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Der neue Thriller der internationalen Bestsellerautorin – «Alice Feeney ist eine Queen of Crime.» Romy Hausmann Adam Wright ist Drehbuchautor, ein Workaholic. Und er ist gesichtsblind, kann weder Freunde noch Familie erkennen. Nicht einmal seine eigene Frau. Amelia Wright ist Einzelgängerin. Sie arbeitet mit ausgesetzten Tieren und fühlt sich von ihrem Mann nicht wahrgenommen. Hat ihre Ehe überhaupt noch einen Sinn? Jedes Jahr an ihrem Hochzeitstag schreibt seine Frau Adam einen Brief. Und behält ihn für sich. Bis zu diesem Jahr … Als das Paar einen Wochenendtrip in eine zum Ferienhaus umgebaute Kapelle in den schottischen Highlands gewinnt, ist beiden bewusst, dass es die letzte Chance sein könnte, ihre Ehe zu retten. Doch sie haben die Reise nicht zufällig gewonnen. Einer von ihnen lügt. Und diese Lüge ist tödlich …
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Seitenzahl: 420
Alice Feeney
Thriller
Weißt du wirklich, wen du geheiratet hast?
Adam Wright ist Drehbuchautor, ein Workaholic. Und er ist gesichtsblind, kann weder Freunde noch Familie erkennen. Nicht einmal seine eigene Frau.
Amelia Wright ist Einzelgängerin. Sie arbeitet mit ausgesetzten Tieren und fühlt sich von ihrem Mann nicht wahrgenommen. Hat ihre Ehe überhaupt noch einen Sinn?
Als das Paar einen Wochenendtrip in eine zum Ferienhaus umgebaute Kapelle in den schottischen Highlands gewinnt, ist beiden bewusst, dass es die letzte Chance sein könnte, ihre Ehe zu retten. Doch sie haben die Reise nicht zufällig gewonnen. Einer von ihnen lügt. Und diese Lüge ist tödlich …
«Alice Feeney ist eine Queen of Crime.» Romy Hausmann
Alice Feeney ist New-York-Times-Bestsellerautorin mit einer Millionenauflage. Ihre Thriller wurden in mehr als fünfundzwanzig Sprachen übersetzt und werden verfilmt, «Schere, Stein Papier» als Netflix-Serie von der Produzentin von «The Crown». Zuvor arbeitete Feeney fünfzehn Jahre lang als BBC-Journalistin und lebt heute mit ihrer Familie in Devon.
Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel «Rock Paper Scissors» bei HQ, an imprint of HarperCollins Publishers Ltd., London.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, März 2023
Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg «Rock Paper Scissors» Copyright © 2021 by Diggi Books Ltd
Redaktion Peter Hammans
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
Covergestaltung Hafen Werbeagentur, Hamburg
Coverabbildung Westend61/Getty Images; Magdalena Russocka/Trevillion Images
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
ISBN 978-3-644-01567-8
www.rowohlt.de
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
Für meinen Daniel natürlich
Mein Mann erkennt mein Gesicht nicht.
Ich spüre, dass er mich anblickt, während ich fahre, und frage mich, was er sieht. Ihm kommt auch sonst niemand bekannt vor. Dennoch ist es ein befremdlicher Gedanke, dass der Mann, mit dem ich verheiratet bin, mich bei einer Gegenüberstellung nicht identifizieren könnte.
Ich weiß, ohne hinzuschauen, welchen Gesichtsausdruck er hat. Es ist diese mürrische, verdrossene Miene, dieses «Ich habs dir ja gesagt», deshalb konzentriere ich mich lieber auf die Straße. Das muss ich auch. Der Schneefall ist dichter geworden, die Landschaft hat beinahe alle Konturen verloren, und die Scheibenwischer meines Morris Minor Traveller kommen kaum nach. Das Auto ist – wie auch ich – Baujahr 1978. Wenn man die Dinge pflegt, halten sie ein Leben lang, aber ich habe so den Verdacht, dass mein Mann uns möglicherweise beide gern gegen jüngere Modelle eintauschen würde. Seit wir zu Hause losgefahren sind, hat Adam den Sitz seines Sicherheitsgurts hundertmal überprüft, und seine Hände liegen, zu Fäusten geballt, nebeneinander im Schoß. Die Fahrt von London hinauf nach Schottland hätte nicht länger als acht Stunden dauern dürfen, aber in diesem Schneegestöber wage ich es nicht, schneller zu fahren. Auch wenn es allmählich dunkel wird und es scheint, als hätten wir uns in mehr als einer Hinsicht verirrt.
Kann ein Wochenendtrip eine Ehe retten? Das fragte mein Mann, als die Therapeutin es vorschlug. Jedes Mal, wenn ich daran denke, entsteht in meinem Kopf eine neue Liste mit Dingen, die ich bedauere. Dass wir so viel von unserem Leben vergeudet haben, indem wir es nicht richtig ausgekostet haben, macht mich sehr traurig. Wir waren nicht immer die Menschen, die wir jetzt sind, aber unsere Erinnerungen an die Vergangenheit können uns alle zu Lügnern machen. Deshalb konzentriere ich mich auf die Zukunft. Meine Zukunft. An manchen Tagen kommt er noch darin vor, aber hin und wieder male ich mir aus, wie es wäre, wieder allein zu sein. Es ist nicht das, was ich will, aber ich frage mich durchaus, ob es womöglich für uns beide am besten wäre. Die Zeit kann Beziehungen verändern, so wie das Meer den Sand formt.
Als wir die Wetterwarnungen sahen, wollte er die Reise verschieben, aber das konnte ich nicht. Wir wissen beide, dass dieser Wochenendtrip eine letzte Gelegenheit ist, unsere Ehe zu kitten. Oder es zumindest zu versuchen. Das hat er nicht vergessen.
Dass mein Mann vergisst, wer ich bin, ist nicht seine Schuld.
Adam leidet unter einem neurologischen Defekt namens Prosopagnosie, der dazu führt, dass er in Gesichtern keine Unterscheidungsmerkmale erkennen kann, auch in seinem eigenen nicht. Nicht nur einmal ist er auf der Straße schon an mir vorbeigegangen wie an einer Fremden. Die soziale Phobie, die das unweigerlich auslöst, beeinträchtigt uns beide. Adam kann auf einer Party von Freunden umringt sein und dennoch das Gefühl haben, keine Menschenseele im Raum zu kennen. Daher verbringen wir viel Zeit allein. Zusammen, aber getrennt. Nur wir. Die Gesichtsblindheit ist nicht das Einzige, womit mein Mann mir das Gefühl gibt, unsichtbar zu sein. Er wollte keine Kinder – er könne die Vorstellung nicht ertragen, dass er ihre Gesichter nicht würde erkennen können, hat er immer gesagt. Er lebt schon sein ganzes Leben mit dieser Einschränkung, und ich lebe damit, seit wir uns kennen. Manchmal kann ein Fluch ein Segen sein.
Mein Mann mag nicht wissen, wie mein Gesicht aussieht, aber er hat gelernt, mich an anderen Dingen zu erkennen: an meinem Parfüm, an meiner Stimme, und, als er noch meine Hand hielt, auch daran, wie diese sich anfühlt.
Es sind nicht die Ehen, die scheitern, es sind die Menschen.
Ich bin nicht die Frau, in die er sich vor all den Jahren verliebte. Ich frage mich, ob er erkennen kann, wie viel älter ich jetzt aussehe. Ob er die grauen Strähnen in meinem langen blonden Haar bemerkt. Vierzig mag das neue Dreißig sein, aber meine Haut ist von Fältchen durchzogen, von denen nur wenige vom Lachen herrühren. Wir hatten einmal so viel gemeinsam, haben nicht nur das Bett, sondern auch Geheimnisse und Träume geteilt. Auch heute noch beenden wir die Sätze des anderen, nur liegen wir neuerdings falsch damit.
«Ich habe das Gefühl, wir bewegen uns im Kreis», murrt er leise, und zunächst ist mir nicht klar, ob er von unserer Ehe oder meinem Orientierungssinn spricht. Der bedrohlich wirkende schiefergraue Himmel scheint seine Laune zu spiegeln, und es ist seit vielen Meilen das erste Mal, dass er etwas gesagt hat. Auf der Straße bleibt der Schnee jetzt liegen, und der Wind frischt auf, aber das ist noch gar nichts gegen den Sturm, der sich hier im Auto zusammenbraut.
«Kannst du vielleicht die Wegbeschreibung heraussuchen, die ich ausgedruckt habe, und sie noch einmal vorlesen?», sage ich und versuche vergeblich, mir meine Gereiztheit nicht anhören zu lassen. «Wir müssen ganz in der Nähe sein.»
Im Gegensatz zu mir ist mein Mann unverschämt gut gealtert. Seine rund vierzig Jahre sind geschickt getarnt durch einen teuren Haarschnitt, gebräunte Haut und einen durch ein Übermaß an Halbmarathons geformten Körper. Er war schon immer gut im Davonlaufen, besonders vor der Realität.
Adam ist Drehbuchautor. Er hat weit unterhalb der untersten Sprosse von Hollywoods ausziehbarer Leiter angefangen und reichte allein nicht ganz heran. Anderen erzählt er, er sei gleich von der Schule in die Filmbranche gegangen, was nicht direkt gelogen ist. Mit sechzehn suchte er sich einen Job im Electric Cinema in Notting Hill, wo er Eintrittskarten und Snacks verkaufte. Mit einundzwanzig hatte er bereits die Rechte an seinem ersten Drehbuch verkauft. Schere, Stein, Papier blieb im Entwicklungsstadium stecken, aber es sprang ein Agent für Adam dabei heraus, und der besorgte ihm Arbeit: eine Romanadaption. Das Buch war kein Bestseller, doch die Verfilmung – eine britische Low-Budget-Produktion – gewann einen Bafta, und ein Schriftsteller war geboren. Es war nicht dasselbe wie die eigenen Figuren auf der Leinwand zum Leben erwachen zu sehen – die Straßen zu unseren Träumen verlaufen nur selten geradlinig –, aber Adam musste kein Popcorn mehr verkaufen und konnte in Vollzeit schreiben.
Drehbuchautoren sind in der Regel keine Stars, deshalb kennen manche Menschen vielleicht seinen Namen nicht, aber ich würde wetten, dass sie mindestens einen Film nach einem Drehbuch von ihm gesehen haben. Trotz unserer Probleme bin ich sehr stolz auf alles, was er erreicht hat. Adam Wright hat sich in der Branche einen Namen als jemand gemacht, der unbekannte Romane in Blockbuster-Filme verwandelt, und er ist immer auf der Suche nach dem nächsten Kandidaten. Ich gebe zu, dass ich manchmal eifersüchtig bin, aber das ist wohl ganz natürlich angesichts der vielen Abende, an denen er lieber mit einem Buch ins Bett geht. Mein Ehemann betrügt mich nicht mit anderen Frauen – oder Männern –, er hat Affären mit ihren Texten.
Menschen sind eine seltsame, unberechenbare Spezies. Ich ziehe die Gesellschaft von Tieren vor – einer der Gründe, warum ich im Hundeasyl in Battersea arbeite. Vierbeinige Geschöpfe sind in der Regel eine bessere Gesellschaft als zweibeinige, und Hunde tragen einem weder etwas nach, noch wissen sie, wie man hasst. An die anderen Gründe für meine Arbeit möchte ich jetzt nicht denken; manchmal ist es besser, die Erinnerungen verstauben zu lassen.
Durch die Windschutzscheibe bietet sich uns ein Blick auf eine sich unentwegt verändernde, spektakuläre Landschaft. Da sind Bäume in sämtlichen Grüntönen, glitzernde Lochs, schneebedeckte Berggipfel und eine unendliche, unberührte Weite. Ich liebe die schottischen Highlands. Falls es auf der Erde eine schönere Gegend gibt, habe ich sie noch nicht gefunden. Hier oben wirkt die Welt so viel größer als in London. Oder vielleicht bin ich kleiner. In der unaufgeregten Stille und Abgeschiedenheit hier finde ich Frieden. Seit über einer Stunde haben wir keine Menschenseele gesehen, und das macht die Gegend zum perfekten Schauplatz für das, was ich vorhabe.
An einem stürmischen Meer zu unserer Linken vorbei fahren wir weiter nordwärts, und die ans Ufer schlagenden Brecher bringen uns ein Ständchen. Als die kurvige Straße zu einem schmalen Sträßchen schrumpft, spiegelt sich der zunächst blaue Himmel, der sich dann rosa, violett und jetzt schwarz verfärbt hat, in den teils gefrorenen Lochs, an denen wir vorüberkommen. Weiter landeinwärts umfängt uns ein Wald. Uralte schneebestäubte Kiefern, höher als unser Haus, biegen sich im Sturm, als wären sie nur Streichhölzer. Der Wind heult wie ein Gespenst um unser Auto und versucht immer wieder, uns vom Kurs abzubringen. Als wir auf der vereisten Straße ein bisschen ins Rutschen geraten, umklammere ich das Lenkrad so fest, dass meine Knöchel durch die Haut zu brechen scheinen. Mein Blick fällt auf meinen Ehering – eine handfeste Erinnerung daran, dass wir noch zusammen sind, trotz alldem, was für eine Trennung spricht. Nostalgie ist eine gefährliche Droge, aber ich genieße es, wenn glücklichere Erinnerungen meinen Kopf fluten. Vielleicht haben wir uns gar nicht so sehr verirrt, wie es uns vorkommt. Ich werfe dem Mann neben mir einen verstohlenen Blick zu und frage mich, ob wir wohl noch zu uns zurückfinden können. Dann mache ich etwas, was ich lange nicht mehr getan habe: Ich greife nach seiner Hand.
«Halt!», brüllt er.
Es geht alles ganz schnell. Das verschwommene, verschneite Bild eines Hirschs, der mitten auf der Straße steht. Mein Fuß knallt aufs Bremspedal, der Wagen gerät ins Schleudern, dreht sich und kommt schließlich unmittelbar vor dem gewaltigen Geweih des Hirschs zum Stehen. Das Tier sieht uns an, blinzelt zweimal, schreitet gelassen davon, als wäre nichts passiert, und verschwindet im Wald. Sogar die Bäume sehen verfroren aus.
Mit wild klopfendem Herzen und zitternden Händen greife ich nach meiner Handtasche. Ich ertaste mein Portemonnaie, die Schlüssel und fast alles andere darin, bevor ich endlich den Inhalator finde. Ich schüttele ihn und sprühe mir eine Dosis in den Rachen.
«Alles in Ordnung bei dir?», frage ich und inhaliere eine zweite Dosis.
«Ich habe dir doch gesagt, dass das eine schlechte Idee ist», erwidert Adam.
Auf dieser Fahrt habe ich mir schon so oft auf die Zunge gebissen, dass sie eigentlich voller Löcher sein müsste.
«Ich kann mich nicht erinnern, dass du eine bessere gehabt hättest», fauche ich.
«Eine achtstündige Anfahrt für einen Wochenendtrip …»
«Wir reden seit einer Ewigkeit davon, dass es schön sein könnte, mal in die Highlands zu fahren.»
«Es könnte auch schön sein, mal zum Mond zu fliegen, aber mir wäre lieber, wir würden das besprechen, bevor du uns einen Platz in der Rakete buchst. Du weißt, wie beschäftigt ich im Moment bin.»
«Beschäftigt» ist in unserer Ehe zu einem Reizwort geworden. Adam trägt sein Beschäftigtsein wie ein Abzeichen. Wie ein Pfadfinder. Es ist etwas, worauf er stolz ist: ein Statussymbol seines Erfolgs. Es gibt ihm ein Gefühl von Wichtigkeit und mir den Wunsch ein, ihm die Romane, die er adaptiert, an den Kopf zu werfen.
«Wir sind, wo wir sind, weil du immer zu beschäftigt bist», sage ich verbissen. Mir klappern die Zähne. Es ist so kalt im Auto, dass ich meinen Atem sehen kann.
«Entschuldige mal, willst du damit andeuten, es sei meine Schuld, dass wir in Schottland sind? Mitten in einem Schneesturm? Das war deine Idee. Wenigstens muss ich dein unaufhörliches Genörgel nicht mehr hören, wenn wir von einem umstürzenden Baum erschlagen werden oder an Unterkühlung sterben in dieser Schrottkiste, die du unbedingt fahren musst.»
In der Öffentlichkeit zanken wir uns nie so, nur wenn wir allein sind. Wir sind beide ziemlich gut darin, den Schein zu wahren, und meiner Erfahrung nach sehen die Menschen nur, was sie sehen wollen. Aber hinter geschlossenen Türen läuft es schon lange schief bei Mr und Mrs Wright.
«Wenn ich mein Telefon hätte, wären wir längst da», sagt er und durchsucht das Handschuhfach nach seinem geliebten Mobiltelefon, das er nicht finden kann. Mein Ehemann hält technische Spielereien für die Lösung sämtlicher Probleme des Lebens.
«Bevor wir aus dem Haus gegangen sind, habe ich dich gefragt, ob du alles hast, was du brauchst», sage ich.
«Ich hatte alles. Mein Telefon war im Handschuhfach.»
«Dann wäre es jetzt immer noch da. Es ist nicht meine Aufgabe, für dich zu packen. Ich bin nicht deine Mutter.»
Sofort bereue ich, das gesagt zu haben, aber Worte kann man nicht umtauschen wie Geschenke. Adams Mutter steht ganz oben auf der langen Liste der Dinge, über die er nicht gerne spricht. Ich versuche, die Geduld zu wahren, während er weiter nach seinem Telefon sucht, obwohl ich weiß, dass er es niemals finden wird. Er hat recht. Er hat es tatsächlich heute Morgen ins Handschuhfach gelegt. Aber ich habe es vor der Abfahrt wieder herausgeholt und im Haus versteckt. Ich beabsichtige, meinem Mann an diesem Wochenende eine wichtige Lektion zu erteilen, und dafür braucht er sein Telefon nicht.
Eine Viertelstunde später sind wir wieder auf der Straße und scheinen Fortschritte zu machen.
Adam kneift die Augen zusammen, um in der Dunkelheit etwas erkennen zu können, und liest die Wegbeschreibung, die ich ausgedruckt habe – wenn es kein Buch oder Manuskript ist, scheint ihn alles zu verwirren, was auf Papier steht statt auf einem Bildschirm.
«Am nächsten Kreisverkehr musst du die erste Ausfahrt nehmen», sagt er und klingt zuversichtlicher, als ich gedacht hätte.
Bald sind wir darauf angewiesen, dass der Mond uns den Weg leuchtet und die Landschaft andeutet, die vor uns ansteigt und wieder abfällt. Straßenlaternen gibt es keine, und die Scheinwerfer des Morris Minor beleuchten gerade einmal die Straße vor uns. Mir fällt auf, dass wir schon wieder wenig Benzin haben, aber in der letzten Stunde habe ich keine Tankstelle gesehen. Es schneit jetzt unablässig, und man sieht meilenweit nichts als die dunklen Umrisse von Bergen und Lochs.
Als wir endlich ein zugeschneites altes Schild nach Blackwater entdecken, ist die Erleichterung im Auto mit Händen greifbar. Die letzten Anweisungen liest Adam in beinahe begeistertem Ton vor.
«Fahren Sie über die Brücke und biegen Sie hinter einer Sitzbank mit Blick über den Loch rechts ab. Die Straße verläuft in einer Kurve nach rechts ins Tal hinein. Wenn Sie am Pub vorbeikommen, sind Sie zu weit gefahren und haben die Abzweigung zum Grundstück verpasst.»
«Abendessen im Pub nachher wäre vielleicht nett», schlage ich vor.
Keiner von uns sagt etwas, als das Blackwater Inn in der Ferne in Sicht kommt. Ich biege vor dem Pub ab, aber wir kommen nahe genug heran, um zu sehen, dass die Fenster verbarrikadiert sind. Das gespenstische Haus wirkt, als stünde es schon lange leer.
Die Straße, die sich ins Tal hinabschlängelt, ist spektakulär und beängstigend zugleich. Sie sieht aus, als wäre sie von Hand aus dem Berg herausgemeißelt worden. Die Fahrspur ist gerade breit genug für unser kleines Auto, und an einer Seite fällt das Gelände steil ab, ohne Leitplanke.
«Ich glaube, ich sehe etwas», sagt Adam, beugt sich zur Windschutzscheibe vor und späht in die Dunkelheit hinaus. Ich sehe nur den schwarzen Himmel und darunter die weiße Schneedecke, die über allem liegt.
«Wo?»
«Da. Gleich hinter den Bäumen.»
Er zeigt auf etwas, das ich nicht sehe, und ich fahre langsamer. Aber dann erkenne ich in der Ferne ein großes weißes, frei stehendes Gebäude.
«Es ist nur eine Kirche», sagt er entmutigt.
«Das ist es!», rufe ich, nachdem ich ein altes Holzschild ein Stück voraus gelesen habe. «Blackwater Chapel, danach suchen wir. Anscheinend sind wir da!»
«Wir sind den ganzen weiten Weg gefahren, um in … einer alten Kirche zu übernachten?»
«In einer umgewandelten Kapelle, ja, und ich bin die ganze Strecke gefahren.»
Ich bremse stark ab und folge dem verschneiten unbefestigten Weg, der von der einspurigen Landstraße zum Talgrund führt. Wir passieren ein winziges strohgedecktes Cottage zur Rechten – meilenweit das einzige andere Gebäude, soweit ich sehe –, dann fahren wir über eine kleine Brücke und sehen uns gleich darauf mit einer Schafherde konfrontiert. Die Tiere schmiegen sich aneinander und verstellen uns den Weg; die Autoscheinwerfer tauchen sie in ein gespenstisches Licht. Ich lasse den Motor ein bisschen aufheulen und betätigte die Hupe, aber sie rühren sich nicht vom Fleck. Ihre Augen glühen im Dunkeln, was sie ein bisschen übernatürlich erscheinen lässt. Dann höre ich es hinter mir knurren.
Bob, unser großer schwarzer Labrador, war den Großteil der Fahrt über still. In seinem Alter will er hauptsächlich fressen und schlafen, aber vor Schafen hat er Angst. Und vor Federn. Auch ich habe alberne Ängste, aber meine sind gerechtfertigt. Bobs Knurren jagt der Herde keine Angst ein. Ohne Vorwarnung öffnet Adam seine Tür, und sofort weht Schnee herein und wirbelt durchs Wageninnere. Ich beobachte, wie er aussteigt, das Gesicht abschirmt, die Tiere beiseite scheucht und ein Tor öffnet, das hinter ihnen verborgen war. Wie Adam es im Dunkeln sehen konnte, ist mir ein Rätsel.
Wortlos steigt er wieder ein, und ich lasse uns langsam den Rest des Wegs entlangrollen. Er verläuft gefährlich nahe am Ufer, und ich kann mir vorstellen, warum der Loch «Schwarzwasser» heißt. Als ich vor der alten weißen Kapelle halte, fühle ich mich gleich besser. Es war eine anstrengende Fahrt, aber wir haben es geschafft, und ich sage mir, wenn wir erst im Haus sind, ist alles gut.
Im Schneesturm auszusteigen, ist ein Schock für den Körper. Ich ziehe meine Jacke um mich zu, aber der eiskalte Wind verschlägt mir den Atem, und der Schnee fegt mir ins Gesicht. Ich hole Bob aus dem Kofferraum, und dann stapfen wir drei durch den Schnee auf eine große, gotisch wirkende, doppelflügelige Eingangstür zu. In einer umgewandelten Kapelle zu übernachten, habe ich mir romantisch vorgestellt. Schräg und witzig. Aber jetzt, wo wir da sind, fühlt sich das Ganze ein bisschen wie der Beginn eines Horrorfilms an.
Die Tür der Kapelle ist verschlossen.
«Hat der Vermieter etwas von einem Schlüsselkasten gesagt?», fragt Adam.
«Nein, die Tür sollte eigentlich offen sein.»
Ich blicke an dem beeindruckenden Gebäude empor, schirme die Augen vor dem Schnee ab und betrachte die dicken weißen Steinmauern, den Glockenturm und die Buntglasfenster. Wieder fängt Bob an zu knurren, was ihm gar nicht ähnlich sieht, aber vielleicht sind da irgendwo noch mehr Schafe oder andere Tiere? Etwas, das Adam und ich nur nicht sehen können?
«Vielleicht ist an der Rückseite noch eine Tür?», meint Adam.
«Hoffentlich hast du recht. Es sieht jetzt schon so aus, als müssten wir den Wagen nachher ausgraben.»
Wir stapfen um die Kapelle herum, Bob voran. Er zieht an der Leine, als wäre er irgendetwas auf der Spur. Es gibt zwar unendlich viele Buntglasfenster, aber weitere Türen finden wir nicht. Und obwohl die Vorderseite des Gebäudes von Außenscheinwerfern angeleuchtet wird – die Lichter, die wir schon von Weitem sahen –, ist es drinnen völlig dunkel. Mit gesenkten Köpfen gehen wir weiter, bis wir die Kapelle einmal umrundet haben.
«Und jetzt?», frage ich.
Adam antwortet nicht.
Ich blicke hoch, halte mir die Hand über die Augen und stelle fest, dass Adam die Kapelle anstarrt. Die gewaltige Holztür steht jetzt weit offen.
Wenn jede Geschichte ein Happy End hätte, hätten wir keinen Grund, noch einmal neu anzufangen. Im Leben geht es um Entscheidungen und darum zu lernen, wie man wieder auf die Beine kommt, nachdem man gescheitert ist. Und das tun wir alle. Sogar die Leute, die das Gegenteil behaupten. Bloß weil ich das Gesicht meiner Frau nicht erkenne, heißt das nicht, dass ich nicht wüsste, wer sie ist.
«Vorher war die Tür doch zu, oder?», frage ich, aber Amelia antwortet nicht.
Seite an Seite stehen wir draußen vor der Kapelle und zittern, während um uns Schneegestöber herrscht. Sogar Bob wirkt unglücklich, und der ist sonst immer zufrieden. Es war eine lange, zähe Fahrt, umso quälender, weil ich dumpf pochende Kopfschmerzen an der Schädelbasis hatte. Ich habe gestern Abend mehr getrunken, als gut für mich war, mit jemandem, mit dem ich das besser nicht getan hätte. Wieder einmal. Zur Verteidigung des Alkohols muss ich sagen, dass ich schon die gleichen Dummheiten gemacht habe, wenn ich nüchtern war.
«Lass uns keine voreiligen Schlüsse ziehen», sagt meine Frau schließlich, aber ich fürchte, das haben wir beide längst getan.
«Die Tür ist doch nicht einfach von selbst aufgegangen …»
«Vielleicht hat die Haushälterin uns klopfen gehört?», unterbricht sie mich.
«Die Haushälterin? Auf welcher Website hast du diese Unterkunft noch gleich gebucht?»
«Auf gar keiner. Ich habe das Wochenende hier in der Tombola bei unserer Weihnachtsfeier gewonnen.»
Ich zögere nur wenige Sekunden mit meiner Antwort, doch Schweigen kann die Zeit dehnen, sodass es einem länger vorkommt. Außerdem ist mein Gesicht jetzt so kalt, dass ich mir nicht sicher bin, ob ich den Mund bewegen kann. Aber wie sich herausstellt, kann ich es.
«Nur um das klarzustellen … du hast in der Tombola des Tierheims für Hunde in Battersea ein Wochenende in einer alten schottischen Kirche gewonnen?»
«Es ist eine Kapelle, aber ja. Was stimmt damit nicht? Wir veranstalten jedes Jahr eine Tombola. Jeder spendet etwas, und ich habe ausnahmsweise mal was Gutes gewonnen.»
«Na toll», entgegne ich. «Das war ja bisher so richtig ‹gut›.»
Sie weiß, dass ich lange Reisen verabscheue. Ich hasse Autos und Autofahren – ich habe nicht einmal den Führerschein gemacht –, von daher entsprechen acht Stunden in dieser antiken Blechbüchse auf vier Rädern, und das noch während eines Schneesturms, nicht unbedingt meiner Vorstellung von Spaß. In der Hoffnung auf moralische Unterstützung sehe ich den Hund an, aber Bob versucht eifrig, die Schneeflocken zu fressen, die da vom Himmel fallen. Amelia, die ihre Niederlage ahnt, setzt jetzt diesen passiv-aggressiven Ton ein, der mich früher amüsiert hat. Heute wünschte ich nur, ich wäre taub.
«Sollen wir dann reingehen?», flötet sie. «Das Beste daraus machen? Wenn es ganz schlimm ist, fahren wir einfach wieder, suchen uns ein Hotel oder schlafen notfalls im Auto.»
Lieber esse ich meine eigene Leber, als mich wieder in ihr Auto zu setzen.
Meine Frau verwendet in letzter Zeit immer dieselben Phrasen, immer wieder, und es fühlt sich jedes Mal an wie eine Ohrfeige oder als würde sie mich kneifen. «Ich verstehe dich nicht», ärgert mich am meisten, denn was gibt es da zu verstehen? Sie mag Tiere mehr als Menschen; ich ziehe Fiktionales vor. Wirklich problematisch wurde es vermutlich, als wir begannen, diese Dinge unserem Ehepartner vorzuziehen. Man könnte meinen, wir hätten die AGB unserer Beziehung entweder vergessen oder gar nicht erst richtig gelesen. Es ist ja nicht so, als wäre ich nicht schon ein Workaholic gewesen, als wir uns kennenlernten. Oder ein «Schreibaholic», wie sie es gerne nennt. Alle Menschen sind süchtig, und alle Süchtigen wollen das Gleiche: die Flucht vor der Realität. Bei mir ist es nur zufälligerweise so, dass meine Lieblingsdroge meine Arbeit ist.
Immer gleich, aber anders, das sage ich mir, wenn ich ein neues Drehbuch beginne. So wollen die Menschen es, glaube ich, und warum sollte man die Zutaten eines Erfolgsrezepts ändern? Ich weiß nach wenigen Seiten, ob ein Buch für die Leinwand taugt oder nicht – und das ist auch gut so, denn ich bekomme viel zu viele Bücher zugeschickt, um sie alle zu lesen. Aber nur, weil ich gut in dem bin, was ich mache, will ich nicht für den Rest meines Lebens anderer Leute Bücher adaptieren. Ich habe eigene Geschichten zu erzählen. Allerdings ist Hollywood nicht mehr an Originalität interessiert, die wollen bloß Romane in Filme auf der Leinwand oder im Fernsehen verwandeln wie Wein in Wasser. Ein bisschen anders, aber immer gleich. Doch trifft diese Regel auch auf Beziehungen zu? Wenn wir in einer Ehe zu lange dieselben Rollen spielen, ist es dann nicht unvermeidlich, dass die Geschichte uns irgendwann langweilt und wir aufgeben oder vor dem Ende ausschalten?
«Sollen wir?», reißt Amelia mich aus meinen Gedanken und blickt hinauf zum Glockenturm dieser gruseligen Kapelle.
«Ladys first.» Soll mal einer sagen, ich sei kein Gentleman. «Ich hole das Gepäck aus dem Auto», füge ich hinzu, begierig, noch einmal ein paar Sekunden allein zu sein, bevor wir hineingehen.
Ich verwende viel Zeit darauf, niemanden zu kränken: Producer, Produzenten, Schauspieler, Agentinnen, Autoren. Wenn man jetzt noch meine Gesichtsblindheit dazu nimmt, darf ich wohl behaupten, dass ich den Eiertanz auf olympischem Niveau beherrsche. Bei einer Hochzeit habe ich mich einmal zehn Minuten lang mit einem Paar unterhalten, bevor ich erkannte, dass die beiden das Brautpaar waren. Sie trug kein typisches Hochzeitskleid, und er sah aus wie ein Klon seiner zahlreichen Trauzeugen. Aber ich kam damit durch, weil es zu meinem Job gehört, Menschen für mich einzunehmen. Eine Autorin dazu zu bringen, mir das Drehbuch zu ihrem Roman anzuvertrauen, kann schwieriger sein, als eine Mutter zu überreden, ihr erstgeborenes Kind einem Fremden zu überlassen. Aber ich bin gut darin. Leider scheine ich vergessen zu haben, wie ich meine Frau für mich einnehmen kann.
Von meiner Prosopagnosie erzähle ich niemandem. Hauptsächlich deshalb, weil ich nicht will, dass ich allein darauf festgelegt werde, und ganz ehrlich, sobald jemand davon erfährt, will er oder sie über nichts anderes mehr reden. Weder brauche noch will ich Mitleid von irgendjemandem, und ich mag es nicht, wenn man mir das Gefühl gibt, ein Freak zu sein. Was die Leute anscheinend nicht begreifen, ist, dass es für mich normal ist, keine Gesichter zu erkennen. Es ist nur ein Defekt in meiner Programmierung; einer, der nicht behoben werden kann. Ich behaupte nicht, dass ich es gut finde. Stellen Sie sich vor, Sie könnten Ihre eigenen Freunde oder Ihre Familie nicht erkennen. Oder Sie wüssten nicht, wie das Gesicht Ihrer Ehefrau aussieht. Ich hasse es, mich in Restaurants mit Amelia zu treffen, aus Angst, ich könnte mich an den falschen Tisch setzen. Wenn es nach mir ginge, würde ich es immer vorziehen, etwas nach Hause zu bestellen. Manchmal erkenne ich nicht einmal mein eigenes Gesicht im Spiegel. Aber ich habe gelernt, damit zu leben. Wie wir alle es tun, wenn das Leben uns kein perfektes Blatt zugeteilt hat.
Ich glaube, ich habe auch gelernt, mit einer nicht perfekten Ehe zu leben. Aber tut das nicht jeder? Ich bin nicht defätistisch, nur ehrlich. Ist es nicht das, worum es in erfolgreichen Beziehungen geht? Kompromisse? Gibt es irgendeine Ehe, die wirklich perfekt ist?
Ich liebe meine Frau. Ich glaube bloß nicht, dass wir uns noch so mögen wie früher.
«Das ist so gut wie alles», sage ich, als ich mich auf der Treppe vor der Kapelle wieder zu ihr geselle, beladen mit mehr Gepäck, als wir für die paar Nächte irgend brauchen können. Sie funkelt meine Schulter an, als ob die ihr etwas getan hätte.
«Ist das da deine Laptoptasche?», fragt sie, obwohl sie genau weiß, dass sie es ist.
Ich bin ja kein Neuling in diesem Spiel, es gibt also keine Erklärung oder Entschuldigung für meinen Fehler. Ich stelle mir vor, wie Amelia ein Gehe-in-das-Gefängnis-Gesicht zieht. Das ist kein guter Anfang. Mir wird nicht erlaubt werden, an diesem Wochenende zu schreiben oder über Los zu gehen. Wäre unsere Ehe eine Partie Monopoly, würde meine Frau jedes Mal, wenn ich auf einem ihrer Hotels lande, doppelte Miete kassieren.
«Keine Arbeit, das hast du versprochen», sagt sie in diesem enttäuschten, weinerlichen Ton, der mir so vertraut geworden ist. Meine Arbeit hat unser Haus und unsere Urlaube finanziert; darüber beklagt sie sich nicht.
Wenn ich bedenke, was wir alles haben – ein schönes Haus in London, ein gutes Leben, Geld auf der Bank –, dann komme ich zu demselben Schluss wie immer: Wir müssten glücklich sein. Aber was wir alles nicht haben, wird leicht übersehen. Die meisten Freunde in unserem Alter haben alte Eltern oder kleine Kinder, um die sie sich kümmern, wir hingegen haben nur einander. Keine Eltern, keine Geschwister, keine Kinder, nur uns. Dieser Mangel an geliebten Menschen war von Anfang an etwas, das wir gemein hatten. Mein Vater ging fort, als ich noch zu klein war, um mich an ihn zu erinnern, und meine Mutter starb, als ich noch zur Schule ging. Die Kindheit meiner Frau erinnerte nicht weniger an Oliver-Twist: Sie wurde noch vor ihrer Geburt Waise.
Bob rettet uns vor uns selbst, indem er an der Kapellentür wieder knurrt. Das ist seltsam, denn sonst macht er das nie, aber ich bin dankbar für die Ablenkung. Es ist schwer vorstellbar, dass er einmal ein winziger Welpe war, den jemand in einen Schuhkarton gesteckt und in einen Müllcontainer geworfen hatte, denn später wuchs er zum größten schwarzen Labrador heran, den ich je gesehen habe. Neuerdings hat er graue Haare am Kinn und geht langsamer als früher, aber er ist in unserer dreiköpfigen Familie nach wie vor der Einzige, der zu bedingungsloser Liebe fähig ist. Ich bin mir sicher, alle finden, dass wir Bob wie einen Kinderersatz behandeln, selbst wenn sie zu höflich sind, um es auszusprechen. Ich habe immer gesagt, dass es mir nichts ausmacht, keine echten Kinder zu haben. Menschen, denen es nicht vergönnt ist, ihren Kindern Namen zu geben, dürfen einer anderen Zukunft einen Namen geben. Außerdem, welchen Sinn hat es, etwas zu wollen, von dem man weiß, dass man es nicht haben kann? Dafür ist es jetzt zu spät.
Normalerweise fühle ich mich nicht wie vierzig. Manchmal frage ich mich, wo die Jahre geblieben sind und wann ich vom Jungen zum Mann geworden bin. Vielleicht hat es damit zu tun, dass ich eine Arbeit mache, die ich liebe. Meine Arbeit gibt mir das Gefühl, jung zu sein, meine Frau dagegen gibt mir das Gefühl, alt zu sein. Die Paartherapeutin war Amelias Idee, und diesen Wochenendtrip haben sie sich zusammen einfallen lassen. «Nennen Sie mich Pamela», die sogenannte Expertin glaubte, ein Wochenende anderswo könnte unsere Beziehung kitten. All die Wochenenden und Abende, die wir gemeinsam zu Hause verbracht haben, waren wohl null und nichtig. Die wöchentlichen Sitzungen, bei denen wir einer Wildfremden Einblick in die intimsten Winkel unserer Ehe geben, kosten mehr als nur ihr exorbitantes Honorar. Wegen dieses Honorars und aus diversen anderen Gründen habe ich diese Frau in jeder Sitzung mehrmals Pammy oder Pam genannt. «Nennen Sie mich Pamela» mag das nicht, aber ich mag sie auch nicht sonderlich, insofern gleicht sich das aus. Meine Frau wollte nicht, dass sonst jemand von unseren Eheproblemen erfährt, aber ich vermute, einige werden etwas bemerkt haben. Die meisten Menschen können das Menetekel sehen, auch wenn sie nicht immer lesen können, was an der Wand steht.
Kann ein Wochenendtrip wirklich eine Ehe retten? Das fragte Amelia, als «Nennen Sie mich Pamela» den Vorschlag machte. Ich glaube es nicht. Deshalb überlegte ich mir selbst etwas für uns, lange bevor ich in ihren Plan einwilligte. Aber jetzt sind wir hier … steigen die Stufen zur Eingangstür hinauf … und ich weiß nicht, ob ich das durchziehen kann.
«Bist du sicher, dass du das tun willst?», frage ich und bleibe an der Türschwelle stehen.
«Ja. Warum?», fragt sie, als könnte sie den Hund nicht knurren und den Wind nicht heulen hören.
«Ich weiß nicht. Irgendetwas kommt mir komisch vor …»
«Das ist keine Horrorgeschichte von einem deiner Lieblingsautoren, Adam. Das ist das reale Leben. Vielleicht hat der Wind die Tür aufgedrückt?»
Sie kann sagen, was sie will, aber die Tür war nicht einfach nur zu. Sie war abgeschlossen, und das wissen wir beide.
Wir betreten etwas, das bei vornehmen Leuten Schuhraum genannt wird, und ich stelle die Taschen ab. Um meine Schuhe herum bildet sich eine Schmelzwasserpfütze. Der aus Steinplatten bestehende Boden wirkt sehr alt, und in die hintere Wand sind rustikale Holzfächer für Stiefel eingebaut. Außerdem gibt es reihenweise Garderobenhaken, allesamt frei. Wir ziehen weder unsere nassen Schuhe noch die Jacken aus, teils, weil es hier drin genauso kalt wie draußen ist, aber auch, weil immer noch unklar ist, ob wir überhaupt hierbleiben.
Eine Wand hängt voller Spiegel. Sie sind klein, keiner mehr als handtellergroß, und haben alle möglichen sonderbaren Formen. Sie stecken in kunstvollen Metallrahmen und hängen, wie zufällig hingeworfen, mit einfacher Schnur an rostigen Nägeln. Es müssen mindestens fünfzig sein, in denen sich nun unsere Gesichter spiegeln. Beinahe so, als hätten sich all die früheren Versionen von uns, die wir wurden, damit unsere Ehe funktioniert, hier versammelt und blickten auf die beiden herab, die wir jetzt sind. Halb bin ich froh darum, dass ich sie nicht erkenne. Ich weiß nicht, ob mir gefallen würde, was ich sähe.
Das ist nicht die einzige Besonderheit der Inneneinrichtung. An der hinteren gekalkten Wand sind wie Trophäen Schädel und Geweihe zweier Hirsche aufgehängt, und aus den leeren Augenhöhlen ragen vier weiße Federn. Der Anblick ist ein bisschen befremdlich, aber meine Frau geht näher heran und betrachtet die Schädel so fasziniert, als wäre sie in einer Kunstausstellung. In einer Ecke steht eine alte Kirchenbank, die meine Aufmerksamkeit erregt. Sie sieht antik aus und ist so verstaubt, als wäre schon sehr lange niemand mehr hier gewesen. Was erste Eindrücke betrifft, ist dieser nicht gerade positiv.
Ich erinnere mich an die Anfangszeit unserer Beziehung. Damals passte einfach alles – wir mochten die gleichen Speisen, die gleichen Bücher, und der Sex war der beste, den ich je gehabt hatte. Alles, was ich an ihr sehen und nicht sehen konnte, war schön. Wir hatten so viel gemeinsam, und wir wollten das Gleiche im Leben. Oder jedenfalls dachte ich das. In letzter Zeit scheint sie etwas anderes zu wollen. Vielleicht jemand anderes. Denn ich bin es nicht, der sich verändert hat.
«Du musst nicht im Staub malen, um deinen Standpunkt zu verdeutlichen», sagt Amelia jetzt. Ich betrachte den kindischen kleinen Smiley in der Staubschicht auf der Kirchenbank. Bisher war er mir nicht aufgefallen.
Ich habe den nicht gemalt.
Ehe ich mich verteidigen kann, fällt hinter uns mit einem lauten Knall die Tür ins Schloss. Das ganze Gebäude erbebt, die kleinen Spiegel an der Wand schaukeln an ihren rostigen Nägeln, und der Hund wimmert.
Beide fahren wir herum, aber da ist niemand außer uns. Amelia sieht mich mit aufgerissenen Augen an, und ihr Mund bildet ein perfektes O. Mein Verstand versucht, eine rationale Erklärung zu liefern, denn das tut er immer.
«Du hast doch gedacht, der Wind könnte sie aufgestoßen haben … vielleicht hat er sie zuknallen lasen», sage ich, und Amelia nickt.
Die Frau, die ich vor über zehn Jahren geheiratet habe, hätte das niemals geglaubt. Aber Amelia hört und sieht neuerdings nur noch das, was sie hören und sehen will.
Wort des Jahres:
Limerenz, Substantiv: ein ungewollter Geisteszustand, verursacht von romantischem Verlangen nach einem anderen Menschen, verbunden mit einem überwältigenden, obsessiven Bedürfnis nach Erwiderung der eigenen Gefühle.
Lieber Adam,
es war irgendetwas auf den ersten Blick, als wir uns kennenlernten.
Ich war mir nicht sicher, was, aber ich wusste, Du spürst es auch.
Unsere Begegnung im Electric Cinema war ein etwas anderes erstes Date. Wir waren beide allein ins Kino gegangen, aber ich saß versehentlich auf Deinem Platz, wir kamen ins Gespräch, und nach dem Film verließen wir das Kino gemeinsam. Alle glaubten, wir seien verrückt und unsere stürmische Romanze würde nicht von Dauer sein, aber mir war es immer schon eine große Genugtuung, wenn ich jemandem beweisen kann, dass er unrecht hat. Wie Dir auch. Das ist eine unserer vielen Gemeinsamkeiten.
Ich gestehe, bei Dir einzuziehen war nicht ganz so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Es ist schwerer, die negativen Seiten sein wahres Ich vor jemandem zu verbergen, mit dem man zusammenlebt, und solange ich nur zu Besuch kam, konntest Du das Durcheinander bei Dir besser verbergen. Den Flur nenne ich die Straße der Geschichten, weil sich dort so viele schwankende Manuskript- und Bücherstapel angesammelt haben, dass man sich seitlich hindurchschieben muss. Ich wusste ja, dass Lesen und Schreiben ein wichtiger Teil Deines Lebens sind, aber vielleicht müssen wir uns etwas Größeres suchen als dieses Souterrain-Apartment in einem alten Reihenhaus in Notting Hill, jetzt, wo ich auch hier wohne. Trotzdem bin ich sehr glücklich. Ich habe mich daran gewöhnt, in unserem Orchester nur die zweite Geige zu spielen, und ich akzeptiere, dass wir in unserer Beziehung immer zu dritt sein werden: Du, ich und Dein Schreiben.
Es war der Auslöser unseres ersten großen Streits, erinnerst Du Dich? Vermutlich hätte mir klar sein müssen, dass ich nicht einfach in Deinen Schreibtischschubladen wühlen kann, aber ich suchte bloß Streichhölzer. Dabei fand ich das Manuskript von Schere, Stein, Papier, und auf der Titelseite stand, ordentlich in Times New Roman gedruckt, Dein Name. Ich hatte die Wohnung für mich allein und eine ganz anständige Flasche Wein, also habe ich das Ding an einem Abend durchgelesen. Dem Gesicht nach, dass Du zogst, als Du nach Hause kamst, hätte man meinen können, ich hätte Dein Tagebuch gelesen.
Aber ich glaube, jetzt verstehe ich es. Dieses Manuskript war nicht nur eine unverkaufte Geschichte; es war wie ein verlassenes Kind. Schere, Stein, Papier war Dein allererstes Drehbuch, aber es ist nie auf die Leinwand gekommen. Du hast mit drei Produzenten, zwei Regisseuren und einer prominenten Schauspielerin zusammengearbeitet. Über Jahre hast Du eine Version nach der anderen geschrieben, aber trotzdem ist es nie über das Entwicklungsstadium hinausgekommen. Es muss schlimm für Dich sein, dass Deine Lieblingsgeschichte dem Vergessen anheimfällt, in einer Schreibtischschublade verstaubt, aber ich bin mir sicher, dass das nicht für immer so bleibt. Seitdem bin ich offiziell Deine erste Leserin – eine Rolle, auf die ich sehr stolz bin –, und was Du schreibst, wird einfach immer besser.
Ich weiß, Du würdest lieber deine eigenen Geschichten verfilmt sehen, aber einstweilen dreht sich alles um die anderer Menschen. Ich habe mich immer noch nicht ganz daran gewöhnt, wie viel Zeit Du damit verbringst, ihre Romane zu lesen, weil irgendjemand irgendwo glaubt, sie könnten auf der Leinwand funktionieren. Aber ich habe Dich in ein Buch abtauchen sehen, wie ein Kaninchen im Hut eines Zauberers verschwindet, und ich habe gelernt zu akzeptieren, dass Du manchmal ein bisschen zu selbstbezogen bist tagelang nicht wieder auftauchst.
Zum Glück sind Bücher noch etwas, das wir gemeinsam haben, allerdings muss man sagen, dass wir nicht den gleichen Geschmack haben. Du magst Horrorgeschichten, Thriller und Krimis, und die sind überhaupt nicht mein Fall. Ich habe immer gedacht, mit Menschen, die düstere, verstörende Romane schreiben, könne ernsthaft etwas nicht stimmen. Ich ziehe eine schöne Liebesgeschichte vor. Aber ich versuche, Verständnis für Deine Arbeit aufzubringen – obwohl es manchmal wehtut, wenn Du Deine Zeit lieber in einer Fantasiewelt verbringst anstatt in der Realität, mit mir.
Deshalb habe ich mich, glaube ich, auch so aufgeregt, als Du sagtest, wir könnten uns keinen Hund anschaffen. Seit wir uns kennen, habe ich Dich und Deine Karriere immer unterstützt, aber manchmal befürchtete ich, dass es bei unserer Zukunft eigentlich nur um Dich geht. Ich weiß, die Arbeit im Tierheim für Hunde ist nicht so glamourös wie die eines Drehbuchautors, aber ich mag meine Arbeit, sie macht mich glücklich. Deine Gründe gegen die Anschaffung eines Hundes waren rational (das bist Du immer). Das Apartment ist absurd klein, und wir arbeiten beide viel, aber ich habe Dir von Anfang an gesagt, dass ich den Hund mit zur Arbeit nehmen kann. Du bringst Deine Arbeit schließlich auch mit nach Hause.
Zwar bekomme ich jeden Tag ausgesetzte Welpen zu sehen, aber dieser war anders. Sobald ich diese wunderschöne schwarze Fellkugel sah, wusste ich: Der ist es. Was muss man für ein Ungeheuer sein, um einen winzigen Labrador in einen Schuhkarton zu stecken, in den Müllcontainer zu werfen und dem Tod zu überlassen? Der Tierarzt sagte, er sei nicht älter als sechs Wochen, und ich empfand eine rasende Wut. Ich weiß, wie es ist, von jemandem verlassen zu werden, der einen lieben soll. Es gibt nichts Schlimmeres.
Ich wollte den Welpen am nächsten Tag mit nach Hause nehmen, aber Du sagtest Nein, und da war ich zum ersten Mal, seit wir uns kennen, todunglücklich. Trotzdem dachte ich, es sei ja noch Zeit, Dich zu überreden, doch am folgenden Nachmittag kam eine der Empfangssekretärinnen in mein Büro und sagte, es sei jemand da, der den Hund adoptieren wolle. Es ist meine Aufgabe, sämtliche Möchtegerntierhalter zu begutachten, und so hoffte ich insgeheim, der Interessent sei ungeeignet, während ich über den Flur ging. Wenn ich Dienst habe, kommt kein Tier in ein Zuhause, wo es nicht wirklich geliebt wird.
Als ich den Warteraum betrat, sah ich als Erstes den Welpen. Ganz allein saß er mitten auf dem kalten Steinboden. So ein winziges schwarzes Ding! Dann fielen mir das rote Halsband, das er trug, und das wie ein Knochen geformte silberne Namensschild daran auf. Was sollte das? Ich hatte die oder den potenziellen neuen Besitzer nicht einmal kennengelernt, er hatte also kein Recht, sich zu benehmen, als gehörte der Hund schon ihm. Ich hob den Welpen hoch, um mir die Inschrift auf dem glänzenden Metall genauer anzusehen.
WILLST DU MICH HEIRATEN?
Beinahe hätte ich den Welpen fallen lassen.
Ich weiß nicht, was ich für ein Gesicht zog, als Du hinter der Tür hervorkamst, aber ich weiß, dass ich weinte. Und ich erinnere mich daran, dass uns gefühlt die Hälfte meiner Kolleginnen durch das Beobachtungsfenster zusah. Auch sie hatten Tränen in den Augen und lächelten dabei strahlend. Alle außer mir wussten Bescheid! Wer hätte gedacht, dass Du so gut Geheimnisse wahren kannst?
Entschuldige, dass ich nicht sofort Ja sagte. Ich glaube, ich verfiel in Schockstarre, als Du vor mir auf ein Knie sankst. Beim Anblick des Verlobungsrings mit dem Saphir – von dem ich wusste, dass er Deiner Mutter gehört hatte – wurde ich von meinen Gefühlen überwältigt und konnte das alles nicht so richtig verarbeiten. Und da uns auch noch alle anstarrten, war ich erst recht überfordert.
«Ich finde, alle wichtigen Lebensentscheidungen sollte man mithilfe einer Partie Schere, Stein, Papier treffen», neckte ich Dich, weil ich an Dein Schreiben genauso glaube wie an uns und denke, dass wir weder das eine noch das andere jemals aufgeben sollten.
Du hast gelächelt. «Also, nur um das klarzustellen, wenn ich verliere, ist das ein Ja?»
Ich nickte und ballte die Faust.
Meine Schere schnitt Dein Papier, genau wie immer, wenn wir dieses Spiel spielen, es war also kein großes Risiko. Immer wenn ich bei etwas gewinne, meinst Du, Du hättest mich gewinnen lassen.
In den ersten Monaten unserer Beziehung machte ich mich über Dich lustig, weil Du zu viele lange Wörter verwendest, und Du zogst mich Deinerseits damit auf, dass ich nicht wusste, was sie bedeuten.
«Ich weiß nicht, ob das jetzt Limerenz oder Liebe ist», sagtest Du, nachdem Du mich zum ersten Mal geküsst hattest. Das musste ich zu Hause erst einmal nachschlagen. Die ausgefallenen Wörter, mit denen Du manchmal ankommst, und unser ungleicher Wortschatz haben zu unserer Tradition «Wort des Tages» vor dem Zubettgehen geführt. Deine Wörter sind oft besser als meine, weil auch ich Dich manchmal gewinnen lasse. Vielleicht könnten wir auch ein Wort des Jahres einführen? Das diesjährige sollte «Limerenz» sein. Für dieses Wort habe ich noch immer eine Schwäche.
Du hältst Worte für wichtig, ich weiß – was nur logisch ist angesichts des von Dir gewählten Berufs –, aber ich habe in letzter Zeit erkannt, dass Worte nur Wörter sind, eine Aneinanderreihung von Buchstaben in einer bestimmten Reihenfolge, höchstwahrscheinlich in der Sprache, die uns durch die Geburt zufiel. Heutzutage gehen die Menschen fahrlässig mit ihren Wörtern um. Sie werfen sie in einer Textnachricht oder einem Tweet weg, sie schreiben sie auf, sie geben vor, sie zu lesen, verdrehen sie, zitieren sie falsch, lügen mit ihnen, ohne oder über sie. Sie stehlen sie und geben sie dann weg. Und am schlimmsten: Sie vergessen sie. Wörter haben nur dann einen Wert, wenn wir uns daran erinnern, wie man fühlt, was sie bedeuten. Wir werden es nicht vergessen, nicht wahr? Ich möchte gern glauben, dass das, was wir haben, mehr als nur Wörter sind.
Ich bin froh, dass ich Dein geheimes Drehbuch in Deinem Schreibtisch gefunden habe, und ich verstehe, warum es Dir mehr bedeutet als alles, was Du sonst geschrieben hast. Schere, Stein, Papier zu lesen, war, als bekäme man einen kleinen Einblick in Deine Seele; in einen Teil von Dir, den Du noch nicht recht bereit warst, mir zu zeigen. Aber wir sollten keine Geheimnisse voreinander oder vor uns selbst haben. Deine düstere, verstörende Liebesgeschichte über einen Mann, der seiner Frau jedes Jahr an ihrem Hochzeitstag einen Brief schreibt, auch nach ihrem Tod noch, hat mich dazu inspiriert, selbst Briefe zu schreiben. An Dich. Einmal im Jahr. Ich weiß nicht, ob ich sie Dir jemals zeigen werde, aber vielleicht können unsere Kinder eines Tages nachlesen, wie wir unsere Liebesgeschichte selbst geschrieben und glücklich bis ans Ende unserer Tage gelebt haben.
Deine zukünftige Ehefrau
xx
Die Kapellentür habe ich zugeknallt. Ich hatte es nicht mit so viel Wucht tun wollen, und mir war nicht klar gewesen, wie laut es knallen würde. Und ich weiß nicht, warum ich es ihr nicht einfach gebeichtet habe, anstatt es auf den Wind zu schieben. Vielleicht weil ich es müde bin, alle fünf Minuten von meiner Frau zurechtgewiesen zu werden.
Es gibt eine weitere Tür im Schuhraum, genau in der Mitte der Wand mit den Miniaturspiegeln. Bob scharrt daran und hinterlässt Kratzer im Holz. Ebenso wie das Knurren vorhin ist auch das etwas, das er noch nie getan hat.
Ich zögere, doch dann drehe ich den Knauf, und die Tür öffnet sich in einen langen dunklen Flur. Unsere Schritte scheinen von den weißen Wänden widerzuhallen, als wir drei auf die nächste Tür am anderen Ende zugehen. Hinter dieser Tür herrscht ebenfalls Dunkelheit, aber dann ertaste ich einen Lichtschalter und stelle fest, dass wir uns in einer sehr normal aussehenden Küche befinden. Sie ist riesig, wirkt aber dennoch gemütlich. Wenn die hohe, gewölbte Decke, die frei liegenden Balken und die Buntglasfenster nicht wären, käme man nie darauf, dass dieser Raum in einer ehemaligen Kapelle liegt.
Zentrales Element inmitten von teuer wirkenden Küchenschränken ist ein großer cremefarbener AGA-Herd. In der Raummitte steht ein massiver Holztisch mit aufgearbeiteten Kirchenbänken darum herum. Es ist die Art von Küche, die man in Zeitschriften für schöneres Wohnen sieht, abgesehen davon, dass alles von einer dicken Staubschicht bedeckt ist.
Auf dem Tisch liegt ein Zettel. Ich trete näher heran und stelle fest, dass es eine maschinengeschriebene Nachricht an uns ist.
Liebe Amelia, lieber Adam, lieber Bob,
bitte fühlen Sie sich wie zu Hause.
Das Schlafzimmer am Ende des Flurs im Obergeschoss wurde für Sie hergerichtet. In der Gefriertruhe finden Sie Essen, in der Krypta Wein und im Holzschuppen hinter dem Haus zusätzliches Feuerholz, sollten Sie es brauchen.
Wir hoffen, Sie genießen Ihren Aufenthalt.
«Tja, wenigstens wissen wir jetzt, dass wir hier richtig sind», sagt Amelia und dreht den Verlobungsring an ihrem Finger. Das macht sie immer, wenn sie nervös ist. Einer dieser kleinen Ticks, die ich früher liebenswert fand.
«Wer ist das ‹wir› in dieser Nachricht?», frage ich.
«Was?»
«Wir hoffen, Sie genießen Ihren Aufenthalt. Du hast gesagt, du hast das Wochenende bei einer Tombola gewonnen, aber wem gehört diese Kapelle?»
«Ich weiß nicht … Ich habe einfach eine E-Mail bekommen, in der stand, dass ich gewonnen habe.»
«Von wem?»
Amelia zuckt die Achseln. «Von demjenigen, der sich ums Haus kümmert. In der Mail waren auch die Wegbeschreibung und ein Foto der Kapelle mit dem Loch Blackwater im Hintergrund. Es sah toll aus. Ich kann es gar nicht erwarten, das alles bei Tageslicht zu sehen …»
«Okay, aber wie heißt die Haushälterin?»
Sie zuckt die Achseln. «Ich weiß es nicht. Wie kommst du darauf, dass es eine Frau ist? Auch Männer können putzen, selbst wenn du es nie tust.»
Ich ignoriere den Seitenhieb, es ist besser so, habe ich gelernt. Aber selbst meine Frau kann nicht leugnen, dass das alles ein bisschen merkwürdig ist.
«Jetzt sind wir schon mal hier», sagt sie und schlingt die Arme um mich. Unsere Umarmung fühlt sich unbeholfen an, so, als wären wir aus der Übung. «Versuchen wir, das Beste daraus zu machen. Es ist ja nur für zwei Nächte, und hinterher können wir unseren Freunden dann eine lustige Geschichte erzählen.»
Ich kann keine Gesichtsausdrücke erkennen, aber sie kann es, daher bemühe ich mich um eine neutrale Miene und verkneife mir den Hinweis, dass wir eigentlich keine Freunde mehr haben. Keine, die wir gemeinsam treffen. Unser Bekanntenkreis ist nicht mehr das, was er einmal war. Sie hat ihr Leben, und ich habe meins.
Wir erkunden den Rest des Erdgeschosses, das im Wesentlichen aus zwei großen Räumen besteht: der Küche und einem großen Wohnzimmer, das eher wie eine Bibliothek wirkt. Maßgefertigte deckenhohe Regale, in denen die Bücher dicht an dicht stehen, säumen die Wände – bis auf die Stellen, wo sich Buntglasfenster befinden. Die Bände sind hübsch nach Farben geordnet, vermutlich von jemandem, der ein bisschen zu viel Zeit hat.
In der Mitte der einen Seitenwand befindet sich eine kunstvolle hölzerne Wendeltreppe. An der anderen Seite ist ein gewaltiger steinerner Kamin, von Ruß und Alter geschwärzt und buchstäblich groß genug, um darin zu sitzen. Auf dem Feuerrost liegen schon Holzscheite, Anzündholz und Papier bereit, daneben eine Schachtel Streichhölzer. Ich mache sofort Feuer – es ist eiskalt hier, und wir sind durchgefroren. Amelia nimmt mir die Streichholzschachtel aus der Hand und zündet die Altarkerzen auf dem gotisch wirkenden Kaminsims an, dazu ein paar weitere Kerzen, die sie in den im Zimmer verteilten Windlichtern findet. Schon sieht es heimeliger aus und fühlt sich auch so an.
Der unebene Steinboden – es muss noch der ursprüngliche Kapellenboden sein – ist mit steinalt wirkenden Teppichen ausgelegt, und die beiden karierten Sofas beiderseits des Kamins sehen viel geliebt und abgewetzt aus. Auf der Sitzfläche und in den Kissen sind Mulden, so als hätte dort noch bis kurz vor unserer Ankunft jemand gesessen.