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Vertraust du ihm, verlierst du dein Herz. Vertraut er dir, verliert er sein Leben. Doch nur zusammen habt ihr eine Chance. Kailey ist neu am Trinity College in Dublin. Was keiner weiß: Sie hat ein Geheimnis. Denn sie ist eine Fae, eine Elfenkriegerin, die von ihrer Königin ausgesandt wurde, um das Vertrauen des Drachenprinzen Aiden zu gewinnen. Dadurch erhoffen sich die Fae einen Vorteil im drohenden Krieg zwischen Elfen und Drachen. Doch Kailey ahnt nicht, dass Aiden einen ganz ähnlichen Auftrag hat! Die beiden spielen ihr falsches Spiel mit Bravour – und entwickeln dabei wahre Gefühle füreinander … *** Urban Romantasy vor der traumhaften Kulisse Irlands! Episch. Atmosphärisch. Magisch! *** Entdecke die fantastisch-romantischen Buchwelten von Sandra Grauer bei Ravensburger: Flowers & Bones Band 1: Tag der Seelen Band 2: Kuss der Catrina Flame & Arrow Band 1: Drachenprinz Band 2: Elfenkriegerin Clans of London Band 1: Hexentochter Band 2: Schicksalsmagie
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Seitenzahl: 522
Als Ravensburger E-Book erschienen 2021
Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag
© 2021 Ravensburger Verlag
Text © 2021 Sandra Grauer
Dieses Werk wurde vermittelt durch die litmedia.agency, Germany.
Lektorat: Franziska Jaekel
Umschlaggestaltung: Zero Werbeagentur, München
Verwendete Bilder von © Dmitriy Rybin, © k_yu, © Jojo Textures, alle von Shutterstock
Vorsatzkarte: Carolin Liepins, München
Verwendete Bilder von © ALXR, © abeadev, © Lee Charlie, © PGMart, © Aleks Melnik, © AWK07, © Vectorfair.com, © Andrijamil, © urnifine Creative, alle von Shutterstock
Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.
ISBN 978-3-473-51097-9
www.ravensburger.de
Für Christian, der immer an meiner Seite ist Für Niklas und Betty Und für alle »Clans of London«-Fans
Nur langsam erwachte Merlin aus seinem tranceähnlichen Zustand. Schon lange hatte er nicht mehr so klare Bilder vor seinem inneren Auge vorbeiziehen sehen – Ereignisse, die noch gar nicht geschehen waren. Es fröstelte ihn, und das lag nicht nur an der Kälte, die sich mit Einbruch der Dunkelheit in seinem Turmzimmer ausgebreitet hatte. Der Wind heulte um das alte Gemäuer, pfiff durch die Risse in den Wänden. Heftiger Regen peitschte gegen das kleine Turmfenster. Trotzdem hörte er draußen die Reiter auf ihren Pferden.
Merlin erhob sich aus seinem Scherenstuhl. Vor dem Kamin nahm er sich die Zeit und rieb seine Hände aneinander. Funken bildeten sich zwischen den Handflächen, mit denen er im nächsten Moment ein Feuer entfachte. Er holte eine Pergamentrolle, setzte sich zurück an den Tisch und griff nach einer Feder, die er in ein Tintenfass tauchte. Ein erneuter Schauer lief ihm über den Rücken, als er die zukünftigen Ereignisse niederschrieb, die er gerade gesehen hatte – die Prophezeiung, die seinen eigenen Hexenclan betraf.
Seine Finger schmerzten, als er die Feder schließlich beiseitelegte. Dennoch stand er erneut auf, um eine zweite Pergamentrolle zu holen. Er hatte mehr als die Zukunft seines eigenen Clans gesehen. Ihm war bewusst, dass seine niedergeschriebenen Worte einst das Todesurteil für das Mädchen bedeuten könnten, das noch nicht einmal geboren worden war. Und doch durften diese Worte nicht ungehört bleiben. Zu viel stand auf dem Spiel – das Mädchen sorgte in der Zukunft für gewaltige Verwerfungen, die Angst auslösen würden, denn dank des Mädchens bestünde am Ende nur ein Hexenclan fort. Doch das war noch nicht alles: Es bedeutete auch den Untergang des Drachenthrons. Die Drachen waren Merlins Verbündete; er durfte ihnen sein Wissen über ihre eigene Zukunft keinesfalls vorenthalten, damit sie rechtzeitig reagieren konnten.
Mühsam ging Merlin in die Knie, um nach der zweiten Pergamentrolle zu greifen – er wurde allmählich gebrechlich, das Alter ging selbst an ihm nicht spurlos vorbei –, als er Schritte hinter sich vernahm.
»Wer stört mich in meinem kreativen Schaffensprozess?«, fragte er. Doch bevor er sich erheben oder nach dem Störenfried umdrehen konnte, spürte er den Luftzug eines Schwerthiebes in seinem Nacken.
Den Drachen mit den blauen Schuppen bemerkte ich viel zu spät, weil er ohne jede Vorwarnung aus dem Meer schoss und direkt auf mich zuhielt. Tja, das war’s dann wohl mit meinem freien Tag in der Sonne. Noch im Aufspringen riss ich meine Messer aus beiden Seiten meines Hüftgürtels, die sich sofort in Schwerter verwandelten, und blieb an Ort und Stelle stehen, um den Drachen so nah wie möglich Richtung Boden zu zwingen – und weil ich für weitere Manöver ohnehin keine Zeit mehr hatte. Als er nahezu über mir war und sein Maul mit den Reißzähnen aufriss, warf ich die Arme in die Luft. Mit dem einen Schwert drang ich in die Mundhöhle des Drachen ein, mit dem anderen in seine empfindliche Bauchgegend. Warmes Blut tropfte auf mich herab, doch das war nicht der Grund, warum ich die Schwerter ruckartig zurückzog und mich zur Seite rollte. Der Drache prallte fast auf dem Boden auf, brüllte vor Schmerzen. Ich stieß mich von der Wiese ab und sprang auf seinen Rücken. Zwar war die Schuppenschicht dort härter, doch das Ungetüm konnte sich so schlechter zur Wehr setzen. Außerdem kannte ich seine Schwachstellen. Ich rammte ihm eines der Schwerter in den Nacken, während ich das andere wie einen Wurfstern Richtung Flanke schleuderte, wo es stecken blieb. Inzwischen waren die Schmerzensschreie des Drachen ohrenbetäubend – und sie lockten einen weiteren an. Das Vieh mit den roten Schuppen war nur unbedeutend kleiner als der Drache mit den blauen Schuppen, der nun endgültig auf den Boden krachte und dort einen Kampf um sein Leben ausfocht, den er zweifelsohne verlieren würde.
Ich rutschte den Rücken des Biests hinunter und befreite mein Schwert aus dessen Flanke. Lautlos kam ich auf dem weichen Gras auf. Derweil schoss der rot geschuppte Drache auf mich zu und riss sein Maul auf, um mich mit seinem Feuer zu attackieren. Ich schnaubte. Also bitte, mehr hatte er nicht zu bieten? Für mich als Feuerwandlerin war es ein Leichtes, die Flammen in Rauch zu verwandeln, der dem Drachen den Blick vernebelte. Er versuchte, sich stattdessen auf seine anderen Sinnesorgane zu konzentrieren, doch im Gegensatz zu ihm hatte ich keinerlei Probleme, durch den Rauch hindurchzusehen. Schon durchbohrte mein Schwert sein Auge, das andere drang in seinen Rachen ein. Der Drache brüllte, schlug blind mit Krallen und Schwanz um sich. Fast hätte er mich erwischt, doch ich sprang gerade noch rechtzeitig darüber hinweg, bevor ich ihm beide Schwerter in die Flanke rammte, während ich zurück auf den Boden segelte. Die Schmerzen ließen den Drachen seine letzten Kräfte mobilisieren, aber er war bereits zu schwach, um mir noch gefährlich zu werden. Es war eine meiner leichtesten Übungen, ihn immer wieder zielgenau zu attackieren, bis er den Kampf schließlich aufgab. Ich blieb in Angriffsposition und suchte den Himmel nach weiteren Ungetümen ab. Es kamen keine.
Der blau geschuppte Drache löste sich vor meinen Augen in Luft auf, kurz darauf folgte sein rot geschuppter Gefährte. Die Wiese, die eben noch blutdurchtränkt gewesen war, zeigte sich wieder in einem saftigen Grün. Nichts erinnerte mehr an den Kampf, der hier vor wenigen Minuten stattgefunden hatte.
Okay, so gut wie nichts, denn mein eng anliegendes grünes Kleid hatte einen Riss rechts an der Taille, wo mich offensichtlich eine der Klauen erwischt hatte. Außerdem war ich pitschnass von dem Tropfwasser des blauen Drachen, das er mitgebracht hatte, als er aus dem Meer direkt über mich hinweggeflogen war. Aber ich wollte mich nicht beschweren. Im Grunde musste ich schon froh sein, dass wenigstens das Blut verschwunden war, Drachenblut ließ sich nämlich nur sehr schwer herauswaschen. Es hatte mir bereits das eine oder andere Kleid ruiniert.
Mein Onkel Damian tauchte wie aus dem Nichts mitten auf der Wiese auf und nickte mir beeindruckt zu. Unter der offenen Lederjacke, auf der das Wappen von Fairyland eingestickt war – ein in einem Bogen eingespanntes Schwert –, konnte ich seinen magisch verkleinerten Bogen hervorblitzen sehen; er schien auf dem Sprung zu sein.
»Du willst noch weg?«
Er nickte. »Eine Mission im Auftrag der Königin.«
Ich hätte gern mehr erfahren, denn es kam nicht oft vor, dass mein Onkel Fairyland verließ, auch wenn es in letzter Zeit häufiger der Fall war als sonst. Er diente der Königin als Berater, und genau deshalb würde ich nicht mehr aus ihm herausbekommen. Er sprach niemals über seine Arbeit, das durfte er auch gar nicht. Ich griff nach meinem Buch, in dem ich gelesen hatte, bevor mich der erste Drache angegriffen hatte.
»Du hättest mich ruhig vorwarnen können, was heute auf mich zukommt«, sagte ich und versuchte, die Stelle in Sturmhöhe wiederzufinden, an der ich unterbrochen worden war.
»Dann wäre es kein spontanes Training mehr.« Damian kam näher. »Es ist wirklich erstaunlich. Ich habe nur selten eine Fae so schnell zwei Drachen besiegen sehen, noch dazu völlig unvorbereitet und mit nichts als Schwertern bewaffnet.«
Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Damian hielt nicht viel von Schwertern, er hatte sich damals während seines Kampfunterrichts für Pfeil und Bogen entschieden. Tatsächlich präferierten viele Fae diese Waffe, weil man sich den Gegner damit besser vom Hals halten konnte. Ich hingegen liebte das Schwert. Wie es in der Hand lag; wie ich den Gegner damit aus seiner Komfortzone locken konnte, um ihn aus nächster Nähe anzugreifen … Natürlich konnte ich auch mit Pfeil und Bogen einen Drachen erlegen. Während unserer Ausbildung lernten wir, beides zu beherrschen. Doch die Elfenkrieger, die Talent und Instinkt besaßen, spezialisierten sich auf eine Waffe. Damit unterschieden wir uns von all den anderen Drachenjägern, die in Fairyland ausgebildet wurden.
Die Tatsache, dass Damian lange genug in der Nähe gewesen war, um mir beim Training zuzuschauen, erfüllte mich mit Stolz, immerhin war das einer meiner besseren Kämpfe gewesen, und mein Onkel nahm sich nicht oft die Zeit dafür. Durch seine Beratertätigkeit war er viel zu eingespannt. Trotzdem trainierten wir seit meinem fünften Geburtstag jeden Sonntagmorgen bei Wind und Wetter zusammen auf der Wiese vor dem Haus, und er verriet mir dabei seine Tricks. Dieser Termin war uns beiden heilig.
»Tja, man muss nur wissen, wo sich die Schwachstellen der Biester befinden«, sagte ich jetzt.
Mein Onkel schüttelte den Kopf. »Über dieses Wissen verfügen wir alle, werden wir doch von klein an auf Kämpfe dieser Art vorbereitet.«
Das stimmte natürlich. Neben dem Kampftraining mit Damian hatte ich auch noch anderen Unterricht. Die Lehrer brachten uns vieles bei, allerdings keine profanen Dinge wie Rechnen und Schreiben. Das war Grundwissen, was wir Fae bereits beherrschten, ehe wir überhaupt laufen konnten. In der »Schule« lernten wir alles über die Erde und das Universum, über die Natur, welche Kräuter und Pflanzen nützlich waren, welche Krankheiten es gab und wie man sie heilte. Uns wurde aber nicht nur beigebracht, was wir als naturverbundenes Volk wissen mussten, sondern auch, wie wir uns verteidigen und gegen Drachen kämpfen. Aufgrund meiner guten Kampffähigkeiten hatte ich im vergangenen Jahr noch weitere Fächer dazubekommen: Beobachtung, Infiltration, Aufklärung. Ich konnte inzwischen verschiedene Fragetechniken anwenden und mich problemlos an Menschen und verschiedene Gegebenheiten anpassen.
»War’s das heute mit dem Training?«, fragte ich und steckte die Schwerter in meinen Gürtel, wo sie sich in Messer zurückverwandelten.
Mein Onkel grinste, dabei zeigte sich ein Grübchen in seiner linken Wange. »Du versuchst es immer wieder, was? Das spontane Training heißt so, weil es vor allem eins ist: spontan. Man weiß nie, wann und wo man angegriffen wird. Es ist die letzte Stufe deiner Ausbildung, danach bist du bereit, um in die weite Welt hinauszugehen. Wobei du das meiner Meinung nach jetzt schon könntest.« Die letzten Worte sagte er nicht ohne Stolz, was mich unwillkürlich lächeln ließ.
Damian war eine meiner wichtigsten Bezugspersonen, denn meine Eltern waren vor acht Jahren gestorben. Wer nicht wusste, dass Damian mein Onkel war, hielt ihn stets für meinen leiblichen Vater, denn wir hatten unübersehbare Ähnlichkeiten: blonde Haare, grüne Augen, ein Grübchen in der Wange. Wir waren beide groß gewachsen, was an sich gar nicht so ungewöhnlich war für Fae – jedoch waren weder meine Mutter noch mein Vater besonders groß gewesen –, und ich war genauso durchtrainiert wie Damian. Allerdings war meine Figur trotz allem sehr weiblich. Manchmal fragte ich mich, wo das herkam. Ich aß zwar nicht wenig, aber ich verbrauchte auch eine Menge Kalorien, weil ich viel Sport trieb. In meiner Altersstufe war ich die beste Elfenkriegerin, und ich wollte, dass das so blieb. Wie sich unter diesen Umständen meine Kurven halten konnten, blieb mir allerdings schleierhaft.
Jedenfalls war mein Onkel immer für mich und meinen Bruder Sloan da gewesen. Nachdem meine Eltern durch einen Drachenangriff gestorben waren, hatte er die Vaterrolle und in gewisser Weise auch die Mutterrolle übernommen. Damian war zwar alles andere als der mütterliche Typ, aber er gab heute noch sein Bestes, damit mein Bruder und ich zumindest einmal am Tag eine vernünftige Mahlzeit bekamen. Das rechnete ich ihm hoch an. Und er hatte immer dafür gesorgt, dass wir die bestmögliche Ausbildung bekamen.
»Danke, Onkel Damian. Du weißt aber schon, dass du maßgeblich an meinem Können beteiligt bist?«
Wieder schüttelte er den Kopf. »Ich habe dich zwar gegossen und dir den Dünger gegeben, den du zum Wachsen brauchtest, aber du bist inzwischen über dich hinausgewachsen, und das ist dein eigenes Verdienst. Darauf kannst du stolz sein.« Er schloss die Knöpfe seiner Lederjacke und zwinkerte mir zu. »Entschuldige mich jetzt bitte, ich muss mich auf den Weg machen. Trainier noch schön.«
»Viel Erfolg!«, rief ich ihm über die Wiese hinterher. Er hob die Hand zum Gruß, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Neidisch blickte ich ihm nach. Es war eine Ehre, von der Königin auf eine Mission geschickt zu werden – und das war auch mein Ziel. Eines Tages würde ich es schaffen, daran glaubte ich ganz fest.
»Was denkst du, was Vater so dringend von uns will?«, fragte Aiden, während er zusammen mit Sharni durch die Gänge hastete.
»Es geht sicher mal wieder um die Fae«, antwortete seine Schwester. »Dieses verfluchte Elfenvolk. Wenn wir nur endlich …«
»Wenn wir nur endlich was?« Aiden warf ihr einen Seitenblick zu.
Im Gegensatz zu ihm sah sie nicht aus, als wäre sie gerade erst aus dem Bett geholt worden, zumindest standen ihre rotblonden Haare im Vergleich zu seinen dunklen nicht in sämtliche Richtungen ab. Überhaupt gab sie ein hübsches Mädchen ab: die langen Haare in einer für Menschen eher seltenen Farbe, die Größe und die Figur. Auf Menschenjungen in ihrem Alter wirkte sie stets sehr anziehend, was keinesfalls selbstverständlich war, denn in ihrer menschlichen Gestalt lagen die Drachen meist im Durchschnitt, was das Aussehen anging. Sie waren weder besonders attraktiv noch unansehnlich, um nicht aufzufallen.
Sharni seufzte. »Keine Ahnung. Die Fae gehen mir einfach auf die Nerven.«
Ganz unrecht hatte seine Schwester nicht, auch wenn Aiden sich anders ausgedrückt hätte. Er war bedachter als Sharni, ruhiger und nicht so aufbrausend. Innerhalb der Familie hatten sie schon immer diese Rollenverteilung eingenommen, und ihre Positionen taten ihr Übriges dazu. Aiden konnte es sich nicht leisten, so schnell in die Luft zu gehen, wie seine Schwester es für gewöhnlich tat, auch wenn dies nicht bedeutete, dass er keinerlei Gefühle besaß. Wenn man ihn nur genug reizte … Und die Fae waren definitiv ein Reizthema.
Nun eilten die Geschwister an den links und rechts neben dem Eingang zum Thronsaal postierten Wachen vorbei. Aiden verspürte ein ungutes Gefühl, als er seinen Vater erblickte, der in seiner Königsrobe samt Insignien auf dem Thron saß.
»Die Fae?«, fragte Sharni.
Ihr Vater nickte.
»Was ist passiert?«
»Das kann ich euch noch nicht sagen«, antwortete der König, während er aufstand. »Ich weiß nur, dass ein Abgesandter der Fae auf dem Weg ist und jeden Moment hier sein müsste. Legt eure Umhänge an.«
Aiden und Sharni wechselten einen kurzen Blick und ließen sich von den Bediensteten helfen. Sharni schlüpfte in einen smaragdgrünen Umhang mit Kapuze, die sie allerdings nicht aufsetzte. Aidens Umhang war bordeauxrot.
Aus dem Gang vor dem Thronsaal waren bereits schwere Schritte zu hören, während sich Aiden und seine Schwester an jeweils eine Seite ihres Vaters stellten. Aidens Herz schlug ein wenig schneller. Er mochte die Fae genauso wenig wie Sharni, sein Vater oder sonst jemand seines Volkes. Vielen Fae war er zwar bisher nicht begegnet, doch die Abneigung lag in der Natur des Drachenvolkes, außerdem … Aber daran wollte er jetzt lieber nicht denken.
Acht Jahrhunderte waren seit dem letzten Krieg zwischen den Draconis und Fae vergangen, richtiger Frieden herrschte jedoch bis heute nicht. Beide Völker konnten sich nicht ausstehen und machten sich gegenseitig das Leben schwer, auch wenn sie einander nur selten angriffen. In letzter Zeit hatte sich die Situation allerdings verändert. Nach wie vor wandte kaum jemand Gewalt an, dennoch fühlte es sich anders an. Die Feindseligkeiten der Fae hatten zugenommen. Wann immer es möglich war, gingen sie auf Konfrontationskurs. Etwas Bedrohliches lag in der Luft, und dass nun auch noch ein Abgesandter der Fae persönlich vorsprach, konnte nichts Gutes heißen. Ganz und gar nichts Gutes.
Eine der Wachen trat vor und verbeugte sich vor dem König. »Eure Majestät, der Abgesandte der Fae, Damian Ainsley, bittet um eine Audienz.«
»Führt ihn herein«, befahl der König.
»Wie Ihr befehlt, Eure Majestät.« Der Wachmann verbeugte sich erneut und ging mit gesenktem Haupt drei Schritte rückwärts, bevor er sich umdrehte und zu den schweren Doppeltüren des Thronsaals schritt, um einen der vier Meter hohen bronzenen Türflügel zu öffnen. Mit lauter Stimme verkündete er: »Der König empfängt Euch nun.«
Er stellte sich zurück auf seinen Posten, und ein erstaunlich großer Mann betrat den Thronsaal. Unter seiner Kleidung – Stiefel, Hose, Lederjacke, alles in verschiedenen Brauntönen – zeichneten sich mehr Muskeln ab, als man bei einem einfachen Abgesandten vermutet hätte. Aidens Blick blieb einen Moment an den spitzen Ohren hängen, die von den blonden Haaren kaum verdeckt wurden. Mit großen, schnellen Schritten durchquerte der Fae den Saal, blieb schließlich vor Aiden, Sharni und ihrem Vater stehen und deutete eine Verbeugung an.
»König Roarke. Danke, dass Ihr mich so rasch empfangt.«
Die Geschwister erwiderten die Geste, wobei Sharnis Verbeugung noch dezenter ausfiel als Aidens. Ihre Abneigung hing in der Luft wie ein schweres Parfüm.
»Was gibt es denn so Dringendes?«, wollte der König wissen, nachdem er sich auf dem Thron niedergelassen hatte. Auch Aiden und Sharni setzten sich.
»Wenn Ihr erlaubt, mache ich es kurz: Mein Volk hat vor einer Weile Drachenaktivitäten in der britischen Hauptstadt festgestellt.«
Aiden schluckte und zwang sich, regungslos sitzen zu bleiben, was seinem Vater mühelos gelang, seiner Schwester jedoch ganz und gar nicht.
»Drachenaktivitäten in London?«, platzte sie heraus. »Das kann nicht sein, wir sind doch nicht lebensmüde.«
»Nichts stünde mir ferner, als das zu behaupten, aber die Fakten sprechen leider für sich.«
Damian holte etwas aus seiner Hosentasche, das wie eine Fernbedienung aussah, und drückte auf einen der Knöpfe, woraufhin neben ihm Bilder mitten in der Luft erschienen – ein japanisch anmutender Park mit einem Teich und einem Wasserfall. Allzu viel war allerdings nicht mehr übrig von dem Park. Die meisten Bäume waren kahl und verkohlt, auf dem Weg und der größtenteils verbrannten Wiese lagen Äste, Blätter und Asche verstreut, Büsche waren entwurzelt. Der Steg, der über den Teich führte, war beschädigt, ebenso die Steinskulpturen im Wasser. Es sah tatsächlich so aus, als hätte dort ein Drache gewütet und hemmungslos Feuer gespuckt. Aber wer? Und warum? Aiden konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass es einer der Draconis gewesen sein sollte. Natürlich bestand noch die Möglichkeit, dass einer der autonomen Drachen dafür verantwortlich war. Es gab einige Drachen, die sich nicht der Linie des Königs unterwerfen wollten und den Connemara-Nationalpark, in dem das Volk der Draconis lebte, hinter sich gelassen hatten. Im Norden Irlands hatten sie sich angesiedelt, um genau zu sein nördlich von Galway, in anderen menschenleeren Gebieten. Sie hielten sich nicht immer an die Regeln, so hassten sie es etwa, den ganzen Tag in Menschengestalt zu verbringen – einer der häufigsten Gründe, warum sie dem Königreich den Rücken kehrten. Trotzdem war es bisher nie vorgekommen, dass ein Drache den Norden Irlands verlassen hatte – den Bereich, der ihnen nach dem Krieg mit den Fae zugesprochen worden war. Und warum hätte einer von ihnen nach London fliegen und sich dort wie die Axt im Walde aufführen sollen? Um den Draconis Ärger zu bereiten?
»Das ist der Holland Park in London«, fuhr Damian fort. »Wie gesagt, die Fakten sprechen für sich.« Er drückte erneut auf einen Knopf, woraufhin die Bilder wieder verschwanden und er die Fernbedienung wegsteckte.
Aidens Vater zuckte mit den Schultern. »Es könnte genauso gut ein natürliches Feuer gewesen sein, das im Park ausgebrochen ist.«
Damian schüttelte den Kopf, ein bedauerndes Lächeln auf den Lippen, wobei sich ein Grübchen auf seiner linken Wange zeigte. »Leider unmöglich, das haben wir überprüft. Es war weder Brandstiftung im Spiel, noch gab es ein Gewitter. Die Londoner Feuerwehr und die Polizei stehen vor einem Rätsel. Aber wir wissen es besser, nicht wahr? Außerdem hat ein Augenzeuge berichtet, in jener Nacht über dem Holland Park einen Drachen gesehen zu haben.«
»Verstehe«, antwortete der König. »Und wann war dieser Vorfall?«
»Ende Juni.«
»Ende Juni?«, ging Sharni dazwischen.
Der König forderte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen auf. »Warum kommt Ihr erst jetzt, wenn das Ganze bereits vor zwei Monaten geschehen ist?«, fragte er Damian.
»Nun, Ihr werdet verstehen, dass wir uns zuerst absolut sicher sein wollten, bevor wir Euch gegenüber solche Anschuldigungen erheben.«
Sharni schnaubte. Sie glaubte diesem Damian kein Wort, und das tat auch Aiden nicht. Die Fae hatten ihre Gründe, warum sie erst jetzt einen Abgesandten schickten. Gute Gründe. Kriegsgründe. Das war mehr als offensichtlich, doch wie immer hielt der König mit seiner Meinung hinter dem Berg.
»Natürlich verstehe ich das«, sagte er, »aber ich versichere Euch, dass niemand aus meinem Volk für diese Verwüstung verantwortlich ist. Trotzdem werde ich dem nachgehen, und sollte ich mich irren, werde ich Euch informieren, damit wir uns gemeinsam über die Konsequenzen Gedanken machen können.«
Damian rührte sich nicht vom Fleck. »Was ist mit den autonomen Drachen? Wenn es keiner der Draconis war, kann es nur einer von ihnen gewesen sein. Sehe ich das richtig?«
Dieses Mal spannte sich der König kaum merklich an, aber Aiden bekam es dennoch mit. Die ganze Atmosphäre veränderte sich. »Die autonomen Drachen gehören nicht länger zu meinem Volk, daher bin ich weder für sie noch für ihre Taten verantwortlich.«
Damian atmete hörbar aus. »Diese Diskussion hatten wir bereits des Öfteren, und Ihr wisst, wie die Fae-Königin dazu steht. Auch wenn Ihr Euresgleichen nicht mehr unter Kontrolle habt, könnt Ihr Euch nicht so einfach aus der Affäre ziehen.«
Der König biss die Zähne zusammen. »Na schön, ich werde den für diese Verwüstung zuständigen Drachen finden und Euch benachrichtigen.«
»Ich fürchte, das wird nicht reichen, König Roarke. Glaubt mir, wenn es nach mir ginge … Aber die anderen Berater der Fae-Königin sprechen von Vertragsbruch und Grenzüberschreitung. Und damit haben sie leider nicht ganz unrecht, weshalb mir die Hände gebunden sind. Ich wurde überstimmt, so leid es mir tut.«
»Verstehe«, murmelte der König erneut, dieses Mal sichtlich bemüht, die Haltung zu wahren. »Was fordert Eure Königin?«
»Da gibt es einige Dinge, unter anderem eine jährliche Zahlung in Höhe von zwanzig Millionen Kronen. Darüber hinaus erklärt Ihr Euch damit einverstanden, dass mein Volk sowohl das neutrale Gebiet zwischen unseren Territorien hier in Irland als auch London annektiert, und Ihr tretet den südlichen Teil des Connemara-Nationalparks bis zum Lough Nahillion ab. Sämtliche Gesetze, die von Euch neu verabschiedet werden sollen, müssen außerdem ab sofort der Fae-Königin zur Prüfung vorgelegt werden. Ich war so frei und habe alles schriftlich festgehalten.«
Bevor er das Dokument aus seiner Jackentasche ziehen konnte, sprang Sharni auf und schnaubte gefährlich, wobei Rauch aus ihrer Nase stieg. Es war absolut unvernünftig – und würde hoffentlich keinerlei Konsequenzen haben –, dennoch konnte Aiden sie verstehen. Er selbst musste sich schwer zusammenreißen, um keine Reaktion zu zeigen, und seinem Vater ging es mit Sicherheit genauso. Aber als König beziehungsweise erster Thronfolger erwartete man das von ihnen. Sie mussten ruhig bleiben.
»Sonst noch was?«, fauchte Aidens Schwester. »Der südliche Teil bis zum Lough Nahillion? Das ist ein Drittel des Parks. Warum erklärt Ihr uns nicht gleich den Krieg?«
»Sharni.« Die Stimme ihres Vaters klang überraschend sachlich, und er zog sie zurück auf den Thron. »Entschuldigt bitte das Verhalten meiner Tochter.«
Damian hob abwehrend die Hände. »Ich verstehe diese Reaktion durchaus, aber ich bin lediglich der Überbringer. Bedenkt das bitte.«
Der König nickte. »Kann ich das haben?«, fragte er mit einem Blick auf das Dokument, das der Abgesandte der Fae inzwischen aus der Tasche gezogen hatte und nun dem König reichte. »Ich würde die Forderungen zuerst gern mit meinen Beratern durchgehen, wenn Ihr erlaubt.«
»Natürlich, das ist das Mindeste, was ich für Euch tun kann«, erklärte Damian. »Ich spreche mit der Königin und werde dafür sorgen, dass Ihr eine Woche Bedenkzeit bekommt. Eine Woche, um zu entscheiden, ob Ihr die Forderungen annehmt oder uns den Krieg erklärt. Das scheint mir angebracht in dieser Situation.«
»Einverstanden«, sagte der König. Er blieb sitzen, während Damian sich kurz verbeugte und anschließend den Thronsaal schnellen Schrittes in Richtung Ausgang durchquerte.
»Du willst doch nicht ernsthaft auf diese Forderungen eingehen, oder?«, fragte Sharni.
Ihr Vater gab keine Antwort, stattdessen bat er einen der Bediensteten, unverzüglich den Beraterstab einzuberufen.
Aiden beobachtete, wie der Bedienstete mit gesenktem Kopf drei Schritte rückwärtsging, bevor er sich umdrehte und den Raum ebenfalls verließ. Es galt als schwere Beleidigung, dem König den Rücken zuzukehren. Noch in der Zeit, als Aidens Großvater regiert hatte, war jeder dazu verpflichtet gewesen, sich in tiefer Verbeugung durch den gesamten Thronsaal rückwärts zur Tür zu bewegen. Dies hatte selbst für die Königin, Aidens Großmutter, gegolten. Aidens Vater hatte diese Verpflichtung bei seiner Krönung immerhin auf drei Schritte begrenzt, doch weder Aiden noch Sharni konnten dem ganzen Pomp der Monarchie viel abgewinnen.
Ihr Vater war da völlig anderer Ansicht und erklärte seinen Kindern immer wieder: »Der König ist nicht irgendein Drache, er symbolisiert unser Volk. Viele meiner Untertanen sind stärker oder klüger als ich, dennoch sehen sie alle zu mir auf und erwarten, dass ich sie führe. Daher brauchen wir die Symbole, die Insignien und die Rituale. Wir können sie verändern oder abschwächen, aber wir dürfen sie niemals gänzlich abschaffen, denn dann sieht jeder, dass wir auch nur ganz gewöhnliche Draconis sind. Und das, meine Kinder, wäre das Ende der Monarchie. Unser Volk würde aufbegehren und uns stürzen, aber die Macht der Herrschaft verschwindet nicht einfach. Sie muss weiterhin ausgeübt werden, irgendjemand muss regieren. Und so würde sich der Stärkste und Brutalste unseres Volkes durchsetzen und alle anderen unterjochen. Dies zu verhindern, ist unsere Aufgabe. Zu diesem Zweck sitzt unsere Familie auf dem Thron.«
Bei dem Gedanken an die Worte seines Vaters, die er schon so oft gehört hatte, verdrehte Aiden die Augen. Und was brachte all das Gehabe, um sich gegen die Fae zu behaupten? Nichts, rein gar nichts.
»Das kann nicht deren Ernst sein«, polterte Callahan, der engste Berater des Königs, wenig später im Besprechungsraum. »Mit diesen Forderungen demütigen uns die Fae bis aufs Äußerste.«
»Und sie zwingen uns, etwas zuzugeben, was wir nicht getan haben«, fügte Braxton hinzu. »Ich werde nicht für etwas einstehen, was nicht unser Verschulden ist.«
»Das sehe ich ebenso. Wenn es die autonomen Drachen waren, sollen sie gefälligst dafür büßen, nicht wir.«
Der König strich sich über den Bart. »Das ist auch meine Meinung, wie ihr wisst. Die Fae-Königin ist allerdings anderer Ansicht.«
»Dann müssen wir diese Diskussion immer und immer wieder führen, bis die Fae-Königin es einsieht«, sagte Callahan. »Sie selbst wird auch nicht für etwas bestraft, was eine autonome Fae-Gruppe verbrochen hat.«
»Von denen gibt es deutlich weniger als von uns«, bemerkte der König.
Sharni schnaubte. »Ja, weil die Fae mit Ausnahme der Ohren aussehen wie Menschen. Ein bisschen Glamour, und sie haben sich problemlos angepasst. Bei uns gestaltet sich das etwas schwieriger. Vater, wir können nicht ein Drittel des Parks hergeben. Der Norden des Nationalparks ist schon wegen der vielen Touristen unbrauchbar. Wo sollen wir denn dann noch fliegen?«
»Die Prinzessin hat recht«, stimmte Braxton zu. »Wir dürfen nicht auf sämtliche Forderungen der Fae eingehen. Das Geld können wir entbehren, doch dem Rest werde ich nicht zustimmen. Wir können nicht jedes Mal dafür büßen, wenn einer der autonomen Drachen gegen die Regeln verstößt. Was bleibt uns am Ende noch?«
»Also wollt ihr lieber den Krieg?«, fragte der König, der immer noch ruhig klang. Doch Aiden konnte sich vorstellen, wie es in seinem Vater aussah. Er musste eine schwere Entscheidung treffen, die das ganze Volk betraf, und hatte dafür nur eine Woche Bedenkzeit.
»Auf jeden Fall«, antwortete Callahan. Er stand auf und stützte die Hände auf dem Tisch ab, um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen. »Es reicht, wenn uns die Menschen in dieses vermaledeite Höhlensystem zurückdrängen. Ich werde mich nicht auch noch von den Fae in meinem Leben beschränken lassen.«
»Und schon gar nicht für etwas, was wir nicht getan haben«, beharrte Braxton und erntete dafür zustimmendes Gemurmel von den anderen Beratern.
»Ich bin auch für den Krieg, Vater«, mischte sich Sharni erneut ein. »Die Fae behandeln uns wie ungezogene Kinder. Wenn wir uns das gefallen lassen, werden sie uns immer weiter demütigen.«
»Was meinst du, Aiden?«, fragte ihn sein Vater.
Aiden seufzte leise. Als zukünftiger König musste er die Entscheidung mittragen, denn niemand wusste, wie lange sein Vater einen möglichen Krieg überleben würde.
»Wir sollten zuerst verhandeln«, schlug er vor. »Wir können weder auf die Forderungen eingehen noch ihnen den Krieg erklären, und das wissen die Fae. Sie müssen uns entgegenkommen.«
»Das müssen sie nicht, und das werden sie auch nicht«, erwiderte Sharni. »Du hast diesen Damian gehört.«
»Außerdem wollen die Fae doch den Krieg«, sagte Callahan. »Warum sonst haben sie zwei Monate gewartet, bis sie uns aufgesucht haben? Zwei Monate!«
»Was soll es denn für einen Vorteil bringen, zu warten?«, fragte Sharni. »So hatten sie mehr Zeit, sich zu überlegen, wie sie uns am besten demütigen können, aber sonst …«
»Zeit ist das richtige Stichwort«, antwortete Aiden, der als erster Thronfolger schon früh in der Kriegsführung unterrichtet worden war und gelernt hatte, wie man strategisch vorging. Sharni war davon bisher verschont worden. Vielleicht ein Fehler, wie sich jetzt herausstellte.
»Zeit ist ein überaus wertvolles Gut«, erklärte Braxton, »vor allem in Kriegszeiten.«
»Aber sie haben doch noch gar keinen Krieg angezettelt«, fiel Sharni ihm ins Wort.
Braxton lächelte nachsichtig. »Weil sie uns dazu bringen wollen, den Krieg zu beginnen. Sie haben alles so arrangiert, dass sie uns keine Wahl lassen, wenn wir unser Gesicht nicht verlieren wollen.«
»Dann tun wir ihnen doch den Gefallen.«
Der König schüttelte den Kopf. »Wir sind nicht auf einen Krieg vorbereitet. Wir haben keine Armee, keinen Schlachtplan …«
»Natürlich haben wir eine Armee«, widersprach Sharni erneut.
»Du verstehst das nicht. Im Gegensatz zu uns konnten die Fae die vergangenen zwei Monate nutzen, um sich zu rüsten«, erklärte Aiden. »Deshalb ist Zeit so wertvoll. Wir haben vielleicht eine Armee, aber die Mobilmachung dauert. Bis unsere volle Truppenstärke einsatzbereit ist, brauchen wir ein paar Wochen.«
Sharni verschränkte die Arme vor der Brust. »Das hättet ihr mir schon längst alles erklären können, anstatt mich wie ein Mädchen zu behandeln.«
»Ja, das wäre vielleicht besser gewesen.« Der König seufzte. »Wie dem auch sei, wir können diesen Krieg nicht beginnen. Die Geschichte der Menschen hat uns gelehrt, dass derjenige, der den Krieg beginnt, ihn auch verlieren wird. Das ist seit der Industrialisierung so.«
»Und was machen wir dann?«, fragte Callahan. »Sollen wir wirklich auf die Forderungen der Fae eingehen?«
»Nein, wir verhandeln«, antwortete der König. »Aidens Idee ist gut, denn auf diese Weise können wir uns zumindest etwas Zeit verschaffen. Callahan, Braxton, überlegt euch bitte, was wir den Fae statt ihrer Forderungen anbieten können. Sammelt außerdem Argumente, warum die Fae uns nicht für die Taten der Autonomen zur Rechenschaft ziehen können. Ihr anderen befragt jeden einzelnen Draconi in diesem Nationalpark. Wenn wirklich einer von uns in London aktiv war, will ich das wissen. Und dann gnade ihm Voldragor«, fügte er murmelnd hinzu.
Widerwillig löste sich die Runde auf, nur Aiden und Sharni blieben bei ihrem Vater. Aiden sah sich um. Der Besprechungsraum mit dem langen Tisch und den Karten von Irland an den Wänden erinnerte ihn viel zu sehr an ein menschliches Büro, wie er es auf Bildern gesehen hatte. Manchmal hasste er es, nicht einfach das sein zu können, was er war: ein Drache.
Sharni hatte damit sogar noch größere Probleme. Und auch ihre Abneigung den Fae gegenüber ließ ihr keine Ruhe.
»Willst du das den Fae wirklich durchgehen lassen?«, bohrte sie nach.
»Und willst du wirklich Krieg?«, stöhnte Aiden, der allmählich die Geduld verlor. »Krieg bedeutet Verlust, Sharni, auf beiden Seiten. Ist dir das eigentlich bewusst?«
»Was denkst du?«, fauchte sie ihren Bruder an. »Ich habe Mutter ebenso verloren wie du.«
»Ganz ruhig, ihr beiden«, ging der König dazwischen und stand auf, um sich Drachenwein nachzuschenken, eine Mischung aus rotem Wein und Anisschnaps. »Ich selbst will weder Krieg noch die Forderungen der Fae erfüllen, denn ich habe nicht vor, mich für etwas zur Rechenschaft ziehen zu lassen, was unser Volk nicht getan hat. Braxton und Callahan haben damit vollkommen recht.«
Sharni runzelte die Stirn. »Und was bezweckst du dann? Auf fadenscheinige Verhandlungen werden sich die Fae nicht einlassen, das weißt du genauso gut wie ich.«
»Ich will Zeit gewinnen, denn die werden wir brauchen. Zum einen müssen wir uns vorbereiten, falls es doch zum Krieg kommt. Zum anderen sollten wir schleunigst herausfinden, was in London wirklich vorgefallen ist. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass tatsächlich einer von uns im Holland Park aktiv war. So dumm ist niemand aus unserem Volk, auch keiner der Autonomen.«
»Bist du dir da sicher?«, fragte Aiden. »Vielleicht wollen sie uns schaden.«
Die meisten Drachen, die den Connemara-Nationalpark verlassen hatten, hegten keinen Groll gegen die Draconis, sie waren lediglich anderer Meinung als der König. Aber natürlich gab es Ausnahmen.
Der König seufzte. »Ich hoffe nicht, denn dann hätten wir ein echtes Problem. So oder so müssen wir herausfinden, was in London passiert ist. Für mich klingt es fast so, als wollten die Fae diesen Vorfall einzig und allein dazu nutzen, um uns endlich zu einem Krieg zwingen zu können. Wir müssen Beweise für diese Theorie finden; Beweise für unsere Unschuld.«
»Falls es überhaupt noch welche gibt.« Aiden fuhr sich durch die Haare. »Wenn deine Theorie stimmt, Vater, könnten sämtliche Beweise längst vernichtet worden sein. Die Fae hatten immerhin genügend Zeit, um alles aus dem Weg zu räumen, was uns entlasten würde.« Er wandte sich an seine Schwester. »Verstehst du jetzt, warum Zeit in einer Situation wie dieser ein Vorteil ist?«
»Ich bin ja nicht blöd«, erwiderte Sharni pampig. »Ihr habt mich nur immer von dem ganzen Regierungskram ferngehalten.«
Der König legte die Finger aneinander. »Nun, du wirst jetzt die Gelegenheit dazu bekommen, dich näher mit diesem Kram zu befassen. Sollte es noch Beweise geben, müssen wir sie finden. Sharni, du wirst nach England reisen, um dich im Holland Park umzusehen. Hör dich auch nach merkwürdigen Vorfällen um, die sich im Juni in London ereignet haben. Gleich morgen geht es los.«
»Wirklich?« Sharnis grüne Augen wirkten noch größer als sonst.
»Wirklich, und du wirst Niall mitnehmen.«
Aiden stieß einen Pfiff durch die Zähne aus. Wenn seine Schwester Niall mitnehmen sollte, rechnete sein Vater wahrscheinlich damit, dass es brenzlig werden könnte, denn gerade jetzt wurde Niall eigentlich vor Ort dringend gebraucht. Er war nicht nur Sharnis bester Freund, sondern auch Teil des Elitegeschwaders und damit bestens auf einen Kampf gegen die Fae vorbereitet. Besser als Sharni und Aiden zusammen, obwohl die beiden ebenfalls gut ausgebildet waren. Als Thronfolger der Draconis hatte ihr Vater gewollt, dass sie sich im Falle eines Falles selbst verteidigen konnten. Wie sich jetzt herausstellte, war das sehr vorausschauend gewesen.
»Niall?« Sharni verschränkte die Arme vor der Brust. »Also traust du mir die Mission allein nicht zu.«
Der König rieb sich die Schläfen. »Darum geht es nicht, mein Kind. Ich will nur auf Nummer sicher gehen, du bist immerhin die Prinzessin. Wenn ich es für lebensgefährlich hielte, würde ich dich nicht schicken, aber im Moment wissen wir nicht, von welcher Seite aus die Gefahr droht. Die Autonomen könnten dich womöglich angreifen, sollten tatsächlich sie für die Drachenaktivität in London verantwortlich sein. Und man weiß nie, wie groß ihr Hass auf uns Draconis im Allgemeinen beziehungsweise die Königsfamilie im Speziellen ist. Zudem sind da nach wie vor die Fae, die unter Umständen jeden unserer Schritte beobachten.«
»Hältst du einen Krieg für unausweichlich?«, fragte Sharni, die inzwischen nicht mehr allzu begeistert klang.
»Die Fae sind nicht dumm. Sie wissen, dass wir niemals auf ihre Forderungen eingehen werden, wenn wir unseren Stolz nicht verlieren wollen. Callahan hat recht, sie scheinen diesen Krieg zu wollen. Deshalb ist deine Mission auch so wichtig, Sharni. Nur wenn wir herausfinden, was im Holland Park geschehen ist, können wir verhindern, dass sich die Lage weiter zuspitzt. Wenn wir den Fae Beweise dafür vorlegen, dass wir Draconis nicht in London aktiv waren, haben sie nichts mehr gegen unser Volk in der Hand. Und sollte tatsächlich einer der Autonomen in London dahinterstecken, liefern wir den Schuldigen den Fae aus. Das ist dann hoffentlich auch gleich eine Lehre für alle anderen Autonomen, die vorhaben, etwas Unrechtes zu tun.«
»Niall brauche ich trotzdem nicht«, beharrte Sharni. »Ich kann auf mich allein aufpassen, Dad. Und du brauchst ihn doch sicher hier.«
»Niall wird dich begleiten, keine Widerrede. Außerdem kann er dich vielleicht dazu bringen, vorsichtiger zu sein. Sharni, ich möchte nicht, dass du dich in London – oder wohin auch immer dich deine Recherchen führen werden – absichtlich in gefährliche Situationen begibst. Dein Auftrag lautet lediglich, Beweise für unsere Unschuld zu finden.«
»Als ob ich mich absichtlich in Gefahr bringen würde«, murmelte Sharni, musste aber grinsen.
»Das ist mein Ernst! Du bist die Nummer zwei in der Thronfolge, also sei bitte nicht leichtsinnig. Ich kenne dich, du ziehst den Ärger förmlich an.«
»Wo er recht hat …«, murmelte Aiden und fing sich dafür von seiner Schwester einen Hieb mit dem Ellenbogen ein. Er lachte. »Was ist denn mit mir, Vater? Was kann ich machen?«
»Nimm es mir nicht übel, Sohn, aber du bist mein direkter Thronfolger. Deshalb werde ich dich auf ein Menschencollege in Dublin schicken. Wie es der Zufall will, startet das nächste Semester bereits am Montag. Auch du wirst morgen aufbrechen.«
Aiden zog die Augenbrauen hoch. »Ein College? Was soll ich denn da? Denkst du etwa, dass ich dort besser aufgehoben wäre als hier?«
»Das denke ich. Sollte es zum Krieg kommen, ist es am besten, wenn du so weit wie möglich von deiner Heimat entfernt bist. Hier werden die Fae dich vermuten, auf einem College in Dublin sicher nicht. Außerdem …« Der König sprach den Gedanken nicht aus, aber das musste er auch nicht.
»Ich weiß.« Aiden seufzte. Im Falle eines Krieges durften sich der König und seine Thronfolger keinesfalls an ein und demselben Ort aufhalten. Wenn keiner von ihnen den Kampf überlebte, wäre die ganze Linie mit einem Schlag ausgelöscht. Dieses Risiko durften sie niemals eingehen. Deshalb war es auch keine Option für Aiden, seine Schwester zu begleiten. »Kannst du mich denn so ohne Weiteres auf dieses College schicken? Dublin liegt auf neutralem Gebiet, Vater. Das könnte die Fae zusätzlich gegen uns aufbringen, falls sie davon erfahren.«
»Du wirst ja nicht nach Dublin gehen, um die Hauptstadt zu annektieren, und es spricht nichts dagegen, ein College zu besuchen, um die Menschen zu studieren. So wird zumindest die offizielle Begründung lauten, sollte jemand nach deinem Verbleib fragen.«
Aiden stieß die Luft aus. Für gewöhnlich ließ sich sein Vater nicht umstimmen, wenn er einmal einen Entschluss gefasst hatte, doch Aiden fühlte sich nutzlos. Das war eine ernste Situation, und als zukünftiger König wollte er dazu beitragen, die Lage zu entspannen.
»Lass mich doch helfen«, bat er. »Es ist nicht nötig, dass du mich zum Nichtstun verdammst.« Auch wenn er Sharni nicht begleiten durfte, gab es genügend andere Aufgaben. Er konnte sich zum Beispiel bei den autonomen Drachen umhören.
Doch bevor er seinem Vater diesen Vorschlag unterbreiten konnte, meinte dieser: »Um ehrlich zu sein, habe ich einen Spezialauftrag für dich, Aiden. Lässt du uns bitte kurz allein, Sharni?«
Die Drachenprinzessin zögerte, stand dann jedoch auf und ging zur Tür.
»Ach, Sharni? Vorerst zu niemandem ein Wort über deine Mission, ist das klar?«
»Natürlich, Vater«, sagte sie kühl und verließ mit wehenden Haaren den Besprechungsraum.
»Sie ist sauer«, stellte Aiden fest.
»Sie beruhigt sich auch wieder.«
Da war Aiden sich nicht so sicher. Jetzt war er allerdings viel zu neugierig, um sich über seine Schwester Gedanken zu machen. Es kam nicht oft vor, dass sein Vater mit einem von ihnen unter vier Augen sprechen wollte.
»Was ist denn los?«, fragte er.
Sein Vater nahm noch einen Schluck von seinem Drachenwein. »Seit einer Weile bin ich unsicher, wem ich noch trauen kann. Du musst mir dabei helfen herauszufinden, wer auf unserer Seite steht und wer nicht.«
Aiden schluckte. Das war nicht gut, das war gar nicht gut. Wenn sie jemanden in ihren eigenen Reihen hatten, der den Fae oder den Autonomen geheime Informationen zuspielte, und es tatsächlich zum Krieg kam … Sie würden unausweichlich verlieren, da der Feind über jeden ihrer Schritte informiert wäre. Und das wiederum würde den Untergang des Drachenkönigreichs bedeuten.
»Ein Verräter, hier bei uns? Bist du sicher?«
Der König zuckte mit den Schultern. »Sicher bin ich nicht, aber für gewöhnlich kann ich mich auf mein Gefühl verlassen. Es kam nun schon mehrfach vor, dass die Papiere in meinem Privatbüro nicht so lagen, wie ich sie hinterlassen hatte. Und meine Berater sind viel zu sehr für diesen Krieg, obwohl sie genau wissen, wie unvernünftig es wäre, sich von den Fae zu diesem Schritt zwingen zu lassen.«
»Sie waren aufgebracht. Auch Sharni hat ziemlich laut für einen Krieg plädiert.«
»Sharni weiß es nicht besser. Vielleicht hätte ich euch damals nicht so in Watte packen dürfen, nachdem eure Mutter gestorben ist.«
»Du hast uns nicht in Watte gepackt«, begann Aiden, aber sein Vater ließ ihn nicht ausreden.
»Doch, das habe ich, vor allem Sharni. Ich habe euch zwar das Kämpfen beigebracht, aber ich habe euch nicht so hart trainiert wie beispielsweise Niall. Sharni ist doch mein kleines Mädchen, meine Prinzessin. Ich hatte schon immer Angst um sie. Sieh sie dir an. Sie ist so furchtlos, dabei hat sie keine Ahnung davon, was ein Krieg wirklich bedeutet, worauf es ankommt. Es ist meine Schuld, ich weiß. Ich dachte, es sei nicht nötig, sie in diesen Dingen zu unterrichten. Wenn sich das mal nicht rächt.«
»Mach dir nicht so viele Sorgen, Vater, es ist noch Zeit. Niall kann Sharni die wichtigsten Grundlagen der Kriegsführung erklären. Ihm können wir vertrauen, da bin ich mir sicher. Außerdem gibt es im Moment für Sharni keinen Grund, selbstständig Entscheidungen in Sachen Krieg zu fällen.«
Der König fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und lächelte seinem Sohn zu, doch das Lächeln erreichte seine Augen nicht. Besorgt betrachtete Aiden seinen Vater. Er wirkte müde, müder als sonst, und älter. Seine dunklen Haare und der Bart hatten in den vergangenen Wochen mehr graue Stellen bekommen, um die Augen hatten sich tiefere Fältchen gebildet, und seine Wangen wirkten eingefallen. Er war ein guter König, daran bestand kein Zweifel, aber die Krone zu tragen, war auch eine Bürde. Eine Bürde, die ihm niemals hätte auferlegt werden sollen. Aidens Onkel Darragh war der ältere der beiden Brüder und somit der eigentliche Thronfolger gewesen, doch er hatte auf den Thron verzichtet. Nur deshalb war die Aufgabe, die Draconis zu führen, auf Aidens Vater übergegangen. Er hatte sein Amt stets gut ausgeführt, und das tat er auch heute noch, obwohl Aidens und Sharnis Mutter vor acht Jahren gestorben war. Eines Abends hatte sie einen Ausflug gemacht – und war nie zurückgekehrt. Zwei Tage später hatte man ihre Leiche gefunden. Auf neutralem Gebiet, jedoch an der Grenze zum Territorium der Fae. Offenbar war sie Opfer eines Fae-Angriffs geworden, denn mehrere Pfeile hatten sie vom Himmel geholt – die meisten davon waren direkt durch ihr Herz gegangen. Weil die Draconis aber nicht beweisen konnten, dass tatsächlich die Fae für die grauenvolle Tat verantwortlich waren, wurde nie jemand zur Rechenschaft gezogen. Einen Schuldigen zu haben, hätte die Königin nicht zurückgebracht, doch so schwelte der Hass auf die Fae immer weiter. König Roarke hatte diesem Hass niemals nachgegeben. Von jenem Tag an hatte er das Volk allein geführt und seine Kinder so gut es ging auf den Thron vorbereitet, obwohl er ihnen all die Verpflichtungen gern erspart hätte und sie keiner Gefahr aussetzen wollte. Und er hatte stets zum Wohle seines Volkes gehandelt.
Aiden bewunderte seinen Vater für seine Ruhe und seine Besonnenheit. Er selbst hatte zwar nicht wie Sharni das aufbrausende Temperament ihrer Mutter geerbt, aber Aiden fragte sich, ob er in dieser Situation so ruhig geblieben wäre. Sich abweichend von der allgemeinen Meinung vehement gegen einen Krieg mit den Fae auszusprechen, nur weil es das Vernünftigste war – würde er das auch schaffen, wenn es eines Tages in seiner Hand lag, die Draconis zu führen?
»Ich weiß, dass ich mich auf euch verlassen kann, Aiden«, sagte der König nun. »Es gefällt mir zwar überhaupt nicht, euch dieser Gefahr auszusetzen, aber ihr seid die Einzigen, denen ich blind vertraue. Ich weiß nicht, wen ich sonst auf diese Missionen schicken sollte.«
»Was ist eigentlich mit Onkel Darragh?«, fragte Aiden. »Er lebt doch in London, oder? Kann es vielleicht sein, dass er …?«
»… einen Ausflug über dem Holland Park gemacht hat?« Der König schüttelte den Kopf. »Nie im Leben. So etwas würde er nicht tun. Außerdem hat sich mein Bruder vermutlich seit über dreißig Jahren nicht verwandelt.«
Aiden fiel es schwer, sich das auch nur vorzustellen. Er fand es schon schlimm genug, sich nicht nach Lust und Laune verwandeln zu können, auch wenn er es seit seiner Geburt nicht anders kannte. Aber sich überhaupt nicht mehr zu verwandeln? Das überstieg seine Vorstellungskraft.
»Darauf wollte ich gar nicht hinaus, Dad. Onkel Darragh ist und bleibt ein Drache. Möglicherweise hat er etwas mitbekommen und kann uns helfen.«
»Das geht nicht, Aiden.« Der König seufzte, was eher traurig als gereizt klang. »Wir können ihn nicht um Hilfe bitten. Er ist nach wie vor mein Bruder und mir jederzeit willkommen, doch er gehört nicht mehr zu uns Draconis.«
Aiden runzelte die Stirn. »Vertraust du ihm nicht?«
»Darum geht es nicht, ich würde ihm mein Leben anvertrauen. Er darf sich jedoch nicht einmischen. Es gab einen Grund, wieso er seinerzeit auf den Thron verzichtet hat.«
»Ich verstehe nicht …«, erwiderte Aiden. »Ich dachte, er wollte die Verantwortung nicht übernehmen.«
Der König schüttelte den Kopf. »Euer Onkel hat sich während seiner Collegezeit Ende der Achtzigerjahre in eine Hexe verliebt. Ihretwegen hat er damals auf den Thron verzichtet. Und Isla hat seinetwegen ihren Clan verlassen. Sie war ein Mitglied der Murphys.«
»Isla Murphy? Tante Isla war ein Mitglied des Murphy-Clans?«
»Ganz genau.«
Aiden spürte, wie er blass wurde.
Der letzte Krieg zwischen den Drachen und Fae, der inzwischen acht Jahrhunderte zurücklag, hatte viele Jahre gedauert und viele Leben gefordert. Nicht nur das Leben von Drachen und Fae, sondern auch von Menschen und Magiern.
Der Morgan- und der Merlin-Clan – heute zwei der mächtigsten Hexenclans Londons – standen damals noch in ihren Anfängen. Der Morgan-Clan stammte von Morgan le Fay ab, Artus’ Halbschwester, in deren Adern ein winziger Teil Elfenblut floss. Um den Vorfahren Tribut zu zollen und sich in der Hexenwelt zu etablieren, schloss sich der Morgan-Clan in dem herrschenden Krieg den Fae an. Der Merlin-Clan, der auf den großen Zauberer Merlin zurückging, hatte ebenfalls große Ambitionen und unterstützte die Drachen. Als Merlin seinerzeit das himmlische Zeichen in Gestalt eines Drachen erblickte, sagte er nicht nur das Schicksal von Uther Pendragon und dessen späterem Sohn Arthur voraus, der zu König Artus werden sollte – er prophezeite auch das Schicksal der Merlins: Schließt euch den Drachen an, und ihr werdet ein mächtiger Clan werden. Doch der Krieg dauerte zu lange und forderte zu viele Leben. Die Clans waren sich damals schon recht ebenbürtig, ebenso wie die Drachen und die Fae, und ein Sieg einer der beiden Parteien war nicht absehbar. Schließlich mischte sich der Murphy-Clan ein, damals wie heute der mächtigste Hexenclan Irlands, und beendete den Krieg. Um zu verhindern, dass sich die Drachen und Fae je wieder bekriegen würden, und um sie gleichzeitig von ihren Verbündeten zu trennen, holte der Murphy-Clan die Völker nach Irland. Den Fae wurde der Süden Irlands zugesprochen, nachdem die Murphys in England den Zugang zur Fae-Welt versiegelt hatten. Die Drachen erhielten den Norden. Das Gebiet dazwischen, wo auch die Murphys seit jeher ihren Sitz rund um Dublin hatten, wurde für neutral erklärt. Noch heute wachte der Murphy-Clan über den Frieden der magischen Völker in Irland und galt als unparteiisch. Bisher hatten die Murphys keinen Grund gehabt, sich noch einmal in die Belange der Drachen und Fae einzumischen. Und Aidens Wissen nach hatten sie sich seitdem auch aus den Angelegenheiten der britischen Hexenclans herausgehalten, obwohl bis heute eine große Rivalität zwischen den Morgans und Merlins herrschte. Nicht lange, nachdem die Murphys den Krieg zwischen den Drachen und Fae beendet hatten, waren die beiden Hexenclans aufgrund einer Prophezeiung Merlins erneut aufeinander losgegangen. Niemand wusste, warum die Murphys damals nicht eingegriffen hatten. Vielleicht, weil sie beim Schlichten des Konflikts zwischen den Drachen und Fae selbst genug Clanmitglieder verloren hatten und sich nicht erneut einer Auseinandersetzung stellen wollten. Vielleicht aber auch, weil die Kämpfe zwischen den Morgans und Merlins hauptsächlich die Leben der eigenen Clanmitglieder gefordert hatten.
»Warum erzählst du mir das erst jetzt?«, fragte Aiden. »Das ist immerhin keine Kleinigkeit.«
Der König strich sich über den Bart. »Zum einen war dein Großvater bis zu seinem Tod nicht gut auf seinen Erstgeborenen zu sprechen. Er hat es Darragh nie verziehen, dass er sich in einer Silvesternacht ohne ein Wort einfach davongeschlichen hat. Zum anderen kennst du deinen Onkel so gut wie gar nicht, was natürlich auch für Sharni gilt. Mein Bruder und ich wollten euch aus der Sache heraushalten. Ihr solltet alt genug sein, um euch ein eigenes Bild zu machen.«
»Deshalb also dürfen wir Darragh nicht um Hilfe bitten.«
Aiden hatte sich schon immer gefragt, was damals zwischen den Brüdern vorgefallen war. Sein Vater schien zwar ein gutes Verhältnis zu Darragh zu haben, denn er sprach nie schlecht über ihn, aber im Grunde wusste Aiden kaum etwas über seinen Onkel; und seiner Tante war er kein einziges Mal begegnet. Als sein Großvater noch gelebt hatte, war Darragh in dessen Gegenwart nie erwähnt worden. Jetzt verstand Aiden auch, warum.
Der König nickte. »Darragh und Isla müssen sich aus allem heraushalten, was uns Drachen, die Fae oder die Murphys angeht. Wenn wir sie einbeziehen, könnten die Fae das als Kriegserklärung betrachten. Ich traue Darragh und Isla, aber wir dürfen uns zum jetzigen Zeitpunkt keine Fehler erlauben.«
Seufzend lehnte Aiden sich zurück. Mit dieser Offenbarung hatte er nicht gerechnet. »Was ist denn mit den Murphys? Können wir sie nicht um Hilfe bitten? Sie sind schließlich dazu da, den Frieden zu wahren.«
Aidens Vater strich sich zum wiederholten Male über den Bart. »Das schon, aber es ist zu früh, sich an die Magier zu wenden. Sie mischen sich nur ein, wenn es wirklich nicht anders geht, und wir würden zudem wie Verlierer dastehen. Wir müssen Stärke beweisen und handlungsfähig wirken.« Er schüttelte den Kopf. »Wir sind auf uns allein gestellt, Aiden, zumindest vorerst. Bevor wir den Murphy-Clan um Beistand bitten können, brauchen wir mehr Informationen. Und wir sollten unbedingt etwas in Bezug auf den Verräter unternehmen. Wenn es tatsächlich einen Verräter unter uns gibt, müssen wir ihn enttarnen, denn wir brauchen absolute Gewissheit, wem wir trauen können und wem nicht, sollte es wirklich zum Krieg kommen. Und glaub mir, wenn die Fae diesen Krieg wollen, werden ihn auch die Murphys nicht so einfach verhindern können. Die Zeiten haben sich geändert.«
Aiden schluckte. »Hast du denn einen Verdacht? Und was genau soll ich eigentlich machen?«
»Ich möchte niemanden zu Unrecht beschuldigen. Zuerst einmal muss ich wissen, ob ich meinem Beraterstab absolut vertrauen kann. Dazu habe ich mir Folgendes überlegt.« Der König beugte sich nach vorn zu seinem Sohn. »Ich selbst werde niemanden darüber in Kenntnis setzen, dass du nach Dublin gehst, nicht einmal die Murphys. Eigentlich wäre das meine Pflicht, aber unter diesen Umständen werden sie es uns nachsehen. Du hingegen erzählst noch heute jedem meiner fünf Berater – aber bitte einzeln und im Vertrauen – von unserem Plan und nennst dabei jedem ein anderes College, auf das ich dich angeblich schicke. Und vergiss nicht zu erwähnen, dass ich dich zu äußerster Diskretion und Geheimhaltung verdonnert habe.«
»Was versprichst du dir davon?«, fragte Aiden.
Der König trank den letzten Schluck Drachenwein. »Sagen wir mal so: Sollte ein Fae in einem der Colleges auftauchen, die du meinen Beratern nennst, oder sollte sonst etwas Seltsames vorfallen, wissen wir, dass tatsächlich einer von ihnen ein Verräter ist. Und vor allem wissen wir dann, wer es ist.«
Ich riss das Schwert aus der Flanke des Drachen und sah dabei zu, wie er seine verbliebenen Atemzüge tat, während sich mein eigener Atem langsam wieder beruhigte. Das war jetzt schon der siebte Drache, den ich heute erledigt hatte. Immer wieder waren sie im wahrsten Sinne des Wortes aus heiterem Himmel aufgetaucht und hatten mich angegriffen. Meine Augen suchten den Horizont ab, doch es war kein weiteres Ungetüm zu sehen. Zumindest für den Moment schien ich meine Ruhe zu haben. Ich steckte meine Schwerter weg. Sieben Drachen an einem Tag und kein einziger Misserfolg; das war eine gute Quote.
Der vor wenigen Sekunden erlegte Drache löste sich in Luft auf, das Blut jedoch blieb zurück. Ich stieß ein genervtes Seufzen aus. Na super, beim vermutlich letzten Drachen des Tages musste etwas mit dem Glamour schiefgegangen sein. Mein Kleid war vollkommen hinüber. Es hatte noch mehr Risse abbekommen, und das Drachenblut klebte überall, sogar in meinen Haaren. Es war eine ziemliche Sauerei gewesen, das siebte Biest zu erledigen. Mit dem Handrücken wischte ich mir eine Haarsträhne aus der Stirn, die sich aus meinem Pferdeschwanz gelöst hatte.
»Na, wie viele Drachen hast du geschafft?«
Ich wirbelte zu meinem Onkel herum, der mich amüsiert betrachtete. Er trug dieselben Sachen wie heute Morgen, als er aufgebrochen war, hatte jedoch die Lederjacke sowie Pfeile und Bogen abgelegt. Vermutlich war er schon eine Weile zurück und hatte der Königin längst Bericht erstattet.
»Wie ist es gelaufen? Bist du zufrieden?« Ich war neugierig, auch wenn ich wusste, dass er mir keine Details verraten durfte.
»Das kann man so sagen. Und du hast den ganzen Tag trainiert?«
»Sieht man mir das nicht an?« Ich grinste. »Sieben Drachen weniger auf dieser Erde.« Wobei das so nicht ganz stimmte, immerhin waren die Viecher nicht echt gewesen, sondern mit Glamour erzeugte Übungsobjekte. Mit Glamour konnten wir Fae perfekte Illusionen erschaffen. Auf diese Weise täuschten wir beispielsweise auch die Menschen, damit sie unsere spitzen Ohren nicht wahrnahmen.
Damian lachte und griff nach meinem Ellenbogen. »Na komm, die Königin möchte dich sehen.«
»Die Königin möchte mich sehen?« Mein Herz schlug schneller. Es kam nicht oft vor, dass die Königin minderjährige, gerade erst ausgebildete Fae zu sich zitierte. Was sie wohl von mir wollte?
»Keine Sorge, ich bin mir sicher, dass du nichts falsch gemacht hast.« Damians Augen funkelten vor Vergnügen.
»Und ich bin mir sicher, dass du genau weißt, warum sie mich sehen will.« Als königlicher Berater hatte mein Onkel Einblick in sämtliche Angelegenheiten der Krone, aber selbst jetzt, wo es um mich ging, verriet er mir nichts.
»Netter Versuch, Kailey. Ich sag nur so viel: Dein Training heute war nicht umsonst.« Er zog mich weiter.
Damians Worte verstärkten meine Aufregung, trotzdem sagte ich: »Warte, darf ich mich schnell umziehen? Ich kann doch nicht so unter die Augen der Königin treten.«
»Natürlich kannst du das. Sie weiß, dass du gerade dein Training absolviert hast, und jetzt komm.«
Die Königin hielt sich unter einem Pavillon mitten im Freien auf. Im Hintergrund plätscherte ein Bach, und es roch nach süßen Blumen. Sie saß mit ausgestreckten Beinen auf einer Chaiselongue und ließ sich Luft zufächeln wie eine Göttin. Fehlte nur noch, dass jemand sie mit Weintrauben fütterte, doch die steckte sie sich selbst in den Mund – bis sie mich erblickte. Sie hielt inne, musterte mich von oben bis unten, und ich fragte mich, warum ich mich von Damian hatte überreden lassen, in diesem Aufzug herzukommen. Ich hätte duschen und mich umziehen sollen.
Die Königin selbst war eine Schönheit. Sie trug ein cremefarbenes Kleid aus Spitze, Taft und Tüll. In ihr lockiges blondes Haar hatten ihre Zofen Blumen eingeflochten. Ihr lieblicher Eindruck wurde noch verstärkt, weil sie sehr jung wirkte. Doch der Schein trog, denn die Königin war eine mindestens ebenso gute Elfenkriegerin wie ich. Das erzählte man sich jedenfalls. In Sachen Manipulation und Täuschung waren wir Fae echte Meister.
Ich machte einen Knicks. »Eure Majestät.«
Wie konnte es sein, dass ich geradezu gelassen mit einem Drachen kämpfen konnte, mich in Gegenwart der Königin aber kaum traute, den Blick zu heben? Eigentlich lächerlich.
»Kailey Ainsley.« Die Königin rutschte an die Vorderkante der Chaiselongue, den Blick immer noch auf mich gerichtet. »Ich habe mir sagen lassen, du seist die beste Elfenkriegerin, die Fairyland derzeit vorzuweisen hat.«
»Das ist richtig, Eure Majestät.« Falsche Bescheidenheit gehörte nicht zu den Eigenschaften der Fae, dabei hatte ich im Vergleich zu den meisten meiner Artgenossen inzwischen gelernt, wie man log, was alles andere als leicht gewesen war. Nicht einmal die Königin oder mein Onkel beherrschten diese Fähigkeit, die sich einfache Menschen unbewusst mehrfach am Tag zunutze machten.
Die Königin lächelte. »Ich habe einen Auftrag für dich, außerhalb von Fairyland. Bist du bereit, ihn anzunehmen?«
»Selbstverständlich, Eure Majestät«, erwiderte ich, ohne darüber nachzudenken. Dabei war ihre Frage rein rhetorisch, denn der Fae-Königin widersprach man nicht.
Mein Herz schlug schneller. Endlich war es so weit, und das sogar früher als erwartet, da ich noch nicht achtzehn war – die Königin schickte mich auf eine geheime Mission. Ich konnte es kaum glauben. Mein Blick huschte zu Damian, der mir kaum merklich zunickte. Ich hatte mein Ziel tatsächlich erreicht und durfte Fairyland zum ersten Mal verlassen. Wie es wohl in der Menschenwelt sein würde? Mein Onkel erzählte mir immer, dass unsere Welt nicht viel anders aussah, aber ich wollte es mit eigenen Augen sehen.
Fairyland befand sich auf der Dingle-Halbinsel im Südwesten Irlands. Wie unsere Landschaft bestand die der Menschen hauptsächlich aus Sandstränden und zerklüfteten Felsen, so hatte ich es zumindest gelernt. Wir mussten uns jedoch keine Gedanken darüber machen, von Menschen überrascht zu werden. Wir hatten unser eigenes Reich, denn unsere Welt befand sich parallel zur Menschenwelt.
»Möchtest du gar nicht wissen, was das für ein Auftrag ist?«, fragte die Königin schmunzelnd.
»Natürlich, Eure Majestät.« Ich war neugierig, dabei war es im Prinzip egal, worum es sich handelte – ich würde die Mission auf jeden Fall annehmen.
»Meinen Beratern ist zu Ohren gekommen, dass der Thronfolger der Draconis auf ein Menschencollege in Dublin geschickt wird, das Trinity College. Wir werden dich ebenfalls dorthin schicken. Du sollst das Vertrauen des Thronfolgers gewinnen.«
Ich schluckte, damit hatte ich nicht gerechnet. Ich sollte eine Beziehung zum Thronfolger der Drachen aufbauen? Wozu das Ganze? Die Frage lag mir auf der Zunge, doch ich stellte sie nicht. Man hinterfragte die Befehle der Königin nicht, man tat, was sie sagte. »Das werde ich. Kann ich sonst noch etwas tun, Eure Majestät?«
»Behalte ihn im Auge. Falls er irgendetwas plant oder vorhat, will ich das wissen. Informiere deinen Onkel, wenn dir etwas seltsam vorkommt, und sollte es noch so banal aussehen.«
»Natürlich, Eure Majestät.«
»Du bleibst in deiner Rolle, bis du einen gegenteiligen Auftrag oder weitere Befehle erhältst. Mach dir den Thronfolger gefügig. Das Wichtigste ist, dass er dir blind vertraut. Er darf niemals erfahren, dass du eine Fae mit einem Auftrag bist. Hast du das verstanden?«
Ich nickte. »Ja, Mylady.«
»Gut, dann regele deine Angelegenheiten, denn bereits morgen geht es los. Dein Onkel wird dir weitere Instruktionen geben.«
»Ja, Eure Majestät«, sagte ich noch einmal und knickste, bevor ich mich entfernte.