Ajani Lecourt hat gefordert, dass Emiliano und Valentina mich ins Jenseits überführen sollen.«

»Das haben sie getan, denn du bist im Jenseits, wie auch immer deine Wahl am Ende ausfällt.«

»Drachenheim«, sagte Cassandra, ohne länger darüber nachzudenken. »Ich nehme dein Angebot an und entscheide mich für Drachenheim als meine letzte Ruhestätte.«

»So sei es.« Voldragors Augen glänzten vor Freude, als er mit lauter Stimme verkündete: »Öffnet das Tor und gewährt Cassandra Murphy den Zutritt nach Drachenheim.«

Cassandra erwartete, dass das Holztor aufschwingen würde, doch die Wand neben dem Thron begann rot zu glühen, und es erschien ein gewaltiges, doppelflügeliges Tor aus flüssiger Lava. Durch die sich öffnenden Torflügel sah Cassandra eine weitläufige Landschaft mit grünen Hügeln und türkis schimmernden Flüssen. Am wolkenlosen Himmel flogen Drachen, am Boden dösten weitere Exemplare in der Sonne.

»Nutze deine Zeit in meinem Reich, um dich zu erholen, Cassandra Murphy, denn dein Weg endet nicht an dieser Stelle.« Mit diesen Worten schob Voldragor sie durch das Lavator und schloss es hinter ihr.

Kapitel 1

VALENTINA

»Was für eine trostlose Gesellschaft«, beschwerte sich Bronco wie schon gestern. Und vorgestern. Und vorvorgestern. Der Alebrije hatte es sich zwischen meinen alten Stofftieren in der Hängematte gemütlich gemacht, die unter der Decke hing, und fiel dort kaum auf. »Dein Bruder bläst auch schon seit Tagen Trübsal, und von deinem Vater fange ich lieber gar nicht erst an.«

Ich warf Bronco von meinem Bett aus einen bösen Blick zu. »Du hast schon mitbekommen, was passiert ist, oder? Entschuldige bitte, dass wir keine Willkommen-zurück-in-México-Fiesta schmeißen.« Meine Stimme triefte vor Sarkasmus, doch das schien er überhaupt nicht zu bemerken. Möglicherweise verstand der Alebrije aber auch weder Sarkasmus noch Ironie.

»Das solltet ihr aber. Unternehmt wenigstens irgendetwas. Vom Herumliegen und In-die-Gegend-starren wird sich nichts ändern.«

Ich schloss die Augen und konzentrierte mich auf meine Atmung, um ruhig zu bleiben. Vergeblich. Die aufkeimende Wut, Hilflosigkeit, Verzweiflung – oder was auch immer es war – ließ sich nicht unterdrücken. Wahrscheinlich war es eine Mischung aus allem, und die war hochexplosiv. »Ich zähle jetzt bis drei, dann bist du weg. Eins …«

»Sei doch nicht gleich eingeschnappt«, erwiderte Bronco.

»Zwei …«

»Ich würde euch ja gern helfen, aber was soll ich machen? Dieser Geist ist unauffindbar, und das ist nicht meine Schuld.«

Das war es tatsächlich nicht, denn ich hatte es verbockt. Meine Aufgabe war es gewesen, Cassie den Weg ins Jenseits zu zeigen, doch ich hatte auf ganzer Linie versagt. Wir hatten keine Ahnung, wo Cassie war, ob es ihr gut ging. Trotzdem war ich sauer auf Bronco. Er hatte sich als Helferlein für Catrinas vorgestellt und war in den vergangenen Tagen alles andere als hilfreich gewesen. Ihm gegenüber war das sicher unfair, aber ich hatte mir einfach mehr erhofft.

»Drei.« Ich richtete mich auf und griff nach dem Kissen, doch bevor ich es werfen konnte, war der Alebrije verschwunden. Im selben Moment öffnete sich die Tür, und mein Bruder kam herein. Mit Blick auf das Kissen in meinen Händen zog er die Augenbrauen hoch.

»Bronco?«, fragte er und sah sich suchend in meinem Zimmer um.

»Genau.« Ich ließ mich wieder nach hinten fallen.

Emiliano kam zu mir, und ich rutschte näher an die Wand, damit er sich neben mich aufs Bett legen konnte. Er schob einen Arm unter meinen Kopf, und ich kuschelte mich an seine Brust, die sich vom Gehen an den Krücken nach wie vor durchtrainiert anfühlte. Unwillkürlich musste ich daran denken, wie wir einander vor unserem Umzug nach Irland getröstet hatten. Nur mit Mühe konnte ich die Tränen zurückhalten. Wir waren wieder in Mexiko, was vor wenigen Wochen noch mein größter Wunsch gewesen war. Seitdem war jedoch so viel passiert, dass ich mich nicht darüber freuen konnte. Ich trauerte um Cassie, machte mir Sorgen und Vorwürfe, und ich vermisste Lily. Ich wollte es nicht, aber ich konnte nichts dagegen tun. Gerade jetzt hätte ich sie an meiner Seite gebraucht, doch auch wenn sie mir seit jener Nacht im Connemara-Nationalpark mehrfach per Nachricht versichert hatte, dass sie Cassie nicht umgebracht hatte, konnte ich ihr nicht länger trauen. Sie hatte so viele Vertrauensvorschüsse von mir bekommen und mich doch immer wieder enttäuscht. Wobei enttäuscht nicht das richtige Wort war, denn es drückte nicht annähernd meine Gefühle aus, nachdem sich Lilys Worte und Behauptungen als Lügen entpuppt hatten. Zwar unterstellte ich ihr nicht, dass sie in allem gelogen hatte, aber das Vertrauen war trotzdem weg. Erschwerend kam hinzu, dass ich grundsätzlich eine naive Tendenz dazu hatte, immer das Gute in meinem Gegenüber zu sehen. Ich hätte Lily von vornherein nicht trauen dürfen, so wie Ash es gesagt hatte. So wie Lily es in einem schwachen Moment selbst behauptet hatte.

Wenigstens hatte Kaileys Onkel Damian etwas in Bezug auf die Gruppe um Andy erreichen können. Damian stand in engem Kontakt mit dem irischen Abgeordneten Leard Heyes, der Sharni beziehungsweise den Drachen bereits nach dem Fußballspiel geholfen hatte. Gemeinsam waren sie am Tag nach Emilianos Entführung vor die Presse getreten, um Shannon Kellys Tochter Blake bloßzustellen und die Öffentlichkeit wissen zu lassen, was in dem Labor passiert war. Obwohl ich es nicht für möglich gehalten hätte und Shannon Kelly, die noch immer als Premierministerin kandidierte, alles dafür tat, um die Drachen als Monster darzustellen und ihre Tochter Blake zu rehabilitieren, kippte die Stimmung in Irland. Kailey und Aiden hielten uns auf dem Laufenden, und laut aktueller Umfragen empfand die Mehrheit der Iren inzwischen vor allem Mitleid mit den Drachen. Andy und einige Mitglieder seiner Gruppe aus Drachenhassern befanden sich momentan wegen der Entführung meines Bruders und Körperverletzung in Untersuchungshaft. In wenigen Wochen fanden die Wahlen statt, und im Moment sah es gut aus für den amtierenden Premier und damit für die Zukunft der Drachen – und für uns andere übernatürliche Wesen. Prinzipiell konnte man uns zwar nicht miteinander vergleichen, denn mein Bruder und ich hatten längst nicht so coole Kräfte wie die Drachen, Fae oder Magier, doch in den Köpfen der Menschen waren wir alle gleich. Exotisch, fremd, unerforscht und damit potenziell gefährlich. Ich hatte das Gefühl, dass die Menschen häufig zu irrationalem Verhalten neigten, wenn sie auf etwas Unbekanntes stießen. Doch zu unserem Glück verdrängte das Mitleid die Angst und das echte Interesse an den Drachen sämtliche Vorurteile.

Das sollte ein Lichtblick sein, trotzdem konnte ich mich genauso wenig darüber freuen wie über unsere spontane Rückkehr nach Mexiko. Es nahm mir eine Sorge, doch die Sorge um Cassie und der Verlust von Lily überschatteten alles andere. Außerdem vermisste ich Kailey, Aiden, Caroline und Ash. Obwohl wir wieder zu Hause waren, fühlte ich mich einsam, was ich noch vor wenigen Wochen für unmöglich gehalten hätte. Ich liebte Mexiko, hier war meine Heimat, aber die Geschehnisse der vergangenen Tage waren gemeinsam mit meinen neu gewonnenen Freunden einfacher zu ertragen gewesen. Zumindest tauschten wir täglich mehrere Nachrichten aus, und Caroline hatte versprochen, jederzeit den Transportservice zu übernehmen.

Meine Familie hatte einen hohen Preis für die aktuellen Entwicklungen zahlen müssen. Papá war sofort bereit gewesen, gegen Andy und seine Mitläufer auszusagen, was ich ihm hoch anrechnete, und wir hatten Irland verlassen. Ein harter Schlag für Papá, denn das Trinity College hatte ihm gekündigt. Im Moment hofften wir alle, dass er seine alte Stelle in einem Forschungsinstitut in Mexiko-Stadt zurückbekam, denn wenn nicht … Daran wollte ich lieber nicht denken.

»Warum triffst du dich nicht mal wieder mit María Elena?«, fragte mein Bruder in die Stille hinein.

Ich war unendlich dankbar, dass ich ihn an meiner Seite hatte und er sich nicht wieder von allem und jedem zurückzog, so wie er es nach seinem Unfall im Fußballstadion getan hatte. Dabei konnte man ihm im wahrsten Sinne des Wortes an der blassen Nasenspitze ansehen, wie sehr auch ihn die jüngsten Ereignisse mitnahmen. Er hatte Cassie verloren, so wie ich Lily, und doch war es nicht dasselbe. Ich hatte mich bewusst für die Trennung entschieden, und im Gegensatz zu Emiliano wusste ich, wie es Lily ging.

Na gut, ich wusste es nur theoretisch, da ich seit Tagen nicht mit ihr gesprochen hatte, aber ich hätte sie jederzeit fragen können. Cassie hingegen konnte Gott weiß was zugestoßen sein. Wir wussten nur, dass sie nicht in die Fänge des Seelensammlers geraten war, und obwohl mich das beruhigte, war es gleichzeitig beunruhigend, denn es musste auch bedeuten, dass Cassie nicht im Jenseits war.

Am liebsten wäre ich selbst losgezogen, um mich zu vergewissern, dass sie nicht dort war, doch Abuelita hatte uns eindringlich davor gewarnt, also ließ ich es bleiben. Tief in mir drin wusste ich, dass es ohnehin nichts bringen würde. Auch Emiliano hielt sich daran – bis jetzt, denn ich spürte genau, wie er von Tag zu Tag unruhiger wurde. Irgendwie hatten wir wohl beide unbewusst gehofft, dass die Zeit uns helfen würde, all die Ereignisse zu verarbeiten, doch das war nicht der Fall, im Gegenteil. Sie verstrich unbarmherzig und machte uns mit jeder Minute deutlicher, was wir beide verloren hatten.

Wenigstens war mir Emiliano nicht auch noch genommen worden. Ich hatte riesige Angst davor gehabt, Ajani könnte ihn holen kommen, weil sein Deal mit dem Seelensammler geplatzt war. Nach Stunden des Bangens hatte Caroline schließlich Entwarnung gegeben. Ajani hatte Kontakt zu ihr aufgenommen, weil er wissen wollte, wo Cassie blieb. Als er gehört hatte, was passiert war, war er fuchsteufelswild geworden. Emiliano hatte er trotzdem in Ruhe gelassen, denn genau genommen hatten wir seine Forderung erfüllt, auch wenn sich Ajani einen anderen Ausgang erhofft hatte.

Ich legte den Kopf ein wenig in den Nacken, um meinen Bruder ansehen zu können, deutete ein Schulterzucken an und beantwortete seine Frage nach María Elena mit einer Gegenfrage. »Aus dem gleichen Grund, aus dem du dich nicht mit deinen alten Freunden triffst?«

»Wohl kaum.«

Ein Schatten legte sich auf sein Gesicht, und ich biss mir auf die Zunge. Mist, jetzt hatte ich ihn auch noch daran erinnern müssen, dass seine Fußballkarriere in Dublin ein jähes Ende gefunden hatte. Doch bevor ich mich dafür entschuldigen konnte, rief Papá nach uns.

»Valentina! Emiliano!«

Seine Stimme war so eindringlich wie schon seit Tagen nicht mehr. Diesbezüglich musste ich Bronco leider recht geben. In letzter Zeit gab die Familie López ein ziemlich trauriges Bild ab. Emiliano und ich wechselten einen alarmierten Blick, dann sprangen wir aus dem Bett und hasteten die Treppe nach unten, von wo wir Geräusche hörten. Wir fanden Papá und Abuelita im Wohnzimmer. Der Fernseher lief, mitten am Tag, was vor unserer Rückkehr eher untypisch gewesen war, seither allerdings häufiger vorkam. Abuelita saß an ihrem Lieblingsplatz, dem durchgesessenen und urbequemen Ohrensessel. Sie hatte ihr Strickzeug im Schoß, dem sie keinerlei Beachtung schenkte. Stattdessen starrte sie wie Papá, der mitten im Raum stand, auf den Bildschirm.

»Was ist los?« Die Frage rutschte mir heraus, obwohl mir klar war, dass ich nur Richtung Fernseher hätte schauen müssen, und genau das tat ich, als Papá dorthin deutete.

»Sind Sie sich sicher?«, hakte ein Mann mittleren Alters nach, der in einem blauen Anzug steckte und ein Mikrofon in der Hand hielt.

Ich versuchte zu erkennen, wo er sich befand. Die Bäume im Hintergrund erstrahlten in bunter Herbstpracht so wie in Dublin vor wenigen Tagen. Eine dunkle Vorahnung erfasste mich, die sich bestätigte, als die Kamera zur Seite schwenkte und eine Frau zeigte, die in einem ähnlichen Alter wie der Fernsehjournalist war. Sie trug ein beigefarbenes Kostüm, das sie blass wirken ließ, ihre kinnlangen, blonden Haare jedoch gut zur Geltung brachte.

»Absolut«, bestätigte die Frau, die ich sofort als die irische Politikerin Shannon Kelly erkannte. Nun konnte ich auch den Beginn der Einkaufsmeile in ihrem Rücken als die Dubliner Grafton Street identifizieren.

»Können Sie Ihre Behauptung durch Beweise stützen?«, fragte der Journalist.

Shannon Kelly schüttelte den Kopf, wobei sie alles andere als eingeschüchtert wirkte. Diese Frau ließ sich nicht so leicht aus der Reserve locken, was sie als Gegnerin umso gefährlicher machte. Sie war unberechenbar und rechnete selbst mit allem. »Das nicht, aber die Frage lautet meiner Meinung nach viel eher, ob ich das muss.«

»In Anbetracht der jüngsten Ereignisse könnte man davon ausgehen, dass es Ihnen lediglich um den Sieg über Premierminister Padraig Lynch geht.«

Der Fernsehjournalist lächelte ein wenig herablassend, und ich unterdrückte einen Fluch. So ein Idiot. Er musste doch wissen, dass er auf diese Weise bei Lynchs Kontrahentin nur das Gegenteil erreichte und sie nicht einschüchterte, sondern ihren Ehrgeiz schürte.

Kellys eigenes Lächeln sprach Bände. »Wir leben in einer Zeit, in der wir mit dem Unmöglichen rechnen müssen, Mr Shaughnessy. Seit der Offenbarung der Drachen sollte uns nichts mehr überraschen, und wir sollten uns auch nicht damit aufhalten, Dinge infrage zu stellen. Außerdem vertraue ich meiner Tochter. Sie kennen Blake nicht, und ich will sie nicht in Schutz nehmen, denn sie hat Dinge getan, die sie nicht hätte tun dürfen. Aber all das hätte sie niemals grundlos getan.«

»Fuck!«, stieß Emiliano neben mir zwischen zusammengebissenen Zähnen aus. Zur gleichen Zeit krallte ich meine Fingernägel in seinen Arm, weil ich nun wusste, worum es in diesem Interview ging.

»Glauben Sie mir«, sagte Shannon Kelly, die nun direkt in die Kamera blickte. »Neben Drachen und mexikanischen Mädchen, die sich in Catrinas verwandeln, gibt es auch Hexen und Magier auf dieser Welt. Wenn Sie dafür unbedingt Beweise brauchen, sollten Sie den Familien Morgan und Merlin in London einen Besuch abstatten.«

Kapitel 2

LILY

Ich öffnete den Chat mit Valentina und starrte einige Sekunden lang auf die unbeantworteten Nachrichten, die ich ihr in den vergangenen Tagen geschickt hatte. Wobei es genauso gut Minuten oder Stunden hätten sein können, denn seit jener Nacht im Connemara-Nationalpark hatte ich jegliches Zeitgefühl verloren.

Ich hätte Cassie niemals etwas antun können. So ein Mensch bin ich nicht, und das weißt du im Grunde deines Herzens auch. Du weißt es, oder nicht?

Du hast keinen Grund, mir zu glauben, dass ich Cassie nicht umgebracht habe, und doch bitte ich dich, es zu tun. Glaub mir! Nach den Bildern, die du gesehen hast, fällt dir das sicher schwer, aber Bilder kann man manipulieren. Lass Ajani nicht gewinnen!

Bitte Valentina, ich war das nicht. Rede mit mir. Schrei mich an, verfluche mich, weine, aber ignorier mich nicht.

Die Häkchen unter meinen Nachrichten waren blau, was bedeutete, dass Valentina sie gelesen hatte. Nur auf eine Antwort hatte ich jedes Mal vergeblich gehofft. Ich wusste nicht, was schlimmer war, denn hätte sie meine Nachrichten ignoriert, hätte ich mir wenigstens einreden können, dass sie nur ein wenig Zeit brauchte. Zeit brachte mir in diesem Fall allerdings rein gar nichts, wie ich schweren Herzens akzeptieren musste. Es gab nur eine Möglichkeit, Valentina davon zu überzeugen, wieder mit mir zu reden: Ich musste ihr meine Unschuld beweisen. Nur wie? Ich hatte Cassie nicht getötet, aber ich hatte selbst die Bilder aus der Vergangenheit gesehen, und die sagten eindeutig etwas anderes, wenngleich sie manipulierbar waren. Nach allem, was passiert war, konnte ich es Valentina nicht übelnehmen, dass sie ihnen mehr glaubte als mir. Trotzdem wünschte ich, sie hätte mir zugehört.

In den vergangenen Tagen hatte ich sehr viel Zeit zum Nachdenken gehabt, und ein Gedanke ließ mich nicht mehr los, seit er sich in mein Bewusstsein geschlichen hatte: War es möglich, dass Ajani für Cassies Tod verantwortlich war? Im weitesten Sinne zumindest, denn es wäre schon ein seltsamer Zufall, dass der Seelensammler es ausgerechnet auf Cassandra Murphys Seele abgesehen hatte, die gerade erst gestorben war und deren Geist noch zwischen den Welten festgehangen hatte.

Nachdem Cassies Seele verschwunden war, hatte Ajani immer wieder versucht, Kontakt zu mir aufzunehmen. Vermutlich wollte er wissen, wo Cassie steckte, doch ich hatte nicht die geringste Ahnung. Dieses Mal war ich vorbereitet gewesen und hatte mich dagegen gewehrt, ihn in meinen Kopf zu lassen. Es interessierte mich nicht, was er zu sagen hatte – außerdem hatte ich Angst, dass er mich erneut manipulieren könnte. Seitdem hatte er mich in Ruhe gelassen, trotzdem war ich ständig auf der Hut. Früher wäre ich nie auf die Idee gekommen, meinen Onkel mit dem Tod eines Menschen in Verbindung zu bringen, aber nach allem, was ich von Ash und Caroline erfahren hatte, dachte ich anders über ihn. Ich wünschte nur, ich hätte früher erkannt, was für ein Mensch er war, auch wenn ich Valentina dann vielleicht nicht kennengelernt hätte. Wobei … Tränen stiegen mir in die Augen, als mir bewusst wurde, dass ich ihr vermutlich dennoch begegnet wäre. Denn hätte ich mich nach Ajanis Taten vergangenen Sommer nicht auf die falsche Seite gestellt, hätte Henri mich nicht aus London gejagt. Ich hätte weiterhin Kontakt zu Ash und Caroline gehabt, die dank Kailey und Aiden Freunde von Valentina geworden waren. Früher oder später hätten sich unsere Wege gekreuzt. Sie und ich, das schien Schicksal zu sein – und ich hatte alles zerstört.

Wütend und zugleich entschlossen wischte ich mir die Tränen aus den Augenwinkeln. Schicksal. Das Wort hallte in meinem Kopf wider. Valentina und ich gehörten zusammen, ich musste nur ihr Vertrauen zurückgewinnen.

Ich stand auf und lief in dem kleinen Zimmer auf und ab, das ich inzwischen wieder bei meiner Tante in New Orleans bezogen hatte. Vielleicht kurbelte etwas Bewegung meine Gehirnzellen an. Gedankenverloren stieg ich über Klamotten, Bücher und leere Coladosen hinweg, die auf dem Boden verstreut lagen.

Okay, eine Möglichkeit bestand darin, Valentina zu beweisen, dass ich Cassie gar nicht umgebracht haben konnte, weil ich zu diesem Zeitpunkt … Ich blieb stehen. Wo war ich gewesen, als sich die Drachen und Fae bekriegt haben und Cassie gestorben war? Valentina hatte erwähnt, dass ein Geist sechs Wochen zwischen den Welten verbringen konnte, und die Frist für Cassie war Anfang November abgelaufen. Demnach musste sie irgendwann Mitte September ermordet worden sein, vielleicht auch ein paar Tage später. Ich stöhnte auf. Woher sollte ich wissen, wo ich Mitte, Ende September gewesen war? In New Orleans, das stand fest, aber ich hatte hier nicht gerade ein erfülltes Sozialleben geführt. Im Zweifelsfall war ich allein durchs French Quarter geschlendert, im Glücksfall war ich mit Lavaughn Burger essen gewesen oder hatte mit Mariposa einen unserer wöchentlichen Kinoabende verbracht. Beide würden das sicher bestätigen, zumal Lavaughn ein hervorragendes Gedächtnis besaß. Vielleicht konnte ich sogar anhand meiner Kreditkartenabrechnung beweisen, dass ich in New Orleans gewesen war, denn ich hatte so gut wie nie Bargeld bei mir und zahlte selbst den kleinsten Betrag mit Karte. Das hieß zwar nicht, dass Valentina mir sofort glauben würde, aber es war ein Anfang. Dafür musste ich nur wissen, an welchem Tag Cassie gestorben war.

Ich griff nach meinem Handy und zögerte, als mein Blick auf den Chatverlauf mit Valentina fiel, der nach wie vor offen war. Am einfachsten wäre es gewesen, sie nach dem Datum zu fragen, aber sehr wahrscheinlich würde weder sie noch Ash oder sonst jemand mir antworten. Alle mieden mich, und ich konnte froh sein, dass Caroline mich nicht im Connemara-Nationalpark zurückgelassen, sondern auf meinen Wunsch hin zu meiner Tante nach New Orleans gebracht hatte. Weil mich die anderen für eine Mörderin hielten, hatte Caroline natürlich kein gutes Wort für mich bei Henri eingelegt, aber auf meine Tante war Verlass gewesen. Mariposa hatte mich erneut mit offenen Armen empfangen, ohne Fragen zu stellen, auch wenn ihr nicht entgangen sein konnte, dass in den wenigen Wochen, die ich fort gewesen war, einiges passiert sein musste.

Seufzend öffnete ich den Kalender, um Cassies Todestag wenigstens eingrenzen zu können, als mir plötzlich das Fußballspiel einfiel. Natürlich, als in Dublin das Länderspiel Irland gegen England ausgetragen worden war, wurde gleichzeitig das Ende des Krieges zwischen den Drachen und den Fae eingeläutet. Irgendwann um diesen Zeitpunkt herum war Cassie gestorben. Vielleicht sogar am selben Tag, höchstens einen Tag zuvor.

Ich öffnete bereits den Internetbrowser, um nachzuschauen, wann das Spiel stattgefunden hatte, als mir ein weiterer Gedanke kam und ich innehielt. Sharni O’Rourke hatte sich und ihr Volk während des Spiels den Menschen offenbart. Warum hatte ich nicht gleich daran gedacht? Dann wusste ich doch, wo ich gewesen war. Ich war …

Irritiert ließ ich die Hand mit dem Handy sinken und hob den Blick. Wieso erinnerte ich mich nicht? Hier in New Orleans war es mitten am Tag gewesen, denn dieser Teil der USA lag sechs Stunden hinter Dublin zurück. Ich hatte also nicht geschlafen, sondern musste es live miterlebt haben.

Bilder erschienen vor meinem inneren Auge, wie ich mich mit Mariposa am Tag nach der Offenbarung der Drachen abends nach ihrer Krankenhausschicht über Sharnis Aktion unterhalten hatte. Wir hatten uns in der Küche Kaffee gemacht, weil wir beide unglaublich müde gewesen waren, sie noch in ihrem Schwesternoutfit und ich in Jogginghose und ärmellosem Top, aber ich hatte keine Ahnung, wann und wo ich von der Existenz der Drachen erfahren hatte. Verdammt, wie konnte das sein? Alle wussten, wo sie gewesen waren, als John F. Kennedy am zweiundzwanzigsten November 1963 erschossen worden war, als die Flugzeuge am elften September 2001 ins World Trade Center geflogen waren oder als Sharni O’Rourke am dreiundzwanzigsten September vor nur wenigen Wochen als grün geschuppte Drachin über das Fußballstadion in Dublin geflogen war. Ich konnte sogar aus dem Stegreif das Datum nennen, aber sonst? Nichts, da war rein gar nichts in meinem Kopf, und auch die unmittelbare Zeit davor oder danach war wie ausgelöscht, einfach weg.

Meine Hände begannen zu zittern, und ich umklammerte das Handy fester. Verdammt, verdammt, verdammt! Das durfte doch nicht wahr sein.

Keine Ahnung, wie lange ich einfach nur dagestanden hatte. Irgendwann hörte ich den Schlüssel in der Wohnungstür, und gleich darauf rief Mariposa: »Ich bin wieder da und habe Nachos für unseren Kinoabend mitgebracht.«

Kinoabend, Nachos. Den ganzen Tag hatte ich mich darauf gefreut. Es war der erste gemeinsame Abend mit Mariposa, seit ich aus Dublin zurück war. Unsere alte Tradition wieder aufleben zu lassen, hatte heute Morgen noch Ablenkung und ein bisschen Normalität für mich bedeutet, doch nun erschien mir alles noch viel weniger normal als vorher.

»Lily?« Meine Zimmertür wurde geöffnet. Mariposa streckte den Kopf herein und musterte mich stirnrunzelnd, weil ich nach wie vor bewegungslos im Zimmer stand. »Alles gut bei dir, chicken?«

Chicken. Ein seltsamer Spitzname. Seit ich denken konnte, hatte Mariposa mich so genannt, und ich hatte es nie hinterfragt.

Vehement schüttelte ich den Kopf, um mich selbst aus meiner Trance zu reißen, doch mein Kopfschütteln wurde zu einem Nicken, als ich in Mariposas Augen sah, die einen besorgten Ausdruck angenommen hatten.

»Alles bestens. Wie war es auf der Arbeit?«

Sie winkte ab. »Manchmal komme ich mir vor wie Bill Murray in Und täglich grüßt das Murmeltier. Apropos, wollen wir uns den Film heute Abend anschauen?«

»Eigentlich wollten wir …«, begann ich geistesabwesend, unterbrach mich jedoch selbst. Es spielte keine Rolle, dass wir uns eigentlich für Vaiana entschieden hatten, denn im Moment würde ich mich ohnehin nicht auf die Handlung konzentrieren können. Davon abgesehen hatte ich den Film bestimmt schon ein halbes Dutzend Mal gesehen. »Meinetwegen gern, Bill Murray geht immer.«

Mariposa lächelte zufrieden. »Prima, dann treffen wir uns in zehn Minuten im Wohnzimmer. Ich zieh mich nur schnell um.«

Sie verschwand im Flur. Einen Moment lang starrte ich noch ins Leere, bevor ich mich zusammenriss und in die Küche ging, um die Snacks in Schüsseln zu füllen. Nicht, dass ich auch nur ansatzweise Appetit verspürte, aber wenn ich freiwillig auf die Nachos oder die Pfefferminzschokolade verzichtete, wusste meine Tante sofort, dass etwas nicht stimmte.

Als ich kurz darauf mit dem voll beladenen Tablett ins Wohnzimmer kam, schaltete Mariposa gerade den Fernseher ein. Sie hatte ihr Schwesternoutfit gegen Jeans und T-Shirt getauscht und lächelte mir über die Schulter kurz zu. Zum Glück fragte sie seit meiner Rückkehr nicht mehr, wie meine Tage waren, denn momentan war einer wie der andere, und sie hakte auch nicht nach, warum ich so still war. Ich war nie ein Plappermaul gewesen, aber Mariposa und ich hatten immer über irgendetwas geredet. Seit ich in Dublin gewesen war, war jedoch vieles anders. Ich war stiller als sonst, dabei wollte ich das gar nicht. Am liebsten hätte ich sie gefragt, wo ich gewesen war, als die Menschen zum ersten Mal einen Drachen zu Gesicht bekommen hatten, doch dann hätte sie mich garantiert in die Klinik geschleppt, um mein Gehirn durchchecken zu lassen. Andererseits …

Ich stellte das Tablett ab, setzte mich aufs Sofa und räusperte mich. »Wo warst du eigentlich, als sich die Drachen offenbart haben? Ich habe dich nie danach gefragt.«

»Ich hatte Dienst und habe gerade bei einer älteren Patientin den Infusionsbeutel gewechselt, als das Spiel, oder besser gesagt das abgebrochene Spiel, plötzlich live auf dem stumm gestellten Fernseher übertragen wurde. Die Patientin hat sich so abrupt aufgesetzt, um nach der Fernbedienung zu greifen, dass der Infusionsschlauch rausgerissen ist.« Mariposa ließ sich neben mich auf das Sofa fallen. »Warum fragst du?«

»Ach, nur so.« Ich zuckte mit den Schultern, wirkte nach außen hin hoffentlich ruhig und gefasst, während in meinem Kopf das reinste Chaos herrschte. Da Mariposa mich von der Seite musterte, waren mir meine Gefühle wohl doch anzusehen.

»Sag mal, wenn du schon davon anfängst – wo warst du eigentlich? Du hattest dich nur mit einem Zettel neben der Kaffeemaschine für ein paar Tage verabschiedet. Ich habe dich auch nie gefragt, weil ich angenommen habe, du würdest es mir schon noch erzählen, aber …« Der Satz blieb unbeendet zwischen uns hängen.

Ich starrte Mariposa an. Mein Herz schlug schneller, Ameisen jagten durch meinen Körper. Ich war ein paar Tage weg gewesen? Wo? Wo war ich gewesen? Etwa doch nicht in New Orleans?

»Lily?« Auf der Stirn meiner Tante erschien erneut die Sorgenfalte.

Was sollte ich ihr denn jetzt erzählen? Ich wollte sie nicht belügen, doch wie konnte ich ihr die Wahrheit sagen, wenn ich sie selbst nicht kannte? Ich schluckte, weil sich meine Kehle ganz trocken anfühlte, und sagte das Erste, was mir in den Sinn kam. »Ich war bei Lavaughn. Wir hatten mal was miteinander. Das habe ich dir nie erzählt, weil … Ich hatte mir mehr erhofft, als er bereit war zu geben.«

Sie nickte langsam. »So etwas in der Art habe ich mir schon gedacht. Ich finde es übrigens schön, dass du wieder hier bist.«

Sie strich mir kurz über das Bein und lächelte mir zu. Es fiel mir verdammt schwer, das Lächeln zu erwidern. Keine Ahnung, ob Mariposa mir meine Notlüge abnahm. Auf jeden Fall sagte sie nichts weiter und angelte nach der Fernbedienung, die auf dem Couchtisch lag.

»Wollen wir dann?«

»Gern.«

Dann musste ich wenigstens nicht mehr reden und hoffentlich auch nicht mehr nachdenken, doch dieser Plan ging nicht auf. Während Bill Murray den zweiten Februar am liebsten komplett aus seinem Leben gelöscht hätte, konnte ich nicht aufhören, an den dreiundzwanzigsten September zu denken. Wo zum Teufel war ich gewesen? Und warum konnte ich mich an nichts erinnern? War es möglich, dass …

Mein Atem stockte. War es möglich, dass ich Cassie doch umgebracht hatte und mein Gehirn diese grauenvolle Tat aus meinem Bewusstsein gelöscht hatte, damit ich das Erlebte nicht immer und immer wieder ertragen musste wie Bill Murray den Murmeltiertag?

Kapitel 3

EMILIANO

»Valentina?«

Meine Schwester, die unruhig hin und her gelaufen war und mich damit noch nervöser gemacht hatte, stürzte an den Küchentisch, als Carolines Stimme endlich das Freizeichen ablöste. Dabei warf sie beinahe ihren Kaffee um, der wie immer längst kalt geworden war.

Wir hatten uns in die Küche zurückgezogen, nachdem wir das Interview mit Shannon Kelly gesehen hatten, während unser Vater und Abuelita nach wie vor im Wohnzimmer saßen. Hin und wieder drangen Wortfetzen aus dem Fernseher zu uns herüber. Ich verstand nicht viel, konnte mir den Rest aber zusammenreimen. Die Moderatoren irgendeiner Sondersendung sprachen über die Konsequenzen von Kellys Enthüllungsaktion, obwohl es bisher keinerlei handfeste Beweise für die Existenz von Hexen und Magiern gab. Und dennoch schien niemand daran zu zweifeln. Das war ein Albtraum. Dabei hatte ich diesen Joker vor wenigen Tagen noch selbst ausspielen wollen, um so viele Menschen wie möglich davon zu überzeugen, dass die übernatürlichen Wesen unsere Feinde waren.

»Caroline? Wie geht es euch? Alles okay?«, fragte Valentina. Sie klang ein bisschen atemlos, als hätte sie ein zweistündiges Aufwärmtraining hinter sich.

»Ihr habt es also schon gehört.« Die Hexe stieß ein langes Seufzen aus. »Es hat keine zwanzig Minuten gedauert, bis Presseleute und Fernsehteams hier aufgeschlagen sind, und es kommen immer mehr. Sie belagern unser Anwesen, rufen unsere Namen. Es grenzt an ein Wunder, dass sie nicht die ganze Zeit Sturm klingeln.«

Valentina und ich wechselten einen Blick. »Und was wollt ihr jetzt machen?«, hakte meine Schwester nach.

»George, mein Großvater und das Clanoberhaupt der Merlins, will sie des Grundstücks verweisen, aber viel bringen wird es nicht, weil sie sich dann garantiert vor den Toren aufbauen. Wieder abziehen werden sie jedenfalls nicht so schnell, darauf verwette ich meine Kräfte.«

»Und langfristig?« Valentinas Stimme klang zögerlich. »Ich meine, noch ist ja nichts bewiesen.«

Caroline und ich schnaubten gleichzeitig.

»Die Welt braucht keine Beweise, Schwesterherz.«

»Da muss ich Emiliano leider zustimmen. George hat uns verboten, das Anwesen vorerst zu verlassen, auf Fragen mit kein Kommentar zu antworten und auf unbestimmte Zeit keine Magie zu wirken, um nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf uns zu lenken. Wir sind diesen Aasgeiern ausgeliefert, weil diese Zicke unbedingt unsere Namen nennen musste. Entschuldigt.«

»Shannon Kelly ist mehr als eine Zicke«, knurrte Valentina. »Wie geht es denn Ash?«

»Bei den Morgans sieht es nicht anders aus. May, Ashs Tante und Oberhaupt des Morgan-Clans, hat in Absprache mit George dieselben Anweisungen an ihre Familie rausgegeben. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass Ash und ich uns vorerst nicht sehen können.«

»Können wir irgendwas tun?«

Caroline seufzte erneut. »Das ist lieb, ich fürchte nur, George hat recht. Im Moment kann niemand etwas tun.«

»Na schön, aber meldet euch, wenn ihr Hilfe braucht.«

»Dasselbe hat Aiden auch gesagt. Es ist schön zu wissen, dass wir da draußen Freunde haben, auf die wir uns verlassen können.« Das Lächeln in Carolines Stimme war deutlich zu hören.

»Ist doch selbstverständlich«, erwiderte Valentina. »Ihr habt uns schließlich auch sofort geholfen, obwohl wir uns kaum kannten. Du kannst gern jederzeit anrufen. Uns … fällt zu Hause ohnehin langsam die Decke auf den Kopf.«

»Ihr konntet immer noch nicht herausfinden, was mit Cassie geschehen ist, oder?«, fragte Caroline.

»Nein.« Valentina ließ sich auf einen Stuhl sinken. »Das lässt mir keine Ruhe. Ich verstehe es einfach nicht, irgendwo muss sie sein. Es sei denn …«

Meine Schwester brach ab und schielte zu mir. In meinem Magen bildete sich ein Knoten. Vehement schüttelte ich den Kopf. »Cassie ist da noch irgendwo. Du hast Abuelita gehört. Ihres Wissens nach hat noch nie eine Seele beim Übertritt Schaden genommen.«

»Abuelita hat auch noch nie davon gehört, dass eine Seele verloren ging, und trotzdem ist es passiert«, murmelte Valentina.

»Dann ist es theoretisch möglich, dass Cassie …«, Caroline suchte nach dem passenden Wort, »… tot ist? Also so richtig tot? Ihr wisst, was ich meine.«

»Nichts auf dieser Welt scheint mehr unmöglich zu sein.« Valentina klang resigniert, als wäre sie bereits hundert Jahre alt und hätte in dieser Zeit einiges mit ansehen müssen.

Ein Stück weit verstand ich sie sogar, denn die letzten Wochen waren für uns beide wirklich hart gewesen. Trotzdem machte mich ihre Aussage wütend, denn ich wollte nicht wahrhaben, dass Cassie etwas zugestoßen sein könnte. Sie war nicht dort, wo sie sein müsste. Das bedeutete aber nicht, dass sie nicht mehr existierte.

Ich stand so schwungvoll von meinem Stuhl auf, dass er beinahe umkippte, und durchquerte die Küche. Der gemusterte Fliesenboden fühlte sich kalt unter meinen nackten Füßen an. Gestern war ich den Gips losgeworden, die Krücken brauchte ich allerdings trotzdem noch, weil meine linken Beinmuskeln so gut wie nicht mehr vorhanden waren. Eine weitere Woche mit Physiotherapie, dann konnte ich hoffentlich auch die Krücken weglassen. Damit hatte ich ein kleines Stück Freiheit zurückgewonnen, nur richtig freuen konnte ich mich nicht darüber. Ohne Cassie war alles bedeutungslos geworden.

»Emiliano, bitte. Das sollte nicht falsch rüberkommen«, rief Valentina mir hinterher.

Ich drehte mich kurz zu ihr um und wollte ihr ein Lächeln schenken, damit sie sich nicht noch mehr Sorgen um mich machte, bekam aber keins zustande. »Schon gut. Ich brauche nur ein paar Minuten für mich.«

Sie nickte verständnisvoll. Während ich in den Flur trat und langsam die Stufen ins Obergeschoss hinaufstieg, hörte ich, wie sie weiter mit Caroline sprach. Ihre Stimme wurde vom Fernseher übertönt, der nach wie vor im Wohnzimmer lief, sodass ich nur bruchstückhaft mitbekam, worum es ging. Sie redeten über Lily.

Ich wünschte, ich könnte mehr für meine Schwester da sein, ihr das Ganze irgendwie erträglicher machen, aber das war unmöglich. Genauso wenig konnte sie mir helfen. Wir waren zwar füreinander da, und ich würde sie nie wieder wegstoßen wie nach dem Vorfall im Fußballstadion, doch letztendlich mussten wir unseren Verlust allein verkraften. Und das fühlte sich beschissen an, auch wenn ich im Prinzip überhaupt nicht allein war.

Die Sonne war bereits vor Stunden untergegangen. Das Mondlicht und die Bäume vor dem Fenster malten Schatten an Wand und Decke. Ich war müde, wobei es erschöpft wohl eher traf, denn ich tat seit Tagen kaum etwas anderes, als zu schlafen oder auf dem Bett zu liegen. Die Unruhe, die mich erfasst hatte, nachdem Valentina die Möglichkeit in den Raum geworfen hatte, Cassies Seele könnte für immer verloren sein, ließ sich einfach nicht vertreiben. Cassie war gestorben, aber es gab ein Leben nach dem Tod. Die Aussicht, dass sie in die Fänge des Seelensammlers geraten könnte, war schon schlimm genug gewesen, doch nicht zu wissen, wo sie war und wie es ihr ging, brachte mich beinahe um den Verstand.

»Tu es nicht«, sagte eine hohe Stimme, die erstaunlich ernst klang.

Ich zuckte zusammen, obwohl ich wusste, dass es sich nur um Bronco handeln konnte. Seit dem Tag der Toten tauchte er immer wieder unangemeldet auf. Meine Augen suchten das Zimmer ab, aber es dauerte einen Moment, bis ich ihn im dämmrigen Licht entdeckte. Der Alebrije saß auf der Rückenlehne meines Schreibtischstuhls.

»Woher willst du wissen, was ich denke?«

»Deine Gedanken sind laut. Hat dir das noch niemand gesagt?«

Ich erwiderte nichts. Was auch?

»Tu es nicht«, wiederholte Bronco. »Es wird dir nichts bringen, ins Jenseits zu gehen. Du weißt, dass das Mädchen nicht dort ist.«

Es ärgerte mich, dass er wirklich genau wusste, worüber ich seit Stunden grübelte. »Nein, ist sie nicht, aber Ajani ist dort, und ich will Antworten.«

»Es wäre lebensmüde, ihn aufzusuchen. Ist er nicht ziemlich wütend auf dich, weil Cassies Seele verloren gegangen ist? Außerdem wird er dir keine Antworten geben können.«

»Woher willst du das wissen?«, knurrte ich.

Der Alebrije zuckte mit einem Flügel. »Ich weiß es, ebenso wie du. Du möchtest es nur nicht wahrhaben.« Dummerweise hatte er recht, und es nervte mich, wenn jemand ständig alles besser wusste. Bronco war die personifizierte Besserwisserei, dabei hatte er keinen Plan, wie er immer wieder aufs Neue bewies.

»Sag mir nicht, was ich zu tun oder zu lassen habe, solange du keine konstruktiven Vorschläge für mich hast.«

Er schnaubte. »Ich habe gut gemeinte Ratschläge für dich. Ist das nichts? Wir finden einen Weg, aber bring dich bitte nicht selbst in Gefahr.«

Für einen Moment schloss ich die Augen, weil ich plötzlich einen pochenden Schmerz zwischen meinen Augenbrauen wahrnahm. »Ich bringe mich schon nicht in Gefahr. Ajani hat nichts gegen mich in der Hand, sonst hätte er mich längst geholt. Er weiß vielleicht nicht, wo Cassie ist, aber er will sie genauso finden wie ich.«

Bronco starrte mich an. »Willst du ernsthaft einen weiteren Deal mit Ajani eingehen?«

»Natürlich nicht, ich bin nicht dämlich, aber vielleicht braucht Cassie mich. Irgendetwas muss ich unternehmen.«

Der Alebrije atmete hörbar aus. »Ich geb’s auf. Sag nachher nur nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.«

Er flog davon, und ausnahmsweise hatte mir das Gespräch mit ihm doch etwas gebracht, denn erst jetzt wurde mir klar, dass ich mich längst entschieden hatte. Die Frage war nicht, ob ich das Jenseits aufsuchen würde, um Ajani einen Besuch abzustatten – sondern wann.

Kapitel 4

LILY

Ich habe Cassie nicht umgebracht.

Das sagte ich mir immer wieder und hätte es zu gern selbst geglaubt. Aber dass ich keine Erinnerung an die Nacht hatte, in der die Hexe gestorben war, machte es mir verdammt schwer. Das musste etwas bedeuten – und es war garantiert nichts Positives. Ich hing in dieser Geschichte mit drin, und mir blieb nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass ich unschuldig war. Ich hatte nicht einmal ein Motiv. Ajani hatte zwar einen Deal mit dem Seelensammler, der unbedingt Cassies Seele wollte, doch ich hatte keine Ahnung, ob der Deal vor oder nach Cassies Tod zustande gekommen war. Ich jedenfalls hatte erst davon erfahren, als Cassie bereits tot gewesen war.

Wie gern hätte ich mit jemandem darüber geredet, der sich mit Magie auskannte, dem die übernatürliche Welt nicht fremd war. Jemand wie Henri, Ash oder Caroline, doch ausgerechnet sie konnte ich nicht anrufen. Dabei war Ash früher mein bester Freund gewesen, Henri war mein Cousin, und auch mit Caroline war ich in irgendeiner Form verwandt, auch wenn ich bei unserem Verwandtschaftsverhältnis nicht so recht durchblickte. Es spielte auch keine Rolle, denn ich war – mal wieder – auf mich allein gestellt.

Weil mir in Mariposas Wohnung die Decke auf den Kopf fiel, machte ich mich auf den Weg ins French Quarter. Ich bummelte über den Platz vor der St. Louis Cathedral, versuchte, die Sonne und die warmen Temperaturen zu genießen, und beobachtete eine Weile das bunte Treiben von einer Bank aus. Straßenmusik, Kunst- und Wahrsagestände konkurrierten um das Geld der Touristen. Normalerweise lauschte ich gern den unterschiedlichen Klängen und sah mir einzelne Bilder an, aber heute konzentrierte ich mich vor allem auf die Wahrsagestände. Was gäbe ich dafür, nicht nur einen Blick in die Zukunft, sondern auch in die Vergangenheit werfen zu können, um mich daran zu erinnern, was in der Nacht im September geschehen war.

Ein Erinnerungstrank, natürlich! Kerzengerade setzte ich mich auf. Die Morgans konnten einen Erinnerungstrank brauen. Henri und ich hatten Ash schon einmal bei der Herstellung zugesehen, sehr zum Missfallen seiner Tante May, denn jede Magierfamilie hatte ein eigenes Rezept, das von Generation zu Generation weitergegeben und streng geheim gehalten wurde.

Ich kramte in den Tiefen meines Gedächtnisses, um mich an das Rezept der Morgans zu erinnern. Einige Zutaten fielen mir sogar ein, doch ich wusste nicht, ob die Liste vollständig war, ganz zu schweigen von den Mengenangaben, die ich nicht kannte. Gab es im Voodoo keine Möglichkeit, etwas Vergleichbares zu brauen? Leider wollte mir partout nichts einfallen. Voodoo funktionierte anders als die Magie der Morgans oder der Merlins, aber vielleicht gab es einen Loa, den ich um Hilfe bitten konnte. Auf Carolines und Ashs Unterstützung brauchte ich jedenfalls nicht zu zählen. Sie hassten mich, hielten mich für eine Mörderin. Im Grunde hatte ich Angst davor, dass der Trank genau das beweisen würde – dass ich Cassie getötet hatte. Es mochte naiv sein, doch unbewusst hoffte ich nach wie vor, unschuldig zu sein und das irgendwie beweisen zu können. Für meinen Seelenfrieden und um nicht mehr allein sein zu müssen. Vor allem aber um Valentinas willen. Ich wollte wieder mit ihr zusammen sein, sie fehlte mir. Mit ihr war die Welt so viel bunter und fröhlicher.

Die Sonne ging langsam unter, keine Ahnung, wie lange ich schon auf der Bank auf dem Jackson Square gesessen und gegrübelt hatte. Ich stand auf und machte mich auf den Weg zur Bourbon Street, die sich immer mehr mit partywütigen Touristen füllte. Ständig musste ich jemandem ausweichen, der Geruch von Schweiß und Parfüm tränkte die Luft, und jetzt wurde auch die Straßenmusik schneller und lauter. An jeder Ecke wurde ein neuer Jazz- oder Popsong interpretiert.

Schließlich erreichte ich den Voodooladen, der von außen aussah, als wäre er einem Westernfilm entsprungen, und in dem ich vor ein paar Wochen die Beschwörungsutensilien gekauft hatte. Er würde demnächst schließen, trotzdem oder gerade deshalb wartete ich noch ein paar Minuten. Erst dann ging ich auf die Tür zu. Zwei Männer traten gerade ins Freie, ein Fläschchen mit rosafarbenem Pulver in der Hand und ein dämliches Grinsen auf den Lippen. Augenverdrehend ließ ich sie vorbei, stieg die beiden Stufen hoch und schob die Tür auf. Mein Blick huschte hinüber zur Kasse, wo allerdings niemand stand.

»Tut mir leid, wir schließen gleich«, sagte in diesem Moment eine warme, weibliche Stimme.

Ich erkannte sie sofort, auch wenn ich sie erst einmal gehört hatte. »Ich weiß, deshalb bin ich hier.«

Nur zwei Sekunden später tauchte der Kopf einer jungen Frau hinter einem Regal auf. Bei ihr hatte ich damals bezahlt, und sie hatte mir angeboten, gern einmal nach Ladenschluss vorbeizukommen. Als sie mich ebenfalls erkannte, lächelte sie. Mit jeweils einer Phiole in der Hand trat sie einen Schritt in den Gang.

»Oh, hi. Schön, dich zu sehen. Ich dachte schon, ich hätte dich beim letzten Mal vergrault.«

»Ich war ein paar Wochen nicht in der Stadt«, erklärte ich, obwohl ich ihr keine Rechenschaft schuldig war. »Passt es dir gerade oder soll ich lieber ein anderes Mal wiederkommen?«

»Nein, nein, bin sofort fertig. Lass mich nur schnell ein bisschen Ordnung machen. Die beiden letzten Kunden konnten sich einfach nicht für ein Aphrodisiakum entscheiden.« Sie verdrehte die Augen wie ich gerade eben, und ich musste lachen.

Ich sah dabei zu, wie sie Tränke, Öle und Pulver hin und her schob, bis alles wieder an seinem Platz war. Dann ging sie zur Tür, warf einen Blick durch die Scheibe und drehte das Schild von Geöffnet auf Geschlossen.

»Hat dich jemand hereinkommen sehen?«

Warum wollte sie das wissen? »Ich glaube nicht. Die beiden Typen, die du vorher bedient hast, waren zu sehr mit ihrem neuen Spielzeug beschäftigt.«

Ohne etwas zu erwidern, löschte sie das Licht. Trotzdem war es noch hell genug, um sich zurechtzufinden. »Kommst du mit nach hinten?«

Sie ging an mir vorbei, und ich folgte ihr. Mit jedem Schritt wurden die Lichtverhältnisse schlechter, und der Geruch von Weihrauch nahm wie beim letzten Mal zu. Wir durchquerten den hinteren Bereich, in dem tagsüber der Wahrsager seine Dienste anbot, und ich musste aufpassen, nicht irgendwo anzustoßen oder etwas umzuwerfen. Am Ende des Ladens betraten wir einen weiteren Raum, der nicht allzu groß war. Als das Licht anging, blinzelte ich. Es gab eine Küchenzeile mit einer Kaffeemaschine, einem Wasserkocher und einer Mikrowelle, außerdem einen Tisch mit vier Stühlen. Der Geruch von Instantnudeln stieg mir in die Nase.

»Setz dich«, sagte sie und nahm den Wasserkocher von der Platte. »Möchtest du auch einen türkischen Apfeltee?«

»Gern.« Ich setzte mich so an den Tisch, dass ich sie im Auge behalten konnte.

»Ich bin übrigens Bobbie Sue«, stellte sie sich vor, während sie zwei nicht zueinanderpassende Tassen aus einem Hängeschrank holte.

»Bobbie Sue?« Ich erinnerte mich an einen gleichnamigen Countrysong, den ich mal bei Mariposa gehört hatte.

Bobbie Sue verzog den Mund. »Der Lieblingssong meiner Mom in den Achtzigern.«

»Du bist aber nicht doppelt so alt wie du aussiehst, oder?«, scherzte ich. Tatsächlich konnte sie höchstens Mitte zwanzig sein.

»Frag nicht. Moms Musikgeschmack ist in der Zeit stehen geblieben.«

Ich unterdrückte ein Schmunzeln. »Bobbie Sue ist ein schöner Name. Ich bin Lily.«

»Freut mich, Lily. Also, führt dich etwas Bestimmtes her?«

Zuerst wollte ich lügen, weil es mir fast peinlich war, dass sie mich sofort durchschaut hatte, doch dann nickte ich. Je eher ich eine Lösung für mein Problem fand, desto besser. »Es gibt da diese eine Nacht, an die ich mich nicht erinnern kann«, begann ich.

Grinsend hängte sie zwei Teebeutel in die Tassen. »Zu viel Alkohol?«

»So ungefähr.« Dankbar sprang ich auf den Zug auf, denn die Wahrheit brauchte sie nicht zu interessieren. »Die Sache ist die – ich würde mich gern erinnern.«

»Okay«, erwiderte sie gedehnt. »Und wie kann ich dir da helfen?«

Ich zögerte, fragte mich, ob ich mich in ihr getäuscht hatte, was beinahe unmöglich war. Ihr wissender Blick bei meinem letzten Besuch war eindeutig gewesen, und sie hatte mich garantiert nicht eingeladen, nach Ladenschluss vorbeizukommen, um nur Tee mit mir zu trinken.

»Du bist eine Voodoonsi, oder?«, versicherte ich mich trotzdem leise.

Sie lachte. »Jetzt verstehe ich. Entschuldige, der Arbeitstag war lang. Du willst also wissen, ob du deine Erinnerung mit Voodoo zurückholen kannst.«

Ich nickte. »Es gibt doch sicher irgendeine Möglichkeit. Ein Loa, den ich befragen kann. Ein Pulver oder ein Trank.«

»Ein Trank?« Skeptisch warf sie mir einen Schulterblick zu, bevor sie heißes Wasser in die Tassen füllte und sich zu mir an den Tisch setzte. »Das klingt eher nach herkömmlicher Magie.«

»Ja, ich weiß, aber im Voodoo muss es doch auch irgendetwas geben, um verschüttete Erinnerungen wieder hervorzuholen. Ich dachte, du hast vielleicht eine Idee, weil du den ganzen Tag mit Pulvern, Ölen und Elixieren zu tun hast. Mir will einfach nichts einfallen.«

Bobbie Sue spielte mit ihrem Teebeutel, den sie immer wieder ins heiße Wasser tauchte, und überlegte eine Weile. »Mir auch nicht. Ich kann Freddie morgen fragen, er arbeitet hier, aber an deiner Stelle würde ich mir einen Hexenclan suchen, wenn es dir wirklich so wichtig ist.« Sie zuckte mit den Schultern.

Ich verzog den Mund. Das war nicht die Antwort, die ich mir erhofft hatte, doch da kam mir plötzlich ein Gedanke. »Du kennst nicht zufällig einen Hexenclan hier in New Orleans?«

»Doch, natürlich. Die McCarthys. Aber an die brauchst du dich gar nicht erst zu wenden, sie können Voodoo nicht ausstehen. Falls du sonst keine Hexen oder Magier kennst, kannst du ja nach London reisen, zu den …« Sie schnippte mit den Fingern. »Na, wie hießen die Clans noch gleich?«

»Du kennst die Morgans und die Merlins?«, fragte ich überrascht.

Sie lachte auf, was jedoch alles andere als amüsiert klang, sondern vielmehr ungläubig. »Wer kennt sie nicht, nachdem diese irische Politikerin gestern in ihrem Fernsehinterview von Hexen und Magiern gesprochen hat? Sag bloß, das hast du nicht mitbekommen?«

Ich versteifte mich, umfasste die Tischplatte mit beiden Händen. Shannon Kelly hatte die Hexenclans im Fernsehen erwähnt? Nein, das konnte nicht sein. Wenn es so wäre, hätte ich das mitbekommen. Zwar hatte ich heute noch keine Nachrichten gehört, und ich hatte auch ewig nicht auf mein Handy geschaut, aber so etwas musste doch große Wellen schlagen, so wie es nach Sharnis Aktion der Fall gewesen war. Mit einem unguten Gefühl zog ich das Handy aus meiner Hosentasche und sah sofort, dass Mariposa mir drei Nachrichten geschickt hatte.

Die Hexen und Magier sind aufgeflogen! Sei bitte vorsichtig, Lily.

Noch gibt es keine Beweise, aber du kennst die Menschen. Niemand zweifelt daran, dass es wirklich Magie gibt, also pass auf, was du in der Öffentlichkeit sagst oder tust.

Ist alles okay bei dir?

Verdammt! Wie hatte das passieren können? Nach dem Kampf in dem Lagerhaus in Dublin hatten wir nicht nur alle Beweise vernichtet, sondern auch Andy und die anderen Typen festgesetzt. Offenbar waren sie freigekommen und direkt zu der Politikerin gegangen, um uns eins auszuwischen.

Wie Valentina diese Nachricht wohl aufgenommen hatte? Und wie hatten die Menschen darauf reagiert?

»Du hast wirklich nichts davon gewusst, oder?«, riss Bobbie Sue mich aus meinen Gedanken.

Ich schüttelte den Kopf. »Wie ist denn die Stimmung seitdem?«

Bobbie Sue atmete hörbar aus. »Puh, schwierige Frage. Ähnlich wie nach der Sache mit den Drachen, würde ich sagen. Die Menschen scheinen verwirrt zu sein, weil immer mehr Übernatürliches auftaucht. Manche haben Angst. Magie ist schließlich etwas ganz anderes als Drachen. Es wird spekuliert, ob die Magier die mysteriösen Feinde der Drachen sind. Wieder andere sind wütend und fragen sich, ob die Drachen die Magier gedeckt haben.«