Fördekartell - Harald Jacobsen - E-Book

Fördekartell E-Book

Harald Jacobsen

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Beschreibung

Während Henrik Bargen als Privatermittler in Flensburg einen Doppelmord aus dem April 1945 neu aufrollt, stirbt ein englischer Marinehistoriker bei einer Schiffskollision. Kurz darauf werden zwei Männer in Glücksburg ermordet. Zwischen den Toden aus der Vergangenheit und denen von heute scheint eine Verbindung zu bestehen, und bald ermitteln Bargen und die Kripo gemeinsam. Die Spuren führen nach Riga, Wismar und bis in den Norden Schwedens. Dunkle Mächte stellen sich Bargen mit einer Gewalt entgegen, die ihn an seinen Kräften zweifeln lässt.

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Harald Jacobsen

Fördekartell

Ostsee-Krimi

Zum Buch

Mörderische Schatten Der vorzeitig pensionierte Bundespolizist Henrik Bargen, der heute als Privatdetektiv tätig ist, lebt auf einem historischen Kutter im Flensburger Museumshafen. Als der Kommandeur der Marineschule Mürwik ihn um die Überprüfung eines Doppelmordes aus dem April 1945 bittet, glaubt Bargen an einen einfachen Auftrag. Er ahnt nicht, dass der Tod eines Historikers, der vor kurzem in der Ostsee ertrank, sowie der Mord an zwei Männern in Glücksburg mit seinen Recherchen zusammenhängen. Bargen kooperiert mit der Kripo und gerät in einen Strudel von Gewalt, denn dunkle Mächte stellen sich der Aufklärung des Falls mit äußerster Brutalität entgegen. Die blutige Spur zieht sich von Riga über Wismar bis hinauf nach Nordschweden. Privatdetektiv Bargen zweifelt an seinen Kräften, doch die Geister der Vergangenheit treiben ihn unermüdlich voran.

Harald Jacobsen wurde 1960 in Langenhorn im schönen Nordfriesland geboren. Seit frühester Kindheit inspirierte ihn die Welt, in der er lebte, zum Erfinden und Verfassen eigener Geschichten. Der Autor durchlief eine Ausbildung im belletristischen Schreiben und setzt seitdem sein Interesse für Kriminalistik in Romane um, deren Handlungen bevorzugt in Schleswig-Holstein angesiedelt sind. Heute lebt Jacobsen mit seiner Ehefrau am Rande von Hohenwestedt in ländlicher Idylle, wo er seine Krimis in aller Ruhe entwickelt und zu Papier bringt.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Reuter ermittelt an der Ostsee (2015)

Kielbruch (2014)

Mordsregatta (2013)

Impressum

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2018

Lektorat: Dominika Sobecki

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © LoloStock/Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-5790-6

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

Prolog

Der Krieg war für die Menschen in Flensburg noch nicht beendet. Voller Schrecken hatten sie die Ankunft der Reichsregierung unter Führung von Großadmiral Karl Dönitz zur Kenntnis genommen.

»Hört dieser Wahnsinn denn niemals auf?«, stöhnte Gerda Siehm.

Die 50 Jahre alte Frau scherte sich nicht darum, ob ihre Worte vom allgegenwärtigen Blockwart gehört werden konnten. Der Abend des 4. Mai 1945 war ungewöhnlich mild, und so hatte die Wohnungsinhaberin das Fenster der Küche weit geöffnet. Laut Aussagen der Nachrichtensprecher im Radio war nicht mehr mit Fliegerangriffen zu rechnen, trotzdem saß Frau Siehm im Dämmerlicht. Ihr gegenüber am Küchentisch hockte ein Mann, der nur selten sprach. Anneliese Siehm, die 23 Jahre alte Nichte von Gerda, hatte ihn eines Tages mitgebracht.

»Der Werner müsste jetzt von seinem Einsatz eigentlich auch bald nach Hause kommen. Vermutlich will er dann gleich Anneliese besuchen«, sprach Gerda weiter.

Es beruhigte Gerda immer, wenn ihre Nichte so wie jetzt nebenan in ihrer Kammer schlief und sich vom anstrengenden Nachtdienst im Krankenhaus erholte. Seit fast zwei Jahren war Anneliese nun schon mit Oberbootsmann Werner Schlichting verlobt.

Allerdings behagte ihr das merkwürdige Doppelleben ihrer Nichte nicht, die als Krankenschwester in der nahe gelegenen Diakonissenanstalt arbeitete. Schon mehrfach hatte sie Menschen, die sie bei ihrer Arbeit kennengelernt hatte, in deren Not geholfen. Meistens begab Anneliese sich dabei selbst in Gefahr, da sie gegen bestehendes Recht verstieß. Gerda akzeptierte es, konnte aber Werners Reaktion darauf nicht einschätzen.

»Ich breche gleich auf, Frau Siehm. Danach sehen Sie mich vermutlich nie wieder. Vielen Dank für Ihre Gastfreundschaft«, erwiderte der Mann.

Seine Worte kamen genauso unerwartet wie der plötzliche Aufbruch. Gerda Siehm hatte nicht einmal bemerkt, wie er seinen Pappkoffer geholt hatte. Vielleicht hatte der Fremde ihn aber auch schon vorhin mitgebracht, als er zu ihr in die Küche gekommen war.

»Wohin wollen Sie denn?«

Auf einmal erfasste Gerda Neugier und sie hätte gern mehr über diesen schweigsamen Mann erfahren. Seiner Aussprache nach musste er irgendwo aus dem slawischen Raum kommen. Eventuell aus dem Baltikum, denn sein Deutsch war trotz einwandfreier Grammatik von altmodischen Floskeln geprägt.

»Zurück, Frau Siehm. Jetzt, wo die Alliierten den Krieg gewonnen haben, kann ich endlich wieder in meine Heimat reisen. Die Schatten werden mich nicht aufhalten.«

Schatten? Für Gerda war der Ausdruck befremdlich, und doch schien der Unbekannte die Worte bewusst gewählt zu haben. Möglicherweise meinte er die Schatten des Krieges.

»Leben Sie wohl, Frau Siehm. Vergessen Sie einfach, dass es mich gibt. Das wäre besser«, verabschiedete sich der Mann.

Verblüfft erhob Gerda sich und schüttelte die dargebotene Rechte. Dann wandte der Mann sich um und ging über den schmalen Flur zur Wohnungstür. Bevor er sie öffnete, lauschte er einige Sekunden angestrengt. Dann verließ er die Wohnung, ohne sich nochmals umzudrehen. Kopfschüttelnd sah Gerda auf die Tür, die ins Schloss gezogen wurde. Sie kehrte zurück in die Küche und saß kaum zehn Minuten am Tisch, als es laut an der Wohnungstür klopfte. Das versetzte Gerda Siehm in Unruhe, da nur offizielle Menschen dermaßen fordernd anklopften.

»Wer ist da?«, fragte sie.

»Gestapo. Öffnen Sie die Tür, Frau Siehm!«

Die Geheimpolizei war das Schreckgespenst der Menschen, und so öffnete Gerda Siehm mit zittrigen Fingern die Wohnungstür. Zu ihrer Überraschung entdeckte sie einen einzelnen Marinesoldaten im Hausflur, der die Wohnungsinhaberin wortlos zurückdrängte und eilig die Tür hinter sich schloss.

»Wo ist er?«, herrschte der Soldat sie an.

Auch ohne erklärende Worte wusste Gerda Siehm sofort, von wem der Mann sprach. Ihr Unterbewusstsein registrierte die Abzeichen des Soldaten und erkannte, dass ein Hauptbootsmann der Reichskriegsmarine vor ihr stand.

»Ich weiß es nicht«, antwortete sie wahrheitsgemäß.

Als der Soldat die Hand erhob und zum Schlag ausholte, bemerkte Gerda ein seltsames Flimmern in seinen Augen. Dann begann ihr kurzes und brutales Leiden. Genauso sollte es auch ihrer Nichte Anneliese ergehen.

Kapitel 1

Das Wetter veränderte sich radikaler als erwartet. George Seymore kämpfte mit der Takelage, die sich ungewöhnlich widerspenstig zeigte. Aus dem Augenwinkel nahm der Historiker die angeleuchtete Kirche von Neukirchen wahr. Automatisch wanderte Seymores Blick über die Flensburger Förde, um das Gegenstück in Kegnæs zu suchen.

Die Dänen nutzen ihre Energie für bessere Dinge, als einen Kirchturm anzuleuchten, dachte der Historiker.

Doch das schwierige Segelmanöver forderte Seymores Konzentration, sodass er keine Gedanken mehr an die beiden Kirchen verschwendete. Trotz seiner großen Erfahrung gelang es ihm nicht, die vom stark auffrischenden Ostwind strapazierte Segelfläche zu verringern. Immer wieder suchten seine Blicke nach dem Problem in der Takelage.

»Das verdammte Piekfall klemmt.«

Der Historiker hatte endlich erkannt, warum er das Gaffelsegel nicht bergen konnte. Anders als bei modernen Segelbooten waren auf seinem historischen Gaffelsegler die Fallen noch außen am Mast angebracht. Als sich der Wind verändert hatte, hatte Seymore umgehend reagiert und begonnen die Segelfläche zu minimieren. Während sich das Topsegel ohne Weiteres hatte bergen lassen, stellte sich das Gaffelsegel quer. Sosehr der Historiker auch zog, das Piekfall bewegte sich keinen Millimeter weiter nach unten.

»Da wirst du wohl aufentern müssen«, brummte George zu sich selbst.

Es war ein gefährliches Manöver unter diesen Bedingungen, zumal der Engländer allein an Bord war. Seymore prüfte die automatische Steuerung, warf einen Blick auf das Radarbild und fand keinen Grund, nicht in die Takelage aufzusteigen. Sorgsam sicherte der Historiker sich mit einem Gurt und begann den vorsichtigen Aufstieg. Es war länger her, dass er auf hoher See hatte aufentern müssen. Bisher hatte das Reffen der Segel immer ohne Schwierigkeiten funktioniert, weshalb Seymore solche waghalsigen Manöver erspart geblieben waren.

»Na also. Gib schon nach, du Miststück.«

Als George Seymore das verklemmte Piekfall erreicht hatte, atmete er auf und machte sich an die Arbeit. Der scharfe Ostwind bedrängte den Segler am Mast noch weit stärker als an Deck. Schon nach kurzer Zeit spürte Seymore die Kälte am ganzen Körper und bemerkte eine zunehmende Steifheit der Finger. Alle paar Sekunden musste er sich Tränen aus den Augenwinkeln wischen und dann den Blick neu fokussieren. Der Wind schaffte es immer noch nicht, die dichten Nebelschwaden zu verjagen. Seymore hatte unterschätzt, wie schnell die Front bis in die Flensburger Förde vordringen würde.

»Ich hätte es geschafft«, fluchte er missmutig.

Aus dem Augenwinkel glaubte der Historiker eine Bewegung wahrgenommen zu haben. George Seymore unterbrach seine Bemühungen und starrte angespannt auf die dunklere Stelle im Nebel. Sie löste sich jedoch wieder auf und er stieß unwillkürlich ein erleichtertes Seufzen aus. Seine Segeljacht war in dieser Nebelfront kaum zu erkennen und würde auf dem Radarbild anderer Schiffe nur einen winzigen Fleck ausmachen. Möglicherweise störte das Wetter die Darstellung auch so sehr, dass man Seymores Jacht schlicht übersah. Es war eine prekäre Lage, in die ihn das verklemmte Piekfall gebracht hatte. Unter beständigen Flüchen erhöhte Seymore seine Bemühungen. Der harte Aufprall traf ihn völlig unerwartet.

»Da war doch ein anderes Schiff!«, schoss es ihm durch den Kopf.

Verzweifelt kämpfte der Historiker um sein Gleichgewicht, doch der zweite Stoß raubte ihm jede Chance. Mit einem Aufschrei stürzte Seymore in die Tiefe und spürte voller Erleichterung, wie ihm die Gurte ins Fleisch schnitten. Das Sicherungsseil verhinderte den tödlichen Absturz. Voller Entsetzen starrte der englische Historiker auf die Schiffswand, die sich nur einen Meter neben ihm entlangschob. Der Hochseeschlepper überrollte die Jacht und drückte sie unbarmherzig unter Wasser. Das nahm Seymore zunächst an, doch dann registrierte er die als Prallkörper eingesetzten alten Autoreifen und gleichzeitig spürte er, wie der Druck seines Gurtzeuges nachließ. Seine Rettung währte nur wenige Sekunden, bevor Seymore hart auf das Deck der Jacht stürzte. Knochen splitterten, und dann spülte ihn eine Welle davon. George Seymore war zu schwer verletzt, um sich aus eigener Kraft retten zu können. Von seinen Lippen löste sich ein Gebet, während das andere Schiff bereits im Nebel verschwand. Seymores Jacht richtete sich wieder auf und trieb mit der Strömung immer weiter von seiner Position weg.

Kapitel 2

Als der Privatermittler Henrik Bargen das Dienstzimmer des Kommandeurs der Marineschule in Mürwik betrat, nahm er zuerst die vielen Papiere auf dem Besprechungstisch wahr. Dann schaute er zu den Bildern diverser Kriegsschiffe, auf denen der Schiffsoffizier vermutlich gedient hatte. Sie bedeckten die halbe Wandfläche über der Sitzgruppe neben dem Schreibtisch.

»Treten Sie näher, Herr Bargen. Lars Oltmann. Wie ich sehe, sind Ihnen die alten Akten bereits aufgefallen«, begrüßte ihn der Kommandeur.

Die vier goldenen Streifen auf den Schulterklappen blitzten kurz auf, als der Leiter der Marineschule die Papiere umfasste. Seine Gesichtshaut war nur leicht gebräunt und deutete mehr Zeit hinter dem Schreibtisch als auf einem Schiff an. Als Kommandeur einer Schule blieb Oltmann vermutlich nur wenig Zeit, um aufs Wasser zu kommen. Das kurz gehaltene, braune Haar war von vielen silbernen Fäden durchzogen.

»Hat mein Auftrag etwas damit zu tun?«, fragte Henrik.

Der Anruf seines alten Freundes von der Bundespolizei hatte ihn in die Marineschule geführt. Er war Thorben noch einige Gefallen schuldig. Er hatte Henrik nach dem Anschlag in Priština aus dem Wrack des Wagens gezerrt und später für ihn gelogen. Mehr als den Namen des Leiters der Marineschule wollte Thorben beim Telefonat aber nicht verraten, daher kannte der Privatermittler noch keine Details.

»Ich befürchte es, Herr Bargen. Aber dazu kommen wir später. Darf ich Ihnen einen Kaffee oder etwas anderes zu trinken anbieten?«

Der Kapitän zur See schaute seinen drahtigen Besucher mit den rotblonden Haaren fragend an. Henrik akzeptierte den Kaffee und wurde kurz darauf angenehm überrascht. Das Getränk war tatsächlich genießbar. Er lehnte sich in dem Ledersessel zurück, nachdem er einen flüchtigen Blick auf einen der Aktendeckel geworfen hatte. Die Schrift wirkte sehr alt, und der Einband trug Flecken, die durch langes Liegen in einer nicht wirklich dafür geeigneten Umgebung verursacht worden waren.

»Woher kennen Thorben und Sie sich eigentlich?«, fragte er.

Ein flüchtiges Lächeln ließ Oltmann jünger wirken, als er es vermutlich war. Henrik glaubte eine Spur von Wehmut in den grünen Augen zu erkennen.

»Er war einige Zeit mit meiner kleinen Schwester liiert, bevor sie sich einen Langweiler von der Uni ausgesucht hat«, antwortete Oltmann.

Diese Episode aus Thorbens Leben kannte Henrik zur Genüge. Auf den Streifenfahrten durch Priština hatte er öfter von Mareike gesprochen, und immer schwang Sehnsucht in Thorbens Stimme mit.

»Mareike?«, fragte Henrik.

Der Kommandeur nickte überrascht und stellte fest: »Dann hat er sie also immer noch nicht vergessen?«

»Nein, die Trennung ist Thorben echt nahegegangen«, erwiderte Henrik.

Für einen Moment schwiegen die Männer, bevor sich Oltmann mit einem Räuspern meldete.

»Was wissen Sie über den englischen Historiker, der vor einer Woche mit seinem Segelboot in der Außenförde ums Leben gekommen ist?«, wollte er wissen.

Es gab eine Untersuchungskommission, die es als Unfall eingestuft hatte. Das wusste Henrik aus den Zeitungen und einem bierseligen Gespräch mit Bastian Kraft. Der Oberkommissar der Flensburger Kriminalpolizei hatte von der Untersuchung berichtet.

»George Seymore war Historiker und liebte alte Segelboote. Er war auf dem Weg zur Rumregatta, an der er teilnehmen wollte, und geriet offenbar in eine Schlechtwetterfront. Dabei muss Seymore ungesichert auf den Mast aufgestiegen sein, wo sich ein Piekfall verklemmt hatte. Er ist abgestürzt und hat sich den Kopf angeschlagen, bevor er ins Wasser fiel. Mehr weiß ich auch nicht«, fasste Henrik es zusammen.

»Ja, so weit die offizielle Darstellung.«

Die Skepsis in Oltmanns Stimme war nicht zu überhören, was Henrik aufhorchen ließ. Er nippte an seinem Kaffee.

»Sie bezweifeln die Unfalltheorie?«

Kapitän Oltmann antwortete nicht sofort, sondern forschte in Henriks Gesicht. Es schien fast so, als wenn er vor einem entscheidenden Schritt stand und vorher ergründen musste, ob er ihn auch tun wollte. In seinen Augen konnte Henrik den aufkommenden Entschluss erkennen. Aus dem Vorzimmer kamen die leisen Geräusche der Sekretärin, die telefonierte. Oltmann hatte beide Fenster gekippt. Auf dem Innenhof brüllte eine Stimme Befehle, dann startete ein Motor.

»Mister Seymore kam nicht nur wegen der Regatta nach Flensburg, Herr Bargen. Er wollte einige Dokumente in unserem Archiv überprüfen. Diese Akten hier.«

Damit kehrte das Gespräch zu den ausgebreiteten Papieren auf dem Besprechungstisch zurück. Von ihnen ging ein dumpfer Geruch aus, der Henrik vage an einen schlecht gelüfteten Keller erinnerte.

»Stehen die Recherchen in einer Verbindung zu seinem Tod?«

Der Kommandeur zögerte erneut einen Sekundenbruchteil, und sofort beschlich Henrik ein ungutes Gefühl.

»Es geht um einen Doppelmord, der in den ersten Maitagen des Jahres 1945 entdeckt wurde. Sind Sie mit den Details der Morde an Gerda und Anneliese Siehm vertraut?«

Henrik forschte in seinem Gedächtnis, ohne eine Erinnerung zu finden. Es gab einfach viel zu viele solcher Fälle, in denen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Flensburg das Leben eines Menschen vorzeitig beendet worden war.

»Nein, leider nicht. Setzen Sie mich bitte ins Bild, Herr Oltmann.«

Kapitel 3

Die Ausführungen des Kapitäns zu den Morden im Frühjahr 1945 beschäftigten Henrik auf der Fahrt in die Innenstadt. Der Mörder hatte eindeutig die Uniform eines Marinesoldaten getragen, wobei es eine Auffälligkeit gab.

»Der später vom Kriegsgericht verurteilte Werner Schlichting war Oberbootsmann bei der Kriegsmarine. Der einzige Augenzeuge hatte jedoch einen Hauptbootsmann gesehen. Dieses Detail wurde leider großzügig übersehen, Herr Bargen«, sagte Kapitän Oltmann.

Bei dem Augenzeugen handelte es sich um den damaligen Blockwart, Johann Petersen. Er galt als überzeugter Nazi und schnüffelte ständig im oder am Haus herum. Seine Beobachtungen konnten daher als zuverlässig angesehen werden, was der Abweichung im militärischen Rang des Mörders durchaus einiges an Gewicht verlieh.

»Erst einmal fange ich mit der Gegenwart an, Herr Oltmann. Sollten sich bei dem Tod von Mister Seymore tatsächlich Ungereimtheiten ergeben, übernehme ich den Fall«, entschied Henrik.

Der Kapitän zur See akzeptierte dieses Vorgehen und versicherte ihm, dass der Ermittler jederzeit freien Zugang zu den Unterlagen erhalten würde. Dazu überreichte er ihm einen Gastausweis, den Henrik bei der Hauptwache vorzeigen musste. Vorerst war der Privatdetektiv sich noch nicht sicher, ob er diesen Ausweis überhaupt benötigen würde.

Kurze Zeit später betrat er die Inspektion, in der sich die Räume der Kriminalpolizei befanden. Die Gänge und Geräusche waren denen in der Marineschule sehr ähnlich. Nur die Uniformen waren andere. Eine Frau mit zwei Akten im Arm kam auf Henrik zu. Ihre dunkelblonden Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden. Sie schenkte Henrik ein Lächeln zur Begrüßung, das ihre Augen einschloss.

»Moin, Frau Thoms. Wie geht es Ihnen?«

Henrik begrüßte die sympathische Oberkommissarin, die er im Verlauf der Ermittlungen in einem Serienmörderfall kennen und schätzen gelernt hatte.

»Wir haben wieder reichlich Fälle auf dem Tisch, Herr Bargen. Und selbst?«, erwiderte Helga Thoms.

Die Oberkommissarin gehörte zum Team von Hauptkommissarin Sonja Martenson. In ihrer Abteilung wurden alle Fälle betreut, die von besonderer Schwere waren. Aus den Medien wusste Henrik, dass zurzeit wieder einmal die Rockerbanden den Ermittlern viele Überstunden einbrachten.

»Ich interessiere mich für den Tod von George Seymore. Hatten Sie zufällig mit den Ermittlungen zu tun?«, antwortete er.

In Helgas Gesicht leuchtete Neugier auf. Sie machte zwei Uniformierten Platz, die über den Flur zur Hintertür rannten. Dort ging es zu dem Parkplatz, auf dem die Einsatzfahrzeuge standen. Henrik stand so dicht neben der Oberkommissarin, dass er einen schwachen Geruch von Limonen aufnahm.

»Es gibt also Menschen, die Zweifel an der Unfalltheorie haben?«, fragte sie.

»Möglicherweise schon. Bevor ich mich auf intensive Nachforschungen einlasse, würde ich gern die Meinung der zuständigen Ermittler einholen. Habe ich eine Chance bei Ihnen?«

Henrik lächelte Helga zu, die ihn schelmisch angrinste.

»Immer doch, Herr Bargen. Leider waren aber Bastian und Jo mit den Ermittlungen betraut«, erwiderte sie.

Da Henrik den Weg zum Büro des bulligen Oberkommissars kannte, trennte er sich von Helga Thoms. Es war angenehm, wenn man ihn hier fast wie einen Kollegen behandelte. Normalerweise schätzten Kriminalbeamte keine neugierigen Privatermittler. Auch dann nicht, wenn es ehemalige Hauptkommissare der Bundespolizei waren. Henrik wusste diese ungewöhnliche Behandlung durchaus zu würdigen und ging entsprechend zurückhaltend vor.

»Moin, Herr Bargen. Suchen Sie Kraft?«

Henrik hatte vergeblich nach Bastian Kraft in dessen Büro gesucht und wandte sich gerade zum Gehen, als Kommissar Johann Fechner ihn ansprach. Der fast scheu wirkende Ermittler hatte wie meistens seinen Laptop dabei, was in der Abteilung öfter Anlass zu gutmütigem Spott gab.

»Jo und sein elektronischer Partner« war nur eine von vielen Bemerkungen.

»Moin, Herr Fechner. Entweder zu Bastian oder zu Ihnen«, erwiderte Henrik.

Jos Augenbrauen schossen vor Überraschung in die Höhe.

»Zu mir? Womit könnte ich Ihnen denn helfen?«, wollte er wissen.

Henrik kam ohne lange Vorrede auf den Tod des englischen Historikers zu sprechen. Am Schluss wiederholte er die Zweifel seines Auftraggebers und wovon er seine Übernahme der Ermittlungen abhängig machen wollte.

»So, so, Sie also auch«, murmelte Jo.

»Ich auch? Was meinen Sie denn damit?«, hakte Henrik nach.

Jo schob ihn in sein kleines Büro. Er setzte sich hinter seinen Schreibtisch, nachdem er die Tür zum Gang geschlossen hatte, und deutete drängend auf den Besucherstuhl. Neben drei grauen Metallschränken mit Schubladen blieb nur Platz für diesen einen Stuhl. Henrik setzte sich und rückte näher an den Schreibtisch, um die Tür nicht unmittelbar im Nacken zu haben.

»Erzählen Sie. Warum bezweifelt Ihr Auftraggeber, dass es ein Unfall gewesen ist?«

Es war nicht Henriks Art, über seine Auftraggeber zu sprechen, doch bei dem Team von Hauptkommissarin Martenson machte er eine Ausnahme. Er vertraute auf die Verschwiegenheit der Ermittler.

»Seymore war nicht nur wegen der Rumregatta in Flensburg. Er wollte dem Archiv der Offiziersschule in Mürwik ebenfalls einen Besuch abstatten«, erwiderte Henrik.

Er legte nur indirekt die Identität seines Auftraggebers offen, was Jo jedoch nicht weiter zu stören schien.

»Handelte es sich um eher allgemeines Interesse, oder beabsichtigte Seymore einer bestimmten Angelegenheit auf den Grund zu gehen?«, bohrte Fechner weiter.

»Es geht um einen sehr alten Doppelmord, der bis heute nicht aufgeklärt wurde.«

Henrik akzeptierte das vorsichtige Nachhaken des Polizisten. Sein Blick traf auf den von Jo. Der Kommissar rang mit sich. Henrik ließ ihm die nötige Zeit, da er sehr gespannt darauf war, was in dem klugen Kopf des Ermittlers vor sich ging.

»Gerda und Anneliese Siehm, richtig?«, fragte Jo.

Henrik nickte stumm.

»Demnach glaubt Ihr Auftraggeber nicht an die Schuld von Oberbootsmann Schlichting. Ich übrigens auch nicht«, sprach Jo weiter.

Es war sehr ungewöhnlich, dass er so eindeutig gegen die offizielle Version Position bezog.

»Sie haben sich die Unterlagen, an denen Seymore interessiert war, angesehen und fanden darin Ungereimtheiten, die Sie an der Schuld des Oberbootsmannes zweifeln lassen«, stellte Henrik fest.

»Ja. Aber ein längeres Telefonat mit der Tochter des Historikers hat die Zweifel verstärkt. Seymore jagte seit vielen Jahren einem Gespenst nach. Hat Ihr Auftraggeber auch die sogenannten Schattenkrieger erwähnt?«

Henrik hörte zum ersten Mal diesen Begriff, wie er freimütig eingestand.

»Das ist eine wirklich interessante Fußnote des Zweiten Weltkrieges, der unser Opfer nachging. Sie führte ihn unter anderem eben auch in unsere schöne Stadt, um die Archive der Offiziersschule zu durchforsten«, fuhr Jo fort.

Henrik war begierig darauf, mehr über diese seltsamen Krieger zu erfahren, doch ihr Gespräch wurde unterbrochen. Die Leiterin der Abteilung steckte ihren Kopf zur Tür herein.

»Herr Bargen? Besuchen Sie Jo privat, oder benötigen Sie unsere Unterstützung für einen Ihrer Fälle?«, fragte Hauptkommissarin Martenson.

Ihre braunen Augen forschten in seinem Gesicht.

»Es geht um einen Datenabgleich. Jo hat mir geholfen, soweit die Vorschriften es erlauben«, antwortete Henrik ausweichend.

Dann erhob er sich und nickte dem Kommissar dankend zu, der nur knapp den Kopf neigte. Während Henrik sich an Sonja Martenson vorbeischob, streifte sein Arm ihre Hand. Es war angesichts der Enge eine ungewollte Berührung, die jedoch zu einem intensiven Blickkontakt führte. Schließlich räusperte die Hauptkommissarin sich und bat Jo zu einer Besprechung mit dem Team.

Da scheint tatsächlich mehr an der Geschichte dran zu sein, als ich bisher vermutet habe, dachte Henrik.

Er verließ das Gebäude der Kriminalpolizei und schlenderte, in Gedanken versunken, zurück zu seinem Kutter. Den historischen Haikutter hatte er nach seiner Frühpensionierung zu einem Wohnschiff umgebaut und einen Liegeplatz im Museumshafen von Flensburg gefunden. Die »Sinje« war eine Gaffelketsch, die 1937 in Skagen gebaut worden war. Der Begriff »Haikutter« war damals von Fischern für Boote geprägt worden, die über eine motorisierte Winsch für die Netze verfügten. Dieser neue Bootstyp war in ihren Augen so gefräßig wie ein Hai. Durch die motorisierte Winsch konnten größere Netze ausgebracht werden, wodurch automatisch der Fang erheblich umfangreicher ausfiel. Für Henrik war das Wohnschiff der ideale Ausgleich, um sein aufbrausendes Temperament zu beherrschen. Die Arbeit an dem Schiff beruhigte ihn.

Kapitel 4

Jeder Schritt strengte Ewald Kohnfeld enorm an. Mit seinen 92 Lebensjahren zählte er in der Seniorenwohnanlage zu den ältesten Bewohnern. Kohnfeld hatte ein sehr abwechslungsreiches Leben geführt, von dem ihn in den zurückliegenden Tagen ein scheinbar abgeschlossener Teil eingeholt hatte.

»Früher hätte ich diese lächerliche Strecke in zehn Minuten bewältigt«, grummelte er vor sich hin.

Ewald war immer stolz auf seine körperliche Präsenz gewesen, doch im Laufe der Jahre musste auch er dem Alter Tribut zollen. Schwer atmend stützte er sich auf den Gehwagen und sog gierig die kühle Luft ein. Der ehemalige Seemann konnte auch heute noch sofort die Windrichtung einschätzen und sich auf das damit verbundene Wetter einrichten. Am Himmel über Glücksburg zogen dunkelgraue Wolkenbänke entlang, die für Dämmerlicht sorgten. Einzelne Windböen wirbelten das trockene Laub zwischen den Bäumen auf. Eine Krähe erhob sich vom Fußweg, als Kohnfeld sich ihr näherte. Ihr krächzender Protest war weithin hörbar, doch niemand nahm es zur Kenntnis.

Ostwind bedeutet Kälte und vermutlich bald den ersten Schnee, dachte er.

Wie so oft in der jüngeren Vergangenheit wanderten seine Gedanken zurück zu seiner Zeit als Marineoffizier im Zweiten Weltkrieg. Damals lernte Ewald nicht nur einen großen Teil Skandinaviens besser kennen, sondern auch die Karelische Landenge. Er gehörte zu einer Gruppe von Offizieren, die für eine Ausspähung der russischen Angriffskräfte im Winterkrieg dorthin geschickt worden waren. In den weiteren Kriegsjahren blieb die Gruppe aktiv, die später auch einige Unteroffiziere im Bootsmannrang umfasste. Die Kriegsmarine traute den Angaben der Wehrmacht genauso wenig wie den Verlautbarungen der Partei.

»Kohnfeld?«

Die heisere Stimme riss Ewald aus seinen Kriegserinnerungen und ließ ihn erschrocken zusammenfahren.

»So etwas wäre mir früher auch nicht passiert.«

Er war wütend auf seine nachlassenden Kräfte.

Der ganz in Schwarz gekleidete Mann löste sich aus dem Schatten einer Buche. Der Treffpunkt in dem kleinen Kurpark an der Glücksburger Bucht war gut gewählt. Zu dieser Jahreszeit gab es nur wenige Freizeitsportler, die sich hierher verirrten. Ewald musterte den weitaus jüngeren Mann abschätzig. In seinen Augen zehrten er und seinesgleichen von den mutigen Leistungen der »Schattenkrieger«, zu denen Kohnfeld gezählt hatte. Parasiten, die selbst keinen Anteil geleistet hatten.

»Was ist denn so verflucht dringend, dass wir uns unbedingt an diesem unwirtlichen Ort treffen müssen?«, fragte er.

Ewald legte seine ganze Autorität in die Stimme, doch das asthmatische Keuchen klang einfach nur schwächlich und verbraucht.

»Jemand stöbert in den Archiven und zerrt die ›Schattenkrieger‹ wieder ans Licht«, erwiderte der Mann.

Trotz des einsetzenden Dämmerlichtes konnte Ewald sein Gegenüber gut erkennen. Ihm wollte partout dessen Vorname nicht mehr einfallen, obwohl es der Enkel eines seiner Kameraden war. Selbst sein früher so exzellentes Gedächtnis ließ ihn mehr und mehr im Stich.

»Unsinn! Die wesentlichen Akten befinden sich bei den Russen unter Verschluss. Ihr Jungspunde macht euch mal wieder unnötig ins Hemd«, antwortete er.

In den ersten Nachkriegsjahren trieb Ewald genau wie seine überlebenden Kameraden die Sorge um, ob die Alliierten von der Existenz ihrer besonderen Einheit erfahren hatten. Als jedoch Jahr um Jahr verstrich und niemand sich dafür zu interessieren schien, änderte sich ihr Denken. Die Gruppe umfasste 1948 immer noch über 30 ehemalige Kämpfer, die regelmäßig Kontakt hielten. Heute lebte nicht einmal mehr eine Handvoll von ihnen.

»Sagt Ihnen der Name George Seymore etwas?«

Erneut unterbrach die Stimme von Traubnitz’ Enkel den Fluss von Ewalds Erinnerungen.

»Dieser Engländer, der schon seit Jahren nach uns sucht?«, fragte er.

»Genau der. Er hat sich Zugang zu den russischen Archiven verschafft und wollte sein neues Wissen mit den Unterlagen abgleichen, die immer noch in der Marineschule lagern«, bestätigte Rainer Traubnitz.

Der Name des Enkels war unversehens aus den Tiefen seines Gehirns an der Oberfläche aufgetaucht. Es verblüffte Ewald Kohnfeld immer wieder, wie sprunghaft sein Verstand neuerdings arbeitete.

»Dann muss man den Mann eben eliminieren«, forderte er kalt.

Fröstelnd zog Ewald den Mantel enger um seinen ausgemergelten Körper und schaute nervös über die Schulter. Wenn diese Unterhaltung nicht bald beendet wäre, müsste er den Weg zurück im Dunkeln finden. Kein schöner Gedanke.

»Schon erledigt«, lautete die knappe Erwiderung.

»Und warum stehen wir dann hier in der Gegend herum?«, herrschte Ewald seinen Gesprächspartner an.

Traubnitz ließ ein flüchtiges Lächeln aufblitzen, dem jede Wärme fehlte. Ewald spürte ein lange nicht mehr gekanntes Gefühl in sich aufsteigen. Seine Instinkte warnten ihn, doch es war bereits zu spät.

»Du bist der letzte noch lebende Zeitzeuge, Kohnfeld. Glaubst du ernsthaft, wir würden das Risiko eingehen, dass man dich zum Sprechen bringt? Wir wissen schließlich, dass jeder Mensch seinen Preis hat. Auch du, nicht wahr?«, fragte Rainer Traubnitz.

So wütend Ewald über seinen geschwächten Körper war und sosehr er sich über die verringerte Lebensqualität beschwerte, er wollte leben. Jeder Tag zählte, und deswegen wehrte er sich. Zuerst wollte der alte Kämpfer sein Heil in der Flucht suchen, doch Traubnitz verstellte ihm mühelos den Weg.

»Mach es dir nicht unnötig schwer, alter Mann. Du hast lange genug gelebt und von den verbotenen Früchten aus der Vergangenheit gezehrt. Jetzt sind wir dran«, stellte Traubnitz gelassen fest.

Er unterschätzte Ewald und baute zu sehr auf seine körperliche Überlegenheit. Was Rainer Traubnitz jedoch fehlte, war die Erfahrung des alten Kämpfers. Der ehemalige Offizier war seit dem Kriegsende nie unbewaffnet aus dem Haus gegangen. Jetzt rettete ihm diese scheinbar überflüssige Gewohnheit das Leben.

»Du willst mich töten? So einfach im Vorbeigehen?«, fragte Ewald angewidert.

Rainer Traubnitz zuckte mit einem spöttischen Lächeln die Schultern.

»Ja, warum denn nicht?«, fragte er.

Die Ablenkung hatte Ewald gereicht, um die 08 aus der Manteltasche zu ziehen und sie dem jüngeren Mann in die Magengegend zu drücken. Traubnitz erstarrte und schaute ihm fassungslos in die Augen.

»Weil ich mich nicht einfach umbringen lasse, du dämlicher Idiot«, knurrte Ewald und zog den Abzug durch.

Es war ein lange vermisstes Gefühl, das Rucken einer Pistole in seiner Hand zu spüren. Der Schuss wurde durch ihre beiden Körper gedämpft. Rainer Traubnitz torkelte zurück, kein Laut kam über seine weichen Lippen. Außer dem kleinen Einschussloch in der wattierten Jacke war nichts zu sehen.

»Für diese Arroganz wirst du jetzt leiden müssen. Sterben kann ein sehr langer, schmerzhafter Prozess werden, wenn man sich einen Bauchschuss einfängt«, kommentierte Ewald ungerührt.

Sein Blick hing an den vom Schock gezeichneten Augen des sterbenden Mannes. Ewald hatte nicht erwartet, diesen Anblick noch einmal zu erleben. Er genoss es eine Weile, bevor er sich streckte und die Luger zurück in die Manteltasche schob. Nach einem abschließenden Rundblick versetzte er dem bewusstlosen Traubnitz einen Tritt, damit er vom Weg ins Unterholz rollte.

»Ihr wollt mich also aus dem Weg haben. Das war ein sehr dummer Fehler, den ihr schon bald bereuen werdet«, murmelte Ewald.

Dann setzte er sich langsam in Bewegung und drehte sich erst nach über 50 Metern noch einmal um. Die Dämmerung verlor sich mittlerweile in der Dunkelheit des Herbstabends. Er konnte Rainer Traubnitz nicht mehr sehen und nickte zufrieden. Es musste schon mit dem Teufel zugehen, wenn jemand auf den sterbenden Mann stoßen sollte. Ewald glaubte nicht daran und setzte unbeirrt seinen Weg zum Seniorenheim fort. Erneut krächzte ein Rabe.

Kapitel 5

Für Hauptkommissarin Sonja Martenson hatte der Tag bei einem Glas Rotwein und einer Liebesschnulze im Fernsehen friedlich ausklingen sollen. Der Anruf aus ihrer Dienststelle beendete diesen Plan und sorgte für eine weitere Auseinandersetzung mit ihrem Lebenspartner.

»Ich bin es langsam leid, Sonja. Wir haben selten genug gemeinsame Abende, und dann kann ich doch wohl erwarten, dass du zu Hause bleibst«, nörgelte Holger Schreiber.

Wie gewöhnlich übersah der Techniker, dass die geringe Anzahl gemeinsamer Abende genauso seinem Beruf geschuldet war. Er arbeitete bei der Flensburger Schiffbau-Gesellschaft im Bereich Konstruktion und musste regelmäßig Überstunden schieben, die so nicht vorgesehen gewesen waren. Von seinem Fernsehsessel aus warf er ihr einen vernichtenden Blick zu. Sonja schwang die Beine von der Couch und legte automatisch die Decke zusammen, die sie zuvor über die angewinkelten Beine ausgebreitet hatte. Sie erhob sich und stellte im Vorbeigehen das Weinglas auf die Spüle in der winzigen Pantryküche.

»Ich komme wenigstens noch. Du vergisst sogar, mich anzurufen, wenn es wieder einmal später wird«, konterte sie entnervt.

Sonja schlüpfte in die gefütterte Jacke und prüfte, ob die Taschenlampe funktionierte. Da der Strahl mit ungeminderter Kraft den Winkel neben dem Schuhschrank ausleuchtete, verstaute Sonja die Lampe wieder in ihrer Umhängetasche. Holger hatte sich erhoben und lehnte nun im Türrahmen. Sein Gesicht war gerötet vom Alkohol.

»Ah, jetzt also wieder diese Leier. Meine Arbeit ist natürlich bei Weitem nicht so wichtig wie die der Frau Hauptkommissarin«, gab Holger zurück.

Vor gar nicht allzu langer Zeit hätte Sonja sich auf diese Diskussion eingelassen, um ihn zu besänftigen. Heute sparte sie sich jeden weiteren Kommentar und zog gleich darauf die Haustür hinter sich ins Schloss. Es gab weder einen Abschiedskuss noch einen um Verzeihung bittenden Blick. Vor nicht allzu langer Zeit hätte Sonja so um ein wenig mehr Verständnis gebeten, ohne es je zu erhalten. Auf dem kurzen Weg von der Eingangstür des Mehrfamilienhauses zum wartenden Dienstwagen packte der böige Wind mehrfach zu. Im Fernsehen hatte der Wettermoderator ein über die Ostsee hereinkommendes Tief angesagt. Sonja eilte auf den Passat zu und öffnete die Beifahrertür.

»Das passende Wetter für einen Mord, was Chefin?«, fragte Bastian Kraft.

Während Sonja hastig die Tür schloss, grinste der hünenhafte Oberkommissar sie breit an. Es gab einen stehenden Satz über Bastian: »Stählerne Muskeln und ein weiches Herz.«

Der Motor heulte auf und dann jagte der Passat los. Die Signallampe auf dem Dach warf zuckende Blaulicht-Strahlen in die Umgebung und die Sirene jaulte ununterbrochen vor sich hin. Am Telefon hatte Jo nur die wenigen bisher bekannten Fakten genannt.

»Ein männliches Opfer mit einem Bauchschuss. Der Tatort befindet sich in einer Parkanlage in Glücksburg. Der Hund eines Mannes hat den Toten entdeckt«, sagte er.

»Weißt du mehr über das Opfer?«, fragte Sonja.

Mit lässiger Selbstsicherheit steuerte Bastian den Dienstwagen über die Straßen, die um diese Zeit immer noch gut befahren waren. Aus den dunklen Wolken fiel beständiger Regen, der in Zusammenwirkung mit den vielen Blättern die Fahrbahnen gefährlich glitschig werden ließ.

»Nein. Wenn wir Pech haben, ist der Türsteherkrieg wieder ausgebrochen und wir haben das erste Opfer«, erwiderte er.

Diese Auseinandersetzungen hatten dem Team von Sonja in den zurückliegenden zwölf Monaten immer wieder Kummer bereitet. Ständig kämpften Albaner, Russen und Rockerbanden um die begehrten Türsteherpositionen. Hier wurde viel Geld umgesetzt, und das lockte natürlich entsprechende Kriminelle an.

»Lieber nicht spekulieren. Wir werden es bald erfahren, und dann ist immer noch genügend Zeit, sich zu ärgern«, antwortete Sonja.

Sie registrierte den verwunderten Seitenblick, doch ihr ging immer noch der Streit mit Holger nach. Vermutlich waren ihre und Holgers Gemeinsamkeiten längst verbraucht. Sonja hatte bereits mehrfach über eine Trennung nachgedacht. Noch fehlte ihr die Kraft dazu.

»Du bist einfach zu feige«, sagte sie sich regelmäßig, ohne die erforderlichen Konsequenzen aus dieser Selbsterkenntnis zu ziehen.

»Da wären wir, Chefin.«

Bastians Bemerkung erlöste Sonja aus ihren trüben Gedanken. Sie stiegen aus, um unter dem Absperrband hindurchzugehen. Vom Parkplatz bis zum Tatort waren es gut 50 Schritte, die Sonja automatisch zählte. Die Spezialisten der Kriminaltechnik hatten einen Bereich neben dem Spazierweg hell ausgeleuchtet. Im Licht der vier starken Scheinwerfer konnte Sonja die beständigen Regentropfen erkennen. Beim Anblick der Kriminaltechniker in den weißen Schutzanzügen musste sie unwillkürlich an zu große Maden denken.

»Können Sie uns schon mehr verraten, Doktor?«

Der grauhaarige Rechtsmediziner stand einen Meter von der abgedeckten Leiche entfernt und tippte auf einem Tablet herum. Er hob den Kopf und musterte sie leicht abweisend.

»Der Mann ist circa 40 Jahre alt und wurde durch einen aufgesetzten Schuss getötet.«, antwortete er dennoch ausführlich.

Zu der eigentlichen Tatzeit wollte er sich weniger klar äußern.

»Ich denke, Sie können von einem Zeitfenster zwischen 16:00 und 18:00 Uhr ausgehen. Genaueres wie immer nach der Obduktion«, legte er sich nur ungefähr fest.

Sonja nickte ihm dankend zu und wandte sich an Helga, die an diesem Abend zusammen mit Jo die Rufbereitschaft hatte. Ihre Mitarbeiterin hatte sich dazu entschlossen, die Chefin zu dem Fall hinzuzuziehen. Dafür musste es zwingende Gründe geben, die Sonja nun erfahren wollte.

»Bei dem Opfer handelt es sich um Rainer Traubnitz, 42 Jahre alt. Wir konnten seine Brieftasche, ein Handy und reichlich Bargeld sowie Kreditkarten sicherstellen«, sagte Helga.

»Raubmord fällt als Motiv also aus. Sonst noch etwas?«, kommentierte Sonja.

»Der Mörder muss Traubnitz gekannt haben oder wirkte sehr vertrauenserweckend. Der Schuss aus einer großkalibrigen Waffe wurde aus unmittelbarer Nähe abgegeben. Er war quasi aufgesetzt«, fuhr Helga fort.

Sie war neben dem Leichnam in die Hocke gegangen und schlug das weiße Tuch so weit zurück, dass ihre Vorgesetzte einen Blick auf die Wunde werfen konnte. Es war kein schöner Anblick. Sonja musste sich wie immer überwinden, die Augen nicht schnell abzuwenden.

»Nur ein Schuss? Musste der Täter nicht annehmen, dass sein Opfer noch nach Hilfe rufen konnte? Immerhin hatte er ja sein Handy bei sich«, staunte sie.

»Der Rechtsmediziner geht von einem schnellen, inneren Verbluten aus, Chefin. Der Tote hat höchstwahrscheinlich sofort das Bewusstsein verloren und ist nicht wieder zu sich gekommen. Die Spuren an Jacke und Hose deuten darauf hin, dass der Täter sein Opfer vom Fußweg hierher gestoßen hat«, erwiderte Helga.

Sie deutete mit dem Zeigefinger auf die Schmutzspuren an der Kleidung des Toten. Schließlich zog Helga das Tuch wieder über den Leichnam. Sie hatte die Reporter bemerkt, die sich an der Absperrung drängelten und auf die uniformierten Polizisten einredeten. Mehrfach flammten Blitzgeräte auf.

»Die Geier sind eingetroffen«, sagte sie.

Sonja warf einen kurzen Blick hinüber zur Absperrung. Sie würde später mit den Journalisten sprechen müssen, aber zuerst wollte sie mehr über den Toten erfahren.

»Traubnitz? Der Name löst nichts bei mir aus. Gibt es irgendeinen Eintrag über ihn, der uns weiterbringen könnte?«, fragte sie.

Ihre Mitarbeiterin verzog das Gesicht. Das war eine sehr ungewöhnliche Reaktion von der eher zurückhaltenden Helga.

»Mir sagte der Name auch nichts, bis ich mehr über seine Familie in Erfahrung bringen konnte. Sein Vater heißt Oswald Traubnitz und ist der Inhaber der Traubnitz Mining Corporation«, antwortete sie.