Schattenspiel - Der zweite Teil der Schattenwächter-Saga - Sandra Grauer - E-Book

Schattenspiel - Der zweite Teil der Schattenwächter-Saga E-Book

Sandra Grauer

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Beschreibung

Der Schatten vor mir holte erneut zum Schlag aus. Ich hatte keine Zeit, aufzuspringen oder auszuweichen. Es war zu Ende. Ich schloss die Augen, hielt den Atem an, wartete auf den Schmerz. Die Portale sind offen, und die Schatten bereiten einen Krieg vor. Um sie zu stoppen und Noah zu befreien, müssen Emmalyn, Gabriel und Joshua tief in die Schattenwelt bis in den Palast des Schattenkönigs eindringen. Unerwartete Hilfe bekommen sie von Sheitan, einem verbannten Alpha-Schatten. Aber können sie ihm wirklich trauen oder verfolgt er eigene Ziele? Emmalyn weiß nicht einmal, ob sie sich noch selbst vertrauen kann, denn plötzlich erinnert sie sich an Dinge, die sie eigentlich nicht wissen kann.

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Sandra Grauer

Schattenspiel - Der zweite Teil der Schattenwächter-Saga

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

Flucht

Geständnisse

Es geht los

Der Plan

Gewissheit

Ein Pakt mit dem Teufel?

Willkommen in der Schattenwelt

Weitere Ungereimtheiten

Tiefer in den Kaninchenbau

Am See

Der Sand, der rasch entrinnt

Zivilisation

Vorbereitungen

Zum Palast ein Weg nur führt

Im Verlies

Kampf bis aufs Schwert

Der König ist tot, lang lebe …

Epilog

Eure Meinung

Leseprobe aus »Mehr als Freundschaft?«

Prolog

Drei Monate zuvor

Emilia

Leon

Weitere Bücher

Widmung

Impressum

Prolog

Schnellen Schrittes durchquerte Raziel die nur spärlich beleuchteten Gänge. Er musste mit dem General sprechen, bevor sich die Portale wieder schließen würden. Er konnte es sich nicht erlauben, in der Schattenwelt festzusitzen. Als Teil des Plans hatte er Aufgaben in der Menschenwelt nachzugehen.

Die Schattenwelt wirkte in diesem Moment nahezu verlassen. Vereinzelt begegnete er Alten und Kranken, die ihm neugierige Blicke zuwarfen, doch er beachtete sie nicht weiter. Jetzt war keine Zeit, ihre Neugier zu befriedigen. Er durfte den General nicht länger warten lassen und musste die Nachricht so schnell wie möglich überbringen.

Als er um die letzte Ecke bog und den geräumigen Raum betrat, in dem sämtliche Verhandlungen abgehalten wurden, erwartete der General ihn bereits. Nervös blickte er auf.

»Mein General.« Raziel deutete eine Verbeugung an. »Es ist vollbracht«, verkündete er. Stolz schwang in seiner Stimme mit, als er sprach.

»Ihr konntet ihn gefangen nehmen?«

Raziel nickte knapp. »Es ist alles nach Plan verlaufen. Als er das offene Portal erblickte, nahm er sofort Kontakt zu seinen Söhnen auf und erstattete Bericht. Sie und das Mädchen müssten bereits auf dem Weg zur Thingstätte sein.«

Der General erhob sich und ging ein paar Schritte. Er wandte Raziel den Rücken zu. Einen Moment blieb er stehen und schwieg, dann drehte er sich wieder um. »So lasst uns gehen. Ich möchte sie nur ungern verpassen.«

Flucht

Ich spürte Gabriels Hand in meiner, während wir vorsichtig die steilen Stufen zum Tempel der Inschriften hinaufstiegen. Seine Hand war warm und trocken, und er gab mir ein Gefühl des Vertrauens, der Sicherheit. Die Aufregung konnte aber auch er mir nicht nehmen.

Hoffentlich würden José und die anderen Schattenwächter unser Verschwinden erst bemerken, wenn wir bereits irgendwo in den Tiefen des Tempels waren. Mich noch einmal zu ihnen umzudrehen, traute ich mich nicht. Nicht auszudenken, was geschehen würde, wenn sie uns jetzt entdeckten. José wäre sicher nicht begeistert und wahrscheinlich sogar enttäuscht. Zumal er Gabriel kurz zuvor noch zu verstehen gegeben hatte, dass wir vorerst in seiner Nähe bleiben sollten. Das Schlimmste aber war, dass er uns mit Sicherheit verboten hätte, das Portal zu benutzen.

Es herrschte Ausnahmezustand, und die Schattenwächter brauchten jede Hilfe, die sie kriegen konnten. Überall auf der Welt waren die Portale offen, und das hieß, dass die Schatten ungehindert in unsere Welt übertreten konnten. Aber Ausnahmezustand herrschte auch bei uns – bei Gabriel, Joshua und mir. Noah schien unsere Hilfe ebenso sehr zu brauchen wie die Schattenwächter. Keiner von uns wusste, was passiert war, aber es bestand kein Zweifel, dass ihm etwas zugestoßen war. Wir mussten Gabriels und Joshuas Vater finden, und wir durften keine Zeit verlieren.

Nun wagte ich doch einen kurzen Blick zurück. Viel konnte ich nicht erkennen, und ich hatte auch keine Zeit, genauer hinzusehen. Wenn ich jetzt stürzte, würden wir bestimmt auffallen, also achtete ich lieber wieder auf die Stufen. Die Stimmen hinter uns klangen aufgeregt, aber nicht aufgeregter als zuvor.

Am Ende der Stufen betraten wir die mittlere von insgesamt fünf Öffnungen, und schlagartig wurde es um uns herum still und dunkel. Das hereinscheinende Mondlicht und unsere Fackeln boten das einzige Licht. Ich erschauerte, als wir weitergingen. Zum einen war es hier in der Pyramide noch kühler als draußen, zum anderen spürte ich mit jeder Faser meines Körpers die Faszination dieses bedeutenden Ortes.

Im Licht der Fackeln erkannte ich, dass zwei Mauern aus hellem Stein versetzt von beiden Seiten in den Weg hineinragten, und wir mussten uns wie in einem Labyrinth hindurchschlängeln. Neugierig betrachtete ich die Mauern, die über und über mit Hieroglyphen versehen waren. Wenn ich mir nicht solche Sorgen um Noah gemacht hätte, wäre ich sicher traurig darüber gewesen, dass ich die Maya-Stadt Palenque nun doch nicht mehr genauer zu sehen bekommen würde. Um mich machte ich mir in diesem Moment keine Gedanken, obwohl wir kurz davor waren, die Schattenwelt zu betreten. Ich hatte mich bereits ziemlich gut an das Leben als Schattenwächterin gewöhnt. Und außerdem wusste ich, dass Gabriel und Joshua alles für meine Sicherheit tun würden.

Ich ließ Gabriels Hand los und berührte im Vorbeigehen vorsichtig die Hieroglyphen. »Wie funktioniert das Portal denn jetzt?«, flüsterte ich, denn vor lauter Ehrfurcht vor diesem Ort traute ich mich nicht, lauter zu sprechen.

Wie man Portale öffnete, war Grundwissen für Schattenwächter. Joshua hatte mir mal erzählt, dass die Wächter jederzeit in die Schattenwelt gelangen konnten. Aus Angst, was mir dort alles passieren könnte, hatte Noah ihm jedoch damals verboten, mich einzuweihen. Bei dem Gedanken daran, was Noah jetzt alles passiert sein konnte, klopfte mein Herz noch schneller, als es das ohnehin schon tat.

»Das erklär ich dir später«, antwortete Gabriel.

Ich blieb stehen. »Willst du mir damit etwa sagen, dass ihr mir immer noch nicht verraten wollt, wie ich das Portal öffnen kann?« Ich spürte einen Stich. Schließlich war ich jetzt vollwertige Schattenwächterin und kämpfte Seite an Seite mit den Jungs gegen Schatten.

»Ganz ruhig, Emma«, meinte Gabriel sanft. Er blieb ebenfalls stehen und wandte sich mir zu. »Wir haben jetzt bloß keine Zeit für lange Erklärungen. Außerdem wird das Portal noch offen sein.«

»Wir sollten uns beeilen«, meinte Joshua, der voraus gegangen war. Nun drehte er sich zu uns um und leuchtete mit seiner Fackel in unsere Richtung. »Ich erzähl dir gern später alles, was du wissen willst, aber jetzt müssen wir zusehen, dass wir hier so schnell wie möglich wegkommen.«

»Joshua hat ausnahmsweise mal recht«, sagte Gabriel und folgte seinem Bruder.

Seufzend fuhr ich noch einmal mit meiner freien Hand über die Mauer mit den Hieroglyphen, dann folgte auch ich den beiden. Hinter der Mauer bogen wir rechts ab und standen vor einer großen Öffnung, die sich mitten im Boden vor uns auftat. Es war dunkel, und alles was ich erkennen konnte, waren ein paar Stufen, die weiter nach unten führten. Während Joshua bereits die ersten Stufen hinabstieg und auf einmal in der Dunkelheit verschwunden war, drehte sich Gabriel noch einmal kurz zu mir um.

»Sei vorsichtig. Die Stufen sind extrem steil und rutschig.«

Steil war gar kein Ausdruck, wie ich feststellen musste. Die Stufen führten fast senkrecht hinab, und sie waren wirklich rutschig. Um nicht zu stürzen, stützte ich mich mit der freien Hand an der Mauer ab, während ich mir mit der Fackel den Weg leuchtete. Es war ziemlich dunkel, obwohl über unseren Köpfen an der Decke in regelmäßigen Abständen Lampen brannten, allerdings nur sehr schwach. Ich nahm an, dass es sich um die Notbeleuchtung oder etwas in der Art handeln musste.

Wir befanden uns in einem Gang, der fast etwas von einer Höhle hatte. Und es roch auch wie in einer Höhle. Die Luft war modrig und feucht, um mich herum war alles aus braunrotem Stein – Decke, Wände, Stufen. Es war so eng in diesem Gang, dass ich Beklemmungsgefühle bekam. Meine Platzangst war zum Glück nur leicht ausgeprägt, ansonsten hätte es mich deutlich mehr Überwindung gekostet, diese Stufen hinabzusteigen. So atmete ich bewusst ein und aus und konzentrierte mich auf den Weg vor mir. Joshua war nicht mehr zu sehen, doch Gabriels Fackel leuchtete nur ein paar Schritte weiter vor mir.

»Geht's?«, hörte ich ihn nun fragen.

»Ja«, antwortete ich etwas gepresst, ohne meinen Blick von den Stufen zu nehmen. Doch dann befand ich mich auf einmal auf einer kleinen Plattform und stand Gabriel direkt gegenüber, der hier auf mich wartete. Er lächelte leicht und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

»Die Hälfte hast du schon fast geschafft«, sagte er, dann ging er weiter.

Die Plattform führte in einem engen Winkel nach rechts, bevor weitere Stufen vor uns auftauchten. Am liebsten wäre ich wieder umgekehrt, denn hier fühlte ich mich alles andere als wohl. Aber ich dachte an Noah und stieg weiter eine Stufe nach der anderen hinab. Mit jeder Stufe wurde es kälter und die Luft noch modriger. Ich hatte das Gefühl, dass wir uns mittlerweile unter der Erde befanden. Hastig schob ich den Gedanken beiseite, weil er mich noch unruhiger werden ließ. Doch dann hatten wir es endlich geschafft.

Die ganze Zeit über hatte ich hauptsächlich auf meine Füße geschaut, aber nun sah ich auf. Joshua und Gabriel standen nur ein paar Schritte von mir entfernt am Ende des Ganges, direkt vor einer Art dreieckiger Tür aus Stein, die aufgezogen war. Links daneben erkannte ich ein Gitter, doch von dieser Position aus konnte ich nicht erkennen, was sich dahinter befand. Beide Jungs blickten zu mir. Langsam schritt ich auf sie zu. Da sie mir die Sicht versperrten, konnte ich immer noch nichts sehen. Ich konnte nur erahnen, was hier sein sollte.

Ich schluckte. »Das Portal?«, fragte ich leise.

Gabriel nickte und schob mich an sich vorbei. So konnte ich einen Blick durch die Gitterstäbe werfen. An der gegenüberliegenden Wand brannte ein Licht, das aber auch nicht viel heller war als die Lampen, die an der Decke über den Stufen hingen. Im Schein der Fackeln konnte ich einen kleinen Raum ausmachen.

Die Wände ringsherum spitzten sich nach oben zu, sodass der Raum ebenso wie die Tür davor dreieckig war. In der Mitte des Raumes befand sich eine Art rechteckiger Sockel, der fast den kompletten Raum ausfüllte, und darüber war eine mit Hieroglyphen verzierte Platte. Zwischen Sockel und Platte waren einige Zentimeter Platz, sodass es aussah, als ob die Platte in der Luft schweben würde.

»Das ist die Grabkammer des Maya-Königs Pakal«, sagte Joshua hinter mir.

Ich ließ meinen Blick noch einmal durch den Raum gleiten, dann drehte ich mich zu Joshua um. »Wo genau ist denn das Portal?«

»Die Grabplatte ist der Zugang zum Portal. Mach mal Platz.«

Ich trat einen Schritt beiseite, um Joshua an mir vorbeizulassen. Er griff nach einem der Gitterstäbe und zog das Gitter einfach auf. Fragend sah ich Gabriel an.

»Josés Männer haben das Gitter vorhin aufgeschlossen, als sie kontrolliert haben, ob das Portal geöffnet ist«, erklärte er mir.

Joshua drehte sich noch einmal zu uns um. »Bereit?«

Gabriel nickte. Ich schluckte abermals. In meinem Magen machte sich ein flaues Gefühl breit, aber ich nickte ebenfalls.

»Bleib hinter uns«, sagte Joshua an mich gewandt. Er ging auf die Grabplatte zu, was mir auf einmal sehr vertraut vorkam. Es war wie einDéjà-vu, als sichplötzlich der Schatten der Grabplatte ausdehnte und Joshua darin verschwand.

Gabriel griff nach meiner Hand und schob mich ein Stückchen hinter sich. Dann ging er wie sein Bruder auf die Grabplatte zu und zog mich mit sich. Ich schloss instinktiv die Augen, während sich das flaue Gefühl in meinem Magen verstärkte. Als ich die Augen wieder öffnete, war es um uns herum etwas heller geworden. Das flaue Gefühl im Magen war weg, dafür überkam mich sofort das bekannte Rauschen in den Ohren. Es war allerdings noch lauter als in unserer Welt.

Hastig schaute ich mich um. Wir befanden uns in einer Art niedriger Höhle. Decke und Wände waren aus grauem Stein, und in den Wänden steckten in regelmäßigen Abständen kleine ovale Steine, die hell leuchteten. Außerdem gab es Türen in den Wänden, über denen Orte standen wie: Amesbury, England; Paris, France; New York, USA. Doch das war noch nicht alles. Überall waren Schattenwesen, es mussten hunderte sein. Für einen Moment hielt ich vor Schreck die Luft an. Damit, dass wir hier auf Schatten treffen würden, hatte ich ja gerechnet, aber nicht, dass es so viele sein würden.

Wie sollten wir bloß mit ihnen fertig werden? Ein Schatten war schon gefährlich genug, aber hier kamen sie von allen Seiten. Es war fast ein bisschen wie in der Walpurgisnacht, allerdings fehlte die Unterstützung anderer Schattenwächter. Auf den ersten Blick schien das völlige Chaos zu herrschen, doch als ich genauer hinsah, erkannte ich, dass jeder Schatten genau wusste, wo er hin musste. Wie Soldaten marschierten sie durch die Höhle und durch die verschiedenen Portale.

Auch ein Dutzend Schattenwächter waren bereits in die Schattenwelt eingedrungen. Sie versuchten ebenfalls, durch eine der Türen zu gelangen. Mit Fackeln und Inflammatoren bahnten sie sich ihren Weg.

Uns hatte bisher zum Glück noch niemand entdeckt. Ich sah kurz hinter mich. Über unserer Tür stand Palenque, México. Dort befanden sich in diesem Moment haufenweise Schattenwächter, und das schienen die Schatten zu wissen. Kein Schatten, der halbwegs bei Verstand war, würde in dieser Nacht das Portal in die Maya-Stadt benutzen. Hier waren wir erst einmal sicher, aber wie lange noch? Früher oder später würde man uns auch hier entdecken.

Ich warf einen Blick auf das Portal nach Heidelberg. Auch dort drängte sich Schatten an Schatten. Ohne Frage wären die Portale in die Maya-Städte und das nach England am sichersten. Aber wir mussten nach Heidelberg, und zwar so schnell wie möglich.

»Es sind tatsächlich alle Portale offen«, flüsterte Joshua uns in diesem Moment zu. »Das ist eine Invasion. Wie haben die das nur geschafft?«

»Darüber können wir uns später Gedanken machen, erst mal müssen wir hier raus.«

»Und wie sollen wir das machen?«, fragte ich leise. Ich konnte die Angst in meiner Stimme hören. »Die Schatten werden uns sicher nicht freiwillig Platz machen, oder?«

»Darauf kannst du wetten«, meinte Gabriel.

Er warf mir einen kurzen Blick zu, und obwohl er nichts sagte, wusste ich, was er dachte.Dir wird nichts geschehen, dafür sorge ich.Noch immer hielt er meine Hand, wofür ich ihm sehr dankbar war.

Wir betrachteten unbeachtet die Szenerie und überlegten: Wie sollten wir nur lebend quer durch die Halle zum Portal nach Heidelberg kommen? Die Schatten griffen die anderen Schattenwächter von allen Seiten an. Uns würden sie auch angreifen. Ich hatte gehofft, sie würden uns einfach durchlassen und keine Notiz von uns nehmen, doch die Schatten stellten sich lieber dem Tod, als auch nur einen Schattenwächter durch eines der Portale zu lassen.

Die Schattenwächter konnten sich nur mit Mühe verteidigen. Ich hielt jedes Mal unbewusst die Luft an, wenn ein Schatten einen Wächter mit seinen gefährlichen Händen erwischte. Aus eigener Erfahrung wusste ich, wie schmerzhaft es war, wenn man die Hände zu spüren bekam. Joshua hatte sie mal mit Papier verglichen, doch in Wirklichkeit war ein Papierschnitt nichts dagegen. Jedes Mal durchfuhr einen ein brennender Schmerz, und es dauerte Tage, bis die Schnittwunde wieder verheilte.

In diesem Moment sah ich, wie gleich mehrere Schatten auf einmal ein Schattenwächter-Team umzingelten und die zwei jungen Männer sofort attackierten. Sie wollten durch das Portal nach New York, doch die Schatten ließen ihnen keine Chance. Die Schattenwächter verteidigten sich mit Fackeln und Inflammatoren, aber sie konnten bei Weitem nicht alle Schatten verbrennen. Einer nutzte eine Lücke und traf den Mann mit den dunkleren Haaren am linken Arm. Der Mann ließ seine Fackel fallen und verzog vor Schmerz das Gesicht. Ich sah den Riss im Pulloverärmel. Der helle Stoff färbte sich rundherum rot. Blut tropfte auf den Boden. Erschrocken schnappte ich nach Luft.

Der Mann hatte nur noch seinen Inflammator, doch die Schatten ließen nicht von ihm ab. Ganz im Gegenteil, nun griffen sie ihn verstärkt an. Der zweite Mann erkannte die Gefahr. Er versuchte, sich zu seinem Partner vorzuarbeiten, aber die Schatten stellten sich ihm in den Weg. Und dann war es zu spät. Ein Schatten traf den ersten Mann mit seiner Hand direkt am Hals. Die Augen des Mannes weiteten sich, ob vor Schmerz oder Schreck wusste ich nicht. Stoßweise schoss das Blut mit jedem Herzschlag aus der Wunde hervor und tränkte seinen hellen Pullover tiefrot. Völlig unfähig mich zu bewegen, starrte ich einfach nur auf den Mann. Ich sah gerade noch, wie er auf seine Knie fiel und hörte den Schrei des zweiten Mannes, als Gabriel mich in seine Arme zog und meinen Kopf an seine Brust drückte.

»Nicht hinsehen«, sagte er leise.

Ich zitterte am ganzen Körper, und Tränen schossen mir in die Augen. »Wir müssen ihm helfen«, schluchzte ich an Gabriels Brust.

Sanft fuhr er mir übers Haar. »Es ist zu spät, wir können nichts mehr tun.« An Gabriels Stimme erkannte ich, dass ihn das Ganze ebenso mitnahm wie mich.

Ich schluckte. Warum hatten wir nicht eingegriffen? Wir hatten den Schattenwächter einfach sterben lassen. Aber hatten wir wirklich eine Wahl gehabt? Hätten wir ihm helfen können oder wären wir jetzt auch tot? Ein Schauer lief mir über den Rücken. Ich wusste, dass die Kämpfe mit den Schatten gefährlich waren, aber zum ersten Mal wurde mir bewusst, wie gefährlich sie wirklich waren. Ich hatte nie daran gedacht, dass einer von uns sterben könnte.

»Wir müssen hier raus«, hörte ich Joshua neben uns. Auch seine Stimme klang belegt.

Gabriel nickte. »Okay, wir machen's Rücken an Rücken.« Er löste sich von mir, griff aber nach meiner Hand. »Wir drehen uns im Kreis auf den Portalausgang zu, damit wir alle Seiten im Blick haben. Linksrum, linker Fuß zuerst. Nehmt Fackel und Inflammator in jeweils eine Hand. Und seid vorsichtig, dass ihr nicht stolpert und hinfallt. Das könnte böse enden.« Nun sah er mich kurz an. »Geht's?«

Ich schluckte und nickte, während ich mich zu beruhigen versuchte. Es war, wie Joshua und Gabriel gesagt hatten: Wenn wir überleben wollten, mussten wir hier raus. Früher oder später würden die Schatten uns entdecken, und dann würde es noch gefährlicher werden, als es ohnehin schon war. Nun schob Gabriel mich schräg hinter sich und ließ meine Hand los. Ich hätte seine gerne weiterhin gehalten, denn so gab er mir wenigstens ansatzweise das Gefühl von Sicherheit. Doch das ging nicht. Erst jetzt bemerkte ich, dass meine Hände zitterten. Während ich mein Schwert in meinen Gürtel steckte und Fackel und Inflammator vor mir ausstreckte, wie Gabriel es gesagt hatte, spürte ich die beiden auf einmal ganz nah hinter mir.

»Los«, rief Gabriel nun.

Wie auf Kommando begann mein Herz noch schneller zu schlagen. Vorsichtig setzte ich immer einen Fuß neben den anderen und schwang dabei die Fackel durch die Luft. Ich sah, wie der Schattenwächter mit den dunklen Haaren reglos am Boden lag, und mir wurde schlecht. Seinen Partner konnte ich nirgends entdecken. Ich hoffte nur, dass er es heil durch das Portal geschafft hatte, und konzentrierte mich wieder auf unser Vorhaben.

Langsam bewegten wir uns Rücken an Rücken auf das Portal zur Thingstätte zu. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, aber die Schatten wichen tatsächlich vor uns zurück. Mir war nicht klar warum, und ich hatte auch keine Zeit, um darüber nachzudenken. Trotzdem gelang es mir, mehrere Schatten zu verbrennen, und ich verspürte so etwas wie Genugtuung. Ich sah mich kaum um, aber ich wurde das Gefühl nicht los, dass uns alle anstarrten. Sowohl die Schatten als auch die anderen Schattenwächter. Vermutlich fanden sie es seltsam, dass wir zu dritt waren, und außerdem war ich ja ein Mädchen. Das sorgte nach wie vor für Aufregung.

Als wir endlich das offene Portal zur Thingstätte erreichten, atmete ich erleichtert auf. Wir sprangen den letzten Schritt und wurden in einen dunklen Strudel gezogen. Mich überkam ein grässliches Gefühl. Wie auf einer Achterbahn, wenn es wieder nach unten geht. Innerhalb einer Sekunde war alles vorbei, und wir standen mitten auf dem großen Platz der Thingstätte. Eisige Kälte und Dunkelheit empfingen uns. Ich konnte gerade noch sehen, dass es geschneit hatte, bevor uns die Schatten angriffen.

Eigentlich hätte ich damit rechnen müssen, trotzdem war ich überrascht. Sie kamen von allen Seiten auf uns zu und zögerten nicht lange. Wie in der Walpurgisnacht brandeten auf einmal laute Geräusche auf, und ich wünschte mir nicht zum ersten Mal, die Schatten nicht hören zu müssen. Mir blieb keine Zeit, mich zu konzentrieren, um die Geräusche gänzlich auszuschalten. Ich holte tief Luft und stürzte mich in den Kampf, indem ich mit Fackel und Inflammator um mich schlug. Ein Schatten nach dem anderen fing Feuer, und das Rauschen in den Ohren wurde lauter. Es ebbte nicht ab, auch wenn ich mal einige Sekunden lang keinen Schatten vernichtete. Solange weiterhin Schatten starben, waren Gabriel und Joshua noch am Leben.

An diesen Gedanken klammerte ich mich, denn sehen konnte ich die beiden nicht. Ich wollte es nicht riskieren, mich zu ihnen umzudrehen. Es waren so viele Schatten, dass wir es uns nicht leisten konnten, auch nur den Bruchteil einer Sekunde unaufmerksam zu sein. Ich spürte aber, dass die beiden weiterhin ganz nah bei mir standen. Beide atmeten schnell, und auch mein Herz schlug wie wild. Schweiß lief mir das Gesicht hinunter. Ich hatte Angst. Es waren einfach zu viele Schatten. Was, wenn wir sie nicht bezwingen konnten? Ich wollte nicht sterben wie der Schattenwächter mit den dunklen Haaren, und ich wollte auch nicht, dass Gabriel oder Joshua etwas zustieß. Um sie hatte ich mehr Angst als um mich selbst. Ja, sie waren beide erfahrene Schattenwächter, aber das war der Mann mit den dunklen Haaren sicher auch gewesen. Was sollte ich nur tun, wenn einem von beiden etwas zustieß?

Noch immer griffen die Schatten von allen Seiten an, und auf dem ganzen Platz tauchten wie aus dem Nichts immer wieder neue auf. Obwohl das Rauschen in meinen Ohren einfach nicht nachließ und wir Schatten um Schatten vernichteten, schienen es ständig mehr zu werden. Wir mussten irgendwie runter vom Platz, weg von der Thingstätte, doch wie? Ich schaffte es nicht, auch nur einen Schritt nach vorne zu tun. Trotzdem wurden Gabriel, Joshua und ich plötzlich voneinander getrennt. Auf einmal spürte ich sie nicht mehr direkt hinter mir. Hastig schaute ich mich um.

Ein paar Schatten hatten sich zwischen uns durch das Portal gedrängt, aber den Jungs ging es gut. Wenn man das so sagen konnte, denn nach wie vor waren auch sie von Schatten umzingelt. Sie drehten sich teilweise im Kreis und verbrannten so mit ihren Fackeln und Inflammatoren mehrere Schatten auf einmal.

Ich erschrak, als plötzlich ein Schatten direkt vor mir auftauchte und mich sofort angriff. In letzter Sekunde konnte ich seinem Schlag ausweichen und ihn verbrennen. Sofort stand ein weiterer Schatten vor mir. Dieses Mal konnte ich nicht schnell genug reagieren. Der Schatten trat mich mit voller Wucht gegen den linken Arm. Ein stechender Schmerz durchfuhr mich, die Fackel wurde aus meiner Hand geschleudert. Sie fiel in den Schnee und erlosch kurz darauf. Ich richtete meinen Inflammator auf den Schatten. Bevor ich ihn verbrennen konnte, trat er mich erneut, dieses Mal in den Magen. Keuchend fiel ich zu Boden.

»Emmalyn«, hörte ich Gabriel und Joshua fast gleichzeitig schreien.

Und dann passierte alles wie in Zeitlupe. Ich spürte den Schnee an meinen bloßen Händen und durch meine Hose, und ich zitterte. Nicht vor Kälte, diese und die Nässe nahm ich kaum wahr. Ich hatte Angst. Die Szene erinnerte mich zu sehr an das, was wir erst wenige Minuten zuvor in der Schattenwelt gesehen hatten. Gabriel und Joshua versuchten mit aller Kraft, mir zu Hilfe zu eilen. Ein Schatten nach dem anderen fing Feuer und hinterließ einen dreckigen Fleck auf dem weißen Schnee. Trotzdem konnten die beiden nicht alle Schatten überwältigen.

Das Rauschen in meinen Ohren wurde immer schlimmer, denn ich hatte in diesem Moment einfach nicht die Kraft, diese Geräusche auch nur ansatzweise auszublenden. Der Schatten vor mir holte erneut zum Schlag aus. Ich hatte keine Zeit, aufzuspringen oder auszuweichen. Es war zu Ende. Ich schloss die Augen, hielt den Atem an, wartete auf den Schmerz.

»Nein!«, schrie Gabriel.

Beim Klang seiner verzweifelten Stimme schossen mir Tränen in die Augen.

»Halt«, befahl im selben Moment eine tiefe, ruhige Stimme.

Einen kurzen Moment lang sah ich meinen Bruder, meine Mutter und meinen Vater vor mir. Mein Vater hielt mich in seinen Armen und wirbelte mich lachend über eine Sommerwiese voller Blumen. So schnell wie das Bild gekommen war, war es wieder weg.

»Dem Mädchen darf nichts geschehen«, sagte die Stimme weiter. Sie klang laut und respekteinflößend. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte ich, sie schon einmal gehört zu haben. Aber das war unmöglich.

Vorsichtig öffnete ich meine Augen wieder. Die gefährliche Hand des Schattens war kurz vor meinem Hals zum Stehen gekommen. Ich wich so weit wie möglich zurück. Der Schatten hatte sich leicht über mich gebeugt und starrte mich nun einen Moment aus seinen nicht vorhandenen Augen an. Dann richtete er sich wieder auf und trat einige Schritte zurück.

Ein Schauer lief mir über den Rücken. Ich atmete tief ein und spürte, wie sich meine Lunge mit eisiger Luft füllte. Ich sah hinüber zu Gabriel und Joshua. Gabriel suchte ebenfalls immer wieder meinen Blick. Er und sein Bruder wurden weiterhin von allen Seiten von Schatten umzingelt und angegriffen. Sie standen nun ein ganzes Stück voneinander entfernt. Wie lange konnten sie noch durchhalten? Ich musste etwas unternehmen. Ohne nachzudenken, sprang ich auf und ließ den Inflammator fallen. Ich zog das Schwert aus meinem Gürtel und hielt die Klinge mit beiden Händen gegen meinen Bauch gerichtet, so als ob ich jeden Moment zustoßen wollte.

»Hört sofort auf«, schrie ich auf Deutsch. Es passierte nichts. »Aufhören oder ich stoße zu«, schrie ich nun noch lauter.

Meine eigene Stimme hallte in meinen Ohren wider, und tatsächlich wurde es um mich herum mit einem Schlag still. Das Rauschen in meinen Ohren ließ nach, während die Kampfgeräusche sofort verstummten. Alle starrten mich an, auch Gabriel und Joshua.

»Was zum Teufel machst du da?«, zischte Gabriel. In seiner Stimme schwang Angst mit, doch ich ignorierte ihn.

Die Schattenmenge vor mir teilte sich, und ein Schatten schritt langsam auf mich zu. Normalerweise sahen alle Schatten ziemlich gleich aus, doch dieser war größer und angsteinflößender als alle, die ich bisher gesehen hatte.

Als er nur noch etwa drei Meter von mir entfernt war, hielt ich ihm eine Hand entgegen. »Das ist nah genug«, sagte ich, bemüht, dass meine Stimme nicht zitterte. Auch dieses Mal redete ich Deutsch, alles andere war zu gefährlich. Die Schatten würden vielleicht nicht meine Worte verstehen, aber ich war sicher, dass sie trotzdem wussten, was ich wollte.

»Gebt mir das Schwert«, erwiderte er und wollte einen weiteren Schritt auf mich zu machen.

Ich hielt das Schwert nun wieder mit beiden Händen und drückte es noch fester gegen meinen Bauch. Ein stechender Schmerz durchfuhr mich, aber ich biss die Zähne zusammen.

Der Schatten blieb tatsächlich stehen. Doch dann stand er plötzlich im Bruchteil einer Sekunde ganz nah vor mir. »Vertrau mir«, sagte er so leise, dass es niemand außer mir würde hören können und schob die Spitze des Schwerts von meinem Bauch. Mit der linken Hand griff er mich anschließend an der Schulter, allerdings so sanft, dass es nicht brannte. Während er weiter sprach, gestikulierte er wie wild mit der rechten Hand. »Die Schatten dürfen nicht wissen, dass du mich verstehst.« Wesentlich lauter fuhr er fort: »Was ist Euer Begehr?«

»Lass mich sofort los«, antwortete ich auf Deutsch und sah kurz zu Gabriel und Joshua. Beide hielten weiterhin ihre Fackeln und Inflammatoren vor sich ausgestreckt und starrten mich an. Sie waren nach wie vor umzingelt von Schatten, die nur darauf warteten, wieder anzugreifen.

»Ihr wollt, dass wir Euch frei lassen, nehme ich an. Und wenn ich Eurem Begehr nicht stattgebe?« Bildete ich mir das nur ein, oder wurde sein Griff noch weicher?

Ich riss mich los und hielt mir das Schwert erneut vor den Bauch. »Lasst uns gehen, oder ich bringe mich um«, sagte ich leise, und es kostete mich alle Kraft, dass meine Stimme nicht zitterte.

Es war leichtsinnig, aber ich hatte das Gefühl, dass die Schatten mich lebendig wollten. Und dass vor allem dem Schatten vor mir an meiner Sicherheit gelegen war. Ich hatte Angst, und ich konnte mich irren. Aber das war unsere einzige Chance.

»Ihr würdet Euer Leben für das der beiden Jungen opfern?«, fragte der Schatten. Er klang fast ungläubig.

Ich deutete ein kaum wahrnehmbares Nicken an. »Das würde ich, und das werde ich«, antwortete ich ohne zu zögern auf Deutsch. »Lasst uns gehen.«

Eine ganze Weile schwieg der Schatten. Dann machte er einen Schritt zurück und eine einladende Handbewegung. »Nun gut. Es steht Euch frei zu gehen.«

Um uns herum wurde es wieder unruhig. Stimmen brandeten auf, und die Schatten bewegten sich. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass Gabriel und Joshua näher zusammenrückten. Sie wirkten nervös und sahen sich misstrauisch um.

»Meine Entscheidung steht«, sagte der Schatten vor mir, und sofort war es wieder still. Einen Moment betrachtete er mich. »Ihr seid frei. Aber seid Euch bewusst, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis wir uns wiedersehen.«

Ich biss mir auf die Zunge, um nicht aus Versehen etwas zu erwidern. Dann straffte ich die Schultern, denn ich wollte auf keinen Fall, dass die Schatten meine Angst sahen. Ich griff nach meinem Inflammator und ging langsam auf Gabriel und Joshua zu. Dabei ließ ich den Schatten nicht aus den Augen. Er stand weiterhin bewegungslos an derselben Stelle, und auch die anderen Schatten rührten sich nicht.

»Was ist hier los?«, fragte Joshua leise, während Gabriels intensiver Blick auf mich geheftet war.

Richtig. Manchmal vergaß ich einfach, dass die beiden die Sprache der Schatten nicht verstehen konnten. Und ich selbst hatte wahrscheinlich zu leise gesprochen oder zu weit weg gestanden. Vorerst antwortete ich jedoch nicht, denn es gab Wichtigeres.

»Kommt schnell. Und haltet das Feuer nach unten.«

Vorsichtig lief ich weiter, gefolgt von den beiden Jungs. Die Schatten rückten wie schon zuvor zur Seite, sodass sich ein Durchgang bildete. Eng aneinandergerückt nahmen Gabriel, Joshua und ich die wenigen Stufen, die vom Platz hinunterführten, und gingen langsam und angespannt durch die Schattenmenge. Wir erwarteten jeden Moment einen erneuten Angriff. Jeder von uns war bereit, sofort zuzuschlagen. Aber es geschah nichts. Regungslos standen die Schattensoldaten links und rechts von uns. Schließlich hatten wir die letzten Schatten hinter uns gelassen.

»Lauft«, rief ich, und wir rannten so schnell wir konnten in den dunklen Wald hinein.

»Du hast was?«, schrie Gabriel. »Das darf doch nicht wahr sein. Ich glaub das einfach nicht.« Wütend stapfte er im Schnee auf und ab und hinterließ dabei eine Spur wie ein wild gewordenes Tier.

»Was hätte ich denn machen sollen?«

Joshua seufzte. »Es waren einfach zu viele Schatten. Wir wären nicht lebend da raus gekommen.« Nun sah er mich an. »Trotzdem, das war echt leichtsinnig von dir. Du kannst doch nicht einfach dein Leben aufs Spiel setzen, nur weil du glaubst, dass die anderen bluffen. Das hätte auch ganz anders ausgehen können.«

Ich verdrehte die Augen. Die beiden brauchten nicht zu wissen, dass ich selbst große Angst gehabt hatte. »Aber ich wusste doch, dass die nicht bluffen. Aus irgendeinem Grund will der Schatten mich lebend.«

Gabriel blieb vor mir stehen und griff nach meiner Hand, während er mich ansah. In seinem Blick lagen Angst, Wut und Erleichterung. »Hast du eigentlich eine Ahnung, wie kritisch die Situation war? Mein Gott, das war ein Alpha-Schatten. Die diskutieren in der Regel nicht, die machen kurzen Prozess. Nur wenige Schattenwächter haben eine Begegnung mit einem Alpha-Schatten überlebt, geschweige denn ihn getötet. Bis heute hatte ich noch nie einen gesehen, und ich kann nicht sagen, dass ich darüber unglücklich war.«

»Es ist doch alles gut gegangen«, sagte ich und bemühte mich, ruhig zu sprechen, obwohl ich vor Angst immer noch zitterte.

Gabriel seufzte leise. »Trotzdem, tu so was nie wieder, hörst du? Es ist keine Alternative, dass du dich in Gefahr bringst.«

»Es geht mir gut, Gabriel«, erwiderte ich sanft.

»Ja, ich weiß.« Ohne Rücksicht auf seinen Bruder zog er mich in seine Arme.

Ich schloss für einen kurzen Moment die Augen und hörte ihn erleichtert ausatmen. Wie sehr hatte ich mich nach seiner Nähe gesehnt. Außerdem spürte ich die Kälte nun doch. Die Sonne war immer noch nicht aufgegangen, und ich hatte keine Jacke dabei. Ich fror, aber Gabriels Körper war warm. Ob vor Wut, Anstrengung oder Aufregung wusste ich nicht.

»Wir müssen herausfinden, was die Schatten von Emmalyn wollen«, sagte Joshua mit kühler Stimme.

Gabriel ließ mich wieder los. Bevor er sich jedoch von mir abwandte, warf er mir noch einen kurzen Blick zu, in dem so viel Sehnsucht lag, dass ich für einen Moment die Kälte vergaß. Ich seufzte unwillkürlich. Nur zu gerne hätte ich ihm endlich gesagt, dass ich mit ihm zusammen sein wollte, und nach diesen Erlebnissen wollte ich es umso mehr. Aber irgendwie schien nie der richtige Zeitpunkt zu sein.

»Es ist offensichtlich, dass sie einen Plan verfolgen, aber wir müssen vorher Vater finden«, fuhr Joshua unbeirrt fort.

Vielleicht ignorierte er uns aber auch nur, um den Schmerz nicht spüren zu müssen. Er liebte mich, das wusste ich. Ich hatte ihn auch sehr gern, aber meine Gefühle für Gabriel waren nun mal stärker. Das wusste Joshua noch nicht. Trotzdem war ich sicher, dass es schmerzhaft für ihn war, mich in Gabriels Armen zu sehen. Wie sollte es nur für ihn werden, wenn ich wirklich mit Gabriel zusammen sein würde? Daran wollte ich lieber nicht denken.

Gabriel zog sein Handy aus der Hosentasche. »Lass uns erst mal zu Hause anrufen. Vielleicht kann Mutter uns ja weiterhelfen.«

Joshua sah auf seine Uhr. »Es ist noch nicht mal halb acht. Wenn wir sie jetzt wecken und nach Vater fragen, macht sie sich bloß einen Haufen Sorgen.«

»Ich mach das schon. Außerdem ist Freitag, Lilly hat heut noch mal Schule, bevor's in die Weihnachtsferien geht.« Gabriel drückte ein paar Tasten und hielt sich das Handy ans Ohr. »Hey Lilly, wie geht's dir?«, sagte er schließlich. »Uns geht's auch gut. Ja, es ist toll hier. Ach weißt du, um diese Uhrzeit ist es in Mexiko auch nicht viel wärmer als in Deutschland.«

Das sah ich aber anders. In Mexiko war es selbst nachts deutlich wärmer gewesen als es hier in Heidelberg war. Ich schlang meine Arme um mich und spürte, wie Joshua mich mit einem Mal in die seinen zog.

»Ich würd dir ja meinen Pulli geben, aber ich trag leider nichts drunter«, sagte er leise.

Ich sah an ihm hinunter. Er hatte ein langärmeliges Oberteil an, das eine Mischung aus T-Shirt und Pullover war. »Ist schon gut«, erwiderte ich und fing einen genervten Blick von Gabriel auf.

Früher hatte es mich nicht gestört, wenn Joshua meine Nähe gesucht hatte, aber das war jetzt anders. Ihn wegzuschubsen war allerdings auch keine Alternative, dann wäre ich mir schäbig vorgekommen. Ich wollte ihm behutsam beibringen, dass ich mich in seinen Bruder verliebt hatte.

»Kann ich dir das später erzählen, Lilly?«, fragte Gabriel nun. »Ich müsste mal dringend mit Vater sprechen. Okay, dann gib mir Mutter. Ja, danke.« Es entstand eine kurze Pause, schließlich schien seine Mutter endlich am Apparat zu sein. »Hallo. Ja, es geht uns gut. Sag mal, wo ist Vater denn? Echt? Du weißt nicht zufällig, wer das war? Und dann? Ach was, du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich bin sicher, es geht ihm gut. Ja, mach ich. Bis später dann.« Er legte auf und steckte das Handy zurück in seine Tasche. Dann zog er seinen Pullover über den Kopf, kam auf mich zu und reichte ihn mir.

»Das geht nicht, du holst dir bloß 'ne Erkältung.« Ich war froh, endlich einen Grund zu haben, mich aus Joshuas Armen lösen zu können und sah Gabriel an. Jetzt trug er nur noch ein enges, schwarzes T-Shirt und dunkelblaue Jeans. Selten hatte er besser ausgesehen als in diesem Moment. Immer noch hielt er mir seinen Pullover entgegen.

»Nun zieh ihn schon an, ich frier nicht so schnell«, sagte er und drückte mir den Pullover in die Hand.

Ich war sicher, dass Gabriel nur vermeiden wollte, mich noch einmal in Joshuas Armen zu sehen, und er würde nicht locker lassen. Also gab ich mich geschlagen und zog den Pullover über, ohne auf Joshuas Blick zu achten. Sofort umfing mich Gabriels charakteristischer Geruch, eine Mischung aus Zitrone, schwarzem Pfeffer und seinem unwiderstehlichem Eigenduft.

»Also, Vater hat heut Morgen ganz früh einen Anruf bekommen«, berichtete Gabriel nun. »Von der Heidelberger Polizei, aber Mutter wusste leider nicht, wer genau angerufen hat. In der Gaststätte hier oben nahe der Thingstätte kam's wohl zu Ausschreitungen, und Vater sollte nach dem Rechten sehen. Mehr wusste sie auch nicht.«

»Dann sollten wir dort mit unserer Suche beginnen«, meinte Joshua und ging voran.

»Hier gibt's 'ne Gaststätte? Wo soll die denn sein?«, fragte ich.

»Nicht weit von hier«, antwortete Gabriel und schenkte mir ein kleines Lächeln, bevor wir Joshua folgten.

Es dauerte nicht lange, bis wir das große weiße Gebäude erreichten. Ich war erleichtert. Der viele Schnee machte uns den Weg nicht leichter, und mir war immer noch kalt. Hoffentlich würde die Sonne bald aufgehen.

Etwas abseits blieben wir stehen. Gabriel wollte nicht, dass wir auffielen, also schlich er sich alleine an eines der Fenster, während Joshua und ich in sicherer Entfernung auf ihn warteten.

»Geht's dir gut?«, fragte Joshua mich, nachdem er mich einen Moment gemustert hatte. »Du hast ganz blaue Lippen.«

»Es geht schon«, log ich. In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie so gefroren, aber das wollte ich nicht zugeben. Dann hätte mich Joshua nur wieder in den Arm nehmen wollen. Ich wünschte, Gabriel hätte mit mir gewartet. In seinen Armen fühlte ich mich wohl, und ein Kuss hätte bei diesen Temperaturen wahrscheinlich wahre Wunder bewirkt. Allein der Gedanke daran half schon.

»Wir sollten trotzdem zusehen, dass wir schnell nach Hause kommen«, riss Joshua mich aus meinen Tagträumen.

»Das wird auch nicht viel bringen. Mein dicker Wintermantel liegt im Hotel in Palenque. Außerdem müssen wir Noah finden, das ist jetzt am wichtigsten.«

Joshua seufzte. »Ich weiß. Ich will nur nicht, dass du dir noch 'ne Lungenentzündung oder so was holst.« Er machte eine kurze Pause. »Wir bitten José, uns unsere Sachen zu schicken. Es wird zwar 'ne ganze Weile dauern, bis sie hier sind, aber wir werden so lang schon was für dich finden.«

Ich nickte und entdeckte Gabriel, der schnellen Schrittes auf uns zukam. »Und, was ist los?«, wollte ich wissen.

»Da ist alles ruhig. Um diese Uhrzeit haben die noch gar nicht auf.«

»Die ganze Sache ist ziemlich seltsam. Gibt's hier oben vielleicht noch was anderes, wo dein Vater sein könnte?«

»Nicht, dass ich wüsste. Mutter hat außerdem explizit von dieser Gaststätte gesprochen.«

»Ich ruf jetzt bei der Polizei an«, meinte Joshua und zog sein Handy aus der Tasche. Er lief im Schnee auf und ab, während er darauf wartete, dass jemand abnahm. »Guten Morgen, Joshua Lennert hier. Es geht um meinen Vater …«

»Gott, du hast ja ganz blaue Lippen«, flüsterte Gabriel. Er legte seine Arme um mich und zog mich ganz nah an sich. »Wir müssen nach Hause und dir eine Jacke besorgen.«

»Das hat Joshua auch schon gesagt, aber wir dürfen keine Zeit verlieren. Ich bin jetzt nicht wichtig.«

»Sag so was nicht, natürlich bist du wichtig.« Er sah mich einen Moment an. »Geht's dir wirklich gut? In der letzten Stunde ist ziemlich viel passiert.«

»Geht schon«, antwortete ich leise. Ich wollte jetzt nicht daran denken, was alles passiert war, denn nun brauchte ich meine ganze Kraft, um Noah zu finden. »Frierst du gar nicht?«, fragte ich Gabriel, um das Thema zu wechseln. Immerhin trug er nur noch das dünne T-Shirt.

»Ein bisschen, aber das macht nichts.«

Ich löste mich von ihm. »Du solltest deinen Pullover wieder anziehen, warte.«

Doch Gabriel zog mich zurück in seine Arme. »Kommt gar nicht in Frage, du behältst ihn an.«

Ich schmiegte meinen Kopf an seine Brust und schlang meine Arme um seine Taille. »Dann mach dir warme Gedanken. Stell dir zum Beispiel vor, wir würden am Strand liegen.«

»Glaub mir, das mach ich bereits. Aber an den Strand hatte ich da weniger gedacht«, hauchte er mir ins Ohr.

Ich bekam eine Gänsehaut am ganzen Körper, die nicht nur von der Kälte kam. Um ihn ansehen zu können, hob ich den Kopf ein wenig. Sein Gesicht war nur wenige Zentimeter von meinem entfernt. Ich spürte seinen warmen Atem, der kleine Wölkchen in der Luft bildete. Ein wohliger Schauer lief mir über den Rücken.

Wie leicht wäre es jetzt gewesen, Gabriel einfach zu küssen, und ich wollte es so sehr. Ich hätte mich nur ein wenig auf die Zehenspitzen stellen müssen, und schon hätten meine Lippen seine berührt …

Geständnisse

Gabriels Augen wanderten von meinen Augen zu meinem Mund. Ich verspürte ein solches Verlangen, ihn zu küssen, dass es fast wehtat. Aber es ging nicht. Nicht hier, nicht jetzt. Das konnte ich Joshua nicht antun.

Es kostete mich all meine Kraft, mich von ihm zu lösen. Keine Sekunde zu früh, denn in diesem Moment legte Joshua auf und drehte sich wieder zu uns um. Er betrachtete uns einen Moment skeptisch. Gabriel und ich standen jetzt ziemlich unverfänglich nebeneinander, aber ich war sicher, Joshua konnte unser beider Verlangen spüren. Das sah ich an seinem Blick. Ich fühlte mich schrecklich. Noah war verschwunden, wir hatten keine Ahnung, ob es ihm gut ging. Die Schatten fielen in unsere Welt ein, und ich dachte nur an mich. Tränen stiegen mir in die Augen, doch ich schluckte sie hinunter und ging auf Joshua zu. Vorsichtig legte ich ihm meine Hand auf den Arm.

»Was hat die Polizei gesagt? Können Sie uns helfen?«

Joshua wandte seinen Blick von Gabriel ab und sah nun mich an. »Sie haben das GPS von Vaters Handy geortet.«

»Warum sagst du das nicht gleich?«, meinte Gabriel und kam auf uns zu. »Wo ist es?«

Joshua drehte Gabriel sein Handy zu und zeigte ihm einen roten Punkt auf einer Karte. »Ganz in der Nähe der Thingstätte. Wir müssen vorsichtig sein. Wer weiß, ob die Schatten uns noch einmal gehen lassen.«

Bei dem Gedanken daran lief mir ein Schauer über den Rücken. Schnell folgte ich Gabriel und Joshua. »Was hat die Polizei denn noch gesagt?«

»Nicht viel. Sie wussten leider auch nicht, wer genau Vater angerufen hat, und von einem Vorfall in der Gaststätte ist ihnen auch nichts bekannt. Der Wachleiter wird der Sache aber nachgehen und sich dann wieder bei uns melden.«

»Na hoffentlich lässt er sich nicht zu viel Zeit«, murmelte Gabriel und blieb stehen. Nun sah er mich an. »Hörst du was?«

Ich blieb ebenfalls stehen, schloss die Augen und konzentrierte mich. Es war komisch, denn normalerweise musste ich mich konzentrieren, um die Geräusche auszublenden. »Nein, da ist nichts.«

Gabriel ging weiter. »Wenn wir Glück haben, sind die Schatten schon weg.«

»Ich würd das nicht als Glück bezeichnen, denn wenn sie nicht mehr hier oben sind, verteilen sie sich in der ganzen Stadt und beschatten Menschen«, meinte Joshua.

»Und was passiert dann?«, fragte ich, obwohl ich mir die Antwort schon denken konnte.

»Früher oder später wird sehr wahrscheinlich Chaos ausbrechen.«

»Wir müssen sie aufhalten«, sagte ich. Ich hatte heute erlebt, zu was die Schatten fähig waren. Sie durften nicht noch mehr unschuldige Menschen töten.

»Du hast die Schattenmengen gesehen«, erwiderte Gabriel. »Allein packen wir das nicht. Theoretisch bräuchten wir die Unterstützung von allen Schattenwächtern, die's gibt, und das ist unmöglich, denn die werden auch anderswo gebraucht.«

Ich dachte einen Moment darüber nach, was die Schatten alles anrichten konnten. Prügeleien, Raubüberfälle, Mord. Und wenn sie Politiker oder Staatschefs beschatteten, konnte es sogar zum Krieg kommen. Mir wurde mit einem Mal ganz schlecht. Würde uns etwa doch der Weltuntergang bevorstehen, wenn wir die Schatten nicht zurück in ihre eigene Welt schicken konnten?

»Ganz ruhig«, meinte Gabriel nun. Er musste meine Gedanken gelesen haben. »Ich weiß noch nicht wie, aber ich bin sicher, wir können die Schatten aufhalten.«

Wir näherten uns der Thingstätte und hatten nun die Mauer erreicht, die uns die Sicht auf die Freilichtanlage verbarg.

»Hier muss es irgendwo sein«, flüsterte Joshua mit einem Blick auf sein Handy.

Ich warf einen vorsichtigen Blick durch die Öffnungen in der Mauer, während Gabriel und Joshua nach Noahs Handy suchten. Noch immer waren einige Schatten auf dem Platz, doch es waren lange nicht mehr so viele wie noch kurz zuvor. Ob das Portal noch offen war?

»Ich hab's«, hörte ich Gabriels leise Stimme hinter mir.

Ich drehte mich zu ihm um. Triumphierend hielt er das Handy in der Hand. Wir entfernten uns wieder ein Stückchen von der Thingstätte, dann betrachtete er das Telefon etwas genauer.

»Laut Display telefoniert er immer noch mit mir.« Gabriel sah uns an, in seinem Blick lag Angst. »Wahrscheinlich wurde er überrascht und hatte keine Zeit mehr, zu reagieren. Aber was ist passiert?«

»Im Schnee waren nur Vaters Spuren, also müssen ihn definitiv Schatten angegriffen haben.«

Die Schatten hinterließen keine Spuren im Schnee? Ich sah mich kurz um und entdeckte tatsächlich nur unsere und noch eine weitere Spur, die sich an der Mauer zur Thingstätte verlief. »Aber wo ist Noah? Müsste er nicht hier irgendwo sein, wenn er angegriffen wurde?«

»Exakt«, antwortete Gabriel. »Ich versteh das nicht, was hat das alles zu bedeuten?«

»Lasst uns erst mal nach Hause gehen und dann dem Rat Bescheid geben. Hier oben können wir vorerst nichts mehr tun.«

Gabriel stimmte ihm, wenn auch widerwillig zu, und wir machten uns auf den Weg in die Innenstadt. Von unterwegs aus rief Gabriel uns ein Taxi, das in der Bergstraße auf uns warten sollte.

Bei der Witterung und dem ganzen Schnee war der Abstieg ziemlich mühsam, und ich trug auch nicht die passenden Schuhe. Mehr als einmal stolperte ich, und ich wäre sicherlich hingefallen, hätten mich Joshua oder Gabriel nicht jedes Mal in letzter Sekunde gehalten. Einen Vorteil hatte das Ganze aber: Mir war nicht mehr ganz so kalt, und ich konzentrierte mich so auf den Weg unter meinen Füßen, dass ich kaum noch an die schrecklichen Erlebnisse denken musste, die wir nun vorerst gemeinsam mit der Thingstätte hinter uns ließen.

Die Stimme des Nachrichtensprechers war bis in den Flur zu hören, als wir die Wohnung im Schloss-Wolfsbrunnenweg betraten. Es roch vertraut, als wir zielstrebig ins Wohnzimmer gingen. Gabriels und Joshuas Mutter saß auf dem Sofa, eine gelbe Tasse in der Hand. Der Fernseher lief, und im Kamin prasselte ein warmes Feuer. Am liebsten hätte ich mich auf den Teppich davor gesetzt. Es wirkte so einladend, und mir war immer noch kalt. Überhaupt hatte die Szenerie auf den ersten Blick etwas ungemein Gemütliches an sich, doch das täuschte. Wenn man genauer hinsah, erkannte man die Wahrheit. Frau Lennert sah nervös aus. Sie starrte auf den Fernseher und nahm gar nicht wahr, dass wir da waren. Ihre Hände zitterten, sodass sie mit Sicherheit etwas verschüttet hätte, wäre die Tasse voller gewesen. Ihre Aufmerksamkeit galt einer Nachrichtensendung.

»… kommt es auch in den USA in New York zu Ausschreitungen«, sagte der Nachrichtensprecher in diesem Moment. »Damit sind weltweit bereits sechs Städte betroffen. Die Gründe für die Ausschreitungen sind noch unbekannt, offizielle Stellungnahmen seitens der Regierungen gibt es bisher nicht. Unklar ist auch, ob Zusammenhänge zwischen den Ausschreitungen bestehen.« Der Mann legte eine kleine Karte beiseite, von der er bis jetzt abgelesen hatte, und sah direkt in die Kamera. »Und nun zum Wetter.«

Ich spürte, wie auch ich unruhig wurde. Es ging also bereits los, die Schatten verbreiteten Chaos. Wie wohl die Lage hier in Heidelberg war? Zumindest schien es bisher noch relativ ruhig zu sein, ansonsten hätte der Nachrichtensprecher sicher etwas gesagt. Aber das konnte sich jederzeit ändern. Ich musste unbedingt meine Mutter und Hannah anrufen und sie warnen.

Frau Lennert stellte ihre Tasse auf den Tisch und griff nach der Fernbedienung. Erst jetzt bemerkte sie uns. Die Fernbedienung rutschte ihr aus der Hand, lautlos landete sie auf dem Teppich. »Mein Gott, ihr habt mich vielleicht erschreckt«, sagte sie und griff sich ans Herz. »Was macht ihr hier?«

Joshua ging zu seiner Mutter, hob die Fernbedienung auf und schaltete den Fernseher aus. Dann sah er sie einen Moment schweigend an, während Gabriel und ich im Türrahmen stehen blieben.

Frau Lennert sah von Joshua zu uns und wieder zurück. Nun wirkte sie noch nervöser als zuvor. »Es ist etwas passiert, oder? Warum seid ihr nicht in Mexiko?«

Joshua setzte sich neben seine Mutter auf das Sofa. »Ich weiß nicht, wie ich's dir schonend beibringen soll, also sag ich's einfach gradeheraus. Heute Nacht haben sich alle Portale der Welt gleichzeitig geöffnet.«

Sie wurde bleich. »Aber … warum?«

»Das wissen wir nicht. Klar ist nur, dass die Schatten zu Zehntausenden durch die unbewachten Portale in unsere Welt übertreten konnten.«