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Vertraust du ihm, verlierst du dein Herz. Vertraut er dir, verliert er sein Leben. Doch nur zusammen habt ihr eine Chance. Nach ihrem Sieg über Aiden kehrt Kailey nach Fairyland zurück. Dort stellt sie erschüttert fest, dass der Drachenprinz recht hatte – die Fae-Königin spielt ein falsches Spiel und wirft ihr vor, eigenmächtig gehandelt zu haben. Kailey soll hingerichtet werden, damit die Königin weiter im Geheimen den Krieg gegen die Drachen vorbereiten kann. Kailey will die Auslöschung der Drachen um jeden Preis verhindern, doch dazu muss sie fliehen – und das Vertrauen von Aidens Schwester Sharni gewinnen ... *** Urban Romantasy vor der traumhaften Kulisse Irlands! Episch. Atmosphärisch. Magisch! *** Entdecke die fantastisch-romantischen Buchwelten von Sandra Grauer bei Ravensburger: Flowers & Bones Band 1: Tag der Seelen Band 2: Kuss der Catrina Flame & Arrow Band 1: Drachenprinz Band 2: Elfenkriegerin Clans of London Band 1: Hexentochter Band 2: Schicksalsmagie
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Seitenzahl: 597
Als Ravensburger E-Book erschienen 2022
Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag
© 2022 Ravensburger Verlag
Text © 2022 Sandra Grauer
Dieses Werk wurde vermittelt durch die litmedia.agency, Germany.
Lektorat: Franziska Jaekel
Umschlaggestaltung: Zero Werbeagentur, München
Verwendete Bilder von © Dmitriy Rybin, © k_yu, © Natallia Novik, alle von Shutterstock
Vorsatzkarte: Carolin Liepins, München
Verwendete Bilder von © ALXR, © abeadev, © Lee Charlie, © PGMart, © Aleks Melnik, © AWK07, © Vectorfair.com, © Andrijamil, © urnifine Creative, alle von Shutterstock
Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.
ISBN 978-3-473-51102-0
www.ravensburger.de
Für Christian Für Niklas und Betty Und für alle »Clans of London«-Fans
Die drei Musketiere
von Alexandre Dumas
Übersetzt von Georg Carl Lehmann
Muse – Map of the Problematique
Muse – Assassin
Nightwish – Deep Silent Complete
Skillet – Awake and Alive
Axwell Λ Ingrosso – More than you know
Imagine Dragons – Radioactive
3 Doors Down – Going down in flames
3 Doors Down – By my side
3 Doors Down – Not enough
3 Doors Down – So I need you
Skillet – Monster
Skillet – Sometimes
Nightwish – Know why the nightingale sings
Clint Mansell – Lux Aeterna
Ed Sheeran – Photograph
Ed Sheeran – I see fire
Damian eilte über die Wiese, geriet fast ins Rennen, zwang sich jedoch, sein Tempo zu drosseln. Keinesfalls durfte er Aufsehen erregen. Wenn er nur wüsste, was hier los war. Die Königin hatte Kailey direkt mit dem Mord am Thronfolger der Draconis beauftragt. Das ließ nur den Schluss zu, dass sie Damian nicht länger traute. Aber warum? War sie hinter sein Geheimnis gekommen? Oder lag es einzig und allein daran, dass sie die Familie Ainsley zum Sündenbock machen wollte?
Zum wiederholten Mal wählte er die Nummer des Drachenkönigs, doch entweder war besetzt oder er nahm nicht ab. Fluchend steckte Damian das Handy wieder ein. Sollte Sharni ebenso wie Aiden den Tod gefunden haben, war alles ruiniert. Damian konnte nur hoffen, dass zumindest sie den Queen’s Arrows entkommen war.
Er konnte es immer noch nicht fassen. Der Drachenthronfolger war tot. Umgebracht von Kailey, seiner Nichte, für die er so große Pläne gehabt hatte. Innerhalb kürzester Zeit hatte sie alles zunichtegemacht, wofür er seit Jahren kämpfte. Wie hatte es so weit kommen können? Trotzdem musste er seine Nichte abfangen, bevor sie nach Fairyland zurückkehrte. Das war er seinem verstorbenen Bruder schuldig.
Vorher musste er jedoch mit Sloan sprechen, denn so wie die Dinge lagen, war kein Ainsley mehr sicher in Fairyland. Um diese Uhrzeit war Kaileys Bruder für gewöhnlich auf dem Trainingsplatz, weshalb Damian auf direktem Weg dorthin ging.
Schon von Weitem hörte er das Aufeinanderprallen der Schwertklingen. Neuerdings ließ die Königin Schwertkampf und Bogenschießen gleichermaßen trainieren, was zeigte, wie ernst es ihr mit einem Krieg gegen die Drachen war. Würde König Roarke nach wie vor auf Frieden beharren, würde die Königin selbst zur Tat schreiten. Daran bestand kein Zweifel mehr.
Damian blieb stehen, als er den Trainingsplatz erreicht hatte, und ließ den Blick über die Kämpfenden schweifen. Er entdeckte Sloan und winkte ihn zu sich. Verwirrt hielt der Junge mitten im Schlag inne und konnte nur mit Mühe dem Schwert des Gegners ausweichen, der die Unterbrechung noch nicht registriert hatte. Sloan zögerte, doch schließlich legte er das Schwert ins Gras und kam auf Damian zu.
»Was willst du?«
»Deine Schwester kommt heute zurück. Sie hat ihre erste Mission mit Bravour gemeistert.«
Sloans Blick wurde noch skeptischer. »Und jetzt sollen wir ihr ein Empfangskomitee bereiten, oder was?«
Damian lächelte nur und nahm seinen Neffen an der Schulter. »Ich bringe ihn gleich zurück«, rief er dem Trainer zu, mit dem er vor vielen Jahren selbst zusammen geübt hatte, und zog Sloan mit sich.
Der Junge riss sich zwar los, machte aber nicht kehrt. »Ehrlich gesagt habe ich weder Zeit noch Lust, meine Schwester überschwänglich zu empfangen.«
»Das sollst du auch nicht.« Damian beschleunigte seine Schritte und steuerte auf die Klippen zu.
»Was willst du dann von mir?«
»Was weißt du über die Mission deiner Schwester?«, fragte Damian zurück, um Zeit und damit mehr Abstand zwischen sich und eventuelle Spione zu bringen.
»Ist die Frage ernst gemeint? Dir ist klar, dass Kailey mir nichts sagen durfte, oder? Und das hat sie auch nicht. Sie hält sich immer an die Regeln, wie du weißt.«
Damian seufzte. »Ja, leider.« Eine kleine, gut platzierte Bemerkung, die ihre Wirkung nicht verfehlte.
Sloan stutzte und ließ seine Abwehrhaltung fallen. »Was willst du damit sagen?«
Unauffällig sah Damian sich um, doch es war niemand in Hörweite. »Nun ja, wir werden hier in Fairyland nicht unbedingt zum selbstständigen Denken erzogen, nicht wahr?«
Sloan zuckte nur mit den Schultern, was Damian nicht weiter verwunderte. Auch wenn es in Fairyland genau wie bei den Menschen das Konzept der Familie gab, waren sie im Grunde alle Einzelkämpfer. Stets musste man aufpassen, was man laut aussprach, denn wenn falsche Worte bis zur Königin vordrangen, hatte das fatale Konsequenzen.
Glücklicherweise glaubte Damian den Grund zu kennen, aus dem sein Neffe ihm und Kailey gegenüber dermaßen verschlossen war. Nun musste er ihm nur beweisen, dass sie einander trauen konnten.
»Ich persönlich halte es für ungesund, immer nur das zu tun, was die Königin verlangt.«
Sloan schnaubte. »Und das sagst ausgerechnet du als Berater der Königin.«
»Darf ich deshalb keine eigene Meinung haben?«
Sloan setzte zu einer Bemerkung an, sprach sie jedoch nicht laut aus. Trotz allem schmolz sein Widerstand, und Damian triumphierte innerlich. Er hatte es geschafft – sein Neffe würde darüber nachdenken, ob er wollte oder nicht.
Inzwischen hatten sie die Stelle erreicht, an der die Wiese steil abfiel. Die Wellen peitschten gegen die Klippen, und der Wind heulte, als würde er gemeinsam mit dem Drachenkönig um den verlorenen Sohn trauern. Wenn man sich irgendwo in Fairyland ungestört unterhalten konnte, dann hier.
Damian wandte sich seinem Neffen zu. »Hör zu, deine Schwester sollte auf einem College in Dublin den Thronfolger der Drachen im Auge behalten und sein Vertrauen gewinnen. Das ist ihr gelungen, was meinen eigenen Plänen sehr entgegenkam.«
»Deinen Plänen?«
Damian nickte. Es war riskant, sich nicht zuerst abzusichern, und obwohl er gerade alles aufs Spiel setzte, wofür er seit acht Jahren kämpfte, blieb ihm keine Wahl.
»Dir ist sicher aufgefallen, dass seit einigen Monaten mehr Drachenjäger als sonst ausgebildet werden. Die Königin rüstet sich für einen Krieg gegen die Drachen, den ich jedoch verhindern will. Dummerweise hat die Königin deiner Schwester ohne mein Wissen einen weiteren Auftrag gegeben: Sie sollte den Drachenthronfolger eliminieren.«
»Und hat sie es getan?«, fragte Sloan nach einer Weile des Schweigens.
Damian nickte abermals und ließ die Bedeutung dieser Aussage einen Moment nachwirken. Als Sloan jedoch nichts dazu sagte, fügte er hinzu: »Der Thronfolger der Draconis ist tot und die Prinzessin vermutlich auch. Die Queen’s Arrows wurden auf sie angesetzt.«
Sloan stieß einen Pfiff aus. »Die Königin scheint es ernst zu meinen. Und nun?«
»Nun wird sie es so hinstellen, dass Kailey eigenmächtig gehandelt hat. Die Königin misstraut mir, sonst hätte sie deiner Schwester diesen Auftrag nicht ohne mein Wissen gegeben. Kaileys Todesurteil wurde bereits gefällt, noch ehe sie selbst zur Mörderin wurde. Dummerweise ist mir das nicht vorher klar geworden. Sloan, wir sind in Fairyland nicht länger sicher, keiner von uns. Wir müssen fort von hier.«
Sloan schüttelte den Kopf. »Das ist total verrückt. Ich soll dir trauen, obwohl die Königin es nicht tut? Wie könnte ich?«
Damian legte die Hände auf die Schultern seines Neffen und sah ihm eindringlich in die Augen. »Ich weiß, dass das alles schwer zu verstehen und noch schwerer zu verdauen ist, aber dir bleibt ebenso wie mir keine Wahl. Du musst mir vertrauen. Die Königin benutzt unsere Familie als Spielball für ihre Machenschaften.« Wenn er Sloan nur sagen könnte, wie viel Wahrheit tatsächlich in diesem letzten Satz steckte, doch dafür reichte die Zeit nicht.
»Und wessen Schuld ist das bitte? Ich habe mich immer an die Regeln –« Der Junge sprach nicht weiter, diese Lüge wollte ihm nicht über die Lippen kommen.
»Hast du das?«, fragte Damian ruhig und sanft zugleich.
Sloan riss sich erneut los und wandte sich dem Meer unter ihnen zu. Unter seiner aggressiven Art lag eine zerbrechliche Seite, die Damian lange Zeit verborgen geblieben war. Nun musste er äußerst vorsichtig sein.
»Sloan, ich weiß es.«
Die Schultern des Jungen begannen, kaum merklich zu beben. »Was weißt du?«
»Ich weiß es, das muss reichen.«
Sloan schüttelte den Kopf. Er war mindestens so stur wie Kailey. Diesen Charakterzug hatten sie von ihrem Vater geerbt, und auch Damian war einst so gewesen. Er hatte auf die harte Tour lernen müssen, aufgeschlossener und nachgiebiger zu sein.
»Wovon redest du?« Sloans Stimme klang immer noch erstaunlich fest.
Damian seufzte leise. »Liam und das, was ihr im Verborgenen tut …«
Abrupt wirbelte Sloan zu ihm herum. »Willst du mich jetzt damit erpressen? Läuft es darauf hinaus?«
Damian unterdrückte einen Fluch. »Natürlich nicht. Hältst du so wenig von mir? Ich habe dieses Wissen bisher nicht gegen dich verwendet und werde es auch in Zukunft nicht tun.«
»Und warum konfrontierst du mich dann damit?«
»Du sollst wissen, dass ich für dich da bin. Dein Geheimnis ist bei mir sicher.«
»Und das soll ich dir so einfach abkaufen?«
Damian schloss für einen Moment die Augen. »Ich werde dir jetzt eine Frage stellen, und ich erwarte eine klare Antwort von dir. Bist du für den Krieg, den die Königin gegen die Drachen führen will?«
»Die Drachen haben meine Eltern auf dem Gewissen.«
Wieder legte Damian seine Hände auf Sloans Schultern. »Ich schwöre dir, dass dem nicht so ist. Deine Eltern wurden nicht von Drachen getötet. Und du weichst meiner Frage aus.«
»Was weißt du über den Tod meiner Eltern?« Sloan presste die Kiefer aufeinander.
Damian spürte ebenfalls Wut in sich aufsteigen, gemischt mit Unruhe. »Die Geschichte ist zu lang, um sie dir jetzt zu erzählen. Ich werde nicht das Leben deiner Schwester aufs Spiel setzen, weil du ein Vertrauensproblem hast, verstanden? Du musst mir einfach glauben: Die Drachen haben das Leben deiner Eltern nicht auf dem Gewissen. Also, willst du diesen Krieg? Ja oder nein?«
»Nicht, wenn die Drachen wirklich nichts mit Mutters und Vaters Tod zu tun haben.«
Erleichtert atmete Damian aus. »Dann sind wir uns einig. Können wir jetzt gehen?«
Sloan dachte tatsächlich einen Moment darüber nach, doch dann schüttelte er den Kopf. »Ich kann Fairyland nicht verlassen.«
Damian hatte fast mit dieser Antwort gerechnet. »Wegen Liam? Er kann mit uns kommen, wenn du das möchtest.« Er lehnte sich weit aus dem Fenster, denn das würde sie wertvolle Zeit kosten. Außerdem wusste er nicht, ob er Liam trauen konnte.
Zu seiner Überraschung schüttelte Sloan über diesen Vorschlag jedoch den Kopf und sah sich nach allen Seiten um, bevor er zu sprechen begann. »Du willst diesen Krieg verhindern, also nehme ich an, dass du dafür die Königin stürzen musst. Richtig?«
»Richtig.«
»Nun, wir wollen die Königin ebenfalls stürzen. Aus anderen Gründen als du, wie du dir denken kannst, aber unser Ziel ist dasselbe. Deshalb ist es besser, wenn ich hierbleibe und von innen heraus mitwirke.«
Seufzend schloss Damian die Augen. Sloans Worte klangen vernünftig, dennoch bereiteten sie ihm Bauchschmerzen. »Damit gehst du ein verdammt großes Risiko ein. Wie willst du agieren, wenn die Königin ein Auge auf dich hat? Und das wird sie, das ist so sicher wie der Tod.«
Auf Sloans Lippen stahl sich tatsächlich ein Grinsen. »Du weißt offenbar doch nicht alles. Uns haben sich schon einige angeschlossen. Ich werde untertauchen, doch ich muss in Fairyland bleiben, um Kontakt zu den anderen aufnehmen zu können und einen Plan zu schmieden. Gemeinsam können wir etwas bewirken, aber nicht, wenn wir alle wie Feiglinge davonlaufen.«
»Was musst du uns erzählen?«, fragte Darragh sanft, als Isla schwieg.
»Ich … es … es geht um meine Familie.« Isla begann zu zittern.
Darragh nahm ihr den Wassereimer aus der Hand und stellte ihn auf dem Boden ab, bevor er sie zum Sessel führte und sich selbst auf der Kante niederließ. Er legte einen Arm um seine Frau und warf mir einen knappen Blick zu, der voller Sorge war.
Eine böse Vorahnung ergriff mich. »Deine Familie wird nicht eingreifen, richtig? Denn wenn sie es wollte, hätte sie es längst getan.«
Isla sah mich an, und in ihren Augen lag so viel Traurigkeit und Verzweiflung, dass ich schlucken musste. »Es ist viel schlimmer als das, Sharni. Sie können nicht eingreifen.«
Niall und ich wechselten einen Blick. »Was soll das bedeuten?«, wollte ich wissen.
»Sie können nicht, selbst wenn sie es wollten. Bei Merlins Bart!« Isla schluchzte auf und vergrub das Gesicht in ihren Händen.
Jared stieß sich erneut vom Türrahmen ab, an den er sich inzwischen wieder gelehnt hatte. »Lass Merlin aus dem Spiel und sag uns endlich, was los ist.«
Darragh warf ihm einen warnenden Blick zu. »Vielleicht lässt du uns an dieser Stelle lieber allein.«
Isla sah auf und schüttelte den Kopf. »Er soll bleiben, denn das, was ich euch zu sagen habe, wird unter Umständen auch seine Familie betreffen.«
Ich fing Jareds Blick auf, der alles andere als begeistert aussah. Ich hatte eine Ahnung, was Isla uns gleich offenbaren würde, und doch hoffte ich, mich zu irren.
Darragh strich Isla über das braune Haar. »Dann sag uns die Wahrheit, Darling. Warum können die Murphys nicht eingreifen?«
»Weil … sie nicht länger die Macht dazu haben.«
Einen Moment lang war es so still wie an einem verschneiten Wintermorgen. Nicht einmal Jared wollte wissen, was das Ganze mit seiner Familie zu tun hatte, wobei es offensichtlich war. Wenn die Murphys nicht mehr eingreifen konnten, musste es jemand anderes tun – es sei denn, man überließ mein Volk sich selbst.
Ich stand auf und ging hinüber zum Kamin; meine Finger krallten sich in den Sims. Wie sollte es jetzt weitergehen? Ich war den Queen’s Arrows entkommen – und hoffentlich war es auch Aiden gelungen, vor möglichen Angreifern zu fliehen –, doch die Fae-Königin würde nicht lockerlassen. Schon gar nicht, wenn ihr niemand Einhalt gebot.
»Weißt du, was du da sagst?«, hörte ich Darraghs Stimme hinter mir. Er klang voller Sorge. Ich nahm an, dass Isla nickte, denn im nächsten Moment stand mein Onkel auf. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie er auf und ab lief. »Verdammt, Isla! Das hättest du mir längst sagen müssen.«
»Ich weiß, Darragh, ich weiß, aber meine Mutter hat mir das Versprechen abgenommen, es vorerst auch vor dir geheim zu halten. Sie hat es mir erst vor Kurzem erzählt, denn prinzipiell dürfte ich es selbst nicht einmal wissen.«
»Ich hätte aber ein Recht gehabt, davon zu erfahren.« Darragh klang enttäuscht. »Es betrifft auch mich, schließlich geht es hier um meine Familie. Ihr könnt sie nicht länger schützen, wenn ihr keine Macht mehr dazu habt.«
»Glaubst du, das weiß ich nicht?«
»Wie konnte dein Clan das überhaupt so lange unter Verschluss halten?«, wollte Niall wissen.
Isla seufzte. »Eine Machtdemonstration war seit Jahrhunderten nicht nötig, und unser Clanoberhaupt hielt es für das Schlaueste, unser Image aufrechtzuerhalten, um weiterhin für Frieden zu sorgen. Was denkt ihr, was los gewesen wäre, wenn sich meine Familie hingestellt und die Wahrheit verkündet hätte?«
Darragh blieb stehen. »Man hätte zumindest im Verborgenen nach einer Alternative suchen müssen, statt die Drachen und Fae einfach sich selbst zu überlassen.«
»Es war nicht meine Entscheidung, okay?« Islas Stimme klang leise, fast schon verletzt. »Ich hätte es anders gemacht oder zumindest darauf beharrt, euer Volk einzuweihen, aber ich gehöre nicht länger zu den Murphys. Oder hast du das vergessen? Meine Stimme hat kein Gewicht mehr, zumal ich, wie gesagt, selbst erst seit wenigen Wochen Bescheid weiß.«
»Du hast recht, es tut mir leid.« Darragh eilte zu Isla und schloss sie in seine Arme.
»Können wir noch mal zurückspulen?«, mischte sich Jared ein. »Wie genau muss ich mir das denn bitte vorstellen? Man verliert doch nicht einfach so an Macht.«
»So ist es aber«, antwortete Isla ruhig. »Auch wenn wir Murphys unsere Kräfte nicht gänzlich verloren haben. Meine Nichte Cassandra ist nach wie vor sehr mächtig, und auch ich bin stark, doch damit bilden wir eine absolute Ausnahme. Mein Bruder zum Beispiel, Cassandras Vater, schafft es nicht einmal mehr, kalt gewordenen Tee zu erwärmen.«
Ich horchte auf und drehte mich langsam um. »Cassandra?«
Der Name konnte bloß ein dummer Zufall sein. Es war unmöglich, dass hinter Kaileys Mitbewohnerin – einem naiven, wenn auch sympathischen Mädchen – eine mächtige Murphy-Hexe steckte. Doch Islas zerknirschter Gesichtsausdruck sagte alles.
»Cassandra Murphy, richtig. Meine Nichte wurde von den Clanobersten meiner Familie an das Trinity College nach Dublin geschickt, nachdem sie davon erfahren hatten, dass sich sowohl dein Bruder als auch eine Fae dort aufhalten würden. Cassie sollte die beiden im Auge behalten und notfalls einschreiten, um Schlimmeres zu verhindern. Das weiß ich aber erst seit heute Morgen. Meine Mutter hat es mir verraten, als ich sie angerufen habe. Dein Vater hatte mich gebeten, meine Familie über die aktuellen Umstände aufzuklären und sie um Hilfe zu bitten.«
»Hilfe, die ihr uns verwehrt.«
»Sharni …«
»Nein, schon gut.« Abwehrend hob ich die Hände und drehte den anderen wieder den Rücken zu. Ich konnte Islas Blick nicht länger ertragen. Am liebsten hätte ich sie angeschrien, doch ich tat es nicht, was mich all meine Selbstbeherrschung kostete. Tief in meinem Inneren wusste ich zwar, dass meine Reaktion unfair war, denn Isla war tatsächlich schon lange kein offizielles Mitglied der Murphys mehr und hatte demnach auch nichts mit den Entscheidungen des Hexenclans zu tun. Aber dennoch hätte sie uns helfen können. Sie hätte zum Beispiel Darragh die Wahrheit über den Kräftezustand ihres Clans verraten oder meinem Vater schon vor Wochen von dem Drachen im Holland Park erzählen können. Letzteres galt auch für Darragh, der es wie Isla vorgezogen hatte zu schweigen. Dank ihnen lernte ich nun auf die harte Tour, wie wertvoll Zeit in einem bevorstehenden Krieg war.
»Ich kann verstehen, dass du sauer auf mich und meine Familie bist.« Islas Stimme war leise. »Versuch bitte trotzdem, das Positive zu sehen. Euer Schicksal ist meinem Clan nicht gleichgültig, sonst hätten die Obersten Cassie nicht diesen Auftrag gegeben. Das Ganze bedeutet außerdem, dass dein Bruder nicht nur einen Bodyguard an seiner Seite hat, sondern sehr wahrscheinlich auch meine Nichte. Und sie wird niemals tatenlos dabei zusehen, wie Fae deinen Bruder töten.«
»Heuchlerin! Wenn du uns gleich bezüglich deines Clans und des magisch erschaffenen Drachens informiert hättest, müsste ich jetzt nicht hier stehen und um Aidens Leben bangen. Wir hätten etwas in der Hand gehabt, als uns die Fae mit all dem Mist konfrontiert haben. Und komm mir bloß nicht damit, dass dich deine Mutter erst vor Kurzem eingeweiht hat. Schon wenige Wochen hätten einen großen Unterschied ausgemacht. Hätten wir bereits vor ein oder zwei Monaten erfahren, dass wir euch Murphys scheißegal sind –«
»Nun mach aber mal einen Punkt, Sharni!«, unterbrach mich mein Onkel vorwurfsvoll.
»Nicht, Darragh.« Islas Stimme klang erstickt. »Ich verstehe Sharni. Ich hatte Angst, und trotzdem hat sie vollkommen recht. Wir hätten deine Familie längst einweihen müssen.«
»Niemand macht dir einen Vorwurf, Darling. Deine Angst ist absolut nachvollziehbar. Außerdem haben wir erst von Sharni und Niall erfahren, dass der Drache zwei Köpfe hatte. Du konntest nicht ahnen, dass er magisch erschaffen war.«
»Ach ja?« Ich wirbelte zu Darragh herum. Aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, wie Isla Tränen über die Wangen liefen, doch das war mir egal. »Aber von dem Drachen musste ich euch nicht erst erzählen, das wusstet ihr bereits seit zwei Monaten. Zwei Monate! Du hättest meinen Vater warnen müssen, schließlich weißt du, wie die Fae sind. Du hast uns ins offene Messer laufen lassen. Wir hatten keine Ahnung von dem Vorfall hier in London. Wir hätten es aber wissen müssen! Dann hätten wir dem verdammten Elfenvolk von vornherein den Wind aus den Segeln nehmen können, weil wir längst Beweise für unsere Unschuld hätten suchen können. Und die ganze Zeit konnten sich die Fae auf einen Krieg gegen uns vorbereiten, während wir völlig ahnungslos waren. Aber du hast einfach geschwiegen, weil –«
»Sharni!« Niall stand plötzlich neben mir und packte mich am Arm, um mich am Weiterreden zu hindern.
Ich riss mich los. »Nein! Du hast geschwiegen, weil deine alte Familie dir eben doch gleichgültig ist. Du hast ja jetzt eine neue und brauchst dich mit dem ganzen Mist nicht mehr zu befassen.«
»Ich bitte dich, Sharni, tu das nicht.« Darragh klang traurig, resigniert.
Ich hielt es nicht länger aus. »Wisst ihr was? Ich verschwinde.« Mit großen Schritten durchquerte ich das Wohnzimmer und ignorierte die anderen, die mir alle gleichzeitig zu erklären versuchten, warum es eine dumme Idee von mir war, einfach abzuhauen. Im Grunde war mir das selbst klar – aber das spielte keine Rolle. Allerdings hatte ich die Rechnung ohne Jared gemacht, der sich mir breitbeinig in den Weg stellte.
»Hau ab oder du wirst es bereuen«, knurrte ich.
»Du gehst nirgendwohin, Prinzessin. Ich verstehe, dass du sauer auf Darragh und Isla bist, und ihnen ist durchaus bewusst, dass sie Mist gebaut haben. Sieh sie dir doch an. Trotzdem solltest du jetzt vernünftig bleiben.« Er wandte sich an Isla. »Im Übrigen würde es mich interessieren, wie es eigentlich sein kann, dass du und deine Nichte immer noch so mächtig seid, während der Rest deines Clans kaum noch Kräfte hat. Das klingt völlig absurd.«
»So ist es aber«, antwortete Isla wie schon vorher und wischte sich verstohlen über die Wangen. »Noch heute zahlen wir den Preis dafür, dass wir damals eingegriffen und den Krieg zwischen den Drachen und euch Merlins beziehungsweise den Fae und den Morgans beendet haben. Als Konsequenz sind die Hexenkräfte bei einem Großteil der Clanmitglieder im Laufe der letzten acht Jahrhunderte immer schwächer geworden.«
Jared schüttelte skeptisch den Kopf. »Wie gesagt, das klingt verrückt. Mein Clan hat sich vor Urzeiten ewig mit den Morgans bekriegt, und trotzdem haben wir unsere Kräfte weder verloren noch sind sie schwächer geworden, im Gegenteil.«
Isla zuckte mit den Schultern. »Natürlich habe ich in den letzten Wochen versucht, mehr herauszufinden, doch ich kann dir nicht sagen, wie genau das passieren konnte. Fakt ist, dass sich die Fae mittlerweile eine ganze Armee aufgebaut haben. Ich wünschte wirklich, es wäre anders, aber da kann mein Clan einfach nicht mithalten. Und zu allem Überfluss sind wir inzwischen viel weniger als vor achthundert Jahren.«
»Trotz Überbevölkerung«, murmelte Jared. »Und wie kommt mein Clan da nun ins Spiel? Sollen wir jetzt etwa für Frieden sorgen?«
Sein pampiger Tonfall machte mich rasend, und ich hätte ihm am liebsten ins Gesicht geschlagen. »In der Tat, das solltet ihr«, fuhr ich ihn an. »Es wäre nur fair. Mein Onkel hat mir vielleicht nicht von dem Drachen im Holland Park erzählt, doch genau genommen sind wir nur deinetwegen in dieser Lage. Hättest du vor ein paar Wochen auch nur einmal nachgedacht –«
Jared warf die Arme in die Luft. »Komm mir bloß nicht schon wieder mit diesem dämlichen Drachenzauber, Prinzessin. Ich habe das Ganze nicht mit Absicht gemacht und mich längst dafür entschuldigt.«
»Das hast du nicht, und hör gefälligst auf, mich Prinzessin zu nennen!«
Er überging meinen Einwand und redete weiter. »Außerdem war mein Drachenzauber nur ein willkommener Aufhänger für die Fae. Hätte ich den Drachen in London nicht heraufbeschworen, hätten sie einen anderen Grund gefunden oder konstruiert, um euch in die Enge zu treiben, das weißt du genauso gut wie ich. Du willst es nur nicht wahrhaben, damit du jemandem die Schuld für eure Misere in die Schuhe schieben kannst, um dich besser zu fühlen. Ich kann das zwar in gewisser Weise nachvollziehen, aber –«
Ich machte einen drohenden Schritt in seine Richtung. »Jetzt hör mir mal zu! Mein Volk lässt sich nie etwas zuschulden kommen, dementsprechend hätten die Fae lange suchen müssen, um etwas gegen uns in der Hand zu haben. Gib es endlich zu: Du bist derjenige, der hier den größten Bockmist gebaut hat.«
Bevor Jared etwas erwidern konnte, klingelte das Telefon. Nicht mein Handy, sondern der Festnetzanschluss. Angespannt beobachtete ich, wie Darragh zur Kommode ging, abhob und sich meldete. Schweigend lauschte er einige Sekunden, dann trat er zu Isla und reichte ihr den Hörer.
»Für dich.«
Ich spannte mich noch mehr an, denn ich konnte mir denken, wer am anderen Ende der Leitung war. Islas Familie. Hatten sie unser Gespräch mitangehört oder war es bloß Zufall, dass sie ausgerechnet jetzt anriefen, wo Isla ihr Geheimnis verraten hatte?
Ich lauschte Islas Antworten, die allerdings kaum Aufschluss gaben, und war kurz davor, den Hörer an mich zu reißen, um die Murphys zu zwingen, endlich ihrer Aufgabe nachzukommen. Wie konnten sie uns nur all die Jahre glauben lassen, sie hätten nach wie vor die Macht, für Frieden zu sorgen, wenn dem nicht so war? War ihnen unser Schicksal dermaßen gleichgültig?
Ich zuckte zusammen, als mein Handy klingelte und gleichzeitig zu vibrieren begann. Ich ging hinüber zum Kamin, wo das Handy nach wie vor auf dem Sims lag, und sah Celmars Namen auf dem Display. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, wie Isla immer wieder zu mir herübersah. Ihr Blick war mitfühlend, traurig, ängstlich, und eine eisige Hand schien sich um mein Herz zu schließen. Warum meldete sich ihre Familie bei ihr, und warum rief mich plötzlich Celmar an? Einen Moment lang konnte ich das Handy nur anstarren, während es sich durch die Vibration immer weiter auf den Rand des Kaminsims zubewegte. Bevor es hinunterfallen konnte, griff ich danach und nahm den Anruf entgegen.
»Celmar, wie geht es euch?«
»Sharni, hier ist Cassandra.«
Cassandra musste mich hassen für das, was ich getan hatte. Ich hasste mich selbst dafür. Trotz allem schienen mir Regenwolken zu folgen und mir weiterhin Deckung zu geben, während ich mit Puck über Irland flog. Waren es echte Regenwolken? Oder hatte die Hexe in all der Aufregung vergessen, ihren Zauber zurückzunehmen?
Ich vermied es, darüber nachzudenken, was in Malahide passiert war, doch dann stieg mir der Duft von Aidens Lederjacke in die Nase, gemischt mit seinem Eigengeruch, was mir Tränen in die Augen trieb. Ich wollte nicht weinen, schon gar nicht um einen Drachen. Es war überhaupt nicht meine Art, so gefühlsduselig zu sein, aber ich konnte die Emotionen einfach nicht unterdrücken. Das schlechte Gewissen überrollte mich und raubte mir die Luft zum Atmen. Verzweifelt schloss ich die Augen, öffnete sie jedoch sofort wieder – denn ich sah Aiden vor mir, wie er in das tosende Meer stürzte und nicht wieder auftauchte.
Ich hatte mich entschieden, und es gab kein Zurück mehr. Außerdem wusste ich tief in mir, dass es die richtige Entscheidung gewesen war. Trotzdem bereute ich es mehr als alles andere in meinem Leben. Ich wünschte so sehr, es hätte einen besseren Weg gegeben. Doch selbst wenn mir jetzt noch etwas einfallen würde – es war vorbei. Ich musste endlich aufhören, an Aiden zu denken, und mich dem stellen, was vor mir lag. Ablenkung war jetzt pures Gift, zudem durfte niemand auch nur ahnen, wie schwer es mir gefallen war, den Auftrag der Königin auszuführen.
Inzwischen war ich in der Nähe von Limerick angekommen und drosselte instinktiv Pucks Tempo. Sollte ich einen Umweg über den Burren-Nationalpark nehmen, um mir selbst ein Bild von der Lage zu machen? Doch was, wenn ich dahinterkommen würde, dass Aidens Vater die Wahrheit gesagt und ich der falschen Seite geglaubt hatte? Nein! Kopfschüttelnd trieb ich Puck wieder an. Die Gefahr war zu groß, trotz der Wolkendecke von Drachen oder Fae entdeckt zu werden. Die Nachricht vom Mord am Drachenthronfolger war mit Sicherheit längst zum Drachenvolk durchgedrungen, und meine Landsleute würden sich fragen, was ich dort zu suchen hatte. Das durfte unter keinen Umständen passieren, denn dann wäre alles umsonst gewesen.
Schließlich erreichte ich die Dingle-Halbinsel und verlangsamte meinen Flug ein weiteres Mal. Eine Weile kreiste ich in der Luft, um sicherzugehen, dass mich niemand beobachtete, bevor ich landete und Puck im Einmachglas verstaute. In ausreichendem Abstand betrachtete ich den Zugang zu Fairyland. Alles blieb ruhig, hier war niemand; weder Fae noch Mensch. Dabei ging es mir in erster Linie gar nicht darum, dass mich jemand sah. Ich brauchte einen Moment, um mich zu sammeln, bevor ich der Königin und meinem Onkel gegenübertreten konnte. Du darfst dir unter keinen Umständen etwas anmerken lassen, Kailey.
Es fröstelte mich, und ich schlang die Arme um meinen Oberkörper. Dabei ertastete ich in der Tasche von Aidens Lederjacke die Sonnenbrille, mit der man angeblich durch verstärkten Fae-Glamour hindurchsehen konnte. Auf dem Weg nach Malahide hatte mir der Drachenprinz davon erzählt. Ich zögerte, doch meine Neugier war zu groß, also holte ich sie hervor. Als Fae konnte ich den Zugang zu Fairyland ohne Probleme erkennen. Was für Menschen oder Drachen nur ein gewöhnlicher Baumstamm war, war für mich eine Tür, die sich im Stamm deutlich abzeichnete. Was würde passieren, wenn ich die Brille aufsetzte? Kurzerhand tat ich es, woraufhin der Zugang grün-bläulich schimmerte und damit auch für den Brillenträger sichtbar wurde. Es überraschte mich, dass der Zauber bei mir überhaupt funktionierte.
Nachdem ich mich noch einmal vergewissert hatte, allein zu sein, straffte ich die Schultern und ging auf die Trauerweide zu. Ich schob die tief hängenden Triebe zur Seite und trat durch die schimmernde Stelle im Stamm – nur um völlig perplex stehen zu bleiben. Das war nicht Fairyland, zumindest nicht das Fairyland, das ich vor etwa einer Woche verlassen hatte. Schockiert sah ich mich um. Wo war das satte Grün der Wiesen? Das kräftige Blau des Himmels und des Meeres? Die intensiven Farben des Feenkelchs? Hatte es in den letzten Tagen zu wenig geregnet? Doch das würde nicht den blassen Himmel erklären, an dem im Gegensatz zur Menschenwelt keine einzige Wolke zu sehen war. Außerdem hatten wir in Fairyland noch nie zu wenig Wasser gehabt, hier herrschte stets die perfekte Harmonie. Momentan war allerdings nichts harmonisch. Es roch kräftig, würzig, süß, so wie immer, doch der Geruch stand in krassem Gegensatz zu dem Bild, das sich mir bot. Die Wiese wirkte verdorrt, die Trauerweide hinter mir schien zu verfaulen, und die Blumen ließen geradezu trostlos die Köpfe hängen. Außerdem entdeckte ich auf den ersten Blick kein einziges Insekt und hörte auch kein Surren oder Summen. Was zum Teufel war geschehen?
Da wurde mir bewusst, dass ich nach wie vor die Sonnenbrille auf der Nase trug. Augenblicklich schlug mein Herz schneller, und ich nahm sie mit zitternden Fingern ab. Als ich mich erneut umsah, war die Wiese saftig grün, der Himmel strahlend blau und der Feenkelch, der direkt neben der Trauerweide wuchs, von einem intensiven Rot, wie ich es gewohnt war. Ein ungutes Gefühl beschlich mich, und ich schob mir die Brille erneut auf die Nase, woraufhin sich mir wieder ein Trauerspiel bot. Einige Male sah ich abwechselnd durch die Brillengläser und darüber hinweg – der Effekt blieb derselbe.
Verdammt! Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht. Natürlich verfälschten die getönten Gläser der Sonnenbrille die Farben, aber es konnte unmöglich sein, dass dieser Eindruck dermaßen ausgeprägt war. Das ließ nur einen logischen Schluss zu: Jemand hatte einen Schleier über Fairyland gelegt, um den wahren Zustand vor uns Fae zu verbergen – verstärkter Fae-Glamour, denn nur das erklärte, warum mir die Brille ein unverschleiertes Bild bot.
In der Ferne hörte ich Soldaten aufmarschieren, doch ich konnte mich nicht von der Stelle rühren. Schwer atmend, als hätte ich einen Marathon hinter mir, lehnte ich mich nach hinten an den Stamm und schloss die Augen. Verdammt, verdammt, verdammt! Aiden und sein Vater hatten recht gehabt, mein Onkel hatte mich für seine Zwecke benutzt. Ein Gefühl von Verwirrung und Panik machte sich in mir breit, als mir klar wurde, was ich getan hatte. Und das nur, weil ich nicht bereit gewesen war, zu glauben, dass man mich tatsächlich als Marionette missbraucht hatte. Die Welt, wie ich sie gekannt hatte – die mir so vertraut war, dass ich dafür gestorben wäre –, hörte mit einem Schlag endgültig auf zu existieren.
Beruhige dich, Kailey, sonst kannst du nicht klar denken. Ich versuchte, meinen schnellen Atem unter Kontrolle zu bekommen, nahm die Sonnenbrille ab und verstaute sie sicher in Aidens Jackentasche. Es dauerte einen Moment, bis ich das Gesehene verarbeiten und die logische Konsequenz daraus ziehen konnte: Um Glamour über Fairyland zu legen und sämtliche Fae zu täuschen, brauchte es Macht, sehr viel Macht.
Die Königin! Nur die Fae-Königin war dazu fähig.
Offensichtlich lag Fairyland im Sterben. Um neue Gebiete erschließen zu können, reizte die Fae-Königin die Drachen bis aufs Blut und provozierte einen Krieg. Deshalb veranstaltete sie auch dieses Theater um die Drachenaktivität in London und ließ keinen Beweis für die Unschuld der Drachen gelten. So musste es sein. Nur so ergab das alles Sinn.
Mir wurde plötzlich eiskalt – die Fae-Königin spielte ein falsches Spiel. Zwar hieß es offiziell, dass sie nicht lügen konnte, doch das musste selbst gelogen sein. Sie führte uns allesamt hinters Licht, und ich hatte ihr vertraut. Wie hatte ich so naiv sein können, jahrelang all das zu glauben, was die Königin und mein Onkel mir aufgetischt hatten? Wie hatte ich blind ihre Befehle ausführen können? Aiden hatte recht gehabt, mit allem, und in diesem Moment wünschte ich mir nichts sehnlicher, als ihm genau das sagen zu können.
»Ergreift sie!«
Zu spät bemerkte ich die mit Schwertern bewaffneten Wachen, die sich auf mich stürzten und mich festhielten, bevor ich durch den Zugang im Stamm aus Fairyland flüchten konnte.
Ich wollte Hoffnung haben, mich an diesen Strohhalm klammern. Hatte Isla möglicherweise doch recht? Wenn mich Cassandra anrief, musste das bedeuten, dass sie meinem Bruder tatsächlich beistand. Doch ihre seltsam gepresste Stimme passte überhaupt nicht zu ihrer sonst so fröhlichen Art. Sie ließ jegliche Hoffnung aus mir weichen und jagte mir einen Schauer über den Rücken. Ich umklammerte das Handy so fest, dass meine Knöchel weiß hervortraten.
»Was ist passiert?«
Alle Augenpaare richteten sich auf mich, und ich wandte mich ab. Ich wollte keine Zeugen, sollte Cassandra schlechte Nachrichten für mich haben. Und dass dem so war, spürte ich mit jeder Faser meines Körpers. Den guten Instinkt hatte ich von meinem Vater geerbt – eines der wenigen Dinge, die wir gemeinsam hatten.
»Dein Bruder. Er … er …«
»Was ist mit Aiden?«
»Er ist tot, Sharni. Es tut mir so leid.« Cassandra begann, hemmungslos zu weinen.
Die Welt hörte auf, sich zu drehen, und einen Moment lang fürchtete ich, in Ohnmacht zu fallen. Ich suchte Halt und krallte mich am Kaminsims fest. Wie durch Nebel hörte ich Nialls Stimme, der sich erkundigte, ob alles in Ordnung sei. Ich konnte mich weder rühren noch antworten.Bestimmt hatte ich mich verhört. Cassandra war angeblich eine mächtige Hexe, und Celmar war nicht umsonst als Aidens Bodyguard ausgewählt worden. Es konnte einfach nicht sein, dass Aiden …
»Tot?«, flüsterte ich so leise, dass ich meine Stimme selbst kaum hörte.
»Sharni, es tut mir leid, dass ich es nicht verhindern konnte. Du musst wissen, dass ich eine Murphy-Hexe bin. Wenn ich auch nur geahnt hätte …« Sie schluchzte erneut auf.
Mein Hals fühlte sich dermaßen eng an, dass ich kaum Luft bekam. »Wie … wie konnte das passieren?«
»Kailey, sie hat ein falsches Spiel gespielt. Sie wollte deinen Bruder in den Connemara-Nationalpark begleiten, um dabei zu helfen, ihren Onkel Damian von eurer Unschuld zu überzeugen, damit der wiederum die Fae-Königin überzeugen kann. Doch als sie mit den Drachen in der Luft war und ich nichts mehr ausrichten konnte …«
Kailey? Kailey hat meinen Bruder auf dem Gewissen? Langsam erwachte ich aus meiner Schockstarre. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich Jareds fragenden Blick, spürte die Stille, die plötzlich um mich herum herrschte. Meine Fassungslosigkeit wich unbändiger Wut.
»Was hat dieses Miststück getan?«
»Kailey muss Celmar auf dem Weg nach Malahide irgendetwas in die Getränkeflasche gemixt haben, jedenfalls kam er wieder zurückgeflogen und verlor für kurze Zeit das Bewusstsein. Und als sie freie Bahn hatte … Sie hat Aiden abgeschossen, einfach so vom Himmel geholt wie einen verdammten Vogel. Dein Bruder ist ins Meer gestürzt und nicht wieder aufgetaucht.«
Ich unterdrückte das beklemmende Gefühl, das sich in mir ausbreiten wollte, als mir die Parallelen zum Mord an meiner Mutter bewusst wurden. Stattdessen horchte ich auf.
»Dann könnte er noch leben?«
»Wie denn, Sharni? Kailey hat ihn schwer verletzt. Außerdem hätten wir ihn doch gesehen, wenn er sich an die Wasseroberfläche gekämpft hätte.«
»Habt ihr etwa nicht nach ihm gesucht?«
»Natürlich habe ich einen Zauber gesprochen, doch der hat nichts bewirkt. Dein Bruder ist tot, Sharni, und es tut mir unendlich leid.«
»Wie geht es Celmar?«
Meine Stimme klang mit einem Mal kühl. Warum hatte Cassandra meinen Bruder nicht retten können? Laut Isla war sie doch im Gegensatz zum Rest der Sippe so machtvoll. Stattdessen hatten sich sie, Aiden und Celmar mit einer Fae zusammengetan. Was war nur in sie gefahren?
»Er ist noch ein bisschen wackelig auf den Beinen, und ihm ist ziemlich schlecht, aber ansonsten geht es ihm gut.«
»In Ordnung. Danke für deinen Anruf.«
Ich legte einfach auf, auch wenn es der Hexe gegenüber nicht fair war, doch ihre Gefühle waren mir egal. Sie hatte versagt, hatte Kailey nicht davon abgehalten, Jagd auf meinen Bruder zu machen. Langsam drehte ich mich zu den anderen um, und das leise Stimmengemurmel, das zwischenzeitlich eingesetzt hatte, verstummte. Anhand von Nialls Blick erkannte ich sofort, dass Isla dieselbe Nachricht erhalten und bereits an die anderen weitergegeben hatte.
Für einen Moment herrschte absolute Stille, dann kam Niall zu mir. Er zog mich an seine Brust und umarmte mich so fest wie nie zuvor. »Es tut mir so leid, Sharni.« Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
Seine Reaktion fachte meine Wut weiter an, und ich stieß ihn von mir. »Vielleicht ist Aiden gar nicht tot.«
Islas Blick wurde noch mitleidiger. »Er ist tot, Liebes. Je eher du das akzeptierst, desto besser. Ich habe dieselbe Nachricht von meiner Mutter bekommen.«
»Und woher hat sie diese Information? Doch bestimmt von Cassandra.« Ich schüttelte den Kopf. »Die Hexe hat Aidens leblosen Körper nicht gesehen. Wir müssen ihn suchen. Wenn er irgendwo da draußen ist, schwer verletzt …«
»Wenn er noch leben würde, hätte er sich an den Strand gerettet. Dann hätten sie ihn bestimmt gefunden. Auf der anderen Seite ist schließlich nur das offene Meer«, bemerkte Jared.
Ich wirbelte zu ihm herum. »Du hältst dich da raus, verstanden? Du hast schon genug angerichtet.« Meine Stimme war eine Mischung aus Fauchen und Knurren.
Bevor Jared etwas erwidern konnte, ging Darragh dazwischen, was vermutlich das Beste war. Ich hätte sonst für nichts garantieren können. »Ich verstehe, dass du das nicht wahrhaben willst«, sagte er ruhig, »aber die Augen vor der Wahrheit zu verschließen, bringt nichts. Die Queen’s Arrows hatten es auf dich abgesehen, und es ist nur logisch, dass die Fae auch Aiden ins Visier genommen haben. Immerhin ist er der Thronfolger.«
»Das sagst ausgerechnet du, der mir vor höchstens einer halben Stunde noch weismachen wollte, dass es meinem Bruder gut geht?«
»Ja, weil ich niemanden verrückt machen wollte ohne Beweise, doch nun haben wir sie. Islas Nichte war dabei, als diese Fae Aiden umgebracht hat, und natürlich konnte sie Aiden danach nicht mehr sehen. Er ist schließlich ins Meer gestürzt.«
Ich schüttelte nach wie vor den Kopf. Möglicherweise hatten sie recht, doch ich wollte nicht daran glauben. Ich war nicht bereit, meinen Bruder gehen zu lassen, die Wut gehen zu lassen, denn dann würden Traurigkeit und Verzweiflung nach mir greifen, und dem durfte ich nicht nachgeben. Nicht hier, vor all den anderen, nicht jetzt.
Niall packte mich an den Schultern. »Hör zu, ich wünschte auch, dass es anders wäre, aber wir müssen es akzeptieren und überlegen, wie es weitergehen soll.«
»Ich will nach Malahide und mich selbst von Aidens Tod überzeugen.«
»Und wenn es eine Falle ist?«, fragte Isla. »Was, wenn dich die Fae dort erwarten?«
»Cassandra hätte mir gesagt, wenn Kailey noch dort wäre oder andere Fae.«
Jared schnaubte. »Wenn ich das richtig sehe, hast du sie weder danach gefragt noch zu Wort kommen lassen. Außerdem ist es jetzt so oder so zu spät, selbst wenn dein Bruder seinen Verletzungen nicht sofort erlegen ist.«
Wütend funkelte ich ihn an und versuchte, mich zu beherrschen. Ich versuchte es wirklich, aber es war zwecklos. Mit seiner arroganten, selbstgefälligen Art strapazierte Jared meine Nerven schon die ganze Zeit. Anfangs hatte ich es noch ignorieren können, weil wir auf seine Hilfe angewiesen waren. Jetzt, wo das Worst-Case-Szenario eingetreten war und er sich weder schuldbewusst zeigte noch bereit war, uns aus dem Schlamassel zu helfen, in dem wir nur seinetwegen steckten, konnte ich es nicht länger – und wollte es auch nicht. Ich brauchte endlich ein Ventil für meine Wut, und Jared war genau der Richtige dafür.
Mit einem Schrei stürzte ich mich auf ihn und prügelte blind vor Wut auf ihn ein, womit er nicht gerechnet hatte. Er verlor das Gleichgewicht, und wir wären beinahe gestürzt. Ich hielt ihn fest, bewahrte ihn vor dem Hinfallen, nur um ihn gleich darauf in den Magen zu schlagen. Jared wehrte sich nicht. Vielleicht war er zu perplex, vielleicht wollte er es auch nicht, weil ich ein Mädchen war – oder er hatte tatsächlich ein schlechtes Gewissen, wobei mir diese Option am unwahrscheinlichsten schien. Immerhin beteuerte er permanent seine Unschuld. Wie auch immer, es war mir egal. Was spielte es für eine Rolle? Nur seinetwegen musste ich jetzt fürchten, dass mein Bruder tatsächlich tot war. Aber Aiden durfte nicht tot sein.
Um mich nicht der Wahrheit stellen zu müssen, schlug ich auf Jared ein, nahm kaum wahr, wie die anderen auf mich einredeten. Die Wut ließ einfach nicht nach, im Gegenteil. Mit jedem Schlag stieg sie weiter an, bis ich das Gefühl hatte, die Drachin in mir nicht länger zurückhalten zu können.
Als ein unmenschliches Knurren aus meiner Kehle drang, wurde ich plötzlich von zwei starken Armen umklammert und von Jared weggerissen – Darragh.
»Lass mich los, verdammt, oder du bist der Nächste. Warum mischst du dich da ein?« Ich wehrte mich mit Händen und Füßen, doch Darragh war stärker als ich. Mühelos hielt er mich fest, bis ich den Widerstand schließlich aufgab.
Es wurde nahezu beängstigend still im Wohnzimmer. Alle Augenpaare waren auf mich gerichtet, doch niemand schien mich für mein Verhalten zu verurteilen – nicht einmal Jared. Ich sah Verständnis, Trauer und Mitgefühl, was fast noch schlimmer war als Wut. Mit der Wut der anderen hätte ich umgehen können, hätte mich an meine eigene klammern können, doch so musste ich sie ziehen lassen und schaffte es kaum, mich noch auf den Beinen zu halten.
Die Stille wurde unterbrochen, als mein Handy erneut klingelte. Ich rührte mich nicht, also griff Isla nach dem Telefon. Sie sah vom Display zu mir.
»Es ist dein Vater.«
Schnell riss ich ihr das Handy aus der Hand. »Dad!«
Ich hörte ihn Luft holen und zittrig ausatmen. »Du weißt es bereits.«
Und mit diesen vier kleinen Worten brach meine Welt endgültig in sich zusammen. Ich konnte die Augen nicht länger vor der Wahrheit verschließen: Mein Bruder war tot.
Die Finger der beiden Wachen bohrten sich in meine Arme und schmerzten genauso wie die Tatsache, dass ich mich all die Jahre lang geirrt hatte. Ich war der Fae-Königin auf den Leim gegangen, hatte so viel falsch gemacht, und wie es aussah, musste ich jetzt für meine Treue und Gutgläubigkeit bezahlen.
Dazu war ich allerdings nicht bereit.
»Lasst mich gehen.« Ich betonte jedes einzelne Wort und versuchte, mich loszureißen, doch es brachte nichts. Die Griffe der beiden Wachen verstärkten sich nur noch.
»Du bist festgenommen. Befehl der Königin«, sagte einer der beiden.
»Bitte was?« Ungläubig starrte ich von einem zum anderen. Meinten sie das ernst? Sie sahen allerdings nicht so aus, als würden sie scherzen.
Warum wollte die Königin mich festnehmen lassen? Es gab keinen Grund für sie, daran zu zweifeln, dass ich ihren Befehlen gefolgt war, demnach dürfte sie auch nicht an meiner Loyalität zweifeln. Oder war sie etwa hinter die Wahrheit gekommen? Ahnte sie, dass ich selbst Zweifel an ihren Machenschaften hatte? Unauffällig checkte ich die Lage und versuchte, mir meine Chancen auszurechnen, aus Fairyland zu entkommen. Ich brauchte nur ein paar Sekunden Vorsprung, vielleicht eine halbe Minute, dann könnte ich Puck aus dem Glas holen und davonfliegen. Die Wachen hatten mit Sicherheit keine Königinnenlibellen dabei, und ihren Pfeilen konnte ich ausweichen. Außerdem hatte ich selbst Pfeil und Bogen bei mir, konnte mich also auch verteidigen. Es waren jedoch einfach zu viele Wachen. Abgesehen von den beiden, die mich nach wie vor festhielten, standen vier weitere bewaffnete Fae im Halbkreis vor uns. Möglicherweise sollte ich mich geschmeichelt fühlen, dass mich die Königin als eine dermaßen große Bedrohung empfand, doch in diesem Moment war ich einfach nur wütend. Die Wahrscheinlichkeit, bei dem Fluchtversuch zu sterben, war hoch. Sollte ich es dennoch riskieren? Oder war es besser, mich ruhig zu verhalten und mit der Königin zu verhandeln? Immerhin kannte ich die Wahrheit über Fairyland. Wenn ich es geschickt anstellte, konnte ich dieses Wissen vielleicht als Druckmittel einsetzen.
Ich straffte die Schultern. »Bringt mich bitte zur Königin, ich möchte mit ihr reden.«
Die Wachen sahen sich an und lachten. »Seit wann darf eine Gefangene Forderungen stellen? Du kommst erst mal in den Kerker, dann wird die Königin entscheiden, wie es weitergeht. Wenn du Glück hast, bekommst du vorher noch eine Anhörung.«
Vorher? Anhörung? Das Blut gefror in meinen Adern. Das klang nicht gut, gar nicht gut; als wäre die Königin tatsächlich hinter die Wahrheit gekommen, so wie ich hinter ihre gekommen war. Doch ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen.
»Was wird mir denn zur Last gelegt? Ich bin vielleicht eine Gefangene, dennoch habe ich Rechte. Und eins dieser Rechte ist es, dass ihr mir sagt, was mir vorgeworfen wird.«
»Du hast jedes Recht verwirkt, als du dich dazu entschlossen hast, allein zu handeln«, erwiderte eine der Wachen und zerrte an meinem Arm.
Ich habe nicht allein gehandelt. Die Worte lagen mir auf der Zunge, doch bevor ich sie aussprechen konnte, trat plötzlich Damian aus dem Schatten einer Eiche hervor. Unsere Blicke trafen sich nur kurz – zu kurz, um zu erahnen, was er dachte.
»Was ist hier los?«, wandte er sich an einen der Wachmänner.
»Wonach sieht es denn aus? Wir nehmen Kailey Ainsley auf Befehl der Königin fest.«
Ich unterdrückte ein Stirnrunzeln. Zwar hatte die Fae-Königin sämtliche Macht inne, und ihr Wort war Gesetz, doch mein Onkel war ihr wichtigster Berater. Es war alles andere als üblich, dass er dermaßen respektlos behandelt wurde.
Die Wachen wollten an ihm vorbeitreten, doch Damian stellte sich ihnen in den Weg. Falls er ebenso verwirrt war wie ich, ließ er es sich nicht anmerken. »Moment. Wieso sollte die Königin meine Nichte festnehmen lassen? Hier muss ein Missverständnis vorliegen. Kailey kommt gerade von einer Mission zurück, die sie zur vollsten Zufriedenheit der Königin erfüllt hat. Ihr könnt sie gern fragen, ich war gerade bei ihr.«
»Das wird nicht nötig sein, denn wir haben unseren Befehl auch soeben bekommen.«
»Verstehe.« Damian nickte. »Wenn das so ist, würde ich gern mit Kailey bei der Königin vorsprechen, um die ganze Sache aufzuklären.«
»Das wird nicht möglich sein, ebenfalls Anweisung von oben. Und jetzt aus dem Weg.«
Erneut wollten sich die Wachen an Damian vorbeidrücken, und ich schluckte. Was sollte das alles? Wie konnte es sein, dass sein Wort kein Gewicht mehr hatte – und dass die Königin mir vorwarf, eigenständig gehandelt zu haben?
Ich musste etwas unternehmen. Wenn die Wachen mich erst mal in den Kerker gebracht hatten, gab es kein Entkommen mehr, zumal mein Onkel nicht mehr dieselbe Stellung zu haben schien wie noch vor wenigen Tagen. In diesem Moment fing ich kurz seinen Blick auf, der so eindringlich war, dass ich auch ohne Worte verstand, was er mir sagen wollte. Keine Sekunde später hatte er zwei Messer gezogen, die sich in Schwerter verwandelten. Gleichzeitig warf ich mich mit meinem ganzen Gewicht nach hinten und riss mich los.
Im Kampf gegen Aiden hatte ich dummerweise ein Schwert verloren, doch ich konnte mich auch mit einer Waffe verteidigen und womöglich sogar angreifen. Gerade noch rechtzeitig hielt ich die Klinge in der Hand. Die Wachen waren zwar überrumpelt, aber sie reagierten dennoch extrem schnell – als hätten sie damit gerechnet, dass wir uns nicht so leicht geschlagen geben würden.
Beide Wachen, die mich eben noch festgehalten hatten, stürzten sich mit ihren Schwertern auf mich. Ich machte einen Ausfallschritt nach hinten, um etwas Abstand zwischen uns zu bringen, doch natürlich schlossen sie die Lücke sofort. Verdammt, wie kam ich bloß an ein zweites Schwert? Mit einem würde es auf Dauer schwierig werden, mich gegen die vier Schwerter der Wachen zu wehren. Selbst mit zwei Waffen wäre ich noch im Nachteil. Hastig warf ich einen Blick zu Damian, doch da er gleich vier Wachen abwehren musste, konnte er keines seiner Schwerter entbehren.
Obwohl er lieber Pfeil und Bogen benutzte, schlug er sich richtig gut. Er drehte sich im Kreis, während er geschickt seine Klingen gegen die der Wachen einsetzte, und hielt sich damit alle gleichzeitig vom Leib. Allerdings würde irgendwann seine Kondition nachlassen oder er machte einen Fehler. Und was dann?
Mir ging es mit einem Schwert nicht viel besser. Hauptsächlich trieben mich die Wachen über die Wiese vor sich her, und es war nur eine Frage der Zeit, bis sie die Oberhand gewannen. Mist, Mist, Mist!
Da fiel mir Aidens Manöver ein, als wir in der Challoner’s Corner gegeneinander gekämpft hatten, und ein Lächeln stahl sich auf meine Lippen. Ich gab vor, rückwärts über eine Wurzel zu stolpern, doch bevor die Wachen zuschlagen konnten, trat ich mit voller Wucht von unten gegen zwei der Klingen. Ein Fae verlor das Gleichgewicht, der andere ließ eine seiner Waffen fallen. Ich sprang zurück auf die Füße und drehte das herabfallende Schwert mit meinem eigenen in der Luft um hundertachtzig Grad. Nun konnte ich es am Griff packen, ehe es auf der Wiese landete. Die Wachen hatten offensichtlich nicht mit einer Aktion wie dieser gerechnet und brauchten einen Moment, um sich zu sortieren, doch gleich darauf gingen sie erneut auf mich los. Jetzt hatte ich allerdings deutlich bessere Chancen. Ich war nicht nur in der Lage, ihre Hiebe problemlos zu parieren, ich konnte auch endlich selbst angreifen. Die Wachen waren zwar gut, sonst hätte die Königin nicht ihnen den Auftrag gegeben, mich gefangen zu nehmen, allerdings waren sie schon älter und gehörten definitiv nicht zu den besten Kriegern Fairylands. Wenn dem so wäre, wären sie von der Königin längst zu den Queen’s Arrows gesteckt oder auf eine Mission geschickt worden. Ich hatte also durchaus eine realistische Aussicht auf den Sieg.
Ich versuchte, sie gegeneinander auszuspielen. Drei Waffen, die sich auf nur ein Ziel konzentrierten – das musste ich zu meinem Vorteil nutzen. Die beiden Fae schienen allerdings vertraute Kampfpartner zu sein, denn sie kamen sich so gut wie nicht ins Gehege, egal, was ich anstellte. Zumindest schaffte ich es auf diese Weise nicht, sie zu entwaffnen. Also zog ich das Tempo an. Ich ließ ihnen keine Verschnaufpause, wie ich es bei Aiden getan hatte. Wehmut erfasste mich, als ich an ihn dachte, doch ich drängte das Gefühl und die Erinnerung an ihn zurück. Ich konnte es mir nicht erlauben, unkonzentriert zu sein. Jeder Schritt entschied über Leben oder Tod.
Meine Klingen schlugen gegen die der Wachen, während wir uns im Kreis drehten und ich sie dazu zwang, immer wieder die Position zu wechseln. Mein Atem ging mittlerweile schnell, auch die Männer keuchten, und ich fürchtete, dass die Kampfgeräusche weitere Krieger anlocken würden. Vielleicht konnte ich sie müde kämpfen, doch das würde zu lange dauern. Ich musste mir etwas einfallen lassen, um sie endgültig aus der Reserve zu locken, also griff ich erneut zu einem Trick. Bei ihrer nächsten Attacke ließ ich mich rücklings zu Boden fallen und stieß einen Schmerzensschrei aus, um eine Verletzung vorzutäuschen. Als die beiden sich näherten, hakte ich meine Beine um die des vorderen Mannes und drehte mich zur Seite, woraufhin er das Gleichgewicht verlor. Ich riss ihn auf mich, als gleichzeitig die Schwertklinge seines Kameraden niedersauste. Sie schnitt in den Rücken des Fae, der einen Schrei ausstieß und mich mit weit aufgerissenen Augen ansah, bevor er auf mir zusammenbrach. Sofort stieß ich ihn von mir und rollte mich zur Seite. Nur eine Sekunde später traf die Klinge des zweiten Wachmanns die Stelle, an der ich eben noch gelegen hatte. Ich sprang zurück auf die Füße und attackierte ihn. Prinzipiell wollte ich ihn nur unschädlich machen, aber notfalls würde ich auch seinen Tod in Kauf nehmen. Damian und ich durften es keinesfalls riskieren, von einer ausgeschalteten Wache aus dem Hinterhalt erneut angegriffen zu werden, denn das konnte unseren eigenen Tod bedeuten.
Ich warf einen schnellen Blick in Damians Richtung. Mein Herz machte einen Satz, als ich sah, wie genau in diesem Moment eine Klinge seinen Arm streifte. Er hielt sich tapfer, verzog nur kurz das Gesicht und kämpfte weiter, während Blut auf die Wiese tropfte. Doch die Wachen sahen ihre Chance gekommen und griffen ihn nun vermehrt auf der verletzten Seite an. Ich musste ihm dringend helfen, wenn ich nicht dabei zusehen wollte, wie er starb. Und das wollte ich keinesfalls, nicht nur, weil sich die Wachen dann auf mich stürzen würden.
Ja, Damian hatte mich für seine Zwecke benutzt, aber wir waren trotz allem eine Familie. Er war immer für mich da gewesen, er half mir auch jetzt und setzte damit nicht nur seine Zukunft, sondern auch sein eigenes Leben aufs Spiel. Ich würde nicht zulassen, dass er von seinen Landsleuten ermordet wurde – Landsleute, die dienstbeflissen jeden Auftrag ausführten, den die Königin ihnen gab, ohne je etwas zu hinterfragen. So, wie ich es bis vor Kurzem auch getan hatte.
Ich ließ meinen verbliebenen Gegner nah an mich herankommen und duckte mich blitzschnell zur Seite, als er mit voller Kraft zustieß. Er geriet ins Taumeln, und ich verpasste ihm einen Tritt, woraufhin er endgültig das Gleichgewicht verlor und vornüberkippte. Ich rammte ihm eines meiner Schwerter ins Bein und hoffte, ihn damit lange genug außer Gefecht zu setzen, um meinem Onkel helfen und fliehen zu können. Ich eilte zu Damian, während die vier Wachen um ihn herum voll und ganz auf ihn konzentriert waren, sodass ich ohne Probleme eine von ihnen angreifen konnte – das war zumindest der Plan, denn plötzlich wirbelte einer der Wachmänner herum und holte aus. Ich sprang nach hinten, konnte aber nicht verhindern, dass mich die Klinge streifte. Den Schmerz nahm ich kaum wahr.
Der Fae und ich lieferten uns einen erbitterten Kampf, die Klingen prallten unablässig gegeneinander. Wir schienen ebenbürtig zu sein, was mich wunderte. Wie konnte er so gut, mir aber völlig unbekannt sein? Nicht einmal die Manöver, die Damian mir beigebracht hatte, halfen mir weiter, denn der Fae beherrschte sie ebenfalls. Wenigstens konnte sich mein Onkel nun wieder gegen die Angreifer behaupten, wie mir ein kurzer Blick verriet.
Da kam mir eine Idee. Der Fae konzentrierte sich nur auf mich und bekam überhaupt nicht mit, was hinter ihm geschah. Den anderen Wachen musste es genauso gehen. Zumindest forderte mein Onkel sie extrem, obwohl sie in der Überzahl waren. Seitwärts bewegte ich mich auf sie zu und baute immer wieder einen Schlenker ein, damit mein Kampfpartner meinen Plan nicht im Voraus erriet. Als wir die anderen fast erreicht hatten, erhöhte ich das Tempo, mit dem ich zuschlug, und zwang den Fae dazu, immer weiter rückwärtszugehen, auch wenn er sich nach wie vor gut behauptete. Schließlich prallte er gegen eine andere Wache. Beide Männer schraken zusammen und waren eine Sekunde unachtsam, was ich sofort ausnutzte, genau wie mein Onkel. Wir schalteten die Wachen gleichzeitig aus und kämpften dann Rücken an Rücken weiter gegen die beiden verbliebenen Männer. In der Überzahl waren sie gut gewesen, doch jetzt, einer gegen einen, zeigten sich ihre Schwächen. Ich hatte keinerlei Probleme, meinen Kampfpartner in die Knie zu zwingen, Damian ebenso wenig.
Wir fesselten die Wachen an den Stamm der Eiche, aus deren Schatten Damian vorhin getreten war, und sahen einander an. Zeit zum Luftholen blieb uns allerdings nicht, denn in der Ferne waren bereits die Rufe und das Aufmarschieren weiterer Soldaten zu hören. Sie kamen, um uns gefangen zu nehmen, und nachdem wir uns gegen die vorherigen Wachen gewehrt hatten, würde uns kein schönes Schicksal ereilen, sollten sie uns zu fassen kriegen. Vermutlich würden sie uns sofort töten.
»Los, wir müssen hier weg.« Damian griff nach meiner Hand und zog mich mit sich.
Wir sprinteten über die Wiese auf die Trauerweide zu und flohen durch das Portal in die Menschenwelt. Im Rennen holte ich das Einmachglas aus meiner Jackentasche, und sobald wir die menschliche Seite der Dingle-Halbinsel betreten hatten, öffnete ich es.
Puck brauchte länger als sonst, um sich zu verwandeln, und sie sah ziemlich erschöpft aus. Der Kampf gegen den Drachenprinzen und die Flucht vor Cassandra hatten sie sehr angestrengt, auch wenn wir ein gemäßigteres Tempo angeschlagen hatten, nachdem wir genug Abstand zwischen uns und die Hexe gebracht hatten. Ich konnte nur hoffen, dass Puck die Pause gereicht hatte, um jetzt noch einmal Vollgas zu geben. Wir mussten Fairyland so weit wie möglich hinter uns lassen, bevor wir an Rast denken konnten, und sollten uns die Fae auf Königinnenlibellen verfolgen … Ich verdrängte den Gedanken, denn das würde vermutlich unser Todesurteil bedeuten.
Ich schwang mich auf Pucks Rücken und sah mich nach Damian um, während Puck bereits über dem Boden schwebte. Er hockte vor einer weiteren Trauerweide und schien dort etwas zu suchen. Ich flog mit Puck zu ihm.
»Was machst du denn da?«, zischte ich und sah mich panisch um. Viel Vorsprung hatten wir nicht, wir mussten uns beeilen. Oder wollte Damian möglicherweise gar nicht mit mir fliehen? Hoffte er, seinen Kopf noch einmal aus der Schlinge ziehen zu können?
Da holte er ein Einmachglas und einen Rucksack aus einer Öffnung im Baumstamm. »Bin schon fertig.«
Er befreite seine eigene Libelle, und nur wenige Sekunden später waren wir in der Luft. Wir flogen über die Baumkronen hinweg, doch bevor wir das Meer erreichten, hörte und spürte ich anhand eines Luftzugs, wie ein Pfeil meine Wange um nur wenige Millimeter verfehlte. Fast gleichzeitig stieß Puck einen markerschütternden Schrei aus.
Nur mit Mühe konnte ich ein Schluchzen unterdrücken. Ich sank an Ort und Stelle auf den Boden. »Dann ist es wirklich wahr?«, flüsterte ich.
»Dein Bruder ist tot.«
Lautlos lief mir eine Träne über die Wange, hastig wischte ich sie weg. »Und was nun?«
»Was spielt es für eine Rolle? Aiden ist …« Vater schien die Kraft zu fehlen, weiterzureden. »Es tut mir so leid, ich hätte euch niemals dieser Gefahr aussetzen dürfen. Wenigstens bist du in Sicherheit. Das bist du doch, oder?«
»Ich bin bei Darragh und Isla.«
Vater atmete erleichtert ein. »Das ist gut, dann bleib dort. Du bist jetzt meine Thronfolgerin. Das heißt, dass die Fae nicht lockerlassen und dich erst recht jagen werden. Darragh wird dich beschützen.«
»Und was ist mit dir?«
»Ich komme klar, Sharni. Mach dir keine Gedanken.«
»Aber –« Du klingst gar nicht gut, wollte ich sagen, doch ich kam nicht dazu, es auszusprechen, denn Vater hatte bereits aufgelegt.
Du bist jetzt meine Thronfolgerin. Seine Worte hallten in meinem Kopf wider. Sollte Vater etwas passieren, wäre ich demnach … Königin.
Ich schluckte. Ich war keine Königin, es war Aidens Aufgabe, in Vaters Fußstapfen zu treten. Ich war dieser Verantwortung nicht gewachsen. Das sah man schon daran, dass ich den Fae längst nachgegeben hätte und in diesen Krieg gezogen wäre. Ich verstand nicht, wie Dad den Frieden weiterhin in Betracht ziehen konnte. Oder tat er das gar nicht? Wollte er mich deshalb nicht in der Nähe haben, um mich aus der Schusslinie zu halten?
Er hatte allerdings nicht so geklungen, als würde er sich für einen Krieg rüsten. So traurig und verzweifelt hatte ich ihn nur ein einziges Mal erlebt – als meine Mutter gestorben war, umgebracht von Fae. Und nun hatten die Fae auch meinen Bruder auf dem Gewissen.