Folge dem Kompass deines Herzens - Nathalie Weber - E-Book

Folge dem Kompass deines Herzens E-Book

Nathalie Weber

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Beschreibung

Als Teenager rutschte Nathalie Weber durch eine Diät in die Anorexie. Obwohl sie ihr ursprüngliches Gewichtsziel erreicht hatte, konnte sie nicht aufhören, abzunehmen. Ohne es damals zu bemerken, war Nathalie bereits gefangen in dem Teufelskreis der Anorexie. Ihr Alltag war bestimmt von Gedanken zu Essen und Nicht-Essen, der Kontrolle und genauen schriftlichen Dokumentation ihres Essverhaltens und von bestimmten Zwängen in Bezug auf die Nahrungsaufnahme, die Bewegung sowie die Kontrolle des Essverhaltens Anderer. Drei Jahre (über)lebte Nathalie mit der Anorexie bis sie an einem Punkt angelangte, an dem sie wirklich etwas verändern und gesund werden wollte. Nathalie entschied sich aus eigenem Willen heraus, in eine Klinik zu gehen. Die stationäre Behandlung war ein sehr wichtiger Schritt auf ihrem Weg, die Anorexie hinter sich zu lassen. Nach der stationären Behandlung war sie nicht sofort komplett gesund. Mehrmals war Nathalie zufrieden, stellte aber im Nachhinein fest, dass sie in gewisser Hinsicht noch ein Stück der Anorexie festgehalten hatte, auch wenn sie keinen Rückfall erlitt. Sie ging ihren Weg weiter und konnte immer wieder Schritte gehen, die die Anorexie noch mehr in den Hintergrund rücken ließen. Sechs Jahre nach Ausbruch der Erkrankung konnte Nathalie sagen, dass sie komplett gesund ist. Damit ist ihre Geschichte aber nicht zu Ende. Denn die Vergangenheit hatte einen Einfluss auf die Zukunft: Während der Jahre mit der Anorexie war ihr durchaus bewusst, welche Folgen ein Untergewicht mit sich bringen kann. Nathalie hatte immer gehofft, dass solche sie nicht treffen würden. Weil sie aber eine Spätfolge zu spüren bekam, machte sie sich starke Vorwürfe und hatte mit Schuldgefühlen zu kämpfen. Deshalb suchte sie sich im Jahr 2019 noch einmal therapeutische Hilfe.

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Nathalie Weber, geboren 1994 in Backnang. Sie wuchs gemeinsam mit ihrem jüngeren Bruder in einem kleinen Dorf auf. Als Teenager litt sie unter einer Essstörung. Während dieser Zeit begann Nathalie Tagebuch zu führen sowie persönliche Texte zu schreiben, aus denen später dieses Buch entstanden ist.

Nach ihrer Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflegerin zog sie nach Freiburg. Dort arbeitet sie seit 2019 als stellvertretende Pflegedienstleitung bei einem ambulanten Kinderkrankenpflegedienst.

Nathalie Weber

Folge dem Kompassdeines Herzens

Mein Weg aus der Essstörung

© 2021 Nathalie WeberLektorat: Johanna Furch

Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN

 

Paperback

978-3-347-20139-2

Hardcover

978-3-347-20140-8

e-Book

978-3-347-20141-5

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

INHALT

Kapitel 1 Es geschah fast unbemerkt

Kapitel 2 Gefangen im Teufelskreis

Kapitel 3 Der Schulwechsel

Kapitel 4 Die Zeit in der Klinik – die beste Entscheidung auf dem Weg, gesund zu werden

Kapitel 5 Leben oder ich dachte, ich hätte es geschafft

Kapitel 6 Sie steckt noch in mir

Kapitel 7 Leben – jetzt aber richtig

Kapitel 8 Holt mich meine Vergangenheit ein?

Kapitel 9 Unser kleines Wunder

Vorwort eines Experten

Eine Anorexia nervosa gehört zu den schwersten Erkrankungen, die im Jugendalter auftreten können. Die Sterblichkeit liegt bei bis zu zehn Prozent im Langzeitverlauf. Das ist höher als bei vielen Krebserkrankungen im Jugendalter. Auch die Krankheitsdauer, die zwischen sechs und zwölf Jahren angegeben wird, zeigt, dass die Erkrankung sehr hartnäckig ist und häufig viele Behandlungsanläufe und vielfach viele ambulante und stationäre Behandlungsepisoden benötigt.

Die Ursache für eine Anorexia nervosa ist immer noch nicht vollständig aufgeklärt. Es handelt sich um eine seelische Erkrankung, die starke, aber auch biologische zum Beispiel genetische Ursachen hat. Die Anorexia nervosa oder auch Magersucht führt jedoch sehr schnell zu körperlichen Veränderungen, die auch den seelischen Zustand beeinflussen, so dass sich die Erkrankung in einem Teufelskreis selber aufrechterhält. Die ernüchternden Fakten sind, dass derzeit nur zwei Drittel aller Betroffenen einer Anorexia nervosa geheilt werden. Bei einem Drittel kommt es zu einem sehr langen oder chronifizierten Krankheitsverlauf. In den letzten zehn Jahren hat sich in der Essstörungsbehandlung viel verändert. Die biologischen Faktoren geraten zunehmend in Blick und es werden auch viele neue psychologische Behandlungsansätze ausprobiert.

Neben dem Wissen über die Erkrankung Anorexia nervosa ist der Blick auf die individuelle Situation der Betroffenen wichtig. Jede Betroffene – es sind überwiegend Frauen – erlebt ihre eigene Erkrankung. Eine anorektische Essstörung verhält sich nicht nach Lehrbuch und bedeutet immer eine persönliche Katastrophe für die Betroffene und die Angehörigen. In dem vorliegenden eindrucksvoll geschilderten Bericht wird deutlich, wie karg das Leben mit einer anorektischen Essstörung ist und wie mühsam der Weg aus der Essstörung ist. Dieser Bericht zeigt allerdings auch, dass es Ziele geben muss, Ideen und Wünsche, wie ich ohne Essstörung leben kann, um sie zu überwinden und es bedarf eines sicheren Rahmens für das Wachstum von Heilungsprozessen. Ich wünsche der Autorin viel Glück in ihrem neuen Leben ohne Essstörung und ich wünsche allen betroffenen Leserinnen und Lesern den Mut, sich auf den Weg zu machen die Essstörung zu überwinden.

Bad Wildungen, den 18.11.2020

Dr. med. Hartmut Imgart

Chefarzt Parklandklinik Bad Wildungen-Reinhardshausen

Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie

Sozialmedizin, Ernährungsmedizin und Notfallmedizin

Kinder-, Jugend-, Erwachsenen- und Familientherapie

Spezielle Psychotraumatherapie

Vorwort der Autorin

Liebe Leserin, lieber Leser,

ich möchte Dir mit meinem Buch nichts vorspielen. Es erwartet Dich die ungeschönte Wahrheit meines Weges mit der Anorexie und meines Kampfes gegen sie. Um das wahre und komplette Ausmaß darzustellen, werde ich unter anderem das Gewicht, Portionsmengen und Zwänge nennen. Du wirst sehen, was es für mich bedeutet hat, mit der Anorexie zu (über)leben. Mir ist es jedoch wichtig, dass Du weißt, dass die Zahl auf der Waage keineswegs die Schwere der Krankheit anzeigt. Genauso wie im Untergewicht kann man im Normalgewicht oder Übergewicht anorektische Gedanken haben, die ernst zu nehmen sind. Meine Worte sollen Dich keineswegs dazu ermutigen, es mir nach zu tun. Fühlst Du Dich zu sehr von meinen Worten beeinflusst, leg das Buch für einige Minuten, Stunden, Tage, Wochen oder Monate zur Seite. Aber nimm es auch wieder zur Hand. Denn neben den schrecklichen Seiten der Anorexie und der heftigen Zeit, die ich mit ihr erlebt habe, wirst Du von meinem Kampf gegen diese Krankheit und von meinem Weg, gesund zu werden, erfahren. Ich möchte Dir mit diesem Buch Mut machen. Es ist möglich gesund zu werden und es lohnt sich dafür zu kämpfen.

Bist Du ein Angehöriger oder eine Angehörige, ein Freund oder eine Freundin, ein Lehrer oder eine Lehrerin einer Betroffenen oder eines Betroffenen, möchte ich Dir mit meinem Buch einen Einblick geben, was es bedeutet mit der Anorexie zu (über)leben. Denn ich selbst habe erfahren, dass es für Außenstehende nur schwer vorstellbar ist, in welchem Ausmaß die Anorexie sich zeigt. Ich habe erlebt, dass viele dachten, es ginge nur um ein Schönheitsideal und darum, diesem immer ähnlicher zu werden. Wie viel mehr hinter dieser Krankheit steckt, welche Wurzeln sie hat und dass es in den seltensten Fällen darum geht, einem Schönheitsideal nachzueifern, möchte ich Dir mit diesem Buch näher bringen. Außerdem – und das ist mir besonders wichtig – möchte ich Dir zeigen, dass es einen Weg heraus aus der Krankheit gibt.

Auf meinem Weg mit der Anorexie und meinem Kampf gegen sie habe ich regelmäßig Tagebuch geschrieben und Texte mit meinen Gedanken verfasst. Einige meiner Tagebucheintrage und Texte habe ich in diesem Buch eingebaut.

Hast Du noch Fragen, nachdem Du dieses Buch gelesen hast oder möchtest Du Deine Gedanken mit mir teilen, dann schreib mir sehr gerne an folgende Emailadresse:

[email protected]

Gundelfingen, 10.11.2020

Nathalie Weber

„Das Leben ist wie eine Wanderung. Es ist kein geradliniger Weg. Der Lebensweg besteht aus Kurven, Höhen, Tiefen und Kreuzungen. An Kreuzungen müssen wir uns entscheiden, gehen wir nach rechts, nach links oder gerade aus. Wir wissen nicht, ob es die richtige Richtung ist. Doch das sehen wir erst, wenn wir sie gegangen sind. Schlagen wir die falsche Richtung ein, ist unser Leben damit aber nicht beendet. Wir können umkehren oder an der nächsten Kreuzung eine andere Richtung einschlagen. Das Wichtigste dabei ist, dass wir unserem Herzen folgen und eines im Kopf behalten: Der Weg ist das Ziel.“ (geschrieben 2018)

KAPITEL 1 ES GESCHAH FAST UNBEMERKT

„Ich war eigentlich immer ein glückliches Kind. Ich liebte es, draußen zu sein und mit Freunden zu spielen. Ich fand es nicht gut, wenn an einem Nachmittag einmal niemand zu mir kommen oder ich zu niemandem gehen konnte. Ich brauchte Gesellschaft. In der Grundschule fühlte ich mich wohl. Ohne Probleme schrieb ich gute Noten, ich musste eigentlich überhaupt nichts lernen. Ich hatte sehr viel Zeit für andere Dinge. Ich lernte Flöte spielen, ging eine Zeit lang ins Badminton und in die Leichtathletik. Mein Wunsch war es schon sehr früh in der Grundschule, auf das Gymnasium zu gehen. Dort ging ich auch hin. Auf dem Gymnasium musste ich dann doch auf Arbeiten lernen. Aber mir blieb noch genug Freizeit. Mittlerweile hatte ich angefangen, Saxophon-Unterricht zu nehmen. Ich bin im Musikverein. Auch lernte ich noch Klarinette zu spielen. Das macht mir Spaß. Die ersten Jahre aufdem Gymnasium verbrachte ich gut. Ich hatte immer Freunde, die ich manchmal mittags besuchen konnte oder die zu mir kommen konnten. Ich brauchte Gesellschaft. Ich mochte es unter Leuten zu sein. Aber im Mittelpunkt stand ich nie und das wollte ich auch nicht.“ (geschrieben 2010)

Gemeinsam mit meiner Familie – meinen Eltern und meinem Bruder – lebte ich in einem kleinen Dorf. Dort bin ich aufgewachsen, ging in den Kindergarten und in die Grundschule. Nachmittags verbrachte ich die Zeit mit meinen Freunden oder spielte mit meinem Bruder. Wir waren viel in der Natur, fuhren Rad, gingen auf einen Spielplatz oder kuschelten mit unseren Haustieren, einem Hasen und einer Katze. Natürlich kam es zu kleinen Streitereien mit meinen Freunden oder meiner Familie, aber ich kann sagen, dass ich eine schöne Kindheit hatte und wohlbehütet aufwachsen durfte.

Als ich dreizehn Jahre alt war, im Jahr 2007, ging es mir gut. Damals ging ich in die 7. Klasse eines Gymnasiums und war eine gute Schülerin. Wahrscheinlich auch deshalb, weil mich die meisten Fächer interessiert haben. Lernen war für mich nichts, das ich mit Zwang oder Druck tun musste. In meiner Klasse, aber auch außerhalb, hatte ich einige Freunde. In meinem Freundeskreis fühlte ich mich wohl. Natürlich war nicht immer alles harmonisch. Neben pubertären Streits gab es auch die ein oder andere kleine Hürde, die es zu bewältigen galt. All das gehörte, meiner Meinung nach, zu einem Alltag eines Teenagers. Es belastete mich nicht in dem Ausmaß, in dem es mich später noch belasten würde, und ich konnte gut damit umgehen.

Juni/Juli 2007 – Schullandheim auf Föhr

Diese beiden Bilder entstanden im Schullandheim auf Föhr. Zu dieser Zeit fühlte ich mich wohl in meinem Körper, auch wenn ich etwas pummeliger war als manche meiner Klassenkameraden. Damals wog ich bei einer Größe von 1,63 Metern zwischen 60 und 62 Kilogramm.

Irgendwann, ungefähr Ende 2007, fing ich an, meinen Körper mit dem der anderen zu vergleichen. Der Großteil der anderen Mädchen aus meiner Klasse war schlank. Sie trugen gefühlt alle diese engen Röhrenjeans von H&M. Ich wollte diese Hosen auch tragen, aber sie passten mir nicht. Hinzu kam der Kommentar eines Klassenkameraden über meine Figur: „Schau dich mal an, du bist ganz schön dick.“ Da ich mich zu diesem Zeitpunkt in meinem Körper nicht mehr wohl fühlte, nahm ich mir seine Aussage sehr zu Herzen. Bestätigte er doch meine Einschätzung, dass ich fülliger war als meine Klassenkameraden. Ich fing an, an meinem Aussehen und meinem Körpergewicht zu zweifeln. Meine Zweifel führten dazu, dass ich mich in meinem Körper überhaupt nicht mehr wohl fühlte und mir vornahm, abzunehmen. Mein ursprüngliches Ziel war, so viel abzunehmen, bis ich in diese Hosen passe. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich mir nie Gedanken über meine Ernährung gemacht. Ich würde sagen, dass ich mit einer ausgewogenen Ernährung aufgewachsen bin. Im Alltag kochte meine Mama einmal am Tag immer frisch, die Gerichte variierten von Tag zu Tag, die Brotdosen für die Schule wurden in den ersten Schuljahren von meiner Mama, später von mir selbst frisch zubereitet, es gab jeden Tag Obst und Gemüse, aber auch immer eine kleine Süßigkeit. Selten aßen wir Fast Food. Generell gab es aber keine Verbote in der Ernährung.

Die Süßigkeiten zu reduzieren beziehungsweise komplett aus meiner Ernährung zu streichen, war der Beginn meiner „Diät“. In den folgenden Wochen verzichtete ich außerdem auf manch andere Lebensmittel mit einer hohen Kaloriendichte, zum Beispiel Pommes oder Nudeln, oder aß davon nur eine geringe Menge. Auch ließ ich hin und wieder eine Mahlzeit ausfallen und aß viel Obst und Gemüse. Diese Einschränkungen einzuhalten, fiel mir in den ersten Wochen nicht leicht. Deswegen hielt ich mich nicht konsequent daran. Für mich war das damals aber ein Zeichen dafür, dass ich zu schwach war, um meine „Diät“ durchzuhalten und es führte dazu, dass ich mich schlecht fühlte. Da ich meinem Körper zu wenige Nährstoffe zuführte, signalisierte er mir ständig ein Hungergefühl. Dieses ignorierte ich meistens. Das war eine Qual. Es fühlte sich nicht gut an, ständig Hunger zu haben. Das auszuhalten war es mir jedoch wert. Denn ich wollte mir und den Menschen um mich herum zeigen, dass ich es schaffen konnte, abzunehmen. Von Woche zu Woche wurde es einfacher, mich an die Einschränkungen zu halten und das Hungergefühl auszuhalten. Ich nahm damit ab und das motivierte mich, die „Diät“ fortzuführen. Denn sie signalisierte mir: „Du kannst es schaffen.“ Im März 2008 wog ich bereits circa 53 Kilogramm. Ich passte inzwischen in diese Röhrenjeans und hatte damit mein ursprüngliches Ziel erreicht.

Im März 2008 fand meine Konfirmation statt. Zu diesem Zeitpunkt bekam ich von den Menschen um mich herum Komplimente dafür, dass ich abgenommen hatte und gut aussehe. Diese Komplimente bestärkten mich. Sie gaben mir das Gefühl, dass ich genug Disziplin für eine Abnahme aufbringen konnte. An meiner Konfirmation sagte mein Großcousin aber auch zu mir: „Die Abnahme reicht nun aber. Du darfst nicht noch dünner werden.“ Im Nachhinein betrachtet eine sehr wichtige und richtige Aussage, die ich mir damals aber nicht zu Herzen nehmen konnte. Ich dachte mir nur: Es reicht noch nicht.

„Ich nahm mir vor, abzunehmen. Und das schaffte ich auch. Nur irgendwann hatte ich es nicht mehr unter Kontrolle.“ (geschrieben 2010)

Obwohl ich mein ursprüngliches Ziel erreicht hatte, reichte mir die Abnahme nicht aus. Warum? Darüber machte ich mir zu diesem Zeitpunkt keine Gedanken. Für mich war alles in Ordnung. Ich wollte „nur“ noch ein bisschen abnehmen. Dabei hatte ich mein eigentliches Ziel bereits erreicht. Doch ich genoss das Gefühl von Erfolg und Stärke, das mir der Gewichtsverlust vermittelte. Damals bemerkte ich nicht, dass ich es zu diesem Zeitpunkt längst nicht mehr unter Kontrolle hatte und es bereits lange nicht mehr darum ging, besser auszusehen.

Bereits in dieser Zeit kontrollierte ich mein Essverhalten. Ich saß zwar immer mit meiner Familie gemeinsam zu den Mahlzeiten am Tisch, aß aber öfter nicht das, was meine Eltern und mein Bruder aßen, sondern hatte mir selbst etwas anderes zubereitet. Zu der Kontrolle meines Essverhaltens gehörte die genaue Dokumentation der Mahlzeiten, die ich zu mir genommen hatte. In dieser Tabelle notierte ich gleichzeitig mein Gewicht, um zu sehen, wann ich mit welchen Mahlzeiten abgenommen hatte. Diese Dokumentation war ein Zwang, dem ich nachgehen musste. Ich hatte das Gefühl, es nicht auszuhalten, wenn ich meine Mahlzeiten nicht dokumentieren konnte. Selbst im Urlaub, als ich mit meiner Familie für eine Woche in den Bayrischen Wald gefahren war, musste ich meine Mahlzeiten weiterhin in der Tabelle notieren.

Beispieltabelle

Gewicht morgens

53 kg

Frühstück

1 Birne

Snack

1 Apfel

Mittagessen

2 Stücke Salzkuchen

Abendessen

1 Teller Tomate-Zucchini-Gratin und 3 kleine Scheiben Brot

Gewicht abends

53,8 kg

In der Lebensmittelauswahl war ich noch nicht so eingeschränkt und konnte mir Ausnahmen erlauben. So zum Beispiel am Tag meiner Konfirmation. Ich ging zwar ohne Frühstück aus dem Haus, aß aber den restlichen Tag über „normal“: So konnte ich das Menü in der Gaststätte essen, ohne mich einzuschränken. Ich erlaubte mir die Vorspeisensuppe, den Hauptgang mit Fleisch und Beilagen sowie das Eis zum Nachtisch. Zuhause bei Kaffee und Kuchen aß ich zwei Stücke Kuchen und beim Abendbrot gab es für mich Brot, Belag und Gemüse. Wie aber das Wort „erlaubt“ schon ausdrückt, konnte ich das Essen nicht komplett genießen. Meine Gedanken kreisten bereits Tage vor einem besonderen Ereignis nur um das Essen. Ich wusste, dass es mehr und kalorienhaltigere Lebensmittel geben wird. Was konnte ich mir an diesem Tag erlauben und wie konnte ich die höheren Mengen an den folgenden Tagen wieder ausgleichen? Mit solchen Gedanken beschäftigte ich mich mehrere Stunden, sie nahmen einen großen Teil meines Tages ein.

Zu der Kontrolle meines Essverhaltens kam die Kontrolle meines Gewichts. Ich wog mich mehrmals täglich – nach dem Aufstehen, nach dem Mittagessen, nach dem Abendessen. Damit wollte ich konsequent kontrollieren, wie sich mein Essverhalten auf mein Gewicht auswirkte. Ich habe damals jedoch nicht bedacht, dass Essen – egal, wie viele Kalorien die jeweiligen Nahrungsmittel haben – etwas wiegt und sich das natürlich auf der Waage wiederspiegelt, genauso wie die Menge an Flüssigkeit, die ich zu mir nahm. Dieses mehrmalige Wiegen am Tag war ein regelrechter Zwang. Konnte ich diesem nicht nachgehen, war das Essen noch schwieriger für mich als sowieso schon. Eine, meiner damaligen Ansicht nach, zu große „Zunahme“ im Laufe des Tages führte dazu, dass ich mir ganz genau überlegte, was ich den restlichen Tag noch essen durfte und was nicht.

Viele Stunden meines Tages verbrachte ich mit den Gedanken um Essen, Nicht-Essen und Gewicht. Ich plante bereits im Voraus, was ich an welchem Tag essen dürfe.

Meine Tagebucheinträge spiegeln meine Gedanken an Gewicht und Essen wieder:

„Ich will am Sonntagabend 53,5 Kilogramm wiegen und das wiege ich gerade auch, aber vor der Konfirmation waren es noch 52,5 Kilogramm. Ich darf halt nur einen Apfel zum Frühstück essen und auch nichts zwischendurch.“ (Tagebucheintrag 13.03.2008)

Zusätzlich zu den Gedanken um Essen, Nicht-Essen und Gewicht konnte ich mich stundenlang damit beschäftigen Rezeptbücher anzuschauen. Mir reichte es vollkommen aus, die Bilder von sämtlichen Gerichten anzusehen, selbst essen wollte ich sie nicht. Auf den Gedanken, dass dieses Verhalten ungewöhnlich war, kam ich nicht. Für mich schien das eine sinnvolle Beschäftigung zu sein. Wie ich im Nachhinein aber weiß, trieb mich die Anorexie dazu. Damit konnte sie mich von anderen Themen und Problematiken ablenken.

Nach einem Gewichtsverlust von sieben bis neun Kilogramm innerhalb recht kurzer Zeit – circa drei Monate – blieb im März 2008 meine Periode aus. Eindeutig ein Warnsignal! Eigentlich hätte ich mir darüber Gedanken machen sollen, das tat ich aber nicht. Für mich war alles nach wie vor nur eine „Diät“, die ich ja, wie ich damals behauptete, jederzeit beenden könnte. Zu meiner Periode schrieb ich folgenden Tagebucheintrag:

„Meine Tage habe ich immer noch nicht bekommen, aber naja scheiß drauf!“ (Tagebucheintrag 19.03.2008)

Damit war dieses Thema für mich vorerst beendet. Ich hatte damals keine Angst vor möglichen Folgen, die eine ausbleibende Periode mit sich bringen kann.

Im Mai 2008 spitzte sich die Situation zu. Mein Gewicht stagnierte bei 53 Kilogramm. Damit wollte und konnte ich mich nicht zufrieden geben. Ich war besessen davon, weiter abzunehmen, weil das zeigte mir, dass ich etwas kontrollieren konnte. Das war mir in dieser Situation aber nicht bewusst. Zudem war meine Körperwahrnehmung verzerrt und so sah ich mich als nicht schlank genug an. Wobei ich nach der Aussage von Außenstehenden durchaus dünn war. Von dem anfänglichen „nur auf Süßigkeiten verzichten“ hatte ich mittlerweile meine Ernährung so weit eingeschränkt, dass es mein Ziel war, nur Obst und Gemüse und einmal am Tag einen Teller eines warmen Gerichts zu mir zu nehmen. Mit diesen zusätzlichen Einschränkungen nahm ich wieder ab. Jedes Gramm weniger bestätigte mich darin, dass ich selbst etwas schaffen konnte und ich die Kontrolle hatte. Ich hatte kein Schönheitsideal, dem ich ähnlicher werden wollte. Es ging nur um diese Bestätigung, die ich dadurch bekam und das Gefühl, die Kontrolle zu haben, welches mir die Abnahme vermittelte.

Weiterhin dokumentierte ich meine Mahlzeiten ganz genau in einer Tabelle.

Die Tabelle sah zwischenzeitlich beispielsweise so aus:

Gewicht morgens

50,75 kg

Frühstück

1 Apfel

Mittagessen

1 TellerKartoffelgratin

Abendessen

1 Apfel, Radieschen

Gewicht abends

51,25 kg

Aß ich mehr oder andere Nahrungsmittel, fühlte ich mich wie ein Versager. Es fiel mir leichter als zu Beginn meiner „Diät“, mich an meine Einschränkungen zu halten, weil ich zwischenzeitlich mein Hungergefühl verloren hatte. Ich spürte keinen Hunger mehr.

Um weiter abzunehmen, begann ich, Sport zu machen. Ich ging ab und zu joggen, maximal jedoch zwei Mal pro Woche. Zu diesem Zeitpunkt waren Sport und Bewegung noch kein Zwang für mich. Weil es mir auch keinen Spaß machte, ließ ich des nach kurzer Zeit wieder sein.

Durch die Einschränkungen, die ich mir bezüglich der Nahrungsaufnahme auferlegte, zog ich mich immer weiter von meinen Klassenkameraden zurück. Ich konnte mir nicht erlauben, ein Stück Kuchen oder einen Keks anzunehmen. Irgendwann bekam ich nichts mehr angeboten, da ich sowieso alles ablehnte. In der Mittagspause gingen viele meiner Klassenkameraden in die Stadt, um sich etwas zu essen zu kaufen. Meine Ernährungseinschränkungen verbaten mir aber, sie zu begleiten, weil sie mir vorgaben, dass ich mein mitgebrachtes Obst und Gemüse in der Schule essen musste. Damit schloss ich mich immer weiter von meinen Klassenkameraden aus. Damals konnte ich nicht