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Familien sind schwierig. Diese hier ist tödlich.
Daisy Darker hatte schon immer ein schwieriges Verhältnis zu ihrer Familie. Jahre ist es her, dass sie alle im selben Raum waren. Als Daisys Großmutter zu ihrem achtzigsten Geburtstag an Halloween einlädt, gleich es daher einem Wunder, als sich alle in der alten Villa auf einer Klippe in Cornwall einfinden. Dorthin gelangt man nur bei Ebbe. Sobald die Flut einsetzt, ist die nicht gerade harmonische Familie für acht Stunden in dem düsteren Haus gefangen. Plötzlich wird ein Familienmitglied tot aufgefunden. Hilfe von außen lässt sich nicht rufen, ein Sturm kappt jegliche Verbindung. Alle sind verdächtig. Bei einer Leiche bleibt es nicht, und Daisy entdeckt Dinge über ihre Familie, die sich in ihren schlimmsten Albträumen nicht hätte ausmalen können.
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Seitenzahl: 474
Das Buch
Daisy Darker hatte schon immer ein schwieriges Verhältnis zu ihrer Familie. Die Darkers sind ... eigenwillig. Nicht gerade gesellig. Jahre ist es her, dass sie im selben Raum waren. Als Daisys Großmutter zu ihrem achtzigsten Geburtstag an Halloween einlädt, gleicht es daher einem Wunder, als sich im Laufe des Abends tatsächlich alle in Seaglass einfinden. Seaglass, das ist die windschiefe alte Villa auf einer Klippe in Cornwall. Dorthin gelangt man nur bei Ebbe, indem man übers Watt stapft. Sobald die Flut einsetzt, ist die nicht gerade harmonische Familie für acht Stunden in dem düsteren Haus gefangen. Alte Streitigkeiten köcheln hoch, plötzlich wird ein Familienmitglied tot aufgefunden. Hilfe von außen lässt sich nicht rufen, ein Sturm kappt jegliche Verbindung zur Außenwelt. Und es bleibt nicht bei einer Leiche …
Die Autorin
Alice Feeney war 15 Jahre als Journalistin für die BBC tätig, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Ihre Bücher wurden in mehr als 30 Sprachen übersetzt. Mit ihrer Familie lebt sie in Devon, England. Flutnacht ist ihr erster Roman bei Heyne.
Alice Feeney
Flut
nacht
Eine Familie. Eine Nacht. Ein tödliches Geheimnis.
Thriller
Aus dem Englischen von Anke Kreutzer
Wilhelm Heyne Verlag
München
Die Originalausgabe DAISY DARKER erschien erstmals 2022 bei Macmillan, an imprint of Pan Macmillan, London.
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Deutsche Erstausgabe 10/2024
Copyright © 2024 by Alice Feeney
Copyright © 2024 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Christiane Wirtz
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design nach einer Vorlage von Neil Lang/Mcmillan Art Department unter Verwendung von Bildmaterial von Shutterstock.com (Oskar Calero, Alexander Tolstykh, Kovaleva_Ka)
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN: 978-3-641-32325-7V001
www.heyne.de
Anmerkung des Agenten
Ich habe diesen Roman letztes Jahr kurz nach Weihnachten hereinbekommen. Er war in braunes Papier eingewickelt, mit einem Bindfaden verschnürt und an mein Büro in London adressiert. Ich habe keine Ahnung, wer ihn mir geschickt hat. Es war kein Begleitschreiben beigefügt, nicht einmal eine Notiz. Das Päckchen enthielt ein Manuskript. Die meisten Autoren schicken ihre Texte heutzutage per E-Mail, und normalerweise nehme ich keine unaufgeforderten Einsendungen an, doch als ich den Namen auf der Titelseite sah, stockte mir der Atem. Die Urheberin des Romans war nämlich schon seit einer ganzen Weile tot. Ich glaube nicht an Gespenster, habe aber auch keine rationale Erklärung dafür. Ich kenne die Autorin gut genug, um zu wissen, dass niemand anders diese Geschichte hätte schreiben können. Nach sehr reiflicher Überlegung bin ich zu dem Schluss gelangt, dass diese Geschichte es verdient, erzählt zu werden. Aus rechtlichen Gründen hat der Verlag die Namen einiger Figuren geändert, jedoch kein einziges Wort der Erzählung selbst – wenn es denn überhaupt eine erfundene Erzählung ist. Ich fürchte nämlich, dass zumindest einiges von dem Geschriebenen wahr sein könnte.
Kapitel eins
Ich wurde mit einem gebrochenen Herzen geboren.
Der Tag, an dem ich das Licht dieser einsamen kleinen Welt zum ersten Mal erblickt habe, war auch der Tag, an dem ich zum ersten Mal gestorben bin. Damals hat niemand meinen Herzfehler erkannt. 1975 war die Medizin noch nicht so weit wie heute, und meine bläuliche Hautfarbe wurde meiner traumatischen Geburt zugeschrieben. Zu allem Überfluss war ich nämlich eine Steißgeburt. Mit einer Spur von Ungeduld und der Begründung, nicht beide von uns retten zu können, forderte der erschöpfte Arzt meinen Vater auf, sich zwischen mir und meiner Mutter zu entscheiden. Nach kurzem Zögern, für das er den Rest seines Lebens büßen musste, entschied er sich für seine Frau. Doch die Hebamme überredete mich zu einem ersten Atemzug – zum Erstaunen aller und wider mein besseres Wissen –, und als ich schrie, strahlte ein ganzer Kreißsaal voll fremder Menschen. Mit Ausnahme meiner Mutter. Sie weigerte sich, mich auch nur anzusehen.
Meine Mutter hatte sich einen Sohn gewünscht, denn bei meiner Geburt gab es bereits zwei Töchter. Sie benannte uns alle nach Blumen. Meine älteste Schwester heißt Rose, ein Name, der sich als überaus passend erweisen sollte, denn sie ist schön, wenngleich nicht ohne Dornen. Die Nächste, die vier Jahre vor mir auf die Welt kam, war Lily. Das mittlere Blumenkind hat einen sehr hellen Teint, ist hübsch und für den einen oder anderen giftig. Eine Zeit lang weigerte sich meine Mutter, auch nur darüber nachzudenken, wie ich heißen sollte, doch am Ende wurde ich auf den Namen Daisy getauft. Ein Plan B ist grundsätzlich wider ihre Natur, daher besitzt keine von uns einen zweiten Vornamen. Es hätte viele andere – bessere – Optionen gegeben, doch sie nannte mich nach einer Blume, die oft gepflückt und noch öfter niedergetrampelt oder abgemäht wird. Die von ihrer Mutter am wenigsten geliebten Kinder sind sich ihrer Stellung stets bewusst.
Schon komisch, wie die Menschen in ihre Namen hineinwachsen, als ob eine Buchstabenfolge über das künftige Glück oder Unglück der Person entscheiden könnte. Natürlich ist es nicht dasselbe, den Namen von jemandem zu kennen oder denjenigen selbst, doch Namen sind der erste Eindruck, an dem wir alle messen und gemessen werden. Mir hat das Leben also den Namen Daisy Darker verpasst, und ich bin hineingewachsen, das darf ich wohl sagen.
Das zweite Mal bin ich genau fünf Jahre später gestorben, als ich an meinem Geburtstag einen totalen Herzstillstand erlitt. Vielleicht verweigerte mein Herz aus Protest seinen Dienst, weil ich ihm mit meinem Versuch, bis nach Amerika zu schwimmen, zu viel abverlangte. Eigentlich wollte ich von zu Hause weglaufen, war jedoch besser im Schwimmen und hoffte daher, es mit ein bisschen Rückenschwimmen bis zum Mittag nach New York zu schaffen. Wie sich zeigte, schaffte ich es nicht einmal aus der Blacksand Bay heraus, und der Versuch endete tödlich. Das wäre es für mich dann wohl gewesen, hätten mich nicht die noch halb aufgeblasenen orangefarbenen Schwimmflügel über Wasser gehalten und wäre mir meine zehnjährige Schwester Rose nicht zu Hilfe gekommen. Sie schwamm zu mir, schleppte mich bis ans Ufer ab und holte mich mit einer energischen Herz-Lungen-Massage, bei der sie mir zwei Rippen brach, zurück ins Leben. Zu meinem Glück hatte sie gerade erst bei den Pfadfindern ihr Erste-Hilfe-Abzeichen gemacht. Zuweilen beschleicht mich der Verdacht, dass sie es bereut hat. Ich meine, mich zu retten. Das Abzeichen hat sie geliebt.
Nach diesem zweiten Tod war mein Leben nie wieder dasselbe, da nun zur Gewissheit wurde, was sie wahrscheinlich längst alle ahnten: Ich hatte einen Defekt.
All die Ärzte, die meine Mutter mit mir aufsuchte, als ich fünf war, spulten ein und denselben Text ab, mit ein und demselben Gesichtsausdruck, als hätten sie ein und dieselbe jämmerliche Rolle einstudiert. Sie waren sich alle darin einig, dass ich nicht älter als fünfzehn werden würde. Jahrelang untersuchten sie mich, um zu beweisen, wie wenig Jahre mir noch verblieben. Dank meiner seltenen Krankheit waren diese Mediziner von mir fasziniert. Manche reisten sogar aus dem Ausland an, nur um den Operationen an meinem offenen Herzen beizuwohnen. Ich fühlte mich zugleich wie ein Superstar und ein Monster. Trotz aller Anstrengung konnte das Leben mein Herz nicht brechen. Die unregelmäßig tickende Zeitbombe in meiner Brust war vor meiner Geburt eingepflanzt – ein seltener genuiner Defekt.
Länger zu leben, als es das Leben für mich vorgesehen hatte, erforderte einen täglichen Cocktail aus Betablockern, Serotonininhibitoren, synthetischen Steroiden und Hormonen, der mich und mein Herz am Laufen hielt. Falls das alles nach harter Arbeit und hohem Aufwand klingt, dann trügt der Eindruck nicht, erst recht für ein fünfjähriges Kind. Andererseits besitzen Kinder mehr Widerstandskraft als Erwachsene. Sie sind viel besser darin, aus dem, was sie haben, das Beste zu machen und sich weniger darum zu scheren, was ihnen fehlt. Bis zu meinem dreizehnten Lebensjahr war ich de facto bereits achtmal gestorben. Wäre ich eine Katze, hätte ich mir Sorgen machen müssen. Aber ich war ein kleines Mädchen und hatte Wichtigeres zu tun, als mich vor dem Sterben zu fürchten.
Neunundzwanzig Jahre nach meiner traumatischen Ankunft bin ich sehr dankbar dafür, mehr Zeit bekommen zu haben, als mir alle vorausgesagt hatten. Wenn man weiß, dass man eher früher als später stirbt, geht man sein Leben vermutlich anders an. Der Tod ist eine einschneidende Erfahrung, und ich stehe auf ewig in der Schuld all derer, die mir dabei geholfen haben, länger auf dieser Welt zu bleiben. Ich tue mein Bestes, mich dankbar zu erweisen. Ich bemühe mich, zu anderen und auch mir selbst gut zu sein, und rege mich höchst selten über Kleinigkeiten auf. In materieller Hinsicht lebe ich zwar bescheiden, andererseits ist mir das auch nie wichtig gewesen. Alles in allem kann ich mich nicht beklagen. Ich bin immer noch da, ich habe eine Nichte, deren Gesellschaft ich jede Minute genieße, und ich bin auf meine Arbeit stolz – die ehrenamtliche Tätigkeit in einem Altenheim. Wie meine Lieblingsbewohnerin jedes Mal sagt, wenn sie mich sieht: Um alles im Leben zu bekommen, was man möchte, genügt es zu wissen, dass man bereits alles besitzt.
Manchmal halten mich die Leute für jünger, als ich bin. Mehr als einmal musste ich mir schon den Vorwurf anhören, mich immer noch wie ein Kind zu kleiden – meine Mutter hat meine Kleiderwahl nie gebilligt –, aber ich trage nun einmal gerne Baumwollkleider und Retro-T-Shirts. Ich flechte mir das lange schwarze Haar lieber zu Zöpfen, als es mir schneiden zu lassen, und von Make-up habe ich nicht die geringste Ahnung. In Anbetracht all der schlimmen Dinge, die mir widerfahren sind, bin ich mit meinem Aussehen ganz zufrieden. Der einzige sichtbare Beweis meiner Krankheit ist eine senkrechte Narbe mitten auf der Brust. Früher haben die Leute sie immer angestarrt, wenn sie unter einem Badeanzug, Pullover mit V-Ausschnitt oder Sommerkleid zum Vorschein kam. Ich habe das niemandem übel genommen. Ich starre sie ja selbst manchmal an, denn die handwerkliche Seite meiner verlängerten Existenz fasziniert mich. Diese blassrosafarbene Linie ist der einzige äußerliche Hinweis darauf, dass ich mit einem kleinen Defekt geboren bin. In meiner etwas dysfunktionalen Kindheit wechselten sich die Ärzte alle paar Jahre darin ab, mich wieder aufzumachen, einen Blick in mein Inneres zu werfen und ein paar Reparaturen vorzunehmen. Ich bin wie ein altes Auto, das wahrscheinlich nicht mehr auf die Straße gehört, aber sehr gut gewartet wurde – wenngleich nicht immer und von jedem.
Familien sind wie Fingerabdrücke: Keine zwei sind sich gleich, und sie hinterlassen ihre Spuren. Der Webteppich meiner Familie hatte schon immer ein paar lose Fäden zu viel. Schon vor meiner Ankunft war er an den Kanten etwas ausgefranst, und wenn man genau hinsieht, entdeckt man möglicherweise auch ein paar Löcher. Manche Leute haben einfach keinen Blick für die Schönheit der Unvollkommenheit, doch ich habe meine Großmutter, meine Eltern und meine Schwestern immer geliebt. Egal, wie sie zu mir standen, und egal, was passiert ist.
Meine Großmutter, die ich zärtlich Nana nenne, ist die einzige Person in meiner Familie, die mich vom ersten Tag an bedingungslos geliebt hat. So sehr, dass sie ein Buch über mich geschrieben hat oder zumindest über ein kleines Mädchen mit demselben Namen. Falls dir mein Name irgendwie bekannt vorkommt, dann aus diesem Grund. Daisy Darkers kleines Geheimnis ist ein Kinderbuchbestseller, den meine Nana geschrieben und illustriert hat. Man findet ihn in fast jedem Buchladen rund um die Welt, oft zwischen dem Grüffelo und der Raupe Nimmersatt. Nana sagt, für die Geschichte habe sie sich meinen Namen geborgt, damit ich auf die eine oder andere Weise ewig weiterlebe. Ich fand das lieb von ihr, auch wenn meine Eltern und meine Schwestern das damals anders sahen. Ich hege den Verdacht, dass auch sie gerne ewig weiterleben wollten, sich dann aber damit zufriedengaben, von den Tantiemen, die das Buch abwarf, ganz gut zu leben.
Nachdem sie Daisy geschrieben hatte, wusste Nana nicht, wohin mit all ihrem Geld, auch wenn man es ihr nicht ansah. Mit Spenden und gegenüber Fremden ist sie immer großzügig, wohingegen sie selbst genügsam lebt und ihre Familie ein bisschen kurzhält. Sie ist davon überzeugt, dass Leute, die zu viel haben, zu wenig Ehrgeiz entwickeln, und hat immer zurückhaltend reagiert, wenn sie um Geld gebeten wurde. Aber das könnte sich bald ändern. Vor vielen Jahren, lange vor meiner Geburt, hat eine Wahrsagerin meiner Nana bei einer Kirmes in Land’s End aus der Hand gelesen und ihr prophezeit, sie würde nicht älter als achtzig Jahre werden. Das hat sie nie vergessen. Selbst ihr Agent weiß, dass er keine weiteren Bücher mehr von ihr erwarten darf. Morgen ist nicht nur Halloween und Nanas achtzigster Geburtstag. Sie glaubt, dass es ihr letzter ist, und die anderen glauben, dass sie endlich ihr Geld in die Finger bekommen. Meine Familie hat sich seit über zehn Jahren nicht mehr zur selben Zeit am selben Ort getroffen, nicht einmal zur Hochzeit meiner Schwester, doch als Nana sie ein letztes Mal nach Seaglass einlud, sagten sie alle zu.
Mit ihrem Haus an der Küste von Cornwall verbinde ich meine glücklichsten Kindheitserinnerungen. Meine traurigsten auch. Hier haben meine Schwestern und ich jedes Weihnachten und jedes Ostern verbracht und nach der Scheidung meiner Eltern zusätzlich die langen Sommerferien. Ich bin in meiner Familie nicht die Einzige mit einem gebrochenen Herzen. Ob meine Eltern oder meine Schwestern oder sogar Nanas Agent die Vorhersage ihres bevorstehenden Todes ernst nehmen, weiß ich nicht. Ich tue es jedenfalls. Denn manchmal können die seltsamsten Dinge die Zukunft eines Menschen prophezeien. Wobei wir wieder bei meinem Namen wären. Ein Kinderbuch mit dem Titel Daisy Darkers kleines Geheimnis hat nicht nur meine Familie für immer verändert, sondern war zugleich eine Art Vorahnung. Denn ich habe ein Geheimnis, und ich glaube, es ist an der Zeit, es zu lüften.
Kapitel zwei
30. Oktober 2004, 16:00
Seaglass wiederzusehen ist atemberaubend.
Normalerweise dauert die Fahrt von London nach Cornwall mindestens fünf Stunden, mit dem Zug geht es etwas schneller. Aber ich habe es immer geliebt, die Hektik der Großstadt gegen ein Geflecht verschlungener Erinnerungen und Landstraßen zu tauschen. Ich ziehe einen einfacheren, langsameren, ruhigeren Lebensstil vor, und London ist naturgemäß laut. Die Fahrt an diesen Ort hat sich immer schon wie eine Zeitreise angefühlt, doch meine heutige Reise war schneller als erwartet und einigermaßen schmerzlos. Und das ist gut so, denn ich wollte als Erste da sein. Vor den anderen.
Mit Freuden sehe ich, dass sich seit meinem letzten Besuch nicht viel verändert hat. Das viktorianische Bruchsteinhaus mit seinen gotischen Türmchen und dem türkisfarbenen Ziegeldach ist augenscheinlich aus dem Granit gebaut, auf dem es steht. Hier und da ziert immer noch das blaugrüne Seeglas, dem das kleine Herrenhaus seinen Namen verdankt, die Fassade und funkelt herrlich in der Sonne. Dicht vor der Küste thront das Gebäude auf seiner eigenen winzigen Insel inmitten der Brandung. Wie viele Dinge im Leben ist Seaglass nur schwer zu finden, wenn man nicht weiß, wo man danach suchen muss. Es liegt vor einer kleinen Bucht, die von den Einheimischen Blacksand Bay genannt wird und sich unterhalb zerklüfteter Klippen befindet und nur über nicht kartografierte Wege, ganz und gar abseits ausgetretener Pfade, zu erreichen ist. Dies ist nicht das Cornwall, das man von Ansichtskarten kennt. Aber abgesehen von der Unzugänglichkeit gibt es noch jede Menge andere Gründe, weshalb die Leute diesen Ort meiden.
Meine Großmutter hat Seaglass von ihrer Mutter geerbt, die es angeblich beim Kartenspiel von einem betrunkenen Herzog gewonnen hat. Der Familienlegende nach war der Herzog ein berüchtigter Lebemann, der das exzentrische Haus im 19. Jahrhundert baute, um sich dort mit seinen reichen Freunden zu treffen. Doch er konnte die Finger nicht vom Alkohol lassen und ertränkte, nachdem er seinen »Sommerpalast« nun auch noch an eine Frau verloren hatte, sich und seinen Kummer im Ozean. Trotz seiner tragischen Vergangenheit ist dieser Ort ein ebenso fester Bestandteil unserer Familie wie ich. Nana hat von klein auf hier gelebt. Obwohl sie mit dem Schreiben von Kinderbüchern ein hübsches Vermögen gemacht hat und nirgends sonst leben wollte, hat sie nie viel in die Instandhaltung des Hauses investiert. Infolgedessen kann man Seaglass dabei zusehen, wie es buchstäblich im Meer versinkt, und wahrscheinlich nicht mehr lange existieren wird – ebenso wie ich.
Die winzige Insel, auf der es vor fast zweihundert Jahren errichtet wurde, ist mit der Zeit erodiert. Die Wucht, mit der sich der Atlantische Ozean an den Felsen bricht, dazu Wind und Regen, haben ihre Spuren hinterlassen. Das Haus quillt von Geheimnissen über und von Feuchtigkeit auf. Doch trotz seiner abblätternden Farbe, den knarrenden Dielen und seines uralten Mobiliars fühle ich mich an keinem anderen Ort auf der Erde so zu Hause wie hier. Ich bin die Einzige, die immer noch regelmäßig zu Besuch kommt. Geschiedene Eltern, ein geschäftiges Leben und Geschwister mit so wenig Gemeinsamkeiten, dass man an unserer Verwandtschaft zweifeln könnte, sorgen dafür, dass Familientreffen Seltenheitswert besitzen. Dieses Wochenende wird daher in mancher Hinsicht etwas Besonderes sein. Mitleid legt sich mit dem Alter, Hass kommt und geht, doch Schuld kann ein Leben lang halten.
Die Anreise fühlt sich einsam und endgültig an. Die Straße führt auf dem höchsten Punkt der Klippe zu einem Pfad, der seinerseits in einer Sackgasse endet. Von dort gibt es nur zwei Möglichkeiten, zur Blacksand Bay zu gelangen: ein hundert Meter tiefer Sturz in den sicheren Tod oder ein steiler, holpriger Pfad zu den Dünen hinunter. Stellenweise ist dieser Pfad weggebrochen, man tut daher gut daran, auf seine Schritte zu achten. Auch nach all den Jahren, die ich nun schon hierherkomme, ist Blacksand Bay für mich das Paradies auf Erden.
Am späten Nachmittag steht die Sonne schon tief am diesig blauen Himmel, und das Meeresrauschen klingt wie eine altvertraute Begleitmusik, die ich sehr vermisst habe. So weit das Auge reicht, ist keine Menschenseele zu sehen, nur der Sand, das Meer und der Himmel – und in der Ferne Seaglass auf seinem uralten Felsfundament, an dem sich wie eh und je die Wellen brechen.
Kaum habe ich es mit heiler Haut bis zum Fuß der Klippe geschafft, ziehe ich mir die Schuhe aus und genieße den Sand zwischen meinen Zehen. So fühlt sich Zuhause an. Den alten Karren, der hier für den Koffertransport bereitsteht, ignoriere ich; seit einiger Zeit reise ich mit leichtem Gepäck. Nur selten braucht man die Dinge wirklich, die man zu seinem Glück zu brauchen glaubt. Ich begebe mich auf den langen Marsch über den natürlichen Sanddamm, der bei Ebbe Seaglass mit dem Festland verbindet. Das Haus ist nur bei Ebbe zugänglich und bei Flut vollständig vom Rest der Welt abgeschnitten. Nana hat Bücher schon immer den Menschen vorgezogen, und das Leben an einem so unzugänglichen Ort kam ihrem Wunsch, in Ruhe gelassen zu werden, sehr entgegen.
Diese einsame Bucht mit ihrem berühmten schwarzen Sand kennt viele der Bruchlandungen in meinem Leben. Hier werde ich an all die Reisen erinnert, die ich aus Angst nicht angetreten bin. In jedem Leben gibt es unbekannte Gewässer – die Orte und Menschen, die wir aus irgendeinem Grund nicht finden konnten. Hat man allerdings das Gefühl, sie niemals zu erreichen oder ihnen niemals zu begegnen, dann ist das noch um einiges trauriger. Die unerforschten Ozeane in unseren Köpfen und Herzen haben gewöhnlich damit zu tun, dass wir unseren Kindheitsträumen misstrauen und nicht genügend Zeit in sie investieren. Erwachsene verlernen, daran zu glauben, dass ihre Träume immer noch wahr werden könnten.
Ich möchte stehen bleiben, die salzige Luft genießen, mir die warme Nachmittagssonne ins Gesicht scheinen und das Haar vom Westwind zerzausen lassen, aber Zeit ist für mich ein Luxus geworden, den ich mir nicht mehr leisten kann. Schließlich stand sie mir von an Anfang nur sehr begrenzt zur Verfügung. Ich eile also weiter, auch wenn mir der feuchte Sand an den Fußsohlen klebt, als wollte er mich festhalten, und die Möwen über mir kreischen, als warnten sie mich vor jedem weiteren Schritt. In meinem Kopf klingen ihre Rufe wie eine Aufforderung: Kehr um. Kehr um. Kehr um.
Doch ich ignoriere alle Omen, die mir suggerieren, dass dieser Besuch keine gute Idee wäre, und laufe noch ein bisschen schneller. Ich will vor den anderen da sein, ich will Seaglass so sehen wie in meinen Erinnerungen, bevor die anderen hereinplatzen und alles verderben. Dabei frage ich mich, ob auch andere Menschen sich auf das Wiedersehen mit ihren Familien freuen und es gleichzeitig jedes Mal fürchten. Wenn ich erst mal da bin, wird sich alles fügen. Das rede ich mir zumindest ein. Doch allein der Gedanke erscheint mir wie eine Lüge.
Das Windspiel, das im Eingang hängt, begrüßt mich mit einer von der Brise angestimmten melancholischen Melodie. Ich habe es als Kind meiner Nana zu Weihnachten gebastelt – aus all dem glatten, gerundeten Glas in Grün und Blau, das ich am Strand hatte finden können. Sie hat so getan, als freute sie sich über das Geschenk, und seit damals hängt das Seeglas-Windspiel über der Tür. Die Lügen aus Liebe besitzen einen Hauch von Reinheit. Auf der Eingangsstufe prangt ein riesiger Kürbis mit einem kunstvoll geschnitzten Schreckgesicht. Nana liebt es, das Haus zu Halloween zu schmücken. Noch bevor ich die große, verwitterte Holztür erreiche, fliegt sie auf, und das vertraute Empfangskomitee stürzt mir entgegen.
Poppins, eine ältere Bobtailhündin, ist die treue Gefährtin und beste Freundin meiner Nana. Sie kommt auf mich zugerannt – ein riesiger Springball aus grau-weißem Fell. Ihr Hecheln sieht wie ein Lachen aus, und sie wedelt mit dem Schwanz, als hinge ihr Leben dran. Ich begrüße sie überschwänglich und bewundere die rosa Schleifen an den beiden Zöpfchen, die ihr die langen Haare aus den großen braunen Augen halten. Ich folge dem Blick der Hündin, als diese sich zum Haus umdreht. Im Eingang steht Nana – knapp über eins fünfzig groß und freudestrahlend. Ihre wilden weißen Locken umrahmen ihr hübsches, vom Wein und vom Alter verwittertes Gesicht. Sie trägt ihre Lieblingsfarben Rosa und Violett von Kopf bis Fuß, bis hin zu lila Schnürsenkeln an den pinkfarbenen Schuhen. Andere mögen in ihr eine exzentrische alte Dame sehen oder auch die berühmte Kinderautorin Beatrice Darker. Ich sehe meine Nana.
Sie lächelt mir entgegen. »Komm rein, es regnet jeden Moment.«
Mir liegt schon ein Einwand gegen ihre Wetterprognose auf der Zunge – ich habe mir doch gerade erst die Sonne ins Gesicht scheinen lassen –, aber als ich aufblicke, sehe ich selbst, wie sich der blaue Bilderbuchhimmel über Seaglass mit einem Mal zu einer Palette aus Grau-Braun verfinstert hat. Ich zittere und stelle fest, dass es auch deutlich kälter ist, als es mir eben noch erschien. Tatsächlich könnte ein Sturm aufziehen. Nana hatte von jeher die Gabe, vor allen anderen zu wissen, was kommt. Also tue ich wie immer, was sie sagt, und folge ihr und Poppins ins Haus.
»Vielleicht ruhst du dich erst mal ein bisschen aus, bevor der Rest der Familie dazukommt«, sagt Nana, verschwindet in die Küche und lässt mich – mit dem Hund – in der Diele zurück. Mir weht ein köstlicher Duft entgegen. »Hast du Hunger?«, ruft sie. »Möchtest du eine Kleinigkeit, während wir warten?« Ich höre das Scheppern uralter Töpfe und Pfannen, aber ich weiß, dass sich Nana beim Kochen nicht gerne stören lässt.
»Nein danke, mir geht’s gut«, antworte ich und fange mir einen missbilligenden Blick von Poppins ein. Sie ist immer für einen Happen zu haben und trottet in der Hoffnung, dass etwas für sie abfällt, in die Küche.
Ich gebe zu, dass ich eine Umarmung schön gefunden hätte, doch Nana und ich sind beide etwas aus der Übung, was Liebesbekundungen angeht. Ich vermute, dass sie vor diesem Familientreffen genauso viel Muffensausen hat wie ich, und jeder Mensch geht mit seinen Ängsten anders um. Dem einen sieht man sie auf den ersten Blick an, der andere hat gelernt, sie für sich zu behalten.
Wie immer fällt mein erster Blick auf die Uhren. Es ist unmöglich, sie zu ignorieren. Die Eingangsdiele beherbergt nicht weniger als achtzig Exemplare in den unterschiedlichsten Farben, Größen und Formen, die alle ticken. Wände voll Zeit. Eine Uhr für jedes ihrer Lebensjahre und jede liebevoll von ihr ausgesucht: als Mahnung an sie selbst und an andere, dass sie über ihre Zeit selbst bestimmt. Als Kind haben mir die Uhren Angst gemacht. Ich konnte sie aus meinem Zimmer hören – tick tack, tick tack, tick tack –, als flüsterten sie mir unablässig zu, dass meine eigene Lebenszeit zerrinnt.
Und mit einem Schlag ist da wieder dieses Unbehagen über das bevorstehende Wochenende, ohne dass ich weiß, wieso.
Ich folge meinen offenen Fragen weiter ins Haus, um im Inneren vielleicht Antworten zu finden, und mich überkommt augenblicklich eine seltsame Mischung aus Nostalgie und Schwermut. Ich fühle mich von den vertrauten Ausblicken und Gerüchen in die Vergangenheit zurückversetzt, eine köstliche Mischung aus Sehnsucht und Salz in der Luft. Der schwache Duft nach Meer dringt dem alten Gemäuer aus jeder Pore, als wäre jeder Ziegel und jeder Balken von der See getränkt.
Nichts hat sich in all den Jahren, die ich Seaglass kenne, verändert. Die weiß getünchten Wände und Holzböden sehen noch genauso aus wie damals, als meine Schwestern und ich Kinder waren – vielleicht ein wenig verschlissen von den Spuren der Liebe und des Verlusts, deren Zeuge sie geworden waren. Während ich dies alles aufsauge, sehe ich uns immer noch als die Menschen vor mir, die wir einmal waren, bevor uns das Leben – so wie das Meer den Sand – zu dem gemacht hat, was wir heute sind. Ich kann verstehen, wieso Nana nie irgendwo anders hatte leben wollen. Wäre dies mein Haus, würde ich es auch nie verlassen.
Einmal mehr frage ich mich, weshalb sie wirklich die ganze Familie zu ihrem Geburtstag hierher eingeladen hat, wo ich doch weiß, dass sie nicht einmal alle mag, geschweige denn liebt. Vielleicht um lose Enden zu verknüpfen? Liebe und Groll verheddern sich schon mal, und man schafft es nicht, das Knäuel gemischter Gefühle aufzulösen. Fragen über andere führen bei mir oft zu Fragen an mich selbst. Bekäme ich die Chance, etwas auszubügeln, bevor mein Leben endet, welche Falten würde ich am liebsten glätten, damit sie das Bild, das ich mir von mir mache und mit dem ich anderen in Erinnerung bleiben möchte, nicht stören? Ehrlich gesagt glaube ich, dass einige Knitter und unschöne Flecken einfach dazugehören. Wen interessiert schon eine leere Leinwand?
Ich steige die knarrende Treppe hinauf und lasse die tickenden Uhren hinter mir. In jedem Zimmer, an dem ich vorbeikomme, lauern die Gespenster der Erinnerungen aus all den Tagen, Wochen und Jahren, in denen ich hier entlanggelaufen bin. Stimmen aus der Vergangenheit flüstern durch die Spalten in den Fenstern und den Ritzen in den Dielen und tarnen sich als Meeresrauschen. Ich sehe vor mir, wie wir als Kinder hier herumgerannt sind, aufgedreht von der Seeluft, vom Spiel, vom Verstecken und von unseren gegenseitigen Verletzungen. Im Wehtun waren meine Schwestern und ich am besten. Das haben wir schon früh gelernt. Die Kindheit ist ein Wettkampf, bei dem sich zeigt, wer man wirklich ist, bevor man seinen späteren Charakter annimmt. Nicht jeder kann dabei gewinnen.
Ich trete in mein altes Zimmer – das kleinste im Haus. Es ist immer noch so eingerichtet wie damals: weiße Möbel – mehr shabby als chic – und eine alte Gänseblümchentapete, die sich hier und da von den Wänden löst. Nana ist eine Frau, die etwas nur einmal sagt und tut und die nichts ersetzt, es sei denn, es ist kaputt. Wenn wir Kinder kamen, hatte sie uns immer Blumen ins Zimmer gestellt, aber heute ist die Vase in meinem Zimmer leer. Stattdessen steht da eine Silberschale mit Potpourri, eine hübsche Mischung aus Kiefernzapfen, getrockneten Blütenblättern und winzigen Muscheln. Im Bücherregal entdecke ich ein Exemplar von Daisy Darkers kleines Geheimnis und werde an mein eigenes Geheimnis erinnert. Jenes Geheimnis, das ich noch nie mit jemandem teilen wollte. Auch jetzt verschließe ich es fürs Erste wieder in dem Kästchen in meinem Kopf, in dem ich es seit jeher aufbewahre.
Mit seiner sanften Hintergrundmusik beschwichtigt das Meer meine aufgewühlten Gedanken. Ich finde das Geräusch beruhigend. Ich höre die Wellen dort unten an die Felsen schlagen. Mein Fenster ist von der Gischt verdreckt – Tröpfchen, die wie Tränen die Scheibe herunterlaufen, als würde das alte Gemäuer weinen. Ich blicke hinaus, und die See starrt zurück: kalt, schier endlos und unerbittlich. Dunkler als zuvor.
Vielleicht war es doch falsch herzukommen, aber es hätte sich auch nicht richtig angefühlt fernzubleiben.
Der Rest meiner Familie wird jeden Moment da sein. Ich werde von meiner Warte aus beobachten können, wie sie einer nach dem anderen auf dem Damm herüberlaufen. Wir waren schon eine Ewigkeit nicht mehr alle zusammen. Ich wüsste gern, ob alle Familien so viele Geheimnisse haben wie wir. Wenn die Flut kommt, werden wir acht Stunden lang vom Rest der Welt abgeschnitten sein. Ich bezweifle, dass es jemals wieder ein solches Treffen geben wird.
Kapitel drei
30. Oktober 2004, 17:00
Mein Vater trifft als Erster ein.
Pünktlichkeit ist seine einzige Art, Ich liebe dich zu sagen. Unfähig, Zuneigung so zu zeigen, wie es andere Väter tun, hat er seine Gefühle durch Zuverlässigkeit bei Verabredungen ausgedrückt, solange ich zurückdenken kann. Doch wenn ich mir vorstelle, wie er hier als Einzelkind auf einer winzigen Insel im Meer in einem Haus voller Uhren aufgewachsen ist, so denke ich, dass sich ihm das Zeitgefühl unauslöschlich eingebrannt hat. Als Junge wird er sicher oft die Minuten bis zur nächsten Ebbe gezählt haben, um endlich gehen zu können. Ich beobachte durch mein Fenster, wie er durch den feuchten Sand herüberstapft. Die Sonne ist immer noch nicht untergegangen, sondern färbt den Himmel mit einer Palette von Rosa bis Violett, die nicht real aussieht. Dad hebt den Blick in meine Richtung, doch falls er mich sieht, lächelt oder winkt er nicht.
Frank Darker ist ein verkannter Komponist, der meistens dirigiert. Er reist immer noch mit seinem Orchester durch die ganze Welt. Das klingt vielleicht glamourös, ist es aber nicht. Er arbeitet zwar härter als alle, die ich kenne, verdient aber nicht so viel, wie man meinen sollte. Nach Abzug der Gehälter, Hotelrechnungen und anderen Spesen für das ganze Ensemble bleibt für ihn nur wenig übrig. Doch er liebt seinen Beruf und die Menschen, mit denen er arbeitet. Vielleicht ein bisschen zu sehr; sein Orchester war für ihn schon immer mehr seine Familie als wir.
Für seine fünfzig plus hat sich mein Vater recht gut gehalten. Er hat immer noch volles schwarzes Haar und trägt seinen Koffer ohne sichtliche Mühe, obwohl der für eine einzige Übernachtung ziemlich groß aussieht. Mir fällt auf, dass er den Karren für den Gepäcktransport drüben stehen gelassen hat. Ich hege die Vermutung, dass er sich von Nana eine andere Art Hilfe erhofft. Vom jahrelangen Sitzen am Klavier ist Dads Rücken ein bisschen gekrümmt, und sein Anzug wirkt ein wenig unförmig, als hätte ihn das Leben geschrumpft. Ich stelle fest, dass er wie zu einer Beerdigung statt einer Geburtstagsfeier gekleidet ist.
Jetzt bleibt er kurz vor dem Eingang noch einmal stehen und versucht, sich zu arrangieren – wie ein Musikstück, das sich sträubt.
So wie wir alle weiß auch er, dass Nana das Haus einer weiblichen Angehörigen vermachen will. Sie selbst hat es von ihrer Mutter geerbt, deren Letzter Wille es war, dass Seaglass immer im Besitz einer Frau aus der Darker-Familie verbleibt. Die Entscheidung, eine Generation zu überspringen, hat meinen Vater, seit er davon weiß, sehr verstimmt. Dabei hat Dad Seaglass nie für sich haben wollen, sondern immer nur das Geld für sein Orchester gebraucht. Wäre es nach ihm gegangen, hätte er das Haus schon vor Jahren verkauft. Nana hat die Ambitionen meines Vaters von klein auf finanziert, doch egal, wie viel Geld sie ihm gibt, nie ist es genug. Ich gehe nach unten, um ihn zu begrüßen, auch wenn ich weiß, dass er lieber einen Bogen um mich macht. Ich lasse mich nur ungern mit mir allein; mir ist nicht zu trauen.
Poppins ist schon an der Tür, und Nana macht auf, bevor mein Dad anklopfen kann. Nanas Gesicht hellt sich auf, als sie sieht, wer es ist. Es ist ein ehrliches, freudiges Lächeln, bei dem sie gute weiße Zähne zeigt, die immer noch scharf genug zum Beißen sind.
»Hallo, Frank.«
»Mutter«, erwidert er mit einem angedeuteten Nicken. »Schön, dich zu sehen.«
»Was du nicht sagst. Das Vergnügen könntest du dir öfter gönnen.« Auch wenn sie dabei mit einem Auge zwinkert, wissen wir alle, dass sie es so meint. Das Alleinleben hat Nana nie einsam gemacht, doch wen oder was wir vermissen, kann sich mit dem Alter ändern.
Dad antwortet nicht. Ein Thema, das einem einen Stich versetzt, umschifft man am besten, wenn man schon zu oft gestochen wurde. Er lässt den Blick über die Wand mit den Uhren schweifen, stellt seinen Koffer ab und hängt seinen Mantel an den Garderobenständer. Denselben dicken schwarzen Wollmantel trägt er schon seit Jahren – nicht, weil er sich keinen neuen leisten kann, sondern weil mein Vater ein Gewohnheitstier ist.
»Vergiss nicht, dich einzustempeln«, sagt Nana und stellt sich ihm in den Weg, als er ins Wohnzimmer gehen will. In diesem Haus hat er einmal gewohnt, und die Häuser unserer Kindheit sind für Menschen wie meinen Vater voller Gespenster. Nicht lange, und der erwachsene Mann benimmt sich wie ein kleiner Junge.
Die Wände in der Eingangsdiele sind fast gänzlich von Uhren jedweder Größe, Farbe und Form bedeckt. Da gibt es große und kleine, runde und eckige, digitale und Kuckucksuhren, Spieluhren, Pendeluhren, Vintage-Clocks und sogar ein an der Wand befestigtes Retro-Stundenglas mit Sand von der Blacksand Bay. Der Zeitmesser direkt neben der Haustür gehört zu Nanas Favoriten. Es handelt sich dabei um eine antike hölzerne Stechuhr aus einer alten kornischen Fabrik, ursprünglich für den Ein- und Auslass der Arbeiter bestimmt.
Mein Dad seufzt. Er ist ein Mann, der sich bei den meisten Herausforderungen in vorauseilender Resignation übt. Er zieht eine Karte mit seinem Namen aus dem winzigen uralten Fach, steckt sie in die Uhr, gibt die Zeit ein und legt sie zurück.
»Zufrieden?«, fragt er.
»Ich bin begeistert«, erwidert Nana mit strahlender Miene. »Mit zunehmendem Alter werden einem Familientraditionen immer wichtiger. Sie bringen uns zusammen, wenn wir zu lange getrennt gewesen sind. Wenn du dir deine Karte ansiehst, wirst du feststellen, dass der letzte Besuch von meinem einzigen Kind schon eine Weile her ist.«
Dies ist ein allzu vertrauter Eiertanz, und wir alle kennen die Schritte.
Sie macht Anstalten, ihm ins Wohnzimmer zu folgen, bleibt jedoch auf der Schwelle stehen.
»Das gilt auch für dich«, sagt sie und blickt über die Schulter in meine Richtung. Ich hatte gehofft, von dem Ritual befreit zu sein, so oft, wie ich Nana besuche, aber es macht sie glücklich, und ich spiele mit. Ich nehme also die Karte mit meinem Namen, gebe die Zeit ein und stecke sie wieder weg. Mit erfreuter Miene sieht sie mir dabei zu, doch ihr Gesicht verfinstert sich, sobald wir uns zu meinem Dad ins Wohnzimmer begeben.
Um sich ein Bild vom Wohnzimmer in Seaglass zu machen, stelle man sich einen Raum voller beliebig zusammengewürfelter Retromöbel vor, eine kunterbunte Mid-Century-Mischung aus pastellfarbenen Sofas, plüschigen Sesseln, Regalen, die unter so vielen Büchern ächzen, dass sie in der Mitte durchhängen, mit großen Fenstern zum Meer, einem riesigen offenen Kamin und einer türkisfarbenen Tapete mit handgemalten Vögeln und Holunderblüten. Nie habe ich woanders etwas Vergleichbares gesehen.
Nana nimmt eine Flasche Scotch aus dem Messing-Getränkewagen in der Ecke und hält sie hoch. Ich schüttle den Kopf – ist noch ein bisschen zu früh für mich –, doch Dad nickt und begrüßt enthusiastisch Poppins, während Nana ihm Whisky einschenkt. Er ist der einzige Whiskytrinker in unserer Familie, alle anderen hassen das Zeug. Nana mixt sich einen Mojito, für den sie sich ein paar Minzblätter abzupft, sodann mit einem antik aussehenden Nudelholz das Eis zerkleinert und ins Glas füllt, bevor sie einen großzügigen Schuss Rum hinzugibt.
Ich staune einmal mehr über die Vorlieben unserer Familienmitglieder für einen kleinen Drink. In diesem Haus sucht man vergeblich nach einem stinknormalen Sherry.
Dank einer klitzekleinen Absenkung des Bodens – die man suchen muss, um sie zu finden, und wir waren schon immer gut darin, Untiefen zu ignorieren – neigen Gläser, die man in diesem Zimmer auf Tischen abstellt, dazu, langsam aber sicher herunterzurutschen. Meine Mutter hat immer gesagt, wir würden nur deshalb zu viel trinken, weil wir unsere Gläser immer in der Hand halten müssen, damit sie nicht zerbrechen. Aber meiner Meinung nach ist das nicht der wahre Grund. Die einen ertränken ihren Kummer, die andere trinken, um sich darin zu suhlen.
Wir sitzen in peinlich berührtem, doch geübtem Schweigen da, und mir entgeht nicht, dass die beiden erst ein paar Schluck von ihren Drinks nehmen, bevor sie sich an ein Gespräch heranwagen. Unser Familienstammbaum hat sich in alle möglichen Richtungen verzweigt, und man tut gut daran, heikle Themen zu umschiffen, um keine Stürme heraufzubeschwören, unter denen ein Ast oder Zweig abbrechen könnte. Ich lächle höflich und versuche, all die Jahre zu vergessen, in denen mein Dad nicht mit mir gesprochen, mich als Kind nicht im Krankenhaus besucht, kurz, sich so verhalten hat, als wäre ich bereits tot. Ich verdränge die Geburtstage aus meinem Gedächtnis, die er vergessen hat, oder die Weihnachtsfeiertage, an denen er lieber gearbeitet hat, statt nach Hause zu kommen, die unzähligen Male, die er meine Mutter zum Weinen gebracht, und den Abend, an dem er die Schuld an ihrer Scheidung mir und meinem gebrochenen Herzen zugeschrieben hat. Nur für den Augenblick, nur solange wir auf die Ankunft der anderen warten, tue ich so, als wäre er ein guter Vater und ich die Tochter, die er sich gewünscht hat.
Ich brauche die Fassade nicht lange aufrechtzuerhalten.
Als Nächste trifft meine älteste Schwester ein, die Kluge, die mich mit zehn Jahren vor dem Ertrinken gerettet hat. Rose ist schön, intelligent und kaputt. Sie ist fünf Jahre älter und fast dreißig Zentimeter größer als ich. Wir haben uns nie nahegestanden. Für mich liegt die Schwierigkeit, ihr auf Augenhöhe zu begegnen, weder an ihrer Körpergröße noch am Altersunterschied. Bis auf dasselbe Blut, das durch unsere Adern fließt, verbindet uns einfach wenig.
Rose ist Tierärztin und hat die Gesellschaft von Tieren schon immer der von Menschen vorgezogen. Sie ist so zweckmäßig gekleidet, wie sie denkt: Ein gestreiftes bretonisches Shirt unter einer taillierten Jacke ergänzt die schicke – extralange – Jeans. Sie sieht älter als vierunddreißig aus. Ihr langes kastanienbraunes Haar hat sie zu einem strengen Pferdeschwanz zurückgebunden, und ihr Pony ist zu lang, als diente er ihr dazu, sich dahinter zu verstecken. Kurz vor ihrer Hochzeit haben wir das letzte Mal miteinander gesprochen. Wir wissen beide, warum.
Familien sind wie Schneeflocken: Jede ist unverwechselbar.
So wie sie sich freut, den Hund wiederzusehen, würde sie nie auf Dad oder mich reagieren, weshalb Poppins wie immer die geballte Aufmerksamkeit bekommt. Meine älteste Schwester reist an diesem Wochenende allein an – so wie wir alle, vermute ich. Ihre Ehe hat nicht einmal ein Jahr gehalten, danach hat sie sich in die Arbeit gestürzt und ihre eigene Praxis aufgemacht. Schon als Kind war ihre Zielstrebigkeit bemerkenswert – die Einserschülerin, die uns andere alle in den Schatten stellt. Rose war schon immer von einem unstillbaren Wissensdurst getrieben. Dad nennt sie Dr. Doolittle, weil er glaubt, dass sie inzwischen nur noch mit Tieren spricht. Da könnte er richtigliegen. Rose holt sich ein großes Glas Wasser aus der Küche und nimmt neben meinem Vater auf der Sofakante Platz, immer noch in ihrer Jacke, als überlegte sie noch, ob sie bleiben sollte.
Als die anderen eintreffen, hat das Meer den Damm noch nicht ganz überspült. Ist die Pünktlichkeit meines Vaters als freundliche Geste gemeint, so stellt die Verspätung meiner Mutter einen bewussten Affront dar. Nancy Darker hat sich vor über zwanzig Jahren von unserem Dad scheiden lassen, jedoch seinen Namen beibehalten und mit seiner Mutter engen Kontakt gehalten. Sie ist mit meiner fünfzehnjährigen Nichte und Lily – ihrer Lieblingstochter – aus London gekommen. Sie haben sich immer nahegestanden und verbringen auch jetzt noch viel Zeit miteinander. Lily ist die Einzige von uns, die unseren Eltern ein, wenngleich schwer zugängliches, Enkelkind beschert hat, und ich denke nicht, dass mit weiteren zu rechnen ist.
Als meine Mutter in meine Richtung blickt, wird mir kalt. Sie ist eine Frau, die keinen Hehl daraus macht, welche Jahreszeit bei ihr gerade herrscht – das ganze Jahr ist Winter. Als wir klein waren, hatte Nancy eine so frappierende Ähnlichkeit mit Audrey Hepburn, dass ich manchmal dachte, sie wäre es, wenn ich sie im Fernsehen in den Schwarz-Weiß-Filmen gesehen habe, die meine Mutter uns ständig zeigte. Sie ist immer noch eine sehr schöne und elegante Frau und sieht beträchtlich jünger aus als vierundfünfzig. Sie trägt das schwarze Haar immer noch als Bob und kommt, so wie sie sich gibt und redet, wie ein arbeitsloser Filmstar rüber. Der Pelzmantel und der Modeschmuck sind nicht das einzig Unechte an meiner Mutter.
Dass sie – unter anderen Umständen – Filmschauspielerin hätte werden können statt Mutter, reibt sie uns allen dreien regelmäßig unter die Nase, als wäre es unsere Schuld, dass aus ihren beruflichen Ambitionen nichts wurde. Doch irgendwie hege ich den Verdacht, dass ein gewisses Maß an elterlichem Groll normal ist, wenn auch nur selten darüber gesprochen wird. Fragt sich nicht jeder, wer oder was sie hätten werden können, wären sie nicht das, was sie sind?
Die Scheidungsabfindung war zwar großzügig, doch bis wir alle das Nest verlassen hatten, aufgezehrt. Wo meine Mutter heute ihr Geld herbekommt, ist mir ein Rätsel, aber ich hüte mich, sie danach zu fragen. Sie hat aus Gewinnspielen einen Teilzeitberuf gemacht und lässt keines aus, das sie im Vorabendprogramm sieht. Vielleicht gewinnt sie nur deshalb ab und zu, weil sie nichts auslässt. Doch es kann gefährlich sein, schieres Glück als Erfolg zu feiern. Nancy ist schon immer der Puppenspieler in unserer Familie gewesen und hat die Strippen so subtil gezogen, dass wir es nicht immer gemerkt haben, wenn unsere Gedanken eigentlich nicht unsere eigenen waren.
Als Nana die alte Holztür aufstemmt, um die Spätankömmlinge zu begrüßen, ist der Damm vom Wasser schon glitschig. Ich sehe, dass ihre Schuhe klatschnass sind und sich kleine Pfützen um ihre Füße bilden. Lily ist zu sehr damit beschäftigt, ihr Zuspätkommen jedem anderen oder den Umständen zuzuschreiben, nur nicht sich selbst – dem Verkehr, dem Navi, dem Wagen, den ihr Nana spendiert hat –, um zu bemerken, wie wir sie alle anstarren. Fehlt nur noch, dass sie sich darüber beschwert, warum die Flut nicht auf sie gewartet hat. Sich zu beklagen ist das offensichtliche Supertalent meiner Schwester. Sie ist ein personifiziertes Stirnrunzeln. Der Soundtrack ihres Lebens ist eine Symphonie in cis-Moll, ein endloses Gejammer, das ich nicht mehr hören kann. Als ich die kalte Schulter spüre, die sie uns allen zeigt, trete ich einen Schritt zurück.
Lily ist die kleinere Ausgabe von Rose, nur ohne ihren Verstand und ihre hohen Wangenknochen. Wie meine Mutter hat auch sie nie Vollzeit gearbeitet und ist nun eine Teilzeitmutter, die mit siebzehn schwanger wurde. Meine Schwester stinkt zehn Meter gegen den Wind nach Parfüm und Anspruchsdenken. Mir steigt ein unangenehmer Schwall Poison in die Nase, ihr liebstes Eau de Toilette. Schon seit unserer Jugend badet sie darin, und es ist nicht das Einzige an ihr, was sich nie geändert hat. Lily trägt immer noch Billigklamotten von Top Shop, und sie schläft vermutlich mit ihrem Make-up, denn ich kann mich nicht erinnern, wie ihr Gesicht ohne aussieht. Wie ein Kind dreht sie eine ihrer hellen Strähnchen um den Finger, und ich registriere, dass ihr Haaransatz rauswächst. Sie ist nicht naturblond, sondern wie alle in meiner Familie brünett, einschließlich meiner wundervollen Nichte.
Trixie ist fünfzehn. Wie die meisten Kinder war sie viele Jahre lang ein plapperndes Fragezeichen, ein Füllhorn an Warums, Was, Wanns, Wos und Wies. Schnell genug – oder überhaupt – Antworten parat zu haben, war eine ständige Herausforderung. Inzwischen weiß der Bücherwurm, zu dem sie geworden ist, mehr als wir Übrigen zusammen. Sie sieht wie die Miniaturausgabe einer Bibliothekarin aus, und das ist ein Kompliment, denn ich liebe Bibliothekarinnen. Im Unterschied zu ihrer und zu meiner Mutter ist Trixie sehr belesen, sehr höflich und überaus nett. Hier und da vielleicht ein wenig frühreif, was meiner Meinung nach nichts Schlechtes ist, aber meine Meinung interessiert keinen.
So wie ich pflegt Trixie einen Kleidungsstil, den ihre Mutter missbilligt. Sobald sie alt genug war, um mitzubestimmen, was sie anzieht, bestand sie darauf, grundsätzlich nur Pink zu tragen. Sie heulte los oder hielt die Luft an, sobald Lily es bei ihr mal mit irgendeiner anderen Farbe versuchen wollte. Auch wenn die Wutanfälle Jahre zurückliegen, kleidet sich Trixie bis heute nicht wie eine typische Jugendliche. Jeans oder die billigen Fummel, die ihre Mutter bevorzugt? Nur über ihre Leiche. Ihr heutiges, sorgfältig ausgewähltes Outfit besteht aus einem flauschigen pinkfarbenen Pullover mit weißem Spitzenkragen, einem pinkfarbenen Cordrock, einer weißen Strumpfhose und rosa Lacklederschuhen. Sogar ihre Brille ist pink, und sie trägt einen kleinen Vintage-Koffer in derselben Farbe, in dem ich einige Bücher vermute. Sie trägt ihre wilden dunkelbraunen Locken bis zur Schulter, und ihre Weigerung, ihr Haar zu glätten, ist für ihre Mutter ein weiteres Ärgernis. Aber alle Teenager sind erfinderisch darin, die Geduld ihrer Eltern auf die Probe zu stellen. Das gehört zum Erwachsenwerden dazu.
Trixie besitzt ein natürliches Talent dafür, die kältesten Herzen zu erwärmen, und so taut ihre Anwesenheit augenblicklich die eisige Atmosphäre in Seaglass auf. Sie mag zuweilen etwas unreif und uncool erscheinen, doch sie ist ein freundliches, glückliches Kind, unter Teenagern eine seltene Spezies. Ihre positive Lebenseinstellung scheint das Beste in uns allen hervorzubringen.
»Nana!«, quiekst sie vor aufrichtig empfundener Freude. »Happy Birthday!«
»Ich habe zwar erst morgen Geburtstag, aber danke, mein Liebling«, erwidert Nana und strahlt ihre Namensvetterin und Urenkelin an.
Die Frauen in der Familie tauschen Umarmungen und Begrüßungen, und ich stelle fest, dass wir alle gleichzeitig lächeln – ein so seltener Anblick wie eine Sonnenfinsternis.
»Ist das schön, dich zu sehen, Tante Daisy«, sagt Trixie, während die anderen ihr Gepäck abstellen sowie ihre Mäntel, nassen Schuhe, Strumpfhosen und Socken ausziehen.
»Ich freue mich auch riesig, dich zu sehen«, antworte ich.
»Und jetzt das Einstempeln nicht vergessen«, sagt Nana zu jedem von uns. »Eure Karten sind in den Fächern neben der alten Stechuhr. Ihr wisst ja, ich behalte gern den Überblick darüber, wer hier ist und wer nicht.«
Nancy seufzt. »Du weißt schon, dass es nicht normal ist, seine Gäste um so was zu bitten, nicht wahr?«
Nana grinst. »Meine Liebe, ich wäre lieber tot als normal.«
Amüsierte Blicke werden getauscht, doch das Lächeln verblasst in den Gesichtern, als mein Vater die Diele betritt. Ich beobachte, wie er sich zögernd den Neuankömmlingen nähert.
»Granddad!«, bricht Trixie das allgemeine Schweigen. Noch hat sie den Familiengroll nicht übernommen, und so stürmt sie auf ihn zu und fällt ihm in die Arme.
»Hallo, Stöpsel!«, sagt er. »Meine Güte, bist du groß geworden!« Er hat sie lange nicht gesehen.
Uns alle.
Als ich klein war, hat mein Vater mich »Stöpsel« genannt. Meine älteste Schwester Rose war sein »schlaues Mädchen« und Lily seine »Prinzessin«. Irgendwie fühlt es sich so an, als wäre ich ersetzt worden, so als hätte er die Zuneigung, die er einmal für mich empfand, auf meine Nichte übertragen, dabei weiß ich, dass es lächerlich ist, auf ein Kind eifersüchtig zu sein.
Dad bringt es nicht über sich, seine Ex-Frau anzusehen, aber ich ertappe sie dabei, wie sie auf die teure Krawatte um seinen Hals starrt wie auf eine Schlinge, die sie am liebsten zuziehen würde. In den ersten Jahren nach der Scheidung meiner Eltern lief es zwischen ihnen einigermaßen einvernehmlich, doch dann muss irgendetwas passiert sein, woran ihre verbliebene Zuneigung zerbrach. Seit Roses Hochzeit sind sie nicht mehr in ein und demselben Raum zusammen gewesen, und selbst da saßen sie an entgegengesetzten Enden am Tisch und sprachen nicht miteinander. Meine Mutter behielt ihre Abneigung früher für sich, doch sie ist mit den Jahren gewachsen, und wie sehr sie auch versucht, sie zu verbergen, so ist ein wenig davon immer spürbar. Das Leben hat ihre Zunge geschärft, und mittlerweile scheut sie sich auch nicht mehr, Gebrauch davon zu machen.
»Der verlorene Vater und Sohn kehrt zurück. Du siehst gut aus, Frank. Wie aufmerksam von dir, dich zum Geburtstag deiner Mutter vom Orchester loszueisen.«
Und damit geht es los. Immer wenn wir versuchen, die glückliche Familie zu spielen, verlieren wir alle nur.
Ich starre ein letztes Mal zum Damm hinaus, bevor die See ihn ganz verschlingt und wir von der Außenwelt abgeschnitten sind. Das Ensemble meiner Familie ist komplett, und hat die Flut erst mal ihren Höhepunkt erreicht, kann acht Stunden lang niemand mehr hier weg.
Kapitel vier
30. Oktober 2004, 18:00
Nana versammelt uns alle – trotz des einen oder anderen Protests – im Wohnzimmer, und der große Raum wirkt mit einem Mal recht klein. Ohne ein weiteres Wort nehmen wir die Plätze ein, auf denen wir schon als Kinder immer saßen. Ich schätze, seinen Platz in der Familie zu kennen, ist eine Art Muskelgedächtnis und somit etwas, das man nicht vergisst. Es ist jetzt so still, dass ich die Uhren in der Eingangsdiele ticken höre. Alle achtzig. Und schon jetzt beschleicht mich das Gefühl, dass dies eine lange Nacht wird.
»Ich weiß, ihr wollt alle eure Sachen auspacken und euch frisch machen, und wir haben uns so viel zu erzählen«, erklärt Nana mit einem ironischen Lächeln. »Aber ich habe ein paar alte Familienvideos entdeckt, die ich an diesem Wochenende gerne mit euch ansehen wollte, und ich dachte mir, dieses hier könnte dabei helfen, das Eis zu brechen. Oder zumindest ein bisschen zu schmelzen. Rose, kannst du bitte den Rekorder starten? Du weißt, ich bin allergisch gegen moderne Technik.«
Rose nimmt eine arg ramponiert wirkende Videokassette von Nana entgegen. Ich glaube, die beiden zwinkern sich zu, aber vielleicht bilde ich mir das ein. In dem Regal hinter ihnen steht eine ganze Reihe alter Videos, die ich mit ziemlicher Sicherheit noch nie gesehen habe. Das Fach war bisher wie alle Regale in diesem Raum mit Büchern gefüllt. Jede Kassette hat einen Aufkleber, auf dem in einer geschwungenen Handschrift Jahreszahlen vermerkt sind. 1975 – 1988.
Als der Fernseher – vermutlich älter als ich – zum Leben erwacht, starren wir alle auf meine Mutter, weil ihr Gesicht auf dem Bildschirm erscheint. Sie trägt ein Hochzeitskleid, somit muss die Aufnahme über dreißig Jahre alt sein. Die Bildqualität ist ein wenig körnig, und es gibt keinen Ton, doch Nancy sieht atemberaubend aus. So wie alle anderen schaue ich mir gebannt an, wie ein Großvater, dem ich nie begegnet bin, sie durch den Mittelgang einer Kirche, die ich noch nie gesehen habe, zum Altar und zu meinem Dad begleitet. Er trägt einen Anzug mit ausgestellter Hose und eine Siebzigerjahre-Frisur. Er sieht so jung und glücklich aus. Das gilt für beide.
»Das wurde ursprünglich mit meiner alten Super-8-Kamera gefilmt«, sagt Dad mit einem mir so fremden Lächeln, dass er aussieht wie ein anderer Mann. »Ich weiß noch, wie ich es auf VHS-Kassette überspielt habe und dachte, diese Technik wäre im Home Entertainment nicht mehr zu toppen. Es ist wohl nichts für die Ewigkeit«, sagt er und lehnt sich auf seinem Stuhl vor. Er blickt zu meiner Mutter hinüber, doch die ist zu sehr von sich auf dem Bildschirm eingenommen, um es zu bemerken.
Meine Eltern, Frank und Nancy, haben sich an der Universität kennengelernt. Sie war in ihrem ersten Jahr, er in seinem letzten. Ihre Freunde gaben ihnen den Spitznamen »die Sinatras«, und, so wie ihre berühmten Gegenstücke, waren sie von Beginn an zum Scheitern verurteilt. Frank und Nancy gehörten beide einer Laienschauspieltruppe an. Mein Vater arrangierte die Musik und meine Mutter den Rest ihres Lebens, indem sie mit neunzehn schwanger wurde. Wenn man es nicht wüsste, käme man nicht drauf, aber auch Rose ist auf diesem Video, versteckt in einer kleinen Wölbung unter einem vorteilhaft designten Hochzeitskleid. Nancy hat ihr Studium nie abgeschlossen. Sobald sie herausfanden, dass sie schwanger war, haben sie geheiratet. Offenbar tat man das damals in einem solchen Fall, und dann sind sie zu Nana hierher nach Seaglass gezogen, bis Dad genug Geld für eine eigene Wohnung gespart hatte. Ich denke, eine Zeit lang glaubten meine Eltern, glücklich zu sein. Sie nahm ihm die Freude und er ihr den Kummer, und so glichen sie jahrelang ihren Gefühlshaushalt aus. London zog sie vom Meer weg, die Musik zog ihn von ihrer Seite, und als ich auf der Bildfläche erschien, waren sie nur noch Fremde, die zufällig miteinander verheiratet waren.
»Auf dem Speicher habe ich einen ganzen Karton mit solchen Videos gefunden. Weihnachtsfeste, Geburtstage, Sommerferien … Ich bin noch nicht dazu gekommen, sie alle zu sehen, und ich dachte mir, es wäre vielleicht nett, das zusammen zu tun«, sagt Nana. »Die Welt, in der wir heute leben, geht mit Erinnerungen etwas zu nachlässig um. Ich hatte gehofft, wenn wir uns so sehen, wie wir einmal waren, könnte uns das vielleicht daran erinnern, wer wir sind.«
Das Hochzeitsvideo dauert nur drei bis vier Minuten, wahrscheinlich waren Filme damals eine kostspielige Sache, und man musste ein bisschen wählerischer darin sein, welche Momente des Lebens man im Gedächtnis behalten wollte. Es endet mit einer Aufnahme von meinen Eltern auf den Kirchenstufen. Ich erkenne Nana im Hintergrund wieder, aber keins der anderen lächelnden Gesichter. Die Freunde, die Konfetti werfen, müssen ihnen mit den Jahren fremd geworden und so wie ihre Liebe aus ihrem Leben verschwunden sein. Der Film endet mit einem Standbild meiner Eltern, auf dem sie einander vor dreißig Jahren anlächeln. Wenn ich sie jetzt so sehe, frage ich mich, wo diese Liebe geblieben ist.
»Ich geh dann mal und pack meine Sachen aus«, erklärt Dad und steht auf.
»Und wohin? Es sind nicht genug Zimmer für alle da«, sagt Nancy, ohne ihn anzusehen.
»Dann schlafe ich eben hier unten im Musikzimmer.«
»Gut.«
Er geht, und wir wissen nicht, was wir sagen sollen. Mein Vater hat seine Gefühle immer in Geiselhaft genommen. Seine Unfähigkeit – oder Unwilligkeit – sie zu äußern oder zu zeigen, hat meinem Eindruck nach meine Mutter dazu gebracht, ihre Meinung – egal zu welchem Thema – doppelt so laut und doppelt so oft zu bekunden. Mein Vater schien nur durch seine Musik kommunizieren zu können, weshalb endlose, mal wütende, mal melancholische Kompositionen auf seinem Klavier der Soundtrack unserer Kindheit waren.
»Du sahst schön aus auf dem Video, Nancy«, sagt Trixie. Niemand würde es wagen, sie Grandma zu nennen. Wir durften nicht mal Mum zu ihr sagen. Immer nur Nancy. Die Bemerkung war als Kompliment gemeint, doch wir alle kennen meine Mutter gut genug, um zu wissen, dass sie die Vergangenheitsform als Beleidigung auffasst.
»Ich denke, ich geh ein bisschen an die frische Luft und sehe mal nach meinem Garten«, sagt Nancy.
Niemand erwähnt, dass es streng genommen Nanas Garten ist oder dass inzwischen die Sonne ganz untergegangen ist. Schon seit einer Weile herrscht draußen Dunkelheit. Doch Nancy ist wie eine Schauspielerin in einem alten Schwarz-Weiß-Film und legt einen dramatischen Abgang aus einer Szene hin, in der sie nie eine Hauptrolle spielen wollte. Wir Übrigen bleiben in einem uns nur allzu vertrauten, peinlich berührten Schweigen noch eine Weile sitzen. Rose sieht man ihr Unbehagen am deutlichsten an. Sie ahnt wohl, dass sich unsere Eltern für den Kampf rüsten. Als sie sich scheiden ließen, war sie alt genug, um zu wissen, wie schlimm es zwischen ihnen werden kann. Der verletzte Stolz schreibt das Skript zu der Frage, wer wen verlassen hat, in den Köpfen meiner Eltern um, und bis heute weigern sie sich beharrlich, die Schuld zu teilen.
Wenig später ziehen wir uns alle still in unseren eigenen Winkel in Seaglass zurück – nicht etwa, weil die Show vorbei ist, sondern weil sie, wie ich fürchte, noch gar nicht richtig angefangen hat und wir alle unseren Text noch einmal durchgehen müssen.
Ich bleibe eine Weile auf dem oberen Treppenabsatz stehen und blicke durch das Fenster an der Rückseite des Hauses auf den Atlantischen Ozean. Meine Mutter schlendert durch den Garten durchs Mondlicht und die Schatten. In London hat Nancy keinen nennenswerten Garten, und so tut sie, als gehörte Nanas Garten ihr. Ihre Leidenschaft für Pflanzen und Blumen begann, als sie in ihrer ersten Schwangerschaft hier in Seaglass lebte. Es war ihre Entscheidung, bei ihrer Schwiegermutter einzuziehen, solange Dad fort war, um sein Studium abzuschließen. Über ihre eigene Familie verliert Nancy niemals auch nur ein Wort. Wir wissen, dass sie eine hat, aber das ist es auch schon. Meinen Großeltern mütterlicherseits bin ich ebenso wie meine Geschwister nie begegnet, wir kennen nicht einmal ihre Namen. Allem Anschein nach war Nana glücklich darüber, dass meine Mutter hierherzog, doch sie war zu sehr damit beschäftigt, Kinderbücher zu schreiben und zu illustrieren, um ihr Gesellschaft zu leisten oder den Garten zu pflegen, und so wurde es Nancys Hobby. In den folgenden Jahren widmete sie sich mit Leidenschaft der Aufgabe, das vernachlässigte Brachland hinter dem Haus zu gestalten. Manchmal glaube ich, sie kommt im Grunde her, um den Garten zu besuchen und nicht Nana.
Frank hat ihr, als sie mit Rose schwanger war, The Observer’s Book of Wild Flowers geschenkt, und ich kann nur vermuten, dass dieses Buch meine Mutter zu unseren Namen inspiriert hat. Es ist ein altes zartgrünes Bändchen, das sie noch heute wie eine kleine Bibel mit sich herumträgt. Wir durften Nancy nie helfen, wenn sie für Stunden nach draußen verschwand. Der Garten war ihr