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Alice Feeney

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Beschreibung

Anna hat alles, was sie will. Sie hat hart gearbeitet, um Moderatorin des BBC-Mittagsmagazins zu werden, Freunde und Familie vernachlässigt, ebenso Jack, der inzwischen ihr Exmann ist. Als sie über einen Mord in Blackdown berichten soll, zögert sie. Denn in der verschlafenen Kleinstadt ist sie aufgewachsen. Und das Opfer ist eine Freundin aus Kindertagen. DCI Jack Harper hätte nie gedacht, dass er einmal in Blackdown landen würde. Als die Leiche einer jungen Frau entdeckt wird, beschließt er, niemandem zu sagen, dass er das Opfer kannte, dass sie seine Geliebte war – bis er in seiner eigenen Mordermittlung zum Verdächtigen wird.

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Seitenzahl: 435

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Alice Feeney

Glaube mir

Thriller

 

 

Aus dem Englischen von Karen Witthuhn

 

Über dieses Buch

Einer lügt immer …

 

Anna hat alles, was sie will. Sie hat hart gearbeitet, um Moderatorin beim BBC-Mittagsmagazin zu werden, Freunde und Familie vernachlässigt, ebenso Jack, der inzwischen ihr Ex-Mann ist. Als sie über einen Mord in Blackdown berichten soll, zögert sie. Denn in der verschlafenen Kleinstadt ist sie aufgewachsen. Und das Opfer ist eine Freundin aus Kindertagen.

 

DCI Jack Harper hätte nie gedacht, dass er einmal in Blackdown landen würde. Als die Leiche einer jungen Frau entdeckt wird, beschließt er, niemandem zu sagen, dass er das Opfer kannte, dass sie seine Geliebte war – bis er in seiner eigenen Mordermittlung zum Verdächtigen wird. Und mit seiner Ex-Frau Anna konfrontiert wird.

 

«Ein höllisch raffiniertes, wunderbar düsteres und wendungsreiches Buch.» Lucy Foley

 

«Clever und fesselnd … Das Ende erraten Sie nie!» Louise Candlish

 

«Eine starke und innovative Stimme – ich habe dieses Buch geliebt.» Clare Mackintosh

 

«Alice Feeney hat im Alleingang das Lesezeichen überflüssig gemacht.» Christina Dalcher

 

«Düster und absolut packend. Ich konnte nicht aufhören zu lesen.» Ruth Jones

 

«Rechnen Sie mit gekonnt angelegten Wendungen und scharf gezeichneten Figuren! Ein brillanter Thriller.» Ali Land

 

«Kühn und raffiniert – ein provokanter Thriller zwischen Wahrheit und Lüge mit immer neuen düsteren Tiefen bis hin zum tintenschwarzen Ende. Großartig.» A.J. Finn

 

«Eine wahre Achterbahnfahrt. Alice Feeney wagt sich vor, wo andere zurückschrecken.» Jane Corry

 

«Ein packendes Debüt mit brillanter Wendung, ich liebe es.» B.A. Paris

 

«Eine wendungsreiche, packende, clevere, brillante Lektüre.» Karen Hamilton

 

«Fesselnd und voller Wendungen.» Jane Fallon

Vita

Alice Feeney ist Journalistin und hat 15 Jahre als Nachrichtenredakteurin und Produzentin für BBC News gearbeitet. Sie hat in London und Sydney gelebt und sich mit ihrem Mann und ihrem Hund inzwischen in Surrey niedergelassen. Ihr Debütroman «Manchmal lüge ich» wurde in mehr als 20 Sprachen übersetzt und wird als TV-Serie von Ellen DeGeneres und Warner Bros. verfilmt, mit Sarah Michelle Gellar in der Hauptrolle.

 

Karen Witthuhn übersetzt nach einem ersten Leben im Theater seit 2000 Theatertexte und Romane, u.a. von Simon Beckett, D.B. John, Ken Bruen, Sam Hawken, Percival Everett, Anita Nair, Alan Carter und George Pelecanos. 2015 und 2018 erhielt sie Arbeitsstipendien des Deutschen Übersetzerfonds.

Für beide.

Zwei Seiten, eine Geschichte.

Wem kannst du glauben?

Es war keine Liebe auf den ersten Blick.

Jetzt kann ich es zugeben. Aber letztlich habe ich sie mehr geliebt, als man einen anderen Menschen überhaupt lieben kann. Sie liegt mir mehr am Herzen als ich mir selber. Deswegen habe ich es getan. Deswegen musste ich es tun, das sollen die Leute wissen, wenn sie rausfinden, was ich getan habe. Falls sie es rausfinden. Vielleicht verstehen sie dann, dass ich es für sie getan habe.

Allein sein oder sich allein fühlen ist nicht das Gleiche, und es ist möglich, einen Menschen zu vermissen und gleichzeitig mit ihm zusammen zu sein. Es hat viele Menschen in meinem Leben gegeben: Familie, Freunde, Kollegen, Geliebte. Ein kompletter Satz der üblichen Verdächtigen, die das soziale Umfeld ergeben, aber meines hat sich immer ein wenig verschoben angefühlt. Keine der Beziehungen, die ich zu anderen Menschen aufgebaut habe, fühlt sich wirklich an. Eher wie eine Reihe verpasster Anschlüsse.

Die Leute erkennen vielleicht mein Gesicht oder wissen sogar meinen Namen, aber mein wahres Ich werden sie nie kennen. Das kennt niemand. Ich bin mit meinen wahren Gedanken und Gefühlen immer eigen gewesen, ich teile sie mit niemandem. Weil ich nicht kann. Es gibt eine Version von mir, die ich nur allein sein kann. Manchmal denke ich, das Geheimnis des Erfolgs liegt in der Fähigkeit zur Anpassung. Das Leben bleibt nie, wie es ist, und um mitzuhalten, musste ich mich oft neu erfinden. Ich habe gelernt, mein Aussehen, mein Leben, sogar meine Stimme zu verändern.

Ich habe außerdem gelernt, dazuzugehören, aber das ständige Bemühen darum löst inzwischen mehr als nur Unbehagen aus, es tut weh. Weil ich nicht dazugehöre. Ich falte meine Ecken und Kanten in mich selbst hinein und streiche die offensichtlichsten Unterschiede zwischen uns glatt, aber ich bin nicht wie ihr. Es leben über sieben Milliarden Menschen auf der Erde, und trotzdem habe ich es irgendwie geschafft, mich mein ganzes Leben lang allein zu fühlen.

Ich verliere den Verstand, und das nicht zum ersten Mal, aber der Verstand kann oft verlorengehen und wiedergefunden werden. Die Leute werden sagen, ich wäre ausgetickt, durchgedreht, ausgerastet. Aber ich habe im richtigen Moment – ohne jeden Zweifel – das Richtige getan. Danach war ich zufrieden mit mir. Ich wollte es wieder tun.

Jede Geschichte hat zwei Seiten:

Deine und meine.

Unsere und deren.

Seine und ihre.

Was bedeutet, dass immer einer lügt.

Oft erzählte Lügen klingen mit der Zeit wahr, und wir alle hören manchmal eine Stimme im Kopf etwas so Schockierendes sagen, dass wir tun, als gehörte sie nicht zu uns. Ich weiß genau, was ich in jener Nacht gehört habe, als ich am Bahnhof stand und darauf wartete, dass sie zum letzten Mal nach Hause kam. Zuerst klang es wie jeder andere Zug in der Ferne. Ich schloss die Augen, es war, als würde ich Musik hören, der Rhythmus der Waggons auf den Schienen wurde immer lauter.

Klicketiklick. Klicketiklick. Klicketiklick.

Aber dann veränderte sich das Geräusch, formte in meinem Kopf Worte, die sich immer und immer wiederholten, bis sie nicht mehr zu überhören waren:

Töte sie alle. Töte sie alle. Töte sie alle.

Sie

Anna Andrews

Montag, 6:00 Uhr

Montage waren mir immer schon am liebsten.

Die Chance, neu anzufangen.

Ein ausreichend reiner Tisch, auf dem nur eine leichte Staubschicht der eigenen Fehler aus der Vergangenheit liegt – nicht ganz weggewischt.

Mir ist klar, dass mein Faible für den ersten Tag der Woche nicht auf breite Zustimmung stößt, aber daran bin ich gewöhnt. Meine Weltsicht war schon immer ein wenig verschroben. Wenn man als Kind auf den billigen Plätzen des Lebens sitzt, sieht man hinter die Puppen, die auf der Bühne tanzen. Hat man die Strippen einmal bemerkt und weiß, wer sie zieht, fällt es schwer, den Rest der Vorstellung noch zu genießen. Inzwischen könnte ich es mir leisten, auf einem Platz meiner Wahl zu sitzen und jeden Blickwinkel einzunehmen, aber die teuren Theaterlogen sind nur dazu da, um auf andere hinabzuschauen. Das werde ich niemals tun. Nur weil ich nicht gern zurückblicke, heißt das nicht, dass ich nicht mehr weiß, woher ich komme. Ich habe hart für meine Eintrittskarte gearbeitet, und die billigen Plätze sind mir immer noch gut genug.

Ich vergeude morgens nicht viel Zeit damit, mich hübsch zu machen – sinnlos, sich zu schminken, wenn man bei der Arbeit wieder abgeschminkt und neu geschminkt wird –, und ich frühstücke auch nicht. Ich esse generell nicht viel, koche aber gern für andere. Anscheinend bin ich eine Fütterin.

Ich gehe kurz in die Küche und hole meine Tupperdose mit den selbstgebackenen Cupcakes für das Team. Ich kann mich kaum erinnern, sie gemacht zu haben. Es war spät und nach dem dritten Glas trockenem Weißen. Roter ist mir lieber, hinterlässt aber verräterische Spuren auf den Lippen, daher hebe ich ihn für die Wochenenden auf. Ich öffne den Kühlschrank, sehe, dass von gestern Abend noch ein Rest Wein übrig ist, und trinke ihn direkt aus der Flasche. Ich nehme sie mit, als ich das Haus verlasse. Montags kommt die Müllabfuhr. Die Glastonne ist erstaunlich voll für jemanden, der allein lebt.

Ich gehe gern zu Fuß zur Arbeit. Die Straßen sind zu dieser Tageszeit noch leer, das finde ich beruhigend. Ich überquere die Waterloo Bridge, schlängele mich durch Soho in Richtung Oxford Circus und höre dabei das Today-Programm. Musik wäre mir lieber, ein bisschen Ludovico vielleicht oder Taylor Swift, je nach Stimmung – ich habe zwei Seiten in mir –, lasse aber stattdessen die melodischen Stimmen der britischen Mittelschicht über mich ergehen, die mir mitteilen, was ich ihrer Ansicht nach wissen sollte. Sie fühlen sich in meinen Ohren immer noch fremd an, obwohl ich genauso klinge. Allerdings nicht immer. Ich moderiere die One o’clock News der BBC jetzt seit fast zwei Jahren und komme mir immer noch wie eine Schwindlerin vor.

Ich halte an dem Pappkartonlager an, das mir in letzter Zeit die größten Sorgen bereitet. Hinten schaut ein blondes Haarbüschel heraus, also ist sie noch da. Ich weiß nicht, wer sie ist, aber wäre mein Leben anders verlaufen, könnte ich das sein. Mit sechzehn bin ich zu Hause ausgezogen, es musste sein. Was ich jetzt tue, geschieht nicht aus Güte, sondern ist ein Zeichen für einen fehlgeleiteten moralischen Kompass. Wie die Freiwilligenarbeit in der Suppenküche letzte Weihnachten. Wir verdienen das Leben, das wir führen, nur selten. Und wir zahlen dafür, sei es mit Geld, schlechtem Gewissen oder Reue.

Ich öffne die Tupperdose und lege einen meiner sorgfältig dekorierten Cupcakes auf den Asphalt, zwischen ihr Lager und die Wand, damit sie ihn beim Aufwachen gleich sieht. Und weil mir einfällt, dass sie den Schokolagenzuckerguss vielleicht nicht mag – sie könnte auch zuckerkrank sein –, nehme ich einen Zwanzig-Pfund-Schein aus dem Portemonnaie und schiebe ihn darunter. Ist mir egal, ob sie mein Geld für Alkohol ausgibt, das tue ich auch.

Radio 4 geht mir auf die Nerven, ich würge den Politiker ab, der mir gerade die Ohren voll lügt. Seine übereinstudierte Unehrlichkeit passt nicht zu diesem echten Menschen mit echten Problemen. Nicht dass ich das jemals in einem Live-Interview sagen würde. Ich werde für Unparteilichkeit bezahlt, meine Gefühle spielen keine Rolle.

Vielleicht bin ich ebenfalls eine Lügnerin. Ich habe mir diesen Beruf ausgesucht, weil ich die Wahrheit sagen wollte. Ich wollte die wirklich wichtigen Geschichten erzählen, von denen die Menschen meiner Meinung nach wissen sollten. Geschichten, die die Welt hoffentlich zum Besseren verändern würden. Aber ich war naiv. Medienleute haben heutzutage mehr Macht als Politiker, aber was nützt es, die Wahrheit über die Welt verbreiten zu wollen, wenn ich nicht einmal zu meiner eigenen Geschichte stehen kann: wer ich bin, woher ich komme, was ich getan habe.

Wie immer vergrabe ich diese Gedanken. Schließe sie in einen geheimen Safe in meinem Kopf ein, schiebe sie ganz nach hinten in die dunkelste Ecke und hoffe, dass sie nicht so schnell wieder entfleuchen.

Ich bringe das letzte Stück des Weges zum Sender hinter mich und krame in meiner Handtasche nach der nie zu findenden Sicherheitskarte. Stattdessen ertasten meine Finger eine kleine Dose mit Minzbonbons. Es klappert, ich mache sie auf und schiebe mir ein kleines weißes Dreieck in den Mund wie eine Tablette. Eine Weinfahne im Morgenmeeting sollte man besser vermeiden. Ich finde die Karte, trete in die gläserne Drehtür und spüre die Blicke, die sich an mich heften. Das ist schon okay. Ich bin ganz gut darin, die Version von mir zu sein, die die Menschen meiner Meinung nach sehen wollen. Zumindest äußerlich.

Ich kenne alle beim Namen, auch die Putzkräfte, die gerade den Boden wischen. Freundlichkeit kostet nichts, und trotz des Alkohols habe ich ein hervorragendes Gedächtnis. Als ich die Sicherheitschecks hinter mir habe – die dank des Zustands, in den wir die Welt gebracht haben, um einiges gründlicher ausfallen als früher – und in den Newsroom hinunterschaue, überkommt mich das Gefühl, zu Hause zu sein. Eingebettet in das Untergeschoss des BBC-Gebäudes, aber von allen Stockwerken aus einsehbar, erinnert der Newsroom an einen hell erleuchteten, offengelegten Kaninchenbau. Jeder Winkel ist mit Bildschirmen und dicht gestellten Schreibtischen gefüllt, hinter denen eine ausgewählte Schar von Journalisten sitzt.

Sie sind nicht bloß Kollegen, sie sind fast eine dysfunktionale Ersatzfamilie. Ich bin fast vierzig, habe aber niemand anderen. Keine Kinder. Keinen Mann. Nicht mehr. Ich arbeite seit fast zwanzig Jahren hier und habe ganz unten angefangen, ohne freundschaftliche oder familiäre Beziehungen. Und ich habe ein paar Umwege genommen, die Stufen der Karriereleiter waren manchmal etwas rutschig, aber am Ende bin ich ans Ziel gelangt.

Die Antwort auf so viele Fragen im Leben lautet Geduld.

Das Glück war mir hold, als die letzte Nachrichtensprecherin den Platz räumen musste. Ihre Wehen setzten einen Monat zu früh und fünf Minuten vor der Mittagssendung ein. Ihre geplatzte Fruchtblase war meine Chance. Ich war selber gerade erst aus dem Mutterschutz zurück – früher als geplant – und die einzige Korrespondentin im Newsroom mit Moderationserfahrung, auch wenn ich sie bisher immer nur in Überstunden und nachts gesammelt hatte, in Schichten, die kein anderer übernehmen wollte, so heiß war ich auf jede Gelegenheit, meine Karriere voranzutreiben. Es war schon immer mein Traum gewesen, eine richtige Nachrichtensendung zu präsentieren.

An jenem Tag war keine Zeit geblieben für Maske und Frisur. Ich wurde aufs Set geschoben und so gut wie möglich hergerichtet, bekam das Mikrophon angesteckt, wurde gleichzeitig abgepudert und übte die Schlagzeilen am Teleprompter. Der Regisseur sprach ruhig und freundlich in meinen Kopfhörer. Seine Stimme gab mir Halt. Ich erinnere mich kaum an diese erste Sendung, wohl aber an die Glückwünsche danach. Vom Newsroom-Niemand zur Nachrichtensprecherin des Senders in unter einer Stunde.

Mein Chef wird hinter seinem leicht gebeugten Rücken von allen der Dünne Controller genannt. Ein kleiner Mann, im Körper eines großen Mannes gefangen. Außerdem hat er einen Sprachfehler, er kann kein ST aussprechen, und niemand nimmt ihn ernst. Da er noch nie gut darin war, Lücken im Dienstplan zu schließen, ließ er mich nach meinem erfolgreichen Debüt bis zum Ende der Woche einspringen. Und dann in der Woche danach. Ein Dreimonatsvertrag als Nachrichtensprecherin – anstatt meiner normalen Korrespondentenstelle – wurde auf sechs verlängert, dann bis zum Jahresende, verbunden mit einer hübschen Gehaltserhöhung. Und da die Zuschauerzahlen mit mir ebenfalls stiegen, durfte ich bleiben. Meine Vorgängerin kam nie zurück, sie wurde schon im Mutterschutz erneut schwanger und ward seither nicht mehr gesehen. Fast zwei Jahre später bin ich immer noch hier und rechne täglich mit meiner Vertragsverlängerung.

Ich nehme meinen Platz zwischen der Redakteurin und dem Lead Producer ein und wische meinen Schreibtisch und das Keyboard mit einem Desinfektionstuch ab. Man weiß nie, wer hier nachts gesessen hat. Der Newsroom schläft nie, und leider hält nicht jeder hier meine Hygieneansprüche ein. Ich öffne den Ablaufplan und lächle, immer noch bekomme ich ein leichtes Flattern, wenn ich oben meinen Namen lese.

Nachrichtensprecherin: Anna Andrews.

Ich beginne, die Anmoderationen für die Beiträge zu schreiben. Entgegen der landläufigen Meinung lesen wir die Nachrichten nicht nur vor, wir schreiben sie auch. Nachrichtensprecher, wie alle Menschen, kommen in allen Farben und Formen. Einige sind sich selber schon so weit in den Arsch gekrochen, dass ich erstaunt bin, dass sie noch sitzen können, geschweige denn einen Teleprompter ablesen. Das Land wäre entsetzt, würde je herauskommen, wie sich manche dieser sogenannten Nationalheiligtümer hinter den Kulissen aufführen. Aber ich verrate nichts. Der Journalismus ist ein Spiel mit mehr Rutschen als Leitern. Es dauert lange, um nach oben zu kommen, und eine falsche Bewegung kann einen wieder ganz nach unten befördern. Niemand steht über dem System.

Der Morgen vergeht wie jeder andere: ein immer detaillierterer Ablaufplan, Besprechungen mit Außenkorrespondenten, Diskussionen mit dem Regisseur über Grafiken und Bildtafeln. Ständig wollen Reporter und Produzenten mit der neben mir sitzenden Redakteurin sprechen. Meistens, um mehr Zeit für ihre Berichte oder Interviews zu bekommen.

Immer wollen alle mehr Zeit.

Ich vermisse das alles kein bisschen: das Betteln um Sendezeit, den ständigen Frust, nicht genug zu bekommen. Die Zeit ist einfach zu kurz, um alle Geschichten zu erzählen.

Der Rest des Teams ist ungewöhnlich still. Ich schaue nach links und sehe, dass die Redakteurin den neuesten Dienstplan auf ihrem Bildschirm hat. Als sie meinen Blick bemerkt, schließt sie ihn. Was den Stresslevel im Newsroom angeht, kommen Dienstpläne kurz hinter Eilmeldungen. Sie werden spät veröffentlicht, und die Verteilung der unbeliebten Schichten – spät, Wochenende, nachts – führt immer zu Stunk. Ich arbeite jetzt montags bis freitags und habe seit sechs Monaten keinen Urlaub mehr eingereicht, daher habe ich, anders als meine armen Kollegen, nichts vom Dienstplan zu befürchten.

Eine Stunde vor der Sendung gehe ich in die Maske. Ein Zufluchtsort, hier geht es im Vergleich zum Newsroom relativ friedlich und ruhig zu. Mein Haar wird zu einem braven kastanienbraunen Bob zusammengeföhnt, mein Gesicht mit HD-Foundation bedeckt. Bei der Arbeit trage ich mehr Make-up als auf meiner Hochzeit. Bei dem Gedanken ziehe ich mich einen Moment lang in mich selbst zurück und spüre die Kerbe in meiner Haut, die der Ring hinterlassen hat.

Die Sendung verläuft mehr oder weniger planmäßig, trotz einiger Änderungen in letzter Sekunde, als wir schon live sind: ein paar Eilmeldungen, ein verspäteter Beitrag, eine widerspenstige Studiokamera und eine ruckelige Übertragung aus Washington. Ich muss einen übereifrigen politischen Korrespondenten aus der Downing Street abwürgen, der immer mehr Zeit braucht, als ihm zusteht. Manchen gefällt einfach der Klang ihrer eigenen Stimme ein bisschen zu sehr.

Die Abschlussbesprechung beginnt, während ich noch am Set bin und auf das Ende der Wettervorhersage warte, um mich von den Zuschauern zu verabschieden. Niemand will nach der Sendung länger als unbedingt nötig rumhängen, deswegen fangen sie immer schon ohne mich an. Es kommen die an der Sendung beteiligten Korrespondenten und Produzenten zusammen, aber auch Vertreter anderer Abteilungen: regionale Nachrichten, Auslandsnachrichten, Redaktion, Grafik sowie der Dünne Controller.

Ich gehe an meinem Tisch vorbei, hole die Tupperdose und begebe mich zum Team, um meine kulinarischen Kreationen unter die Leute zu bringen. Noch habe ich niemandem erzählt, dass heute mein Geburtstag ist, aber vielleicht mache ich das noch.

Ich stutze, als ich eine mir unbekannte Frau in der Besprechungsrunde sehe. Sie sitzt mit dem Rücken zu mir, neben ihr zwei gleichgekleidete kleine Kinder. Ich sehe, dass meine Kollegen bereits Cupcakes essen. Keine selbstgebackenen – wie meine –, sondern aus dem Laden und anscheinend teuer. Dann wende ich meine Aufmerksamkeit wieder der edlen Spenderin zu, mustere die leuchtend roten Haare, die ihr hübsches Gesicht umrahmen, der Bob ist so akkurat geschnitten, als wäre ein Laser verwendet worden. Als sie sich umdreht und mich anlächelt, fühlt es sich an wie eine Ohrfeige.

Jemand reicht mir ein Glas mit warmem Prosecco, und ich bemerke die Getränkewagen, die das Management immer bestellt, wenn ein Mitarbeiter geht. Das passiert in unserer Branche häufig. Der Dünne Controller klopft mit einem zu langen Fingernagel an ein Glas und hebt zu einer Rede an. Aus seinen krümelbedeckten Lippen purzeln seltsam klingende Worte.

«Wir freuen uns so, dich bald wieder bei uns zu haben …»

Das ist der einzige Satz, den meine Ohren verarbeiten können. Ich starre Cat Jones an, die vor mir die Sendung moderiert hat und jetzt mit roten Haaren, ihrem Markenzeichen, und zwei wunderschönen kleinen Mädchen vor mir sitzt. Mir wird schlecht.

«… und bedanken uns natürlich bei Anna, die in deiner Abwesenheit das Ruder übernommen hat.»

Blicke richten sich auf mich, Gläser werden gehoben. Meine Hände beginnen zu zittern, hoffentlich kriegt es mein Gesicht besser hin, meine Gefühle zu verbergen.

«Es stand im Dienstplan. Tut mir leid, wir dachten, du wüsstest Bescheid.»

Der Producer neben mir flüstert diese Worte, aber ich bin nicht in der Lage, eine Antwort zu formulieren.

Hinterher entschuldigt sich auch der Dünne Controller. Er sitzt in seinem Büro, ich stehe, und starrt beim Sprechen auf seine Hände, als wären die Worte, nach denen er ringt, vielleicht zwischen seinen schwitzigen Fingern zu finden. Er dankt mir und sagt, dass ich Cat großartig vertreten habe in den letzten …

«Zwei Jahren», sage ich, als er nicht weiß oder versteht, wie lange ich hier bin.

Er zuckt die Achseln, als wäre das nichts.

«Tut mir leid, aber es ist ihr Job. Sie hat einen Vertrag. Wir können keine rausschmeißen, weil sie ein Kind bekommt, nicht mal bei zweien!»

Er lacht.

Ich nicht.

«Wann kommt sie zurück?»

Die riesige Oberfläche seiner Stirn legt sich in Falten.

«Morgen. Es steht alles im Dienftplan –», wie so oft fliegen bei diesem Wort Speicheltropfen aus seinem Mund, «– seit einiger Zeit schon. Du bist wieder Korrespondentin, aber keine Sorge, du kannst immer mal wieder für sie einspringen und die Sendung in den Schulferien, über Weihnachten und Ostern und so übernehmen. Wir finden alle, dass du das toll gemacht hast. Hier ist dein neuer Vertrag.»

Ich starre die steifen weißen DIN-A4-Blätter an, bedruckt mit sorgfältig ausformulierten Worten eines gesichtslosen Mitarbeiters aus der Personalabteilung. Meine Augen erkennen nur eine Zeile:

Nachrichtenkorrespondentin: Anna Andrews.

Als ich das Büro verlasse, sehe ich sie wieder: meinen Ersatz. Obwohl ich in Wahrheit wohl ihrer war. Als ich Cat Jones mit ihrer perfekten Frisur und den zwei perfekten Kindern dastehen und mit meinem Team lachen und plaudern sehe, kommt mir ein schrecklicher Gedanke, den ich mir ungern eingestehe, auch mir selbst gegenüber: Ich wünschte, sie wäre tot.

Er

Detective Chief Inspector Jack Harper

Dienstag, 5:15 Uhr

Das Brummen meines Handys weckt mich aus der Art Traum, aus dem man nicht aufwachen möchte. In dem ich kein Mann jenseits der vierzig mit einem viel zu hohen Hauskredit bin, einem Kleinkind, mit dem ich nicht mithalten kann, und einer Frau, mit der ich nicht verheiratet bin, die aber trotzdem an mir herumnörgelt. Ein besserer Kerl hätte inzwischen seinen Kram auf der Reihe, anstatt durch ein geliehenes Leben zu schlafwandeln.

Ich linse in der Dunkelheit auf mein Handy und erkenne, dass es Dienstag ist. Und außerdem idiotisch früh, weswegen ich froh bin, dass die Textnachricht niemand anderen geweckt hat. Schlafmangel wirkt sich in diesem Haus furchtbar aus, nur auf mich nicht – ich war schon immer eine Nachteule. Ich lese die Nachricht und reagiere aufgeregter, als ich sollte. Seit ich aus London weg bin, ist mein Job ehrlich gesagt langweiliger als die Unterwäscheschublade einer Nonne.

Ich leite die Major Crime Unit, die Abteilung für schwere Verbrechen, was aufregend klingt, aber es hier im tiefsten, dunkelsten Surrey nicht ist. Blackdown liegt zwei Stunden von London entfernt, ein typisch englisches Dorf, Kleinstkriminalität und gelegentliche Einbrüche sind hier schon das Schwerste. Der Ort ist hinter Bäumen vor den Augen der Außenwelt verborgen. Der uralte Wald scheint Blackdown – und seine Einwohner – früher gefangen gehalten und in permanenten Schatten getaucht zu haben. Trotzdem ist der Ort hübsch wie eine Pralinenschachtel, überall Reetdachhäuschen und weiße Holzzäune, und hat eine überdurchschnittliche Seniorendichte sowie eine unterdurchschnittliche Verbrechensrate. Hier zieht man zum Sterben her, ich hätte nie gedacht, dass ich mal hier leben würde.

Ich starre die Nachricht an und sauge praktisch jede Silbe auf:

Heute Nacht Jane Doe in Blackdown Woods gefunden. MCU angefordert. Bitte melden.

Die Vorstellung, dass hier eine Leiche aufgetaucht sein soll, mutet an wie ein Irrtum, aber ich weiß, dass es keiner ist. Zehn Minuten später bin ich ausreichend bekleidet, mit Koffein versorgt und im Auto.

Mein neuester Gebraucht-SUV könnte mal wieder eine Dusche gebrauchen, das Gleiche gilt für mich, wie ich – etwas zu spät – merke. Ich rieche an meinen Achseln und überlege, zurück ins Haus zu gehen, will aber keine Zeit verschwenden und niemanden wecken. Ich ertrage es nicht, wie die beiden mich manchmal ansehen. Sie haben die gleichen Augen, und Tränen und Enttäuschung stehen ein bisschen zu oft darin.

Vielleicht bin ich ein wenig zu begeistert über die Aussicht, als Erster am Tatort zu sein, aber ich kann nicht anders. Hier ist seit Jahren nichts dermaßen Schlimmes passiert, und es fühlt sich gut an – ich spüre Optimismus und Energie. Wenn man so lange bei der Polizei ist wie ich, denkt man irgendwann wie ein Verbrecher, ohne für einen gehalten zu werden.

Ich bete, dass der Wagen anspringt, drehe den Schlüssel und ignoriere meinen Anblick im Rückspiegel. Meine Haare – inzwischen eher grau als schwarz – stehen in alle Richtungen ab. Unter den Augen sind dunkle Ringe, und ich sehe älter aus, als ich mich erinnere zu sein. Ich versuche, mein Ego zu beschwichtigen, schließlich ist es mitten in der Nacht, verdammt noch mal. Außerdem ist mir egal, wie ich aussehe, die Meinungen anderer zählen noch weniger als meine eigene. Zumindest rede ich mir das ein.

Ich fahre einhändig, mit der anderen streiche ich über die Stoppeln an meinem Kinn. Vielleicht hätte ich mich wenigstens rasieren sollen. Ein abschätzender Blick auf mein zerknittertes Hemd, bestimmt besitzen wir ein Bügeleisen, aber ich habe keine Ahnung, wo es ist oder wann ich es zuletzt benutzt habe. Zum ersten Mal seit langem frage ich mich, was andere bei meinem Anblick sehen. Ich war mal ein ganz guter Fang. Ich war vieles mal.

Es ist noch dunkel, als ich auf den Parkplatz des National Trust abbiege, trotzdem scheinen alle anderen schneller eingetroffen zu sein: zwei Polizeiwagen, zwei Transporter und mehrere Zivilfahrzeuge. Die Kriminaltechnik ist bereits am Tatort, ebenso Detective Sergeant Priya Patel. Ihre Berufswahl hat sie noch nicht abnutzen können, sie glänzt wie neu. Zu jung, um sich im Job alt zu fühlen, zu unerfahren, um zu wissen, was er ihr letztendlich abverlangen wird. Ihre Begeisterung ist genauso anstrengend wie ihre unerschütterlich gute Laune. Schon bei ihrem Anblick tut mir der Kopf weh, ich vermeide ihn daher weitgehend, soweit sich das bei jemandem, mit dem man täglich zusammenarbeitet, bewerkstelligen lässt.

Mit wippendem Pferdeschwanz eilt sie jetzt auf meinen Wagen zu. Ihre Schildpattbrille rutscht ihr auf die Nase, die großen braunen Augen leuchten vor Aufregung. Sie sieht nicht aus, als hätte man sie mitten in der Nacht aus dem Bett geholt. Ihr engsitzendes Kostüm kann ihren zierlichen Körper unmöglich wärmen, die frischgewienerten Schuhe rutschen ein wenig im Schlamm. Irgendwie macht es mich zufrieden, dass sie schmutzig werden.

Manchmal frage ich mich, ob meine Kollegin sich angezogen ins Bett legt, für den Fall, dass sie in aller Eile aus dem Haus muss. Sie hat sich vor einigen Monaten eigens hierher versetzen lassen, um unter mir zu arbeiten, Gott weiß, warum. Falls ich jemals in meinem Leben so begeistert gewesen sein sollte wie Priya Patel, kann ich mich nicht daran erinnern.

Als ich aus dem Wagen steige, setzt Regen ein. Ein Guss, der mich in Sekunden bis auf die Haut durchnässt und sich geradezu auf mich wirft. Ich hebe den Kopf und betrachte den Himmel, der Nacht vortäuscht, obwohl schon Morgen ist. Der Mond und die Sterne wären noch sichtbar, hingen nicht dichte Wolken davor. Sturzregen ist bei einer Spurensuche im Freien nicht hilfreich.

Priya unterbricht meine Gedanken, als sie versucht, mir einen Regenschirm über den Kopf zu halten. Ich knalle die Autotür zu und scheuche sie weg.

«DCI Harper, ich –»

«Ich habe Ihnen schon mal gesagt, nennen Sie mich Jack. Wir sind nicht beim Militär», sage ich.

Ihre Miene erstarrt. Sie sieht aus wie ein gescholtener Welpe, und ich komme mir wie das sauertöpfische Arschloch vor, zu dem ich geworden bin.

«Die Streife hat es gemeldet», sagt sie.

«Ist von denen noch jemand da?»

«Ja.»

«Gut, ich will mit ihnen sprechen, bevor sie fahren.»

«Natürlich. Zur Leiche geht’s hier lang. Erste Anzeichen deuten –»

«Ich will es mir selber ansehen», unterbreche ich.

«Ja, Boss.»

Als wäre mein Vorname ein Wort, das sie einfach nicht über die Lippen bringt.

Leute strömen uns entgegen, die mir vage bekannt vorkommen – deren Namen ich aber vergessen habe, entweder, weil ich sie doch nicht kenne, oder weil ich sie lange nicht gesehen habe. Egal. Mein kleines, aber feines Major Crime Team ist hier ganz in der Nähe stationiert, deckt aber das gesamte County ab, und so arbeiten wir jeden Tag mit anderen Menschen zusammen. Außerdem geht es in diesem Job nicht darum, Freunde zu finden, sondern sich keine Feinde zu machen. Priya muss da noch eine Menge lernen. Wir gehen schweigend nebeneinander her, was für sie schwer erträglich sein mag, für mich nicht. Wenn das Leben zu laut ist, kann ich nicht klar denken.

Sie leuchtet uns mit einer Taschenlampe den Weg, wie immer nervtötend effizient. Wir stapfen über einen knisternden Teppich aus altem Laub und abgebrochenen Zweigen. Der Herbst hat sich nach einem kurzen, schüchternen Zwischenspiel verflüchtigt und einem selbstsicheren Winter die Bühne überlassen. An meinem Mantel fehlt der oberste Knopf, er lässt sich nicht länger bis zum Hals schließen. Ich überkompensiere die Lücke mit einem Harry-Potter-artigen Schal mit meinen Initialen – ein Geschenk von meiner Ex. Ich habe mich nie davon trennen können, ein bisschen wie von der Frau, die ihn mir gegeben hat. Dass ich damit bestimmt dämlich aussehe, ist mir egal. An manchen Dingen halten wir wegen der Menschen fest, von denen wir sie bekommen haben: Namen, Überzeugungen, Schals. Außerdem mag ich das Gefühl am Hals: meine persönliche, wärmende Schlinge.

Mein Atem bildet Wolken, und ich schiebe meine Hände tiefer in die Manteltaschen. Zufrieden sehe ich, dass über der Leiche ein Zelt aufgestellt worden ist, und ich trete gebückt durch die weiße Plastiktür. In dem Moment, in dem mein Blick auf die Leiche fällt, ertasten meine Finger in meiner Tasche einen Schnuller. Ich packe ihn so fest, dass mir das Plastik in die Handfläche schneidet. Ein kurzer Schmerz, wie ich ihn manchmal brauche. Ich habe schon oft Tote gesehen, aber das hier ist anders.

Die Frau ist teilweise von Blättern bedeckt und liegt ein gutes Stück vom Hauptpfad entfernt. In dieser dunklen Ecke des Waldes wäre sie kaum zu erkennen, hätte das Team nicht bereits helle Lampen aufgestellt.

«Wer hat die Tote entdeckt?», frage ich.

«Anonymer Hinweis», sagt Priya. «Jemand hat aus der Telefonzelle an der Straße die Wache angerufen.»

Ich trete näher heran und beuge mich über das Gesicht der toten Frau. Sie ist Ende dreißig, schlank, hübsch – wenn man auf so was steht, was bei mir der Fall ist –, und ihr Gesamteindruck spricht für drei Dinge: Geld, Eitelkeit und Selbstkontrolle. Sie hat die Art Körper, der jahrelang mit Besuchen im Fitnessstudio, Diäten und teuren Lotionen gepflegt wurde. Ihr langes, professionell blondiertes Haar sieht aus, als hätte sie es noch mal durchgekämmt, bevor sie sich in den Schlamm gelegt hat. Goldene Strähnen im Schmutz. Keine Anzeichen eines Kampfes. Ihre strahlend blauen Augen stehen weit offen, als wäre sie von dem letzten Anblick in ihrem Leben schockiert, und an der Farbe und dem Zustand ihrer Haut lässt sich ablesen, dass sie noch nicht lange hier liegt.

Die Tote ist vollständig bekleidet. Alles, was sie trägt, sieht teuer aus: ein Wollmantel, eine Seidenbluse und ein schwarzer Lederrock. Nur die Schuhe fehlen – nicht ideal für einen Spaziergang im Wald. Die kleinen Füße sind auffallend hübsch, aber meine Aufmerksamkeit gilt zunächst der Bluse, die wie der Spitzen-BH darunter einmal weiß war. Jetzt ist beides rot verfärbt, und das wilde Muster in Fleisch und Stoff zeigt deutlich, dass der Frau mehrfach in die Brust gestochen wurde.

Ich verspüre das seltsame Bedürfnis, sie anzufassen, lasse es aber sein.

Dann bemerke ich die Fingernägel der Toten. Sie sind grob heruntergeschnitten, und das ist nicht alles. Ich hasse es, mit Brille gesehen zu werden, aber meine Augen sind nicht mehr so gut wie früher, daher krame ich die für Notfälle angeschaffte Billigbrille hervor und schaue genauer hin.

Auf die Nägel der rechten Hand sind mit rotem Nagellack Buchstaben geschrieben:

H E U C H

Ich sehe mir die linke Hand an, dort die Fortsetzung:

L E R I N

Das war kein Verbrechen aus Leidenschaft, sondern geplanter Mord.

Ich kehre ins Hier und Jetzt zurück und merke, dass Priya noch nichts gesehen hat, sie ist vollauf damit beschäftigt, mir ihre Notizen vorzulesen und ihre Gedanken mitzuteilen. Sie quatscht oft zu viel, wenn man sie lässt. Die Worte strömen aus ihrem Mund, purzeln übereinander, fallen in meine Ohren. Ich versuche, interessiert auszusehen, und übersetze ihre hastigen Sätze, während sie ausgesprochen werden.

«… Ich habe sofort alle Maßnahmen eingeleitet. In dieser Gegend existiert keine Videoüberwachung, aber wir bekommen die Aufnahmen aus der High Street. Vermutlich ist sie mitten im Winter nicht barfuß hergekommen, aber ohne Ausweis oder Autokennzeichen – der Parkplatz war leer – kann ich keine automatische Nummernschilderkennung laufen lassen …»

Unter Stress sagen die Menschen selten, was sie meinen, und ich höre vor allem ihr verzweifeltes Bemühen, mir zu beweisen, dass sie mit der Situation umgehen kann.

«Haben Sie schon mal eine Leiche gesehen?», frage ich.

Sie richtet sich ein wenig auf und reckt das Kinn vor wie ein trotziges Kind.

«Ja. Im Leichenschauhaus.»

«Nicht das Gleiche», murmele ich in mich hinein.

Es gibt so viele Dinge, die ich ihr beibringen könnte und von denen sie nicht einmal etwas ahnt.

«Ich habe überlegt, was der Mörder uns mitteilen will», sagt Priya und starrt wieder in ihr Notizbuch, wo ich den Anfang einer ihrer vielen Listen erkenne.

«Er will uns mitteilen, dass das Opfer eine Heuchlerin war», erwidere ich. Sie sieht verwirrt aus. «Ihre Fingernägel. Ich glaube, jemand hat sie abgeschnitten und uns eine Nachricht hinterlassen.»

Priya runzelt die Stirn und beugt sich zu der Leiche hinunter. Dann schaut sie erstaunt zu mir auf, als wäre ich Hercule Poirot. Meine Superkraft ist wohl Lesen.

Ich weiche ihrem Blick aus, widme mich dem Gesicht der Toten und bitte einen der Kriminaltechniker, Fotos davon zu machen. Sie wirkt wie jemand, der sich gerne fotografieren ließ, ihre Eitelkeit steht ihr zu Gesicht. Der Blitz blendet mich und erinnert mich an einen anderen Ort zu anderer Zeit: London vor ein paar Jahren, Reporter und Kameras an einer Straßenecke kämpften darum, ein Foto von etwas zu schießen, das sie nicht sehen wollen sollten. Ich vergrabe die Erinnerung, ich kann Journalisten nicht ausstehen, und bemerke noch etwas.

Der Mund der Toten ist leicht geöffnet.

«Leuchten Sie mal in ihr Gesicht.»

Priya gehorcht, und ich knie mich hin, um mir das Gesicht genauer anzusehen. Die einst rosigen Lippen sind blau verfärbt, aber in der dunklen Höhle dahinter sehe ich etwas Rotes. Ohne nachzudenken, strecke ich die Hand aus – wie unter einem Bann.

«Sir?»

Priya verhindert meinen Fehler. Sie ist mir unangenehm nah, ich kann sogar ihr Parfüm und ihren Atem riechen: einen leichten Hauch von frischem Tee. Ich wende mich um und sehe ein altes Runzeln auf ihrer jungen Stirn. Ich hatte gedacht, die Situation – zum ersten Mal eine Leiche im Wald zu finden – hätte sie aus der Bahn geworfen oder zumindest ein wenig verunsichert, aber vielleicht habe ich mich geirrt. Ich überlege, wie alt Priya wohl ist – bei Frauen fällt mir das immer schwer. Ich würde auf Ende zwanzig, Anfang dreißig tippen. Immer noch getrieben von Ehrgeiz, sich der eigenen Fähigkeiten sicher, von den Enttäuschungen verschont, die das Leben ihr noch um die Ohren hauen wird.

«Sollten wir nicht auf den Rechtsmediziner warten, bevor wir irgendwas anfassen?», fragt sie und kennt die Antwort.

Priya hält sich an die Regeln, wie gute Lügner an ihren Geschichten festhalten. Sie spricht «Rechtsmediziner» aus wie ein Kind, das in der Schule gerade ein neues Wort gelernt hat und damit angeben will.

«Völlig richtig», sage ich und stehe auf.

Im Unterschied zu meiner jungen Kollegin habe ich schon sehr viele Leichen gesehen, aber dieser Fall ist nicht wie andere. Während Priya Spekulationen zur Identität der Toten anstellt, schweife ich innerlich ab. Ich habe das Gefühl, am Anfang von etwas Großem zu stehen, und frage mich, ob ich dem gewachsen bin. Kein Mord ist wie der andere, aber es ist Jahre her, seit ich eine auch nur ansatzweise ähnliche Ermittlung geleitet habe, und seitdem hat sich vieles geändert. Der Job, ich und einiges mehr.

Der ganze Fall ist anders.

Ich habe noch nie in einem Mord ermittelt, bei dem ich das Opfer kannte.

Und diese Frau habe ich gut gekannt.

Ich war gestern Abend mit ihr zusammen.

Sie

Dienstag, 6:30 Uhr

Wir alle haben Geheimnisse, manche verraten wir nicht mal uns selbst.

Als ich die Augen öffne, weiß ich weder, was mich geweckt hat, wie spät es ist noch wo ich bin. Es ist stockfinster. Meine Finger ertasten den Schalter der Nachttischlampe, die etwas Licht ins Dunkel bringt, und mit Erleichterung finde ich mich in der vertrauten Umgebung meines eigenen Schlafzimmers wieder. Wenn ich mit so einem Gefühl aufwache, bin ich immer froh, es nach Hause geschafft zu haben.

Ich gehöre nicht zu den Frauen, von denen man in Büchern liest oder die man im Fernsehen sieht, die oft einen über den Durst trinken und dann nicht mehr wissen, was sie am Abend davor gemacht haben. Ich bin weder Amateurtrinkerin noch ein Klischee. Wir alle sind von irgendwas abhängig: Geld, Erfolg, soziale Medien, Zucker, Sex … die Liste der Möglichkeiten ist endlos. Mein Suchtmittel der Wahl ist nun mal Alkohol. Es dauert manchmal ein bisschen, bis sich die Erinnerung wieder einfindet, und ich bin auch nicht immer froh über oder stolz auf das, was ich getan habe, aber ich erinnere mich immer. Immer.

Was nicht heißt, dass ich der ganzen Welt davon erzählen muss.

Manchmal denke ich, ich bin die unzuverlässige Erzählerin meines eigenen Lebens.

Manchmal denke ich, wir alle sind so.

Als Erstes fällt mir wieder ein, dass ich meinen Traumjob verloren habe, und die Erinnerung, dass mein schlimmster Albtraum wahr geworden ist, verursacht körperliche Schmerzen. Ich knipse das Licht aus – ich will die Dinge gar nicht mehr so klar sehen –, lege mich wieder hin und vergrabe mich unter der Decke. Ich schlage die Arme um mich und schließe die Augen, während ich daran denke, wie ich aus dem Büro des Dünnen Controllers gekommen bin, dann mitten am Nachmittag den Newsroom verlassen habe und mit dem Taxi nach Hause gefahren bin, weil ich mich unsicher auf den Beinen fühlte. Dann habe ich meine Mutter angerufen, um ihr zu sagen, was passiert war. Das war dumm, aber mir fiel sonst niemand ein.

Meine Mutter ist seit ein paar Jahren ein bisschen vergesslich und verwirrt, und bei meinen Anrufen bekomme ich immer ein schlechtes Gewissen, weil ich sie kaum besuche. Ich habe meine Gründe, nie wieder dahin zurückzuwollen, woher ich komme, und die würde ich lieber vergessen, als sie irgendwem zu verraten. Es ist leichter, die Distanz zwischen manchen Eltern und ihren Kindern auf die Anzahl der Kilometer zu schieben, aber wenn man die Wahrheit zu sehr verdreht, bricht sie irgendwann. Zuerst klang es am anderen Ende der Leitung nach Mum, aber sie war es nicht wirklich. Nachdem ich ihr mein Herz ausgeschüttet hatte, blieb sie einen Moment lang still und fragte dann, ob mich Rührei und Pommes zum Abendessen aufheitern würden, nach meinem schlimmen Tag in der Schule.

Mum erinnert sich nicht immer, dass ich sechsunddreißig bin und in London lebe. Sie vergisst oft, dass ich einen Job habe und früher auch einen Ehemann hatte und ein eigenes Kind. Sie scheint nicht mal zu wissen, wann ich Geburtstag habe. Ich habe in diesem Jahr keine Karte bekommen, genau wie im letzten, aber sie kann nichts dafür. Zeit hat für meine Mutter keine Bedeutung mehr. Für sie fließt die Zeit anders und oft rückwärts. Die Demenz hat meiner Mutter die Zeit gestohlen und mir meine Mutter.

Dass ich unter den gegebenen Umständen in meinen Erinnerungen nach Trost gesucht habe, ist verständlich, aber ich hätte nicht ganz bis in meine Kindheit zurückgreifen sollen, da kann zu viel danebengehen.

Als ich nach Hause kam, habe ich alle Vorhänge zugezogen und eine Flasche Malbec geöffnet. Nicht aus Angst, gesehen zu werden – ich trinke einfach gern im Dunkeln. Manchmal will nicht mal ich sehen, wer ich werde, wenn niemand anders hinschaut. Nach dem zweiten Glas habe ich mir etwas Schlichteres angezogen – eine alte Jeans und einen schwarzen Pulli – und jemandem einen Besuch abgestattet.

Als ich ein paar Stunden später zurück war, habe ich mich schon im Eingangsflur ausgezogen. Die Klamotten waren verdreckt, und ich habe mich schuldig gefühlt. Ich weiß noch, dass ich eine zweite Flasche geöffnet und Feuer im Kamin gemacht habe. Ich habe mich davorgesetzt, in eine Decke eingewickelt, und den Wein hinuntergestürzt. Nach der langen Zeit draußen in der Kälte wurde mir nur langsam wieder warm. Die Scheite haben gezischt und geflüstert, als hätten sie selber Geheimnisse, und die Flammen ließen geisterhafte Schatten durch den Raum tanzen. Ich habe versucht, sie aus dem Kopf zu bekommen, aber selbst mit festgeschlossenen Augen konnte ich immer noch ihr Gesicht sehen, ihre Haut riechen, ihr Weinen hören.

Ich erinnere mich, den Dreck unter meinen Fingernägeln bemerkt und mich vor dem Zubettgehen in der Dusche saubergeschrubbt zu haben.

Mein Telefon vibriert, und mir wird klar, dass ich davon aufgewacht sein muss. Es ist früher Morgen, draußen noch genauso dunkel wie drinnen, und gespenstisch still. Stille ist eine Angst, die ich gelernt habe zu fühlen, anstatt zu hören. Sie schleicht sich an, lauert oft in den lautesten Winkeln meines Kopfes. Ich horche, höre aber weder Verkehrsgeräusche noch Vogelgezwitscher oder Leben. Kein Rumpeln des Boilers und kein Rumoren der alten Rohre, die mein Haus vergeblich zu heizen versuchen.

Ich starre auf mein Handy – die einzige Lichtquelle – und sehe, dass mich eine Eilmeldung geweckt hat. Das Display gibt einen künstlichen Schimmer ab. Ich lese die Schlagzeile über eine im Wald entdeckte Frauenleiche und frage mich, ob ich träume. Das Zimmer scheint mir dunkler als eben noch.

Dann klingelt das Handy.

Ich gehe ran. Der Dünne Controller entschuldigt sich für die frühe Störung. Er fragt, ob ich vielleicht reinkommen und die Sendung präsentieren könnte.

«Was ist mit Cat Jones?», frage ich.

«Wir wissen es nicht. Aber sie ist nicht zur Arbeit erschienen, und wir können sie nicht erreichen.»

Die kleinen Bruchstücke, in die ich gestern auseinandergefallen bin, beginnen aufeinander zu zu kriechen und sich zusammenzufügen. Manchmal verliere ich mich in meinen Gedanken und Ängsten. Bin gefangen in einer Sorgenwelt, die, wie ich tief in meinem Inneren weiß, allein in meinem Kopf existiert. Angst schreit oft lauter als Logik, und wenn man sich das Schlimmste zu lange vorstellt, kann es wahr werden.

Als ich nicht gleich antworte, redet der Dünne Controller weiter:

«Tut mir echt leid, dich zu sfören, Anna. Aber ich muss jetzt wissen …»

Sein Sprachfehler schwächt meinen Hass auf ihn ab. Ich weiß genau, was ich sagen werde – ich habe den Moment im Stillen geprobt.

«Natürlich. Ich würde das Team niemals im Stich lassen.»

Die hörbare Erleichterung am anderen Ende der Leitung ist köstlich.

«Du retteft uns das Leben», sagt er, und kurz vergesse ich, dass das Gegenteil der Fall ist.

Ich brauche länger als sonst, um mich fertig zu machen. Ich bin immer noch betrunken, aber nicht so sehr, dass rezeptpflichtige Augentropfen und eine Tasse Kaffee nicht Abhilfe schaffen könnten. Ich trinke ihn zu heiß, er verbrüht mir den Mund, der kurze Schmerz lindert den anderen. Dann schenke ich mir kalten Weißwein aus einer der Flaschen im Kühlschrank ein – nur ein kleines Glas, um das Brennen zu löschen. Ich gehe ins Bad und ignoriere die Zimmertür am anderen Ende des Flurs, die ich immer geschlossen halte. Manchmal ordnen sich unsere Erinnerungen zu einem hübscheren Bild unserer Vergangenheit um, das den Rückblick etwas erleichtert. Manchmal müssen wir es übermalen, um so tun zu können, als würden wir uns nicht an das erinnern, was darunter verborgen liegt.

Ich dusche und ziehe ein rotes Kleid aus dem Schrank, an dem noch das Preisschild hängt. Ich kaufe ungern ein, und wenn ich etwas finde, das mir steht, kaufe ich es in mehreren Farben. Kleider machen keine Frau, aber sie können verhüllen, aus welchem Stoff wir sind. Ich trage neue Sachen nie sofort, ich hebe sie auf für einen Moment, in dem ich mich gut fühlen muss und nicht wie ich selbst. Jetzt ist der perfekte Augenblick, etwas Neues und Hübsches anzuziehen, um mich innerlich zu verstecken. Als ich mit meinem Aussehen zufrieden bin, wickle ich es in meinen roten Lieblingsmantel ein – es ist nicht immer schlecht, aufzufallen.

Ich nehme ein Taxi – ich will mein altes Selbst so schnell wie möglich in meinen alten Job zurückbringen –, schiebe mir ein Minzbonbon in den Mund und betrete die Lobby. Keine vierundzwanzig Stunden sind vergangen, aber als ich in den Newsroom hinunterblicke, habe ich das Gefühl, nach Hause zu kommen.

Ich gehe auf das Team zu und merke, dass sich alle umdrehen und zu mir aufschauen wie Erdmännchen. Sie tauschen unsichere Blicke aus, ihr Mienenspiel ist in die müden Gesichter eingraviert. Ich hatte mit mehr Freude über meinen Anblick gerechnet – nicht alle Nachrichtensprecher legen meinen Einsatz an den Tag. Dann fixiere ich mein unerwidertes Lächeln und packe das Metallgeländer an der Wendeltreppe ein bisschen fester. Es fühlt sich an, als könnte ich fallen.

Als ich nach meiner Stuhllehne greife, legt die Redakteurin ihre eiskalte Hand auf meine. Sie schüttelt den Kopf und senkt den Blick, als wäre ihr etwas peinlich. Sie ist die Art Frau, die ständig für ein pralles Bankkonto und einen dünnen Körper betet, aber Gott scheint das immer durcheinanderzukriegen. Ich stehe inmitten des sitzenden Teams, spüre ihre heißen Blicke auf meinen roten Wangen und versuche zu erraten, was sie wissen und ich nicht.

«Tut mir so leid!», sagt eine Stimme hinter mir. Sie als samtig zu beschreiben, wirkt überzogen, aber genauso klingt sie: ein üppiges, weibliches Schnurren. Eine Stimme, mit der ich nicht gerechnet habe und die ich nicht hören will. «Das Kindermädchen hat in letzter Sekunde abgesagt, meine Schwiegermutter hat sich bereit erklärt, einzuspringen, aber es dann geschafft, auf dem Weg zu uns einen Unfall zu bauen – nichts Ernstes, nur eine Beule –, und als ich die Mädchen endlich beruhigt hatte und aus dem Haus war, hatte mein Zug Verspätung, und mir ging auf, dass ich mein Handy vergessen hatte! Ich konnte euch nicht Bescheid sagen, dass ich mich verspäten würde. Es tut mir unendlich leid, aber jetzt bin ich da.»

Ich weiß nicht, warum ich geglaubt hatte, Cat Jones wäre für alle Zeiten weg. Im Nachhinein erscheint es albern, aber ich hatte mir vermutlich irgendeinen Unfall ausgemalt. Nur einen kleinen, der verhindert hätte, dass sie je wieder die Mittagsnachrichten präsentiert, damit ich wieder in ihre Fußstapfen treten und die Person sein kann, die ich sein will. Jetzt ist sie da und ich somit überflüssig, und ich spüre bereits, dass ich zusammenschrumpfe und mich in jemand Kleines und Unsichtbares verwandle. Ein unnötiges Ersatzteil in einer neu eingestellten Maschine.

Als sie sich das hellrote Haar hinter die Ohren streicht, kommen Diamantstecker zum Vorschein, die echter wirken als ihre Trägerin. Ihre Haarfarbe kann unmöglich natürlich sein, sieht aber perfekt aus, wie auch das körperbetonte gelbe Kleid und die perlweißen Zähne, die beim Lächeln aufblitzen. Ich komme mir vor wie eine Betrügerin.

«Anna!», sagt sie, als wären wir alte Freundinnen, nicht neue Feindinnen. Ich gebe das Lächeln wie ein ungewolltes Geschenk zurück. «Ich dachte, da ich jetzt wieder da bin, würdest du deinen ersten freien Tag bei deiner Kleinen zu Hause verbringen wollen! Ist es nicht toll, Mutter zu sein? Wie alt ist deine Tochter jetzt?»

Sie wäre zwei Jahre, drei Monate und vier Tage alt.

Ich habe nie aufgehört zu zählen.

Vermutlich erinnert sich Cat daran, dass ich schwanger war. Und niemand hat ihr erzählt, was ein paar Monate nach Charlottes Geburt passiert ist. Im Newsroom wird es plötzlich ganz still, alle starren uns an. Ihre Frage saugt mir die Luft aus der Lunge, und niemand, auch ich nicht, bringt eine Antwort heraus. Ihre Augenbrauen – ich bin mir sicher, dass sie tätowiert sind – verziehen sich zu einem leicht dramatischen Stirnrunzeln.

«Oh Gott, bist du meinetwegen einbestellt worden? Es tut mir so leid – du hättest den Morgen freihaben können, zu Hause mit deiner Familie.»

Ich halte mich am Moderationsstuhl fest.

«Schon gut, ehrlich», sage ich und bringe ein Lächeln zustande, das meinem Gesicht weh tut. «Eigentlich bin ich froh, wieder Korrespondentin zu sein, und freue mich total, dass du wieder da bist. Es hat mir gefehlt, raus unter die Leute zu kommen und echte Stories aufzuspüren, weißt du?»

Ihre Miene bleibt ausdruckslos. Ich interpretiere ihr Schweigen so, dass sie entweder anderer Meinung ist oder mir nicht glaubt.

«Wenn das so ist, solltest du dir vielleicht den Mord vornehmen, der heute Nacht reingekommen ist? Die Leiche im Wald?», erwidert sie.

«Keine schlechte Idee.» Der Dünne Controller ist neben ihr aufgetaucht und grinst wie ein Affe mit einer frischen Banane.

Ich fühle, dass ich schrumpfe.

«Habe ich noch gar nicht gesehen», lüge ich.

Jetzt wäre ein guter Moment, um krankzuspielen. Ich könnte nach Hause gehen, mich von der Welt abschotten und mich glücklich trinken – zumindest weniger traurig –, aber Cat Jones redet weiter, und das gesamte Team scheint an ihren Lippen zu hängen.

«Letzte Nacht ist eine Frauenleiche gefunden worden, in einem Ort namens Blackdown, einem verschlafenen Nest in Surrey. Vielleicht steckt nichts dahinter, aber könntest du dem nachgehen? Wir geben dir ein Kamerateam mit. Ganz sicher willst du da … nicht einfach allein rumspazieren.»

Sie schaut rüber in die Ecke, die wir Taxistand nennen – wo die Korrespondenten hocken, darauf gieren, auf irgendeine Story angesetzt zu werden, und nur selten Sendezeit abbekommen.

Journalisten mit speziellen Fachthemen – wie Wirtschaft, Gesundheit, Entertainment, Verbrechen – sitzen alle oben in Büros. Sie haben genug zu tun, sind ausgefüllt, ihre Jobs relativ sicher. Für einen bescheidenen allgemeinen Korrespondenten sieht es ganz anders aus. Bei manchen hat die Karriere ganz vielversprechend begonnen, bis sie irgendwann dem Falschen auf die Füße getreten sind, seitdem setzen ihre im Sand verlaufenen Storys Staub an.

Es gibt im Newsroom viel totes Holz, aber der harte Lack der Mediengewerkschaften macht es schwer, es auszuschaben. Ein beschämenderer Platz als die Korrespondentenecke lässt sich für eine ehemalige Nachrichtensprecherin im Newsroom kaum denken. Ich habe zu lange zu hart gearbeitet, um einfach zu verschwinden. Ich werde einen Weg finden, um wieder vor die Kamera zu kommen, aber über diese spezielle Geschichte will ich auf gar keinen Fall berichten.

«Gibt es noch irgendwas anderes?», frage ich.

Meine Stimme klingt seltsam, als würden die Worte mir im Hals stecken.

Der Dünne Controller zuckt die Achseln und schüttelt den Kopf. Ich bemerke die auf die Schultern seines schlechtsitzenden Anzuges gerieselten Schuppen, und er bekommt es mit. Um die erneute peinliche Stille zu vertreiben, lächele ich gezwungen.

«Dann mache ich mich wohl mal auf den Weg nach Blackdown.»

Wir alle haben kleine Risse, Beulen und Flecken, die das Leben in unseren Herzen und Köpfen hinterlässt und die Angst und Furcht vertiefen, manche sind mit verdünnter Hoffnung übertüncht. Ich verberge meine Verwundbarkeit so gut es geht, und zwar immer. Ich verberge viele Dinge.

Menschen, die nichts bereuen, sind Lügner.

Zwar wäre ich im Augenblick überall lieber als hier, aber Blackdown ist der eine Ort, an den ich wirklich nie zurückkehren wollte. Vor allem nicht nach letzter Nacht. Manches lässt sich nicht erklären, nicht mal uns selbst gegenüber.

***

Die Erste zu töten war leicht.

Als sie am Bahnhof von Blackdown aus dem Zug stieg, war ihr anzusehen, dass sie lieber woanders gewesen wäre. Das konnte ich verstehen. Ich wäre auch lieber woanders gewesen, aber zumindest war ich mit einem alten schwarzen Pulli gegen die Kälte gewappnet. Sie nicht. Es war der letzte Zug aus Waterloo, sie hatte also schon einen langen Abend hinter sich, aber offensichtlich noch einiges vor, wie ihre roten Lippen, das blonde Haar und der schwarze Lederrock verrieten, der im Gegensatz zu seiner Trägerin echt wirkte. Ihr Beruf schien für Selbstlosigkeit und Mitgefühl zu sprechen – sie leitete einen Wohlfahrtsverband für Obdachlose –, aber ich wusste, dass sie alles andere als eine Heilige war. Eher eine Sünderin, die ihre Bosheit ausgleichen will.

Manchmal tun wir Gutes, weil wir uns schlecht fühlen.

Wie immer um diese Uhrzeit war Blackdown menschenleer. Sie war die einzige Passagierin, die ausstieg. Der Ort ist verschlafen, die Menschen kommen unter der Woche früh nach Hause und gehen früh zu Bett, eingehüllt in den Mantel bürgerlicher Sitten und Angepasstheit. Wenn mal etwas passiert, sind die Menschen überraschend schnell bereit zu vergessen.

Der Bahnhof ist ein denkmalgeschütztes Gebäude von 1850, wie stolz in Stein gemeißelt über dem Eingang steht. Ein pittoresker und malerischer Dorfbahnhof, obwohl Blackdown seit einigen Jahren als Kleinstadt gilt. Der Bahnhof gibt einem das Gefühl, man wäre in der Zeit zurückgereist und in einem Schwarzweißfilm gelandet. Der Denkmalschutz bewahrt ihn vor allen unnötigen Modernisierungsmaßnahmen. Sicherheitskameras gibt es nicht, und nur einen Ein- und Ausgang.

Ich hätte sie gleich töten können.

Aber ihr Handy klingelte.

Sie telefonierte auf dem ganzen Weg bis zum Parkplatz. Auch wenn niemand etwas gesehen hätte, hätte vielleicht jemand etwas gehört.

Ich beobachtete, wie sie in ihren Audi TT glitt, einen Firmenwagen, für den die Wohltätigkeitsorganisation aufkam, wie auch für anderen Luxus, darunter einen Designermantel, eine Reise nach New York und die Strähnchen in ihrem Haar. Ich hatte die Jahresberichte ihres Buchhalters gesehen. Sie hatten in ihrem Home Office gelegen – die Schreibtischschublade war nicht mal abgeschlossen gewesen. Sie stahl der Organisation regelmäßig Geld und gab es für sich selbst aus, und sie einfach so weitermachen zu lassen, wäre einem Verbrechen gleichgekommen.

Ich brauchte ihr nicht weit zu folgen. Sie fuhr nur bis zum Wald, stieg dort aus ihrem Auto aus und in ein anderes ein. Dann strich sie sich das schöne blonde Haar hinter die Ohren und fing an, dem Fahrer einen Blowjob zu geben. Das war nur ein Appetitanreger, um auf den Geschmack zu kommen, bevor sie ihren Rock hoch- und den Schlüpfer hinunterzog und sich an den Hauptgang machte.