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Der Bombenanschlag auf einen Frachter stört die Idylle der Kieler Woche. Zwei polnische Matrosen sterben. In der Stadt an der Ostsee scheinen kriminelle Organisationen die Reviere neu verteilen zu wollen. Die SOKO Kieler Woche nimmt die Ermittlungen auf. Hauptkommissar Frank Reuter wird Oberkommissar Jens Vogt zur Seite gestellt, doch von Anfang an herrscht Misstrauen zwischen den beiden. Als Reuter einen Maulwurf in den eigenen Reihen vermutet, wird die Zusammenarbeit auf eine harte Probe gestellt.
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Seitenzahl: 338
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Harald Jacobsen
Kielbruch
Kriminalroman
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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© 2014 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Sven Lang
Herstellung / E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Wolfgang Jargstorff – Fotolia.com
ISBN 978-3-8392-4484-5
Das eindringende Seewasser vermischte sich mit seinem Blut. Jakub starrte verständnislos auf seine Beine, die in dem Wasserwirbel nutzlos hin und her schwammen. Der Mechaniker hatte seinen Rundgang an Bord des Frachters kaum zur Hälfte abgeschlossen, als ihn die Druckwelle der ersten Explosion gegen ein Schott geschleudert hatte.
»Heilige Mutter, steh mir bei«, murmelte Jakub.
Mittlerweile drang das Wasser der Kieler Förde immer schneller in den aus Gdynia stammenden Frachter ein. Bei der zweiten Explosion hatte sich einer der riesigen Zylinder der Maschine unmittelbar neben Jakub Mazur wie ein Luftballon aufgebläht, um dann in einer Wolke aus Schrapnellen zu vergehen. Eines dieser rasiermesserscharfen Metallteile trennte Jakubs untere Extremitäten oberhalb der Knie ab. Als er sich seiner Lage bewusst wurde, begann der polnische Matrose laut zu beten. Der große Blutverlust beendete das Gebet noch vor dem üblichen Ende. Fast behäbig drehte sich der Oberkörper des Matrosen um sich selbst, sodass Jakub Mazur mit dem Gesicht nach unten im Wasser trieb. Eines seiner Beine verfing sich im klaffenden Riss der Außenhülle und klopfte im Rhythmus des eindringenden Fördewassers gegen die Stahlplatte.
Frank Reuter musste seinen Wagen weit vor der Absperrung abstellen.
»Am Kai herrscht das absolute Chaos, Herr Hauptkommissar. Da ist kein Platz mehr für weitere Fahrzeuge«, erklärte der Streifenbeamte.
Wie recht dieser hatte, erkannte Frank schon wenige Augenblicke später. Sein Blick wanderte über die Feuerwehrfahrzeuge und diverse Streifenwagen. Sogar ein Transporter des Bombenräumkommandos stand auf dem Kai.
»Wo finde ich Hauptkommissarin Saß?«, fragte Frank.
Er konnte die Kollegin nirgends ausmachen. Allein die Tatsache, dass Regina Saß ihn in den Ostuferhafen bestellt hatte, ließ nur einen Schluss zu: Die SOKO Kieler Woche stand offenbar vor ihrer zweiten Ermittlung.
»Sie müsste sich bei den Kollegen der Wasserschutzpolizei befinden. Dort drüben«, erwiderte der uniformierte Beamte.
Frank schaute in die angegebene Richtung und entdeckte so einen Kastenwagen, der ein wenig abseits stand. Auf dem Weg dorthin musste der Hauptkommissar über ausgerollte Schläuche steigen und Einsatzfahrzeuge umgehen. Der böige Wind trug den Gestank von verbranntem Gummi mit sich. Er verharrte einige Sekunden lang und schaute auf den Frachter, der eine bedenkliche Schlagseite aufwies. Dunkle Rauchwolken stiegen in den Himmel über die Kieler Förde auf und legten Zeugnis über ein immer noch wütendes Feuer an Bord des Frachters ab. Der Hauptkommissar ging weiter und registrierte mit einem Seitenblick den Heimathafen des verunglückten Schiffes.
»Gdynia«, murmelte er.
»Gut, dass Sie da sind«, rief eine Frauenstimme.
Die Leiterin der SOKO Kieler Woche hatte den Kollegen ausgemacht und rief Frank zu sich. Er musterte die weiße Jeans, die sich eng an die rundliche Figur der Hauptkommissarin schmiegte. Regina Saß war zwar nach wie vor ein wenig füllig, aber seit ihrer letzten Begegnung hatte sie definitiv abgenommen.
»Moin, Regina. Was zum Teufel ist denn hier passiert?«, erwiderte Frank.
Sie erwiderte den Gruß und kletterte zurück in den Transporter. Frank folgte ihr und verstand sofort, warum seine Kollegin den Platz im Wagen vorzog. Sobald er die Seitentür zugeschoben hatte, ließ der penetrante Gestank erheblich nach.
»Hauptkommissar Frank Reuter. Oberkommissar Jens Vogt«, stellte Regina Saß vor.
Frank nickte dem jüngeren Kollegen mit dem Blondschopf zu, der ein flüchtiges Grinsen aufblitzen ließ. Möglicherweise war es nicht nur ein Fall für die SOKO Kieler Woche, denn Vogt hatte im Jahr zuvor nicht zu den Mitgliedern des Teams gezählt.
»Die Kollegen der Wasserschutzpolizei waren zuerst vor Ort. Die Explosionen waren bis zu ihrer Station hier im Ostuferhafen zu hören. Als sie das Feuer an Bord des Frachters bemerkten, alarmierten sie die Feuerwehr und die Spezialisten des Bombenkommandos«, berichtete Regina.
Während er zuhörte, wanderte Franks Blick automatisch hinüber zu dem Schiff, auf dem die Feuerwehrleute weiterhin gegen die letzten Brandherde ankämpften. Er strich sich unwillkürlich durch das braune Haar und stellte sich vor, wie die Hitze und der Rauch an Bord den Einsatzkräften zu schaffen machten. Nachdem die Sprengstoffspezialisten ihre Arbeit getan hatten, sicherten die Kriminaltechniker bereits alle verwertbaren Spuren.
»Wurden Hinweise auf die verwendeten Bomben entdeckt?«, fragte er.
Der Oberkommissar drückte Frank eine Beweissicherungstüte in die Hand. Darin befand sich eine Platine, deren Bauteile zum Teil miteinander verschmolzen waren. »Das ist ein Steuerungsmodul, mit dem man einen Sprengsatz fernzünden kann«, sagte Vogt.
Verwundert hob Frank den Blick und schaute Regina an.
»Der Kollege gehört zur Abteilung 3 des LKA und hatte bereits mit ähnlichen Zündern zu tun«, erklärte sie.
»Der Staatsschutz interessiert sich für den Anschlag?«, staunte Frank.
»Vorerst müssen wir davon ausgehen, dass der Anschlag auf den Frachter politisch motiviert sein könnte. Diese Art Zünder wurden in der Vergangenheit bei Attentatsversuchen auf Landespolitiker eingesetzt«, antwortete Vogt.
Das war eindeutig nicht Franks Fachbereich und er fragte sich, warum Regina und er hier waren.
»Es wurde beschlossen, dass die SOKO Kieler Woche die Ermittlungen aufnimmt. Oberkommissar Vogt wird uns dabei unterstützen und seinen Vorgesetzten berichten«, beantwortete die Hauptkommissarin die nicht gestellte Frage.
»Wieso? Wenn es jetzt schon eindeutige Hinweise auf einen politischen Hintergrund gibt, sind wir doch nicht zuständig«, protestierte Frank.
Als er das gequälte Lächeln im Gesicht von Regina bemerkte, verstand Frank sofort.
»Es bleiben vorerst lediglich Vermutungen, die wir noch verifizieren müssen. Niemand möchte die Öffentlichkeit unnötig alarmieren«, antwortete Vogt.
Seine Fröhlichkeit passte nicht zu dieser Aussage. Frank spürte das übliche Ziehen in der Magengegend, wie immer, wenn sich bei Ermittlungen Politiker einschalteten. Er war ein einfacher Hauptkommissar und scherte sich nicht im Mindesten um deren Befindlichkeiten. Doch Frank wusste, dass seine Meinung wenig Gewicht haben würde.
»Können wir wieder die Räumlichkeiten in der Gartenstraße beziehen?«, fragte er nur.
Hauptkommissarin Saß stimmte zu.
»Das restliche Team wird sich vermutlich bereits eingefunden haben. Ich wollte aber, dass wir beide den gleichen Wissensstand haben. Sie werden auch bei dieser Ermittlung mein Stellvertreter sein«, erklärte Regina.
Frank und Regina Saß blieben eine weitere Stunde im Ostuferhafen. Nachdem die Feuerwehr die vielen Brandherde erfolgreich bekämpft hatte, stießen sie auf zwei tote Männer.
»Das sind höchstwahrscheinlich Matrosen, die Wachdienst hatten«, sagte ein Kollege der Wasserschutzpolizei.
»Dann haben wir es ab sofort mit einem Doppelmord zu tun«, stellte Regina fest.
*
Als Frank hinter Regina und dem blonden Oberkommissar in die Einsatzzentrale der SOKO Kieler Woche trat, herrschte dort bereits rege Betriebsamkeit. Er schaute hinüber zu Florian Koller, der mit einem Handy am Ohr neben einer Übersichtstafel stand. Der Assistent von Regina Saß nickte ihm zu und sprach weiter ins Telefon.
»Wenn du wieder dabei bist, sieht es echt übel aus«, meldete sich eine tiefe Bassstimme.
Frank drehte sich um und erwiderte das grimmige Lächeln des Glatzkopfes mit der Figur eines Verteidigers beim American Football. »Moin, Holly. Glückwunsch noch zur Beförderung«, begrüßte er Hauptkommissar Holger Fendt mit seinem Spitznamen.
»Kein großes Ding. Warst du mit der Chefin am Hafen?«, wollte er wissen.
Frank hatte den Bericht kaum angefangen, als eine dunkelhaarige Schönheit zu den beiden Männern trat. Holly grinste breit.
»Hallo, schöne Frau«, sagte er.
Kommissarin Rana Schami lächelte Frank warm an.
»Hallo, ihr beiden. Regina versammelt also wieder das alte Team um sich. Weiß jemand, wer der blonde Sonnyboy bei ihr ist?«, fragte sie.
Frank klärte seine Kollegen auf. Holly musterte Jens Vogt mir gefurchter Stirn, während Rana den Oberkommissar unbefangen anschaute. »Staatsschutz? Wenn es ein Fall für die ist, braucht man uns wohl kaum«, stellte sie fest.
»Leider doch, Rana. Vorerst soll dieser Zusammenhang nicht an die Öffentlichkeit kommen. Die SOKO wird also offen ermitteln, ohne sich zu sehr auf die politischen Hintergründe zu stürzen«, sagte Frank.
Florian Keller machte sich bemerkbar und sorgte für Ruhe unter den über 20 Ermittlern im Großraumbüro. Regina Saß trat neben ihn und ließ ihren Blick über die Gesichter der versammelten Kollegen wandern.
»Die meisten von Ihnen waren im vergangenen Jahr bereits dabei, als diese SOKO den Mord an Bernd Claasen aufgeklärt hat. Die neuen Kollegen wenden sich bei Fragen an meinen Stellvertreter, Hauptkommissar Reuter, oder an mich«, sagte sie.
In den folgenden 30 Minuten umriss Regina Saß den Stand der Fakten und verteilte anschließend die Aufgaben. Frank registrierte aufmerksam, dass sie die besondere Rolle von Oberkommissar Vogt nicht ansprach. Es wunderte ihn daher nicht, dass nach Ende der Einweisung die Leiterin mit Vogt und ihm in ihr winziges Büro am Ende des Ganges ging. Durch das geöffnete Fenster konnte er die Stimmen der Besucher auf dem Rathausmarkt sowie vereinzelte Musikfetzen hören. In weniger als einer Stunde würde es erheblich lauter werden, denn dann begannen die Liveauftritte der Bands überall auf den im Umkreis des Rathausplatzes verteilten Bühnen.
»Wenigstens kann man dieses Jahr lüften«, sagte Regina.
Während Vogt mit der Anspielung nichts anfangen konnte, musste Frank schmunzeln. Das diesjährige wechselhafte Wetter entsprach eher dem üblichen Standard während einer Kieler Woche. Im Vorjahr war es ungewöhnlich sonnig gewesen, und das hatte aus dem kleinen Büro regelmäßig eine Sauna gemacht. Sobald die Musiker auf den Bühnen loslegten, konnte man dieses Mal das Fenster schließen, ohne im eigenen Saft zu schmoren.
»Sie werden mit Frank ein Team bilden, Jens. Sollte es irgendwelche Entwicklungen geben, die ins Fachgebiet Ihrer Abteilung fallen, will ich umgehend eingeweiht werden«, fuhr Regina fort.
Damit stand Franks Rolle bei dieser Ermittlung fest. Es behagte ihm zwar nicht, aber er konnte die Entscheidung von Regina nachvollziehen. Vogt nahm es ebenfalls kommentarlos auf.
»Dann gehen wir also den Hinweisen zu dem Zünder nach?«, fragte Frank.
»Ja, genau. Diesen Aspekt überlasse ich Ihnen beiden. Sie sollten aber mit Holly darüber sprechen. In seiner neuen Funktion weiß er eventuell, woher der Sprengstoff gekommen ist«, gab Regina zu Bedenken.
Im Jahr zuvor hatte der bullige Hauptkommissar noch zur Sitte gehört. Seit sechs Monaten führte Holly das Dezernat für Bandenkriminalität im LKA und damit die Ermittlungen gegen Rockerbanden. Zu deren ›Betätigungsfeld‹ gehörte die Beschaffung von Waffen sowie Explosivmitteln.
»Daran habe ich schon gedacht«, sagte Frank.
»Aber nur allgemein und nicht zielgerichtet auf den Zünder«, warf Jens ein.
Für seinen Einwand musste der Oberkommissar einen zurechtweisenden Blick von Regina einstecken. Er räusperte sich und hob entschuldigend eine Hand in die Höhe.
»Es sollte nicht wie eine Anweisung klingen, Frau Saß. Verzeihung«, sagte er.
Als sie kurze Zeit später ins Großraumbüro zurückkehrten, hatte es sich deutlich geleert.
»Florian ist in seinem Element«, kommentierte Frank trocken.
Den fragenden Seitenblick von Vogt nahm er zum Anlass, dem Oberkommissar die besondere Begabung des Assistenten für organisatorische Aufgaben zu erklären.
»Das kann nicht schaden, wenn jemand das Team so gut einsetzt«, erwiderte Jens.
»Mal sehen, ob Holly ein wenig Zeit für uns hat«, sagte Frank.
Sie gingen hinüber zu dem Schreibtisch des Kollegen, der lässig in seinem Bürostuhl saß und nicht unbedingt den Eindruck von konzentrierter Arbeit vermittelte.
»Können wir dich kurz sprechen?«, fragte Frank.
Holly deutete auf die beiden Besucherstühle neben dem zerkratzten Schreibtisch. »Nehmt Platz auf meinen Luxusmöbeln«, spottete er.
Auch in diesem Jahr hatte man offensichtlich das Inventar der SOKO aus den Kellerräumen in der Gartenstraße organisiert. Frank beäugte den für ihn gedachten Stuhl und zog es vor, sich lediglich gegen die Kante des Schreibtisches zu lehnen.
»Wir sollen uns um die Herkunft der Sprengladungen kümmern. Kannst du uns irgendwelche hilfreichen Tipps geben?«, fragte er dann.
»Da wüsste ich einige Kandidaten. Wissen wir schon mehr über die Beschaffenheit des Sprengstoffes oder welcher Zünder verwendet wurde?«, fragte Holly.
Frank überließ es Jens, die gewünschten Eingrenzungen vorzunehmen. Während er dem Gespräch seines Kollegen lauschte, ging sein Blick hinüber zu Rana Schami. Sie saß vor ihrem Computer, und Frank bemerkte ihren düsteren Gesichtsausdruck, der leicht abwesend wirkte. Der Hauptkommissar hatte nicht den Eindruck, dass sie mit den Gedanken bei der Ermittlung war.
»Sprecht ruhig weiter. Ich bin gleich wieder zurück«, sagte er.
Holly und Jens sahen ihn verblüfft an. Frank scherte sich nicht darum und schlenderte hinüber zum Schreibtisch der Kollegin. Wortlos setzte er sich und musterte Rana. Sie schaute ihn an und lächelte bemüht.
»Was ist los? Brauchst du meine Hilfe?«, fragte sie.
»Nein. Ich wollte nur wissen, wie es dir geht«, antwortete er.
Rana legte ihre Stirn in Falten. Frank Reuter war im Laufe der zurückliegenden Monate ein Freund geworden. Sie vertraute ihm und schätzte seinen Rat. Nach wenigen Sekunden seufzte sie leise. »Es ist wegen meiner Verwandten in Aleppo. Sie schweben fast täglich in Lebensgefahr und wir können so gar nichts tun, obwohl wir es möchten.«
Ranas Eltern waren aus Syrien nach Kiel gekommen. Ihr Vater hatte an der Christian-Albrecht-Universität Medizin studiert. Sie blieben in der Stadt an der Förde und einige Jahre später kam Rana zur Welt. Als Christen gehörten sie in Aleppo zu einer Minderheit. Seit dem Ausbruch des Bürgerkrieges schätzten sie sich besonders glücklich, in Deutschland zu leben. Doch die Sorge um die in Syrien lebenden Verwandten und Freunde belastete sie sehr.
»Habt ihr denn einen Plan, wie man ihnen helfen könnte?«, fragte Frank.
Rana berichtete, dass ihre Eltern die Verwandten nach Kiel holen wollten. »Wir haben angeboten, für ihren Lebensunterhalt genauso zu sorgen wie für die Reisekosten. Die Behörden haben es dennoch abgelehnt«, erklärte sie.
Jetzt verstand Frank, warum seine Kollegin so bedrückt wirkte. Er konnte ihr keinen Ausweg aus dem juristischen Dilemma anbieten, nur seine Freundschaft. »Ich bin jederzeit für dich da. Ich hoffe, du denkst daran«, sagte er.
Rana drückte ihm dankbar die Hand und lächelte dieses Mal weniger verkrampft. »Ja, das tue ich. So und jetzt aber an die Arbeit, Herr Hauptkommissar«, sagte sie.
Frank beherzigte den Rat und kehrte zum Schreibtisch von Holly zurück. Der Hauptkommissar unterhielt sich lebhaft mit Jens Vogt. Offenbar verstanden sich die beiden Männer.
»Sorry, aber jetzt bin wieder bei euch«, sagte Frank.
»Holly hat mir drei Namen geliefert. Sie kommen alle als Lieferanten für den Sprengstoff in Betracht. Wir sollten mit Horst Wendt anfangen«, sagte Jens.
»Er hat einige Jahre in Braunschweig ein sogenanntes Chapter für die Satans Beasts aufgebaut, bevor er sich nach Skandinavien abgesetzt hat. Damals tobte ein blutiger Krieg zwischen seiner Rockerbande und ihren Konkurrenten.«
Frank wusste, dass es sich bei einem Chapter um die Unterstützer einer der bekannten Rockergangs handelte. Das Chapter musste diverse Geschäfte aufbauen und einen großen Teil der Einnahmen an die Gang abführen sowie gleichzeitig deren Konkurrenz bekämpfen. Da alle großen Rockergruppen so vorgingen, herrschte nahezu ständig Krieg auf den Straßen. Regelmäßig traf es Unschuldige.
»Demnach soll Wendt wieder in Deutschland sein? Hier bei uns in Kiel?«, fragte Frank.
Der umtriebige Mann hatte zusammen mit zwei Geschäftspartnern im Knooper Weg ein Geschäft eröffnet. Offiziell konnte man sich hier mit Spezialwerkzeug für Motorräder eindecken, aber im Hintergrund wurden diverse illegale Geschäfte abgewickelt.
»Hollys Dezernat arbeitet eng mit dem Verfassungsschutz zusammen. Wendt pflegt offenbar neuerdings sehr intensive Kontakte zur rechten Szene«, sprach Jens weiter.
Von solch unheiligen Allianzen hatte Frank bereits gehört, doch bislang hatte es keine seiner Ermittlungen tangiert. Auf der Fahrt zum Knooper Weg informierte Vogt ihn über die wichtigsten Fakten zu Wendt sowie dessen neue Geschäftspartner. Als der blonde Oberkommissar den Wagen in eine Parklücke gelenkt hatte, die schon an normalen Tagen als Glücksfall zu bezeichnen gewesen wäre, stieg er nicht sofort aus.
»Es wäre mir sehr recht, wenn meine Zugehörigkeit zur Abteilung 3 nicht zur Sprache käme«, sagte Jens.
Frank war klar, dass die SOKO quasi als verlängerter Arm des Staatsschutzes die Ermittlungen aufgenommen hatte. »Wir gehören während dieser Ermittlungen beide zur SOKO Kieler Woche. Mehr muss niemand wissen.«
Vogt nahm es mit Erleichterung auf und stieg aus. Frank verließ gleichzeitig den Wagen und schaute auf die Fassade des Hauses, in dem das Geschäft von Wendt untergebracht war. Der ehemals gelbe Stein des Gebäudes hatte im Laufe der Jahre durch die Abgase einen dunkleren Ton angenommen. Das Ladengeschäft wirkte auf den ersten Blick unauffällig, was sicherlich im Interesse der Inhaber lag. Als Frank die Tür aufstieß, erklang ein elektronisches Signal irgendwo weiter hinten im Geschäft. Jemand rief etwas Unverständliches, ein Stuhl wurde zurückgeschoben, und dann näherten sich schwere Schritte dem Durchgang zum Verkaufsraum.
»Moin. Sucht ihr etwas Bestimmtes oder wollt ihr euch nur einmal umsehen?«, fragte Wendt.
Anhand der Beschreibung von Jens erkannte Frank den dubiosen Mann auf Anhieb. Aus dem offenen Ausschnitt seines Shirts quollen graue Haare. Horst Wendt war 48 Jahre alt, hatte braune Haare mit vielen silbernen Fäden und kieselgraue Augen. Seine Hose war abgewetzt, genauso wie die Lederweste, die Wendt über dem ausgeblichenen Shirt trug.
»Horst Wendt?«, fragte Frank.
Ein verdrießlicher Ausdruck stieg in dessen Augen auf. »Ja. Wer will das wissen?«, erwiderte er.
Frank und Jens hielten gleichzeitig die Ausweise hoch. »Wir interessieren uns besonders für Ihr Angebot im Bereich Sprengstoffe, Herr Wendt«, sagte Frank.
Der kräftig gebaute Ladenbesitzer trat zwei Schritte zurück und lehnte sich gegen den Rand des Verkaufstresens.
»Da sind Sie im falschen Geschäft gelandet, Herr Kommissar«, erwiderte er spöttisch.
Frank nahm es mit einem leisen Schnauben zur Kenntnis und wandte sich einem der Regale zu. Jens wartete ab, bis Wendt sich umdrehte, und schob sich lautlos hinter den Tresen.
»Wir wissen sehr genau, dass Sie diesen Laden nur als Fassade betreiben. Der Anschlag auf den Frachter hat zwei Menschen das Leben gekostet und da verstehen wir absolut keinen Spaß«, fuhr Frank fort. Er hatte den verpackten Ersatzteilen lediglich einen flüchtigen Blick gegönnt, bevor er sich wieder Wendt zuwandte.
»Sie wissen mehr als ich. Gibt es so etwas wie einen Durchsuchungsbeschluss oder Haftbefehl?«, erwiderte Wendt.
In seinen Augen leuchtete es höhnisch auf. Vermutlich ahnte Wendt, dass die beiden Ermittler nur im Nebel herumstocherten. Mit lässig vor der Brust verschränkten Armen hielt er dem forschenden Blick von Frank stand. Wendts Haltung drückte unmissverständlich aus, wie wenig Sorgen er sich machte.
»Was haben wir denn hier?«, meldete sich Jens Vogt.
Als Wendt erkannte, dass der Oberkommissar sich hinter dem Tresen aufhielt, verlor er schlagartig seine Überheblichkeit. Mit einem Ruck löste er sich vom Rand des Tresens und machte zwei Schritte auf Jens zu. Der schien die Bedrohung nicht wahrzunehmen und hielt dem Ladenbesitzer eine CD entgegen.
»Das ist unverkennbar ein Hakenkreuz und der Titel des Machwerkes enthält verbotene Symbole. Das sieht aber jetzt sehr übel für Sie aus, Herr Wendt«, sagte er. Seine kalte Stimme wollte so gar nicht zu dem fröhlichen Jungengesicht passen, und Frank erkannte, wie leicht man sich in ihm täuschen konnte.
Wendt fauchte wütend los. »Weg von meinem Tresen! Diese verdammte CD hat ein Kunde im Laden vergessen und ich habe sie nur aufgehoben, damit sie nicht in falsche Hände gerät«, stieß er hervor.
Jens schob sie kopfschüttelnd in die Seitentasche seiner Jacke. Wendt beugte sich vor und zog urplötzlich einen Baseballschläger unter dem Tresen hervor. Vogt reagierte blitzschnell, indem er das Handgelenk des Ladenbesitzers umfasste und es mit einer schnellen Bewegung gegen den Uhrzeigersinn drehte. Wendt heulte vor Schmerz auf und ließ den Baseballschläger los, nur um sich erneut vorzubeugen. Jens drückte den sich weiterhin wehrenden Mann zu Boden. Dabei glitt sein Blick zur Ablage unterhalb des Tresens.
»Da liegt auch noch ein Messer. Vermutlich wollte er uns damit angreifen«, erklärte er.
Frank erkannte das Vorhaben seines Kollegen und ging zur Ladentür. Er langte nach dem Schlüsselbund und drehte den Schlüssel um, sodass das Geschäft nicht mehr betreten werden konnte.
»Das ist eine dämliche Unterstellung, Mann! Ich habe nie zu dem Messer greifen wollen«, geiferte Wendt. Seine Stimme wurde grell. Es konnte an der Wut über das Auftreten der Ermittler liegen oder ein Ausdruck des Schmerzes sein. Jens drückte ihm sein rechtes Knie in den Rücken und zerrte die Arme nach hinten, damit Frank dem Ladenbesitzer Handschellen anlegen konnte.
»Kümmerst du dich um einen Streifenwagen, der unseren Freund in die Gartenstraße bringt?«, fragte Jens.
»Mach ich. Was hast du vor?«, erwiderte Frank.
»Ich telefoniere mit der Staatsanwaltschaft und sorge dafür, dass unsere Durchsuchung rechtlich abgesegnet ist«, antwortete Jens.
Horst Wendt fluchte leise vor sich hin, blieb aber ruhig am Boden liegen. Während Frank den Streifenwagen anforderte, wanderte Jens mit dem Handy am Ohr am Tresen vorbei in die hinteren Räume. Sein Vorgehen war einigermaßen gewagt gewesen, aber Frank billigte es ohne Vorbehalte. Wendt hätte nicht so dumm sein dürfen, den Beamten einen Grund für seine Festnahme und die Durchsuchung seines Geschäftes zu liefern. Ein Richter würde ihnen den erforderlichen Beschluss ausstellen. Da Wendt in der Vergangenheit nicht durch besonders intelligentes Verhalten aufgefallen war, passte der Auftritt vermutlich zu seinem Charakter. Frank fragte sich, ob Jens von Anfang an diese Situation hatte provozieren wollen.
»Das ist wirklich ein sehr interessantes Geschäft. Allein wegen der verbotenen Devotionalien des Dritten Reiches erwartet Wendt ein Verfahren«, sagte Jens. Er war wieder im Durchgang hinter dem Tresen aufgetaucht und schaute an Frank vorbei zur Ladentür. »Die Kollegen sind heute von der schnellen Truppe. Wie erfreulich«, fuhr er fort.
Als Frank sich umdrehte, stiegen die uniformierten Beamten gerade aus ihrem Dienstwagen. Drei Minuten später waren die beiden Ermittler allein im Geschäft und Frank konnte sich selbst ein Bild von den Funden machen. In einem der Räume stapelten sich Kisten mit Armbinden und Prospekten, die Werbung für die verbotene White Youth Bewegung machten. In anderen Kartons fanden sich Schriften mit den Aufdrucken der Nationalen Liste und der ebenso verbotenen Nationalen Offensive.
»Hier sieht es wie in der Zentrale einer neuen Dachorganisation der rechten Gruppierungen aus«, staunte er.
Sie fanden weitere Messer, die denen von SS-Verbänden nachempfunden waren. Das Exemplar unter dem Tresen stellte somit in doppelter Hinsicht einen Grund für Wendts Festnahme dar. Frank sah sich die übrigen Räume an. Überall fanden sich Zeichen zu Wendts Gesinnung, aber keine Werkbank mit den Bauteilen oder Plänen der eingesetzten Sprengmittel.
»Wir müssen herausfinden, ob Wendt weitere Räume im Haus benutzt oder außerhalb angemietet hat«, sagte er.
»Ich schau mal in seine Buchhaltung. Wendt könnte dumm genug sein, so etwas offen über das Geschäft laufen zu lassen«, erwiderte Jens.
Dem konnte Frank nur zustimmen. »Ich spreche mit der Chefin und empfehle ihr, dass sie Kollegen zu den Mitinhabern des Geschäftes schickt. Möglicherweise unterhält einer von ihnen die Bombenwerkstatt in seinem Keller.«
In den kommenden Stunden konzentrierte ein Teil der SOKO ihre Ermittlungen auf Wendt. Regina würde für die weiteren nötigen Beschlüsse sorgen.
»Dann gibt es eventuell einen rechtsradikalen Hintergrund für den Anschlag?«, wollte sie wissen.
Frank gab die Frage an Jens weiter, obwohl er selbst einige Zweifel hegte.
»Wir sollten es nicht ausschließen, aber im Prinzip halte ich Wendt und seine Kumpane nur für Handlanger«, antwortete er.
Vorerst mussten sie jedoch das Material in dem Laden sicherstellen und nach weiterem belastendem Material suchen. Horst Wendt war nur eine kurze Zeit als Geschäftsmann vergönnt gewesen. Ihn erwartete zum wiederholten Male ein längerer Gefängnisaufenthalt.
Es war generell ein ruhiger Arbeitsplatz, doch an einem Sonntag wirkten die Flure der Landesbank erwartungsgemäß völlig ausgestorben. Dr. Fabian Rose saß bereits über eine Stunde an seinem Schreibtisch und starrte auf die Zahlenkolonnen, die mit kalter Präzision seinen Untergang signalisierten.
»Es muss doch einen Ausweg geben?«, grübelte er laut vor sich hin.
Als Leiter des Geschäftsbereichs Shipping war Dr. Rose es gewohnt, mit riesigen Summen zu arbeiten. Die erforderlichen Kredite, um den Neubau oder Kauf eines Tankers zu ermöglichen, bewegten sich regelmäßig im siebenstelligen Bereich.
»Nur noch vier oder sechs Wochen, dann hätte ich es geschafft«, murmelte er.
Die Göttin Fortuna hatte sich vor einiger Zeit von ihm abgewandt. Er hatte sich nicht zum ersten Mal eine Art Spezialkredit genehmigt, mit dem er fünfstellige Beträge über ein Kontengeflecht auf sein eigenes Bankkonto umgeleitet hatte. Auf diese Weise konnte der erfolgreiche Bankmanager zeitweilige Engpässe immer wieder überbrücken.
»Diesen Investor schickt der Teufel persönlich«, fluchte Dr. Rose.
Die Krise hatte die Geschäfte der Landesbank Schleswig-Holstein getroffen. Der weltweite Einbruch im Frachtgeschäft der Reedereien führte automatisch zu hohen Ausfällen ihrer Kreditkunden. Dr. Fabian Rose hatte es trotzdem mit seiner Abteilung verstanden, einen guten Geschäftsbericht vorzulegen. Bis vor wenigen Tagen glaubte niemand, dass ein amerikanischer Investor Interesse an der Übernahme einer Reihe von Krediten der Shippingabteilung haben könnte.
Er musste Gelder umlenken, dachte Dr. Rose.
Auf sechs der Kreditkonten gab es Fehlbeträge, die dringend ausgeglichen werden mussten. Am morgigen Montag würde die Revision in seiner Abteilung starten, um die aktuellen Zahlen für die Verhandlungen mit den Amerikanern vorzubereiten. Dabei würden die Fehlbeträge entdeckt werden, und Dr. Rose hätte sich einer Menge ausgesprochen unschöner Fragen zu stellen.
»Das Konto der Konservativen Union. Warum habe ich nicht gleich daran gedacht?«, stieß Fabian Rose hervor.
Die Landesbank betreute eine Reihe institutioneller Kunden, um ihnen bei komplizierten Kapitalmarktgeschäften zu helfen. Dazu zählte eine konservative Partei, in der Rose bereits als Student aktiv geworden war. Er saß im Vorsitz der Landesgruppe und war der Schatzmeister, weshalb er über einen ungehinderten Zugang zu den Konten der Partei verfügte. Seine Finger huschten über die Tastatur, und bereits wenige Minuten später existierten die Fehlbeträge im Kreditbereich seiner Abteilung nicht mehr. Dafür war der größte Teil des Barvermögens der Konservativen Union auf verschlungenen Pfaden von den Konten verschwunden.
Damit hatte er wenigstens zehn Tage gewonnen, dachte Fabian Rose.
In seinem Kopf reifte bereits ein Plan, wie er das nötige Kapital zum Ausgleich der Konten beschaffen konnte. Dr. Rose verhielt sich wie alle Süchtigen. Er schätzte seine Fähigkeiten völlig falsch ein und rechnete mit einem Ende seiner Pechsträhne. Für den Augenblick hatte er die Dinge allzu schwarzgesehen, doch durch seine Umbuchung erhellte sich die Welt schlagartig wieder. Er warf einen prüfenden Blick auf seine Armbanduhr und schaltete anschließend den Computer aus.
»Evelyn wird noch länger an der Kiellinie sein. Da bleibt mir genug Zeit«, murmelte er.
Auf sein eigenes Konto hatte der Bankmanager 13.000 Euro überwiesen, die er noch heute in wenigstens 20.000 oder 30.000 verwandeln wollte. Davon könnte er schon morgen den ersten Betrag auf das Parteikonto überweisen. Der Rest würde sich dann in den kommenden Tagen ergeben.
Während der Kieler Woche gab es immer genügend Spieltische mit solventen Dummköpfen, die beim Pokern ausschließlich auf ihr Glück setzten, dachte Fabian Rose.
Sein mathematisches Verständnis half ihm dabei, die Regeln des Spiels zu beherrschen. Er vertraute auf seine Fähigkeiten und nie auf Glück. Was Rose jedoch ausblendete, war die Tatsache, dass Profispieler über weitaus mehr Erfahrung verfügten, die sie zu ihrem Vorteil einsetzten. In solchen Pokerrunden verlor auch ein fähiger Amateur mit großer Regelmäßigkeit. Für ihn stellten die ausgestellten Schuldscheine kein Risiko dar, immerhin hatte er bisher alle einlösen können. Dass er eine höhere Summe gefährlichen Männern aus dem Rotlichtmilieu schuldete, verdrängte er gekonnt.
Zehn Minuten später eilte der Bankmanager in Richtung Holstenbrücke. Er hatte keinen Blick für die Aussteller auf dem internationalen Markt oder die Veranstaltungen auf den Bühnen. Fabian Rose war begierig darauf, endlich wieder Spielkarten in den Händen zu halten.
*
Der Sonntag fing für Frank mit einem Spaziergang im Regen an. Freiwillig hätte er sicherlich auf diesen Ausflug verzichtet, doch Butch bestand darauf. Die englische Bulldogge, die seiner Vermieterin gehörte, verstand das menschliche Bedürfnis nach gutem Wetter nicht.
»Dafür lässt du heute aber meine Möbel in Ruhe, verstanden?«, forderte Frank.
Der lange Blick seines vierbeinigen Freundes sprach Bände. Sobald der Kommissar den Weg in die Gartenstraße angetreten hatte, würde Butch seiner Lieblingsbeschäftigung nachgehen. Sie bestand darin, die Ledermöbel mit seinen Zähnen zu bearbeiten.
»Regina? Was treibt Sie denn in diese Gegend?« Frank hatte gerade die Haustür geöffnet, als die Leiterin der SOKO auf ihn zueilte. Ihr Gesichtsausdruck deutete darauf hin, dass er keine Antwort auf diese unwichtige Frage zu erwarten hatte. Es gab offenkundig Dringenderes zu besprechen. In der Wohnung trocknete er die Füße der Dogge ab und ignorierte den strafenden Blick, als Butch den nach unten geklappten Toilettendeckel bemerkte. Er müsste heute aus der dafür vorgesehenen Schüssel in der Küche trinken.
»Kann ich Ihnen einen Kaffee anbieten?«, fragte er.
»Ja, gerne. Wir haben ein neues Problem, über das ich mit Ihnen reden muss«, erwiderte Regina.
Sie kraulte den breiten Schädel von Butch, der die Hauptkommissarin im Vorjahr sofort bei ihrer ersten Begegnung ins Herz geschlossen hatte. Zum Glück beruhte es auf Gegenseitigkeit. Nicht jeder Mensch war ein Hundeliebhaber, und besonders der massige Körper der englischen Bulldogge schreckte viele ab.
»Was ist passiert?«
Regina nippte an dem Kaffee, den Reuters italienische Kaffeemaschine zubereitet hatte.
»Der schmeckt um Längen besser als der in der Gartenstraße. Unser Problem heißt Dr. Fabian Rose und liegt im Foyer der Landesbank«, sagte sie dann.
Frank wollte sich für das Kompliment bedanken, doch dann stolperte er über den zweiten Satz seiner Vorgesetzten. »Liegt im Foyer? Soll das etwa bedeuten, wir haben einen weiteren Mordfall?«, fragte er.
»Genau das heißt es. Dr. Rose ist ein Manager der Bank und wurde nach Aussage unseres Zeugen mit Absicht überfahren. Der Aufprall war so enorm, dass sein Körper durch die Glastür ins Foyer der Bank geschleudert wurde«, erwiderte Regina.
Frank trank seinen Kaffee im Stehen und stieg kurz darauf zu der Leiterin in den Dienstwagen. Zuvor lieferte er Butch bei seiner Vermieterin ab, die den Hauptkommissar ausdrücklich auf den erforderlichen Abendspaziergang hinwies.
»Kann Butch wirklich bis heute Abend aushalten? Muss der arme Kerl nicht schon früher an die Luft, um sich zu erleichtern?«, fragte Regina.
»Klar kann er. Falls Sie aber im Laufe des Tages vor seiner Wohnungstür aufkreuzen, wird Butch mit Begeisterung einem Ausflug zustimmen«, versicherte Frank.
Offenbar bestand ein unsichtbares Band zwischen der Dogge und Regina Saß. Frank hatte eine bestimmte Ahnung, behielt sie vorerst aber für sich. Butch hatte ein Gespür für Menschen, die seinem speziellen Charme erlagen.
»Wissen Sie schon mehr über diesen Dr. Rose?«, fragte er stattdessen.
»Nein, aber das werden wir hoffentlich gleich erfahren«, erwiderte sie.
Als Regina den Wagen wenige Minuten später durch die Absperrung an der Landesbank lenkte, ging Frank ein Licht auf. Er hätte schon früher daran denken müssen.
»Wieso wurde er von einem Wagen überfahren?«, fragte er. »Dazu muss der Fahrer über den Bordstein gefahren und anschließend wieder auf dem Gehweg geflüchtet sein.«
»Gute Frage. Zu diesem Detail sollten wir gleich eine Antwort der Kriminaltechniker bekommen«, sagte Regina.
Allein der Umstand, dass die Kollegen bereits den größten Teil der Spuren gesichert hatten, weckte Franks Argwohn.
»Warum werde ich das Gefühl nicht los, dass dieser Mord mit unüblichen Standards gemessen wird?«, wollte er wissen.
Seine Vorgesetzte verdrehte die Augen und deutete dann auf den Mann, der mit zwei Anzugträgern in einer Ecke des Foyers stand.
»Der Polizeipräsident höchstpersönlich lässt sich zu dieser unchristlichen Zeit an einem Tatort blicken? Läuft das hier unter der Rubrik VIP-Mord?«
Frank erhielt keine Antwort, da sie bei der Gruppe angekommen waren. Der übergewichtige Polizeipräsident stellte Regina und ihn mit wenigen Worten vor. »Frau Saß leitet die SOKO und Hauptkommissar Reuter ist ihr Stellvertreter. Wir haben uns darauf geeinigt, dass Herr Reuter die Ermittlungen im Mordfall Dr. Rose übernimmt«, sagte er.
Wer war denn wohl wir?, fragte sich Frank.
»Ja, so machen wir es. Angesichts des ungewöhnlichen Verlaufs dieses Mordes bauen wir auf Ihre Kooperation. Welchen Grund könnte jemand haben, Ihren Kollegen auf so brutale Weise umzubringen?«, wandte Regina sich an die beiden Vertreter der Landesbank.
Der ältere Mann mit den schlohweißen Haaren und der tiefen Gesichtsbräune war der Vorstandsvorsitzende. Frank kannte sein Gesicht und den Namen aus diversen Medienberichten.
»Dr. Rose leitete das Ressort Shipping in unserem Hause. Er ist verheiratet und liebt seine Familie abgöttisch. Mir will kein Grund oder eine bestimmte Person einfallen, die ihm schaden möchte«, antwortete Dr. Sigmund Brahms.
Es war die typische Antwort, die Frank und seine Kollegen in so einem frühen Stadium der Ermittlungen regelmäßig zu hören bekamen. Sobald sie auf die ersten Abweichungen im Berufs- oder Privatleben der Opfer stießen, passten die meisten Zeugen ihre Aussagen an. Sein Blick wanderte hinüber zu dem smarten Mann mit den dunkelbraunen Haaren und dem falschen Lächeln eines Werbeprofis.
»Und was sagen Sie, Herr …?«
»Francis Tenner. Ich bin der Pressesprecher der Bank und kannte Dr. Rose von vielen gemeinsamen Veranstaltungen. Er war ein angenehmer, zurückhaltender Mensch und machte sich generell keine Feinde. Dr. Rose passte nicht in das übliche Klischee eines Bankmanagers«, versicherte er.
Noch eine nichtssagende Antwort, die den Ermittlern kein Stück weiterhalf.
»Damit wäre das nun geklärt. Dr. Brahms, Hauptkommissar Reuter hat doch freie Hand, um die Befragung Ihrer Mitarbeiter aufzunehmen?«, fragte der Polizeipräsident.
Es war unfassbar, wie unterwürfig er gegenüber diesem Mann auftrat. Frank verkniff sich ein verärgertes Aufstöhnen und schaute gleichzeitig auf die Spuren der Verwüstung. Der Wagen hatte offenbar Dr. Rose kurz vor der breiten Glastür erwischt und seinen Körper wie ein Rammbock hindurchgestoßen. Neben dem mittlerweile abgedeckten Leichnam erhob sich der Rechtsmediziner, zu dem Frank hinüberging.
»Ich dachte, du wolltest dieses Jahr einen weiten Bogen um die Kieler Woche machen?«, fragte er ihn.
Sven Radtke schaute seinen Freund mit einem schwer zu deutenden Ausdruck an, bevor er auf die provokante Frage erwiderte: »Zwei meiner sehr geschätzten Kollegen haben sich völlig unerwartet die Grippe eingefangen. Vermutlich verbringen sie ihre Zeit auf dem Achterdeck ihrer Jachten, während ich hier die Reste eines menschlichen Körpers begutachten muss.«
Radtke war normalerweise ein sehr umgänglicher Mensch und liebte seinen Beruf. Was er nicht gut vertragen konnte, waren solche Spielchen seiner Kollegen. Frank ließ daher das Thema schnell wieder fallen.
»So wie es aussieht, darf ich den Fall übernehmen. Was kann mir der beste Rechtsmediziner des gesamten Landes denn schon verraten?«
Seine Schmeicheleien provozierten Radtke immerhin zu dem Anflug eines säuerlichen Lächelns.
»Das Opfer wurde bei dem Zusammenstoß mit dem Wagen bereits erheblich verletzt. Doch die anschließende Kollision mit der Glastür hat weitaus schlimmere Folgen gehabt. Sieh es dir selbst an«, erklärte der Rechtsmediziner.
Es gehörte zu seinen Eigenarten, sich mit Nichtmedizinern in einer für sie verständlichen Form zu unterhalten. Dagegen würde der Obduktionsbericht mit Fachbegriffen, Diagrammen und Laborauswertungen gespickt sein. Frank ging neben Radtke in die Hocke und bereitete sich innerlich auf einen Schock vor. Es kam noch schlimmer als erwartet.
»Mein Gott! Sind wir sicher, dass das wirklich Dr. Rose ist?«, stieß er hervor.
Es kostete ihn einige Anstrengung, den Blick nicht sofort wieder von dem blutigen Klumpen Fleisch zu nehmen. Man benötigte sehr viel Vorstellungskraft, um darin ein menschliches Antlitz zu erkennen.
»Soweit ich weiß, bestehen kein Zweifel. Ein Sicherheitsmitarbeiter war wohl Zeuge des Anschlages, weil er das Opfer in die Bank lassen wollte«, antwortete Sven Radtke.
Mit einer Geste breitete er das Tuch wieder über den Leichnam und erhob sich. Frank atmete mehrfach tief durch. Im gleichen Augenblick trat Regina zu den beiden Männern.
»So schlimm?«
»Seine Familie sollte ihn keinesfalls zu Gesicht bekommen«, erwiderte Frank.
Einen Augenblick standen sie schweigend beieinander.
»Sie übernehmen dann, Frau Saß. Ich erwarte noch heute erste Ergebnisse«, meldete sich der Polizeipräsident. Er sprach betont laut, damit ihn vor allem die Vertreter der Landesbank hörten. Auf seinem Weg durch das Foyer machte der füllige Mann einen großen Bogen um den abgedeckten Leichnam.
»Der will nur noch weg von hier«, murmelte Frank verärgert.
Regina reagierte sachlicher und nickte dem Polizeipräsidenten knapp zu.
»Ich mach mich auf den Weg in die Gartenstraße. Koller wird Ihnen zwei oder drei Kollegen zuweisen. Haben Sie besondere Wünsche?«
Er musste nicht lange darüber nachdenken. »Vogt arbeitet ja sowieso mit mir. Rana wäre eine gute Verstärkung. Ansonsten überlasse ich es Koller«, antwortete Frank.
»Ich schicke Ihnen Jens und Rana gleich hierher«, versprach Regina.
Sie verließ zusammen mit dem Rechtsmediziner den Tatort, während Frank sich an einen der uniformierten Kollegen wandte. »Wo befindet sich der Mitarbeiter der Sicherheitsfirma, der alles mit angesehen hat?«, fragte er.
Der Anruf und die vorgetragene Bitte hatten Heinrich Saß überrascht. Er war es gewohnt, dass seine Mandanten und besonders solche, die er zu seinen wenigen Freunden zählte, ihn an einem Sonntag nicht behelligten. Graf von Schönhorst hatte es jedoch getan und wollte partout keinen Grund dafür am Telefon nennen. Saß musste sich notgedrungen auf den Weg hinaus zum Gut des alten Parteifreundes machen. Die Uhr am Armaturenbrett seines Mercedes zeigte drei Minuten nach 14 Uhr, als der Rechtsanwalt das schmiedeeiserne Tor des Anwesens passierte. Auf der Stellfläche vor dem Treppenaufgang zum Haupthaus standen bereits vier Luxusfahrzeuge, deren Besitzer Heinrich Saß bestens bekannt waren. Was immer der Anlass für dieses Treffen war, es musste ungemein dringend sein. Schönhorst hatte den gesamten Landesvorstand auf sein Gut südöstlich von Kiel gerufen.
»Heinrich. Gut, dass Sie so schnell kommen konnten«, begrüßte der adlige Politiker seinen Gast.
Sie schüttelten einander die Hand, und dann führte der Graf den Rechtsanwalt hinaus auf die Terrasse, von der aus man über einen weitläufigen Park schauen konnte. An dem Tisch saßen die anderen Vorstandsmitglieder, die Saß mit einem knappen Gruß bedachte.
»Wenn wir uns hier alle treffen, muss etwas Ungewöhnliches geschehen sein. Was ist denn los?«, fragte er.
In dem schmalen Gesicht des Adligen blitzte ein Lächeln auf. Es verschwand so schnell, wie es gekommen war, und verströmte keine Wärme. »Diese Art, ohne Umschweife auf den Punkt zu kommen, zeichnet Sie aus. Es ist in der Tat sehr dringend, denn unsere Partei hat auf rätselhafte Weise einen großen Teil ihres Vermögens verloren.« Bei seinen Worten blickten drei der Gäste entsetzt auf. Ohne das beträchtliche Barvermögen büßte ihre Partei nahezu alle Möglichkeiten ein, die notwendigen Maßnahmen im Sinne ihrer Politik vorzunehmen.
»Das kann doch nicht sein! Unsere Konten werden von Dr. Rose bei der Landesbank betreut. Schließlich ist er unser Schatzmeister. Wieso ist er nicht hier?«, stieß Saß hervor.
Das Fehlen des Bankmanagers bemerkte der Rechtsanwalt erst in diesem Augenblick. Sein Verstand stellte umgehend die Verbindung zu dem verschwundenen Geld her.
»Rose hat sich mit unserem Geld abgesetzt?«, fragte er ungläubig.
Graf von Schönhorst stoppte die aufkommenden Ausrufe mit einer scharfen Geste. »Nein, das hat er nicht. Unser Parteifreund wurde das Opfer eines brutalen Verbrechens.« Sofort verstummten die einflussreichen Männer am Tisch.
Heinrich Saß verfügte über einen schnellen, analytischen Verstand. Doch die Flut an überraschenden Neuigkeiten konnte er nicht so schnell verarbeiten. »Rose ist tot? Ermordet?«, fragte er.
Der Graf schilderte die Vorkommnisse, die in den frühen Morgenstunden an diesem Sonntag zum Tod des Schatzmeisters geführt hatten. Sofort entbrannte eine hitzige Debatte, wie die Partei darauf reagieren sollte.
»Wir müssen dafür sorgen, dass in den Medien kein falscher Eindruck entsteht. Es darf nicht sein, dass ein Zusammenhang zwischen unserer Partei und dem Mord vermutet wird«, forderte der Inhaber einer Maschinenfabrik.
»Sie vergessen etwas, mein Freund«, mahnte von Schönhorst.
Als er das verständnislose Gesicht des Fabrikanten bemerkte, erinnerte er die Runde an das verschwundene Geld.
»Ohne unsere finanziellen Mittel verfügen wir kaum über den erforderlichen Einfluss, um die Berichterstattung in den Medien wirksam zu beeinflussen«, sagte er.
Der Schock saß tief bei den Männern und behinderte ihr Denken. Heinrich Saß erholte sich schneller als seine Parteifreunde. »Vorerst wissen nur wir davon. Solange unsere Gesprächspartner davon ausgehen müssen, dass wir immer noch über die Mittel verfügen, ändert sich nichts«, stellte er kühl fest.
Verblüffte Ausrufe wurden laut. Graf von Schönhorst schwieg und musterte den Rechtsanwalt mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen. »Riskant, aber wirksam. Die Vorstandsmitglieder der Landesbank haben sofort eine Kontenprüfung vorgenommen, um eine entsprechende Verbindung ausschließen zu können. Dabei stießen sie auf den Fehlbetrag. Offenbar gab es eine Anzahl Tarnkonten, über die Dr. Rose das Geld umgeleitet hat. Es blieb aber nur kurze Zeit auf seinem Konto«, berichtete er dann.
»Dann hat er sich also an den Konten seiner Kunden bedient«, murmelte einer der Männer. Die Abscheu in seiner Stimme war unüberhörbar.
»Nur an dem Konto der Partei, soweit es die bisherige Revision herausgefunden hat«, schränkte von Schönhorst ein.
»Das ist seltsam. Wenn es Rose um Geld ging, hätte er doch weitaus höhere Beträge zusammenstellen können. So sieht es fast danach aus, als wenn er gezielt der Partei schaden wollte«, sprach Saß seine Überlegungen laut aus.
Erneut brandete eine heftige Diskussion auf. Keiner der Männer am Tisch wollte glauben, dass Dr. Fabian Rose ein Motiv für ein parteischädigendes Handeln gehabt hätte.
»Das ergibt alles keinen Sinn«, schimpfte der Fabrikant.
»Sie sagen es. Deswegen möchte ich Sie bitten, Heinrich, sich der Angelegenheit anzunehmen. Die Ermittlungen leitet ein gewisser Hauptkommissar Reuter von der SOKO Kieler Woche. Können Sie sich mit ihm treffen?« Der Graf schaute Heinrich Saß an, der ohne Zögern nickte.
»Kein Problem. Ich kenne Reuter. Er ist ein guter Ermittler und die SOKO wird, wie Sie wissen, von meiner Tochter geleitet«, erwiderte er.
Die Parteifreunde nahmen Saß’ Aussage mit Erleichterung zur Kenntnis.
»Bevor ich mich mit dem Hauptkommissar treffe, muss ich aber etwas wissen«, fuhr Saß fort. Sein forschender Blick wanderte über die Gesichter der Männer und blieb zum Schluss beim Grafen hängen. »Gibt es Dinge, die uns bei den Ermittlungen in eine schwierige Situation manövrieren könnten? Egal was, ich muss es jetzt wissen«, fragte er.
Erboste Blicke waren in der Runde zu sehen, doch Graf von Schönhorst würgte sie erneut mit einer Geste ab. Das Lächeln auf seinem Gesicht verströmte immer noch keine Wärme.