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Kommissar Reuter und Detektiv Bargen haben in Flensburg alle Hände voll zu tun: Brandstiftung in mehreren Häusern an der Ballastbrücke, zwei unbekannte Tote und Hinweise auf internationale Ökoterroristen, die Grenzen mit Gewalt durchbrechen. Die beiden kämpfen scheinbar an mehreren Fronten, doch ein Enthüllungsjournalist zeigt unerwartete Verbindungen auf. Als auch Bargens Kutter in Flammen aufgeht, teilen die Ermittler ihr Wissen. Werden sie gemeinsam Licht ins Dunkel bringen?
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Seitenzahl: 374
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Harald Jacobsen
Kuttertod
Küsten-Krimi
Feuer, Gift und Tod An der Ballastbrücke rückt die Feuerwehr zu einem Großbrand an. Schnell wird klar, dass es sich um Brandstiftung handelt. Als dann auch noch zwei Tote entdeckt werden, übernimmt die Kripo Flensburg den Fall. Kurz darauf durchbricht eine deutsche Autofahrerin den Grenzposten nach Dänemark, wobei ein Soldat schwer verletzt wird. Jetzt sind auch Hauptkommissar Reuter und seine dänische Kollegin, Kommissarin May-Britt Oldsen gefragt. Sowohl der Soldat als auch die Fahrerin des Wagens liegen im Koma, sodass keine Befragungen möglich sind. Doch im Fahrzeug werden Kanister mit Brandbeschleuniger entdeckt. Handelt es sich um die Brandstifterin? In Flensburg gerät der Eigentümer der Häuser, der Bauunternehmer Bertram Jansen, unter Tatverdacht. Er wird festgesetzt, da Verdunkelungsgefahr besteht. Jansens Strafverteidiger beauftragt Henrik Bargen mit eigenen Ermittlungen. Der findet zunächst weiteres belastendes Material gegen Jansen, doch dann geraten Ökoaktivisten in den Fokus seiner Ermittlungen.
Harald Jacobsen wurde 1960 in Nordfriesland geboren. Seit seiner Jugend faszinieren ihn spannende Romane. Nach verschiedenen beruflichen Stationen durchlief er eine Ausbildung im kreativen Schreiben und veröffentlicht seit 2006 Kriminalromane, überwiegend mit regionalem Bezug. Seine Hauptfigur Frank Reuter blieb ihm treu und darf nach seinem Abschied vom LKA Kiel aktuell Ermittlungen mit grenzübergreifenden Fällen in Flensburg übernehmen. Mit dem dort ebenfalls ermittelnden Privatdetektiv Henrik Bargen verbindet Reuter mehr als nur eine berufliche Freundschaft. Seine Ideen entwickelt der Autor in idyllischer Umgebung am Rande des Naturparks Aukrug, wo er zusammen mit Ehefrau und zwei Katern lebt.
Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:
Fördelüge (2019)
Fördekartel (2018)
Reuter ermittelt an der Ostsee (2015)
Kielbruch (2014)
Mordsregatta (2013)
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2019
Lektorat: Susanne Tachlinski
Herstellung: Julia Franze
E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © sehbaer_nrw / stock.adobe.com
Druck: CPI books GmbH, Leck
Printed in Germany
ISBN 978-3-8392-6124-8
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Dicke Rauchwolken trieben über die Flensburger Förde. Mehrere Häuser in Höhe der Ballastbrücke brannten lichterloh und stellten die eingesetzten Feuerwehren vor extreme Probleme. Hauptbrandmeister Volkerts hatte bereits den Spezialzug im Einsatz, da seine Kameraden unmittelbar nach dem ersten Eindringen in eines der Häuser auf ihren Messgeräten ungewöhnliche Werte angezeigt bekommen hatten.
»Achtet unbedingt auf die Dachkonstruktion. Die wirkt instabil«, mahnte Volkerts nervös über Funk.
Innerlich verfluchte er Bertram Jansen, den Eigentümer der brennenden Häuser. Der Bauunternehmer war mehrfach mit dem Gesetz in Konflikt geraten, darunter auch für die illegale Entsorgung von Sondermüll. Für Volkerts stand fest, dass die gefährlichen Chemikalien in den Häusern genau zu dieser Kategorie zählten. Daher zögerte er keine Sekunde, die Brandermittler anzufordern. Im Hintergrund nahm er die verzerrten Lautsprecherstimmen der Polizeibeamten zur Kenntnis, die weiterhin alle Anwohner der Häuser in Umgebung der Ballastbrücke dazu aufforderten, Fenster und Türen geschlossen zu halten und sich nach Möglichkeit nicht im Freien aufzuhalten. Es knallte laut, als würde jemand schwere Waffen abfeuern. Volkerts zuckte nicht mehr zusammen, da er die wahre Ursache kannte. In einem der Geschäftshäuser hatte ein Gebrauchtwagenhändler sein Unternehmen und musste nun hilflos mit ansehen, wie ein Fahrzeug nach dem anderen durch das sich rasend schnell ausbreitende Feuer zerstört wurde. Dabei platzten die Scheiben und ebenso die Reifen.
Eine angespannte Stimme aus dem Funkgerät ließ Volkerts die Stirn furchen. Es passte so überhaupt nicht zu seinen Einsatzkräften, die allesamt Profis mit langer Erfahrung waren. »Meldung wiederholen«, bat er.
»In einem der hinteren Räume haben wir zwei Tote gefunden. Vermutlich durch Rauchgasvergiftung ums Leben gekommen. Beginnen mit der Bergung«, kam es aus dem kleinen Lautsprecher.
»Verstanden«, bestätigte Volkerts.
Mit einem bitteren Fluch auf den Lippen schaltete er auf den anderen Kanal und forderte nunmehr weitere Kriminalbeamte über die Leitstelle an. Durch den Leichenfund reichte es nicht mehr aus, lediglich Brandursachenermittler zur Ballastbrücke zu beordern. Zwei tote Menschen, die wahrscheinlich den giftigen Rauch eigeamtet hatten und daran gestorben waren. Kein schöner Tod. Da Brandstiftung nach den bisherigen Erkenntnissen mehr als wahrscheinlich war, musste jetzt die Kripo ran.
»Wehe dir, Jansen. Wenn diese Schweinerei auf deine Kappe geht, war’s das endgültig«, schimpfte Volkerts halblaut vor sich hin. Der Hauptbrandmeister achtete aber sorgsam darauf, dass keiner der vielen Reporter es hören konnte. Die Absperrungen waren löchrig und die Medienleute fanden fast immer einen Weg, sich durchzumogeln. Sollte einer die Flüche von Volkerts aufschnappen, konnte es üble Folgen für den Feuerwehrmann haben. Darauf war er wirklich nicht scharf.
Eine heftige Explosion rollte über die Förde, deren Druckwelle viele Feuerwehrmänner von den Füßen holte und die Fenster der Wohnungen auf der anderen Straßenseite eindrückte. Volkerts ging ebenfalls zu Boden, spürte, wie brennende Trümmerteile um ihn herum niedergingen. Verzweifelt schaute er zu den Kameraden hinüber, die von der Explosion erheblich schlimmer getroffen worden waren.
Erst der Klang vieler Martinshörner hatte Henrik Bargen an Deck gelockt. Er schaute über die Förde hinüber zur Ballastbrücke. Dabei wischte er seine von Öl und Fett verschmierten Hände an einem Tuch ab.
»Scheint richtig übel zu sein«, rief Kalle.
Sein Schiff lag im Museumshafen direkt neben Bargens »Sinje«, einem alten Haifischkutter aus Dänemark. Der Freund des Privatdetektivs schaute besorgt übers Wasser. Beide Männer ignorierten den leichten Nieselregen, der an diesem 14. März seit den frühen Morgenstunden Flensburg durchnässte. Am Abend kam noch starker Wind dazu, der sich von drei bis auf sechs Beaufort gesteigert hatte. Diese Bedingungen erschwerten es den Feuerwehrleuten erheblich, den Brand unter Kontrolle zu bekommen.
»Der Wind facht es an«, erwiderte Henrik.
Keiner der beiden Männer sprach es laut aus, doch sie waren heilfroh, dass dieses Feuer auf der anderen Seite der Förde tobte. Ansonsten wäre es vielleicht sogar für die Schiffe im Museumshafen gefährlich geworden.
»Ist das dein Telefon?«, fragte Kalle.
Erst jetzt registrierte Henrik das anhaltende Klingeln. Es kam eindeutig von unter Deck, wo Sonja es sich mit einem dicken Buch gemütlich gemacht hatte.
»Nö, Sonjas. Ich schau mal nach«, erwiderte Henrik.
Er stopfte das dreckige Tuch in die Tasche seines Overalls und ging unter Deck. Beim Anblick seiner schlummernden Freundin glitt ein Schmunzeln über sein Gesicht. Nicht einmal das lärmende Handy störte ihren Schlaf. Henrik beugte sich über den flachen Tisch und rüttelte sanft Sonjas Schulter. Mit einem leisen Ausruf fuhr sie auf und schaute sich verwirrt um.
»Sorry, Liebes. Dein Handy«, entschuldigte sich Henrik.
Die Hauptkommissarin schnappte sich ihr Telefon und meldete sich nunmehr hellwach. Henrik ahnte, was gleich passieren würde. Er lehnte sich gegen einen der Einbauschränke und lauschte Sonjas einsilbigen Kommentaren.
Schließlich beendete sie das Gespräch und schaute Henrik mit einem Kopfschütteln an. »In einem der brennenden Häuser wurden zwei Tote entdeckt. Da alles nach Brandstiftung aussieht, muss ich hin«, erklärte sie.
Er nahm es mit Gelassenheit auf, auch wenn sich automatisch sorgenvolle Gedanken in seinem Kopf einfanden. Henrik wusste, wie gefährlich der Job als Hauptkommissar sein konnte. Doch Sonja war sehr erfahren und schätzte es nicht, wenn er seine Besorgnis allzu offen zeigte. Also erwiderte Henrik den flüchtigen Kuss und folgte seiner Freundin an Deck.
Während Sonja über die kurze Gangway an Land lief, winkte sie Kalle zu. Der weißhaarige Mann schaute der Hauptkommissarin einige Sekunden hinterher, bevor er sich Henrik zuwandte, der nun am Türrahmen des Steuerhauses lehnte. »Großartiges Mädchen«, stellte er fest.
Dem konnte Henrik nur zustimmend. »Jipp. So, nun muss ich zusehen, ob ich die Bürsten auf den Schleifringen austauschen kann. Wenn nicht, wird es wieder einmal teuer«, erwiderte er.
Aktuell bereitete Henrik die Dieselmaschine seines Kutters einige Kopfschmerzen. Wenigstens zwei Krümmer mussten ersetzt werden und auch andere Verschleißteile hatten ihr Gebrauchsende erreicht. Im Grunde hangelte Henrik sich von einem Provisorium zum nächsten. Wesentlich sinnvoller wäre eine Generalüberholung des gesamten Motors gewesen, doch dafür mangelte es am erforderlichen Geld. Er kletterte wieder unter Deck in den Maschinenraum und machte sich an die Arbeit.
Alles lief wie am Schnürchen. Birte Hallweg war zufrieden mit ihrem Anschlag auf das illegale Lager für Sondermüll. Wieder einmal hatte Vurm bewiesen, wie zuverlässig seine Quellen waren. Birte war in das Haus an der Ballastbrücke eingedrungen und hatte die unmarkierten Fässer im Raum gefunden, so wie es ihr gesagt worden war. Dann hatte sie die vorbereiteten Brandsätze platziert und das Haus genauso unbemerkt verlassen, wie sie es betreten hatte. Für eure Sünden sollt ihr büßen, dachte sie voller Inbrunst. Birte verabscheute Menschen wie diesen Bertram Jansen, der lieber seinen Profit steigerte, als Giftmüll ordnungsgemäß zu entsorgen. Als langjährige Ökoaktivistin hatte sie gelernt, dass man mit Demonstrationen oder Petitionen nicht weit kam. Der Filz zwischen Politik, Verwaltung und Unternehmern war schlicht zu stark. Nur mit solch radikalen Aktionen ließen sich Umweltsünder wie Jansen treffen.
Auf dem kleinen Fernsehgerät auf der alten Kommode flimmerten die Bilder vom Feuer an der Ballastbrücke. Birte grinste zufrieden vor sich hin, während sie vom Fenster hinübereilte und den Ton lauter drehte.
»Erste Hinweise deuten darauf hin, dass es sich um Brandstiftung handelt. Doch allein deswegen ist die Kriminalpolizei nicht vor Ort erschienen«, berichtete ein Reporter.
Demnach hatten die Feuerwehrleute die Fässer mit dem hochgiftigen Sondermüll offenbar bereits entdeckt und entsprechend gehandelt.
»Jetzt geht es dir endlich an den Kragen, Jansen, du Schwein«, stieß Birte angewidert hervor.
Sie wollte sich gerade wieder zum Fenster umdrehen, als ihr Blick die typischen Umrisse eines Sarges im Fernsehen registrierte. Mit gefurchter Stirn beugte Birte sich vor und starrte auf den zweiten Sarg, der soeben in einen schwarzen Van geschoben wurde. Mit ein wenig Mühe konnte sie die Aufschrift »Rechtsmedizinisches Institut« entziffern. Verwirrt richtete sie sich wieder auf.
»Wie uns soeben von einem Feuerwehrmann bestätigt wurde, kamen zwei Menschen bei dem Brand ums Leben. Über ihre Identität oder die näheren Umstände des Todes liegen bislang jedoch keine Erkenntnisse vor«, erklärte der Reporter.
Ein kalter Schauer rann an Birtes Rückgrat hinunter. Sie schüttelte abwehrend den Kopf. Wie konnten zwei Menschen bei dem Feuer ums Leben gekommen sein? Birte war versichert worden, dass sich zu dieser Uhrzeit niemand mehr im Gebäude befinden würde. Sie hatte zur Sicherheit alle Räume kurz überprüft. Diese Menschen mussten in einem der anderen Häuser gewesen sein, auf die das Feuer übergegriffen hatte. Das war viel schneller und heftiger passiert, als von Vurm vorhergesagt. Birte kämpfte gegen die aufsteigende Übelkeit an. Dann wirbelte sie herum und rannte ins winzige Badezimmer, um sich würgend in die Toilette zu übergeben. Eine Minute später ließ der Brechreiz nach. Birte sackte mit wackligen Knien zu Boden, fuhr sich mit dem Ärmel ihres Pullovers über das von kaltem Schweiß bedeckte Gesicht. Ihr Blick war zwar starr auf die Tür zum Gang gerichtet, doch Birte nahm um sich herum überhaupt nichts mehr wahr. Ihre Gedanken wirbelten wie in einem Mixer durcheinander.
*
Frank ließ sich vom Taxi unmittelbar an der Absperrung absetzen. Der Anruf von Sonja hatte ihn bei der Vorbereitung der Steuererklärung erwischt. Die Bitte um Unterstützung kam daher sehr gelegen, um sich von dieser ungeliebten Aufgabe zu lösen. Er zahlte den Fahrpreis, ließ sich die Quittung aushändigen und stieg aus. Kaum hatte er eingeatmet, verursachte der Rauchanteil in der Luft einen leichten Hustenreiz. Frank trat zu dem uniformierten Kollegen und wies sich aus.
»Hauptkommissar Reuter. Frau Martenson erwartet mich«, sagte er.
Der Obermeister notierte sorgsam die Angaben aus dem Dienstausweis auf einem Formular. Erst dann hob er das Absperrband an und ließ Frank passieren. Der eilte zu den abgestellten Dienstwagen seiner Kollegen aus der Inspektion, die für alle Gewaltverbrechen in Flensburg und Umgebung zuständig waren. In seinem eigenen Zuständigkeitsbereich, der alle Fälle mit grenzüberschreitender Wirkung umfasste, herrschte zurzeit Ruhe. Als er zu Sonja und Kommissar Fechner trat, wanderte Franks Blick automatisch über die herumeilenden Einsatzkräfte.
»Hallo, Frank. Danke, dass du so schnell kommen konntest. Bastian ist immer noch auf Fortbildung und Helga hat sich heute krankgemeldet. Diese verdammte Grippe hat nun auch unser Dezernat erreicht«, begrüßte ihn die Hauptkommissarin.
»Kein Problem. Was genau haben wir denn hier?«, fragte Frank.
Der schmal gebaute Jo Fechner gab einen kurzen Abriss der Ereignisse. Als er von den beiden Toten berichtete, war seine Stimme heiser und der Blick seiner Augen von tiefer Trauer erfüllt. Der sensible Kommissar war zwar ein Profi mit langjähriger Erfahrung, doch die vielen Toten und Verletzten berührten ihn immer wieder aufs Neue.
»Wisst ihr schon mehr über die Opfer?«, erkundigte Frank sich.
»Nein. Ihre Kleidung wurde durch das Feuer schwer beschädigt. Zum Teil ist sie mit der Haut verschmolzen. Die erste Leichenschau hat uns immerhin das Geschlecht geliefert. Es handelt sich um zwei Männer, die definitiv noch am Leben waren, als das Feuer sie erfasste«, antwortete Sonja.
Sollten die Opfer Brieftaschen mit Ausweispapieren bei sich gehabt haben, waren diese vermutlich durch die Hitze des Feuers vernichtet worden. Bei lebendigem Leib verbrannt. Frank spürte Ekel in sich aufsteigen. Wer immer für diese Brandstiftung, so viel hatte er schon aus den Nachrichten im Autoradio erfahren, verantwortlich war, hatte nun auch zwei Menschenleben auf dem Gewissen.
»Wem gehören die Häuser? Ist der Eigentümer schon informiert worden?«, fragte Frank weiter.
Die drei Ermittler blieben neben dem Passat von Hauptkommissarin Martenson stehen, um den immer noch umherhastenden Feuerwehrleuten nicht in die Quere zu kommen. Obwohl der böige Wind den beißenden Rauch wegwehte, kratzte er ihnen trotzdem im Hals. In regelmäßigen Abständen hustete jeder von ihnen. Frank ließ den Blick über die verwüsteten Gebäude wandern, bis hinüber zu den geborstenen Fensterscheiben an den Häusern auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
»Alle Häuser gehören einem Bauunternehmer. Sein Name lautet Bertram Jansen. Er ist auf dem Weg hierher«, erwiderte Sonja.
Bei der Erwähnung des Namens bemerkte Frank aus dem Augenwinkel, wie sich Fechners Gesicht verzog. Er wurde hellhörig.
»Du kennst Jansen?«, fragte er den Kommissar.
Jo hustete und warf einen finsteren Blick auf die Front der vom Rauch geschwärzten Gebäude. »Allerdings. Jansen ist ein krummer Hund, der es mit den Vorschriften nicht so genau nimmt. Er wurde bereits mehrfach angeklagt, Sondermüll nicht sachgerecht entsorgt zu haben. Entweder kam er mit einer Strafzahlung davon oder er konnte die Schuld auf irgendeinen armen Subunternehmer abwälzen«, sagte er dann.
»Außerdem hat der Zoll auf Jansens Baustellen schon öfter Arbeiter aus dem Ostblock aufgegriffen, die ohne Arbeitserlaubnis unterwegs waren«, ergänzte Sonja.
Bevor Frank etwas erwidern konnte, kam ein hochgewachsener Mann auf die Ermittler zugeeilt. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, brachte er keine guten Nachrichten mit. Frank kramte in seinen Erinnerungen, da ihm das Gesicht vertraut erschien.
»Frau Martenson, Herr Fechner. Ach, und Herr Reuter ist auch wieder mit von der Partie«, grüßte der Mann in die Runde.
Im nächsten Augenblick wusste Frank, wen er vor sich hatte. Hauke Thordsen hatte in einem anderen Fall ebenfalls schon als Brandursachenermittler seinen fachlichen Rat gegeben.
»Moin, Herr Thordsen. Was haben Sie für uns?«, fragte Sonja.
Der Spezialist hielt ein Messgerät in die Höhe. »Hiermit haben die Kollegen von der Feuerwehr die Giftstoffe im Luftgemisch aufgezeichnet. Sowohl die einzelnen Substanzen als auch deren Konzentration ist alarmierend«, erklärte Thordsen.
Da er wusste, dass die Ermittler sich später die vollständigen Gutachten in Ruhe durchlesen würden, fasste er seine vorläufigen Erkenntnisse allgemeinverständlich zusammen.
»Es spricht viel dafür, dass in dem einen Gebäude Sondermüll unsachgemäß gelagert wurde und sich mit dem eingesetzten Brandbeschleuniger zu einem schlimmen Gemisch verband. Die beiden Toten haben möglicherweise geschlafen und zu viel der giftigen Gase eingeatmet. Es würde erklären, warum sie nicht versucht haben, dem Feuer zu entkommen«, sagte er.
Die drei Ermittler tauschten einen Blick aus. Die Aussage von Thordsen verstärkte den bereits existierenden Verdacht gegen Bertram Jansen.
»Danke. Sobald Ihr Bericht uns vorliegt, lade ich Sie mit Sicherheit zu einer Besprechung ein«, wandte Sonja sich an den Brandursachenermittler.
Thordsen nickte knapp, bevor er sich wieder in Richtung einer Gruppe von Feuerwehrleuten in Spezialanzügen entfernte.
»Bin gespannt, wie Jansen sich dieses Mal aus der Verantwortung stehlen will«, stieß Jo Fechner hervor.
Darauf sollten sie wenige Augenblicke später die Antwort von dem eintreffenden Bauunternehmer erhalten.
Nach fast zwei Stunden mühevollen Werkelns an der alten Dieselmaschine hatte Henrik die Nase gestrichen voll. Er sah ein, dass er einige Neuteile würde kaufen müssen. Von welchem Geld, stand allerdings noch in den Sternen. Henrik kletterte aus dem Maschinenraum, wusch sich den Dreck von den Händen, entfernte einige Ölflecke aus dem Gesicht und schlüpfte in normale Alltagskleidung. Nach einem Blick in den nahezu leeren Kühlschrank beschloss der Privatdetektiv, wenigstens Geld für eine ordentliche Mahlzeit sowie ein oder zwei gepflegte Biere auszugeben. Als er die Tür zum Steuerhaus von außen verriegelte, meldete sich die knorrige Stimme seines Freundes vom Nachbarboot.
»Du willst auf die Piste?«, fragte Kalle.
Mit einem Grinsen drehte Henrik sich um. Sie kannten sich lange genug, sodass er Kalles Gedanken ahnte. »Die Reparatur hat nur Zeit gekostet und nichts eingebracht. Jetzt brauch ich ein anständiges Essen und einige geistige Getränke. Wie sieht’s aus? Leistest du mir Gesellschaft?«, erwiderte er daher.
Die blauen Augen leuchteten unter den fast weißen Haaren des ehemaligen Bauunternehmers auf. Kalle stülpte sich gleich darauf eine speckige Mütze auf und eilte über die Gangway an Land, um sich Henrik anzuschließen. Da er weder erst abschließen noch sein Portemonnaie holen musste, hatte er offenbar bereits auf der Lauer gelegen. »Zum Finnen?«, fragte er hoffnungsvoll und meinte damit die gemütliche Kneipe von Jari Ecklöf, der sich vor einem Jahr in Flensburg niedergelassen hatte. Er war fast 20 Jahre als Koch zur See gefahren, bevor ihn die Liebe in die Fördestadt verschlagen hatte. Die Frau war inzwischen weg, doch Jari war geblieben, und seine Kneipe fand regen Zuspruch, nicht nur unter den Museumsschiffern.
»Damit ich mir wieder den Mund verbrenne?«, scherzte Henrik.
Den Finnen zeichneten zwei Dinge aus: Er war dürr wie eine Bohnenstange und würzte sein Essen schärfer als jeder mexikanische Koch. Henrik hatte dies bei seinem ersten Besuch nicht erwartet und spielte nun mit seinem Einwand darauf an.
Kalle versetzte ihm einen gutmütigen Klaps gegen den linken Oberarm. »Jetzt kennst du ja seine Vorliebe für scharfe Gerichte, also besteht in dieser Hinsicht keine Gefahr«, sagte er.
Dafür würde die Getränkerechnung wieder astronomisch ausfallen. Kalle war kein Kostverächter und Henrik hatte bereits böse Erfahrungen mit dessen Trinkfestigkeit machen dürfen. Doch allein die Gesellschaft seines Freundes überwog alle Bedenken, daher willigte er ein und das ungleiche Duo trabte los. Kalle, der kompakt gebaute Mann jenseits der 60, und Henrik, der rotblonde Privatdetektiv von mittlerer Statur. Durch einen Dienstunfall war er bereits im Alter von nicht einmal Mitte 40 pensioniert worden. Während die Bezüge zwar zum einfachen Leben allemal ausreichten, sah es beim Unterhalt seines historischen Fischkutters anders aus. Er diente Henrik als Wohnsitz und erlaubte ihm gelegentliche Ausflüge in die Ostsee hinauf bis in die dänische Südsee. Für die dauernden Instandsetzungen reichte die Pension nicht aus, weshalb Henrik immer wieder Aufträge als Privatdetektiv übernahm.
Nach einem Fußmarsch von gut zehn Minuten erreichten sie Jaris Kneipe, die er nach seiner Heimatstadt schlicht »Oulu« getauft hatte. Henrik überließ Kalle den Vortritt. Als er die Eingangstür hinter sich ins Schloss hatte fallen lassen und den dicken Vorhang, der den winzigen Vorraum vom eigentlichen Gastraum trennte, mit der Rechten teilte, empfing ihn lautes Stimmengewirr. Die wilden Klänge der Leningrad Cowboys verstärkten den Krach noch, was Henrik mit einem gequälten Kopfschütteln quittierte.
»Wir haben Glück. Hinten am Tresen ist noch Platz«, rief Kalle und schob sich dann durch die dicht an dicht stehenden Tische.
Henrik wusste, dass sich sein Gehör schnell anpassen würde, und folgte seinem Freund.
Hinterm Tresen stand wieder einmal eine neue Bedienung. Ihre grellblonden Haare waren von violetten Strähnen durchzogen. Als die beiden Männer die letzten freien Barhocker erobert hatten, warf sie ihnen einen fragenden Blick aus schwarz umränderten Augen zu.
Kalle deutete auf den Bierhahn und hob dann zwei Finger in die Höhe. »Getränke laufen«, stellte er zufrieden fest.
Damit konnten sie sich der übersichtlichen Speisekarte zuwenden, die im Format Din A5 in einem kleinen Metallständer vor ihnen stand. Bevor Henrik sich allerdings für eines der angebotenen Gerichte entscheiden konnte, vibrierte sein Handy in der Jackentasche. Er warf einen Blick auf die angezeigte Rufnummer im Display.
»Dr. Kersten. Ich geh raus zum Telefonieren«, sagte er zu Kalle. Dann schnappte er sich seine Jacke und drängte sich zwischen den Tischen hindurch zur Eingangstür.
Als Henrik an der frischen Luft war, kam diese ihm überhaupt nicht mehr so vor. Nach der warmen, abgestandenen Luft in der Kneipe war die nach Chemie stinkende Außenluft wahrlich keine Erfrischung. Henrik nahm den Anruf an und lauschte gleich darauf der Stimme des bekannten Strafverteidigers.
»Ich hätte einen Auftrag für Sie. Könnten Sie gleich morgen mit Recherchen für mich beginnen?«, wollte Dr. Kersten wissen.
Henrik schickte ein stilles Dankgebet zum Himmel. Offenbar hatte da oben jemand seine finanzielle Notlage erkannt und wollte Abhilfe schaffen.
»Kein Problem. Soll ich zu Ihnen in die Kanzlei kommen?«, antwortete er.
Doch den Weg nach Schleswig musste Henrik nicht antreten.
»Ich habe seit zwei Monaten eine Partnerkanzlei in Flensburg. Jemand wird sich morgen bei Ihnen melden und Ihnen die Details mitteilen sowie den üblichen Vorschuss auszahlen«, erklärte Dr. Kersten.
Die bisherige Zusammenarbeit mit dem Strafverteidiger war immer ausgesprochen reibungslos verlaufen. Dr. Kersten zahlte ohne Murren die Tagessätze und übernahm die erforderlichen Ausgaben für Recherchezwecke. Da er sich auch darauf eingelassen hatte, dass Henrik niemals relevante Erkenntnisse vor der Polizei verschwieg, war ihr Arrangement für beide Seiten zufriedenstellend.
»Können Sie mir schon verraten, wer Ihr Mandant ist und was ihm zur Last gelegt wird?«, erkundigte sich Henrik.
Seine Augenbrauen ruckten überrascht in die Höhe, als Dr. Kersten den Namen nannte. Automatisch wanderte Henriks Blick in Richtung der Ballastbrücke, die kaum mehr als drei Kilometer Luftlinie von hier entfernt war. Er sagte zum Abschied zu, mit seiner Arbeit gleich am nächsten Tag zu beginnen. Danach schob Henrik das Handy zurück in die Innentasche seiner Jacke und kehrte zu seinem Platz am Tresen zurück.
Gedankenverloren bestellte er sich einen Eintopf nach Art des Hauses, ohne um mildes Würzen zu bitten. Als er dann auch noch sein Bier in einem großen Schluck leerte und nur für sich allein nachbestellte, wandte Kalle sich an ihn.
»Was ist los, Henrik? Seit diesem Telefonat bist du völlig abwesend«, fragte er. Gleichzeitig machte er der Barkeeperin mittels Gesten klar, dass er ebenfalls ein weiteres Pils trinken wollte und sie ihnen zusätzlich zwei Schnäpse servieren sollte.
Henrik sortierte seine Gedanken und stellte seinem Freund eine Gegenfrage, ohne selbst Antworten zu liefern.
»Kennst du Bertram Jansen?«
Kalle krauste überrascht die Stirn. »Klar kenne ich den Bertram«, erwiderte er dann.
Da Henrik wusste, dass sein Freund keine Plaudertasche war, erzählte er von seinem neuen Auftrag. Kalle starrte einige Sekunden ins Leere, dann nahm er das Schnapsglas und prostete seinem Freund zu. Kaum hatte Henrik sein Glas geleert, orderte sein Bootsnachbar schon die nächste Runde.
»Langsam, langsam. Ich muss morgen einen klaren Kopf haben«, bremste Henrik ihn. »Was kannst du mir über Jansen erzählen? Könnte er tatsächlich selbst für die Brandstiftung verantwortlich sein?«
Kalle warf einen prüfenden Blick auf die anderen Gäste in ihrer Nähe, bevor er antwortete. Niemand interessierte sich für ihr Gespräch.
»Ja, denkbar. Jansen ist schon lange im Geschäft und wie du weißt, wird in der Baubranche mit harten Bandagen gekämpft. Die sogenannte warme Sanierung zählt sicherlich zu seinem Repertoire«, sagte er.
Diesen seltsamen Begriff hatte Henrik bereits in seiner Jugend öfter gehört. Damit wurde blumig umschrieben, wenn Eigentümer ihr eigenes Haus in Brand steckten, um sich durch die Zahlung der Versicherung von Schulden zu befreien. Dass es offenbar auch von Bauunternehmern als gängige Methode eingesetzt wurde, war ihm neu. So wirklich überraschend fand Henrik es jedoch nicht.
»Scheinbar verdächtigt die Kripo Jansen. Er wurde zur Vernehmung einbestellt und hat Dr. Kersten mit seiner rechtlichen Vertretung beauftragt«, sagte er.
»Und du sollst die Beweise liefern, dass Jansen nichts damit zu schaffen hat? Das dürfte ein interessanter Fall werden«, erwiderte Kalle.
Während des Essens sprachen sie wenig. Wie meistens leerte Kalle seinen Teller zügig und orderte gleich danach etwas Hochprozentiges, um damit die Verdauung anzuregen.
Als die Bedienung auch Henrik ein weiteres Schnapsglas hinstellte, wehrte der schnell ab. »Sorry, Kalle. Ich muss den Abend jetzt beenden. Sonst kann ich morgen nicht ordentlich arbeiten«, sagte er und legte 30 Euro auf den Tresen.
Kalle protestierte zwar, akzeptierte zum Schluss aber den Wunsch seines Freundes. Henrik verabschiedete sich und verließ das Oulu. Das leichte Sodbrennen ließ ihn auf dem Heimweg mehrfach aufstoßen.
»Hätte daran denken sollen, Jari vom Würzen abzuhalten«, brummelte er vor sich hin, während er an einer roten Fußgängerampel auf den Signalwechsel wartete. Den kritischen Seitenblick einer Frau, die sein Selbstgespräch registrierte, bemerkte er dabei gar nicht. Kaum erschien das grüne Männchen auf der Anzeige, eilte sie los und schaffte ordentlich Raum zwischen sich und dem Privatdetektiv. Henrik war jedoch so in seine Gedanken vertieft, dass er ihr Verhalten nicht zur Kenntnis nahm.
Als er über die Gangway an Bord der »Sinje« ging, wanderte sein Blick über die Förde. An den Häusern in Höhe der Ballastbrücke standen immer noch Einsatzfahrzeuge der Feuerwehr. Vermutlich nur noch als Brandwache.
Henrik öffnete die Tür zum Steuerhaus und fragte sich, ob Bertram Jansen tatsächlich selbst die Brandstiftung angeordnet hatte. Dafür benötigte der Unternehmer ein triftiges Motiv. Henrik wollte gleich am nächsten Tag herausfinden, ob es ein solches gab. Fehlte es, würde die Kripo es schwer haben, Jansen etwas nachzuweisen. Warum sollte der Bauunternehmer seine Häuser abfackeln lassen, wenn er dadurch nur wirtschaftliche Nachteile hatte?
Als er sich kurz darauf die Zähne putzte, wurde ihm Sonjas Abwesenheit schmerzlich bewusst. Er hatte es schätzen gelernt, nicht mehr ständig allein zu sein. Vermutlich würde die Hauptkommissarin bis in die tiefe Nacht hinein die anlaufende Ermittlung leiten. Es war fraglich, ob sie dann noch aufs Boot kommen würde. In solchen Fällen zog Sonja es meistens vor, ihre kleine Zweizimmerwohnung aufzusuchen. Mit einem letzten Gedanken an sie löschte Henrik das Licht über seiner Koje und glitt übergangslos in einen tiefen Schlummer.
In ihrer Brust schien sich eine Stahlklammer immer enger um die Lunge zusammenzuziehen. Birte versuchte seit Stunden, Vurm zu erreichen. Vergebens. Er ging nie an sein Telefon. Sie hatte mehrere dringende Nachrichten auf seinem Anrufbeantworter hinterlassen und ihre verzweifelte Lage geschildert. Birte schluckte schwer, marschierte dabei wie ein Tiger im Käfig durchs Zimmer. Ihre Überlegungen führten sie immer wieder ans gleiche Ziel.
»Du hast zwei Menschenleben auf dem Gewissen«, sprach sie den Satz wie ein Mantra vor sich hin.
In regelmäßigen Abständen sprang ihr Blick hinüber zum Fernsehgerät, immer in der Hoffnung, dass sich alles als ein dummer Irrtum herausstellen würde. Der Ton war abgestellt und auf dem Laufband am unteren Ende des Bildes wiederholten sich die schrecklichen Neuigkeiten nur noch. Verzweifelt wählte Birte nochmals die Rufnummer von Vurm. Sie lauschte dem Freizeichen und kaute dabei auf ihrer Unterlippe herum. Wieder nur die Mailbox, auf die sie bereits drei Nachrichten gesprochen hatte. Vurm wollte oder konnte nicht mit ihr telefonieren.
In einem Anfall blinder Wut schleuderte Birte das Handy mit großer Wucht gegen die Wand, sodass es in diverse Einzelteile zerbrach. Ein kleiner Regen aus Plastiksplittern flog umher. Erst Sekunden später wurde ihr bewusst, wie dumm ihr Verhalten gewesen war. Das Handy war ihre einzige Verbindung zu Vurm und nun hatte sie selbst die Nabelschnur zu ihrem Anführer gekappt.
Das Atmen fiel ihr zunehmend schwerer. Schließlich sah Birte nur noch einen Ausweg. Sie schnappte sich ihre Daunenjacke, stülpte die Wollmütze auf den Kopf und warf sich die Umhängetasche über die Schulter. Dann verließ sie in großer Eile die Wohnung, ohne den Fernseher oder das Licht auszuschalten. Auf der Treppe nach unten rannte sie fast einen jungen Mann über den Haufen, der sich hastig gegen die Wand drückte und ihr verwundert nachsah. Blind für alles um sie herum stürmte sie weiter bis zu dem Kleinwagen, den sie selbst in einer Nebengasse geparkt hatte. Mit fliegenden Fingern versuchte Birte den Türschlüssel ins Schloss des alten Seat zu schieben. Sie benötigte vier Anläufe, bis sich die Fahrertür endlich öffnete. Mit einem leisen Aufschrei warf Birte ihre Umhängetasche auf den Beifahrersitz und rutschte gleichzeitig hinters Lenkrad. Mühsam kontrollierte sie ihren Atem, fummelte den Zündschlüssel ins Schloss und startete den Motor. Der lief zunächst unrund, doch damit war Birte schon vertraut. Der Seat war so alt, dass er eigentlich bereits verschrottet hätte werden sollen. Doch als sie dem Werkstattbesitzer 500 Euro in bar anbot, ließ er sogar die Kennzeichen dran und Birte verfügte über einen motorisierten Untersatz.
»Mach schon«, befahl sie dem Motor mit sich überschlagender Stimme.
Birte rammte den ersten Gang ins Getriebe und ließ die Kupplung zu schnell kommen. Der kleine Wagen machte einen wilden Satz und nur durch eine schnelle Lenkbewegung konnte sie den Zusammenstoß mit dem Fahrzeug vor ihr am Straßenrand abwenden. Doch dadurch geriet der kleine Wagen unvermittelt in den fließenden Verkehr. Um ein Haar wäre Birte mit einem Taxi kollidiert, dessen Fahrer zum Glück geistesgegenwärtig auf die Gegenfahrbahn steuerte und anschließend wild hupte. Doch das scherte sie jetzt nicht. Der Seat beschleunigte und trug Birte aus der Stadt. Es konnte nur ein Ziel für sie geben: Vurm. Sie wollte ihn persönlich aufsuchen und mit ihm klären, wie es zu dieser fürchterlichen Katastrophe hatte kommen können. Es gab eine Notfalladresse in Kolding, zu der sie auf dem Weg war. Dort würde Birte entweder Vurm direkt antreffen oder jemanden, der zu ihm in permanentem Kontakt stand. Nach den Zwischenfällen beim G20-Gipfel in Hamburg hatten sich einige Mitstreiter von ihr ebenfalls dorthin auf den Weg gemacht. So entgingen sie der Verfolgung durch die Polizei.
Beim Einfädeln auf die A7 in Richtung Grenze verursachte Birte erneut fast einen Unfall. Erst als der Lkw-Fahrer ihr mehrfach die Lichthupe gab, erkannte sie das Problem. In ihrer Aufregung hatte Birte ganz vergessen, das Licht am Seat einzuschalten. Mit zittrigen Fingern holte sie das Versäumnis nach und atmete dann mehrfach tief durch. Jetzt nur nicht die Nerven verlieren, sagte sie sich.
Schließlich zeigten die ersten Hinweisschilder an, dass Birte demnächst die Grenze zu Dänemark erreichen würde. Alles hing davon ab, dass sie Vurm baldmöglichst zu sprechen bekam. Er würde ihr helfen können. Vermutlich hatte er auch bei der Kriminalpolizei in Flensburg Sympathisanten für ihre Sache, zu denen er Kontakt aufnehmen konnte. Birte klammerte sich mit aller Hoffnung an die vage Möglichkeit, dass die beiden Toten nicht durchs Feuer ums Leben gekommen waren. Nur das nicht.
Obwohl die Verkehrszeichen sie dazu aufforderten, die Geschwindigkeit ihres Wagens zu reduzieren, blieb Birtes Fuß auf dem Gaspedal kleben. Sie hatte es eilig und große Schwierigkeiten, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Vurm musste ihr helfen. Nur er war in der Lage dazu.
Im Scheinwerferlicht des Seat kam die eigentliche Grenzstation der Dänen zum Vorschein. Blaue Blinklichter warnten jeden Fahrer, dass er sich unmittelbar auf einen Kontrollposten zubewegte. Verwirrt schaute Birte zunächst auf die Lampen, dann wanderte ihr Blick zurück über die Motorhaube und erfasste die Silhouette eines uniformierten Mannes. Die bisher mühsam gebändigte Panik brach sich Bahn. Birtes Fuß drückte das Gaspedal bis zum Bodenblech durch.
*
So hatte sich Rene Christiansen die neue Aufgabe nicht vorgestellt. Als in seiner Kompanie nach Freiwilligen gesucht worden war, die an der dänisch-deutschen Grenze den Kontrolldienst übernehmen sollten, hatte er sich sofort gemeldet. Der langweilige Kasernentrott nervte Rene schon seit geraumer Zeit, also kam ihm der Aufruf gerade recht. Die ersten Monate, in denen er zusammen mit anderen Armeeangehörigen geschult worden war, wurden seinen Erwartungen noch gerecht. Doch dann holte Rene schon bald der Alltagsdienst an der Grenzstation Harrislee ein. Als Soldat durfte er nur in Ausnahmefällen die Ausweiskontrollen vornehmen, denn in der Regel blieb dies die Aufgabe der Polizeibeamten, denen Rene und seine Kameraden lediglich Unterstützung leisteten. In den ruhigen Nachtstunden standen die Soldaten oft allein am Grenzübergang, während die Polizisten im Container auf ihren Einsatz warteten.
Renes heutige Schicht war in zehn Minuten zu Ende. Außer ihm war nur sein Kamerad Per im überdachten Bereich vor dem Container. Er telefonierte gerade angeregt mit seiner neuen Flamme und schenkte Rene keine weitere Aufmerksamkeit. Dieser ließ daher den Stöpsel seines Smartphones im linken Ohr, um die Langeweile mit Musik zu bekämpfen. In regelmäßigen Abständen bewegte Rene sich innerhalb der Kontrollzone, um so den Kreislauf in Gang zu halten.
In seinem Ohr hämmerten gerade die deftigen Beats von Despacito, als er aus den Augenwinkeln die rudernden Armbewegungen von Per bemerkte. Verwirrt wandte Rene sich um und bemerkte erst jetzt die sich viel zu schnell nähernden Scheinwerfer eines aus Deutschland kommenden Wagens. In einem Reflex trat Rene mitten auf die Fahrbahn und hob die Hand, um den Fahrer zum Halten zu bewegen. Zu spät, schoss es ihm schon in der nächsten Sekunde durch den Kopf. Mit brutaler Gewalt traf die vordere Stoßstange auf Renes Beine. Sein gesamter Körper wurde wie eine Gliederpuppe in die Höhe geschleudert. Er krachte auf das Autodach, nahm den gesamten Vorgang wie in Zeitlupe wahr und wunderte sich, wieso er keinerlei Schmerzen verspürte. Die Welt drehte sich erneut und Rene krachte mit Wucht auf den nassen Asphalt. Schlagartig kam der Schmerz, und zwar mit solcher Härte, dass Rene laut aufschrie. Per hatte offenbar Alarm ausgelöst, denn das fliehende Fahrzeug wurde von einem Streifenwagen der Polizei verfolgt. Die Nacht wurde immer dunkler, dann spürte Rene auf einmal, wie ihn eine sanfte Hand scheinbar zur Ruhe brachte, und er schloss erleichtert die Augen.
Sonja hatte nur drei Stunden Schlaf bekommen und war dazu in ihr kleines Appartement in die Brixstraße gegangen. Nach einer schnellen Dusche am Mittwochmorgen füllte sie sich den starken Kaffee in den Thermobecher und verließ die Wohnung.
Der 15. März zeigte ein freundlicheres Gesicht als der Vortag. Die Sonne hatte die meisten Regenwolken vertrieben und ließ Flensburg im besten Licht erscheinen. Sonja nippte beim Gehen an ihrem Kaffee und atmete die frische Luft in tiefen Zügen ein. Vom chemischen Geruch am Vorabend war höchstens noch eine milde Note übrig, was ihre Laune zusätzlich aufhellte.
Auf dem Weg in die Direktion wollte Sonja noch kurz im Museumshafen vorbeischauen und Henrik einen guten Tag wünschen. Beschwingt erreichte sie den Hafen sechs Minuten später und schaute in Richtung der »Sinje«. Ihre Schritte wurden zunächst schneller, während ein Lächeln ihre Lippen umspielte, doch dann verlangsamte sie ihr Tempo plötzlich. Ihr fiel eine schmal gebaute Frau mit dunklen Haaren in einem geschäftsmäßigen Hosenanzug auf, die offenbar ebenfalls auf den historischen Kutter von Henrik zuhielt. Diese Frau hätte Sonja mit halb geschlossenen Lidern unter tausend anderen Menschen sofort erkannt. Ihre gute Laune verflog augenblicklich und sie blieb stehen. Die Rechtsanwältin hatte sie nicht bemerkt, rief etwas am Ende der Gangway und enterte gleich darauf das Deck der »Sinje«.
»Was hat die Tewes bei dir zu suchen?«, entfuhr es Sonja halblaut. Es war ein Schock, dass ausgerechnet diese Frau wie selbstverständlich Henrik Bargen auf seinem Kutter besuchte. Vor vielen Jahren war sie nur seine Rechtsanwältin in einem Verfahren gegen den ehemaligen Dienstherrn, die Bundespolizei, gewesen. Aus Henriks Erzählungen und späteren eigenen Beobachtungen wusste Sonja aber, dass sich daraus eine erotische Beziehung entwickelt hatte. Und das, obwohl Ulrike Tewes verheiratet und dreifache Mutter war. Doch dann wurde es noch komplizierter, weil sowohl Tewes Ehemann als auch ihr Schwiegervater in kriminelle Machenschaften verwickelt wurden. Ausgerechnet Henrik musste diese aufdecken und geriet dabei in einen Strudel aus Gewalt, bei dem schließlich auch Sonja eine Rolle als Kripobeamtin gespielt hatte. Am Ende existierte keine Beziehung zwischen Ulrike Tewes und Henrik mehr. Dafür hatte sich Sonja in den Privatdetektiv verliebt und er sich in sie. Bis vor wenigen Augenblicken waren dies die Tatsachen gewesen. Doch der Anblick der aparten Rechtsanwältin, die mit lässiger Selbstverständlichkeit an Bord des Haifischkutters ging, zog alles in Zweifel. Der erste Impuls von Sonja war, Tewes einfach zu folgen und so herauszufinden, was ihr Besuch bei Henrik zu bedeuten hatte. Doch der zweite Gedanke verhinderte die Umsetzung. Sonja spürte nagende Eifersucht in sich aufsteigen und war nicht bereit, sich mit einem solchen Auftritt selbst zu verletzen. Mit einer ruckartigen Bewegung wandte sie sich um und eilte in Richtung der Direktion davon.
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Die Stimmung in der Abteilung der Sonderburger Kollegen war angespannt. Frank erwartete natürlich keine fröhliche Willkommensparty, aber mit so viel Niedergeschlagenheit hatte er auch nicht gerechnet. Selbst Anne, die normalerweise eine Frohnatur in Reinkultur war, erwiderte seinen Gruß nur halbherzig.
Verblüfft ging Frank in May-Britts Büro, wo er die Kommissarin mitten in einem Telefonat antraf. Sie winkte ihn herein und deutete stumm auf den Besucherstuhl vor ihrem Schreibtisch. Während er wartete, rekapitulierte Frank die wenigen Informationen, die er der Mail am frühen Morgen auf seinem Computer entnommen hatte. Danach hatte in der zurückliegenden Nacht eine deutsche Autofahrerin einen Soldaten an der Grenzstation vorsätzlich überfahren und war anschließend geflohen. Es kam zu einer kurzen Verfolgungsjagd mit Polizeieinheiten, die in einem schweren Unfall mündete. Dabei wurde die Fahrerin des schrottreifen Škoda so schwer verletzt, dass die Ärzte im Krankenhaus sie in ein künstliches Koma versetzen mussten. May-Britt Oldsen, die Kommissarin aus Sonderburg, hatte Frank um ein Treffen um 8 Uhr hier in ihrer Dienststelle gebeten. Das kam nicht unerwartet, da sowohl Frank als auch May-Britt für ihre jeweilige Seite alle Fälle mit grenzüberschreitenden Ermittlungen zu leiten hatten. Während Frank in Flensburg allein dafür zuständig war, aber nach Bedarf durch Hauptkommissarin Martenson und ihr Team unterstützt wurde, konnte May-Britt permanent auf zwei Mitarbeiter zugreifen.
»Hallo, Frank. Sorry für die Verzögerung. Wir glauben mittlerweile, die wahre Identität der Fahrerin zu kennen«, unterbrach sie Franks Gedankengang, nachdem sie den Telefonhörer aufgelegt hatte.
»Moin. Was ist passiert? Anne und Henner verhalten sich fast so, als wenn es einen Anschlag aufs Königshaus gegeben hätte«, erwiderte er.
Mit einem tiefen Seufzen gab May-Britt einige Befehle über die Tastatur ihres Computers ein und drehte dann den Bildschirm so, dass Frank die Aufzeichnung einer Überwachungskamera ansehen konnte. Er wurde Zeuge, wie ein ahnungsloser Soldat an der Grenze von einem Skoda mit Hamburger Kennzeichen brutal überfahren wurde.
»Die Fahrerin hat unmittelbar vor dem Kontrollposten beschleunigt und den Soldaten mit voller Absicht überfahren. Dieses Video kennen wir auch erst seit zehn Minuten«, erklärte May-Britt.
Obwohl Frank schon schlimme Dinge während seiner beruflichen Laufbahn gesehen hatte, erschütterte ihn diese Aufnahme schwer. Die Fahrerin des Wagens hatte den Soldaten nicht versehentlich angefahren, sondern einen brutalen Mordanschlag auf ihn verübt. Kein Wunder, dass die dänischen Kollegen so schmallippig reagierten. Unwillkürlich gingen Frank die schlimmen Bilder ähnlicher Terroranschläge durch den Kopf.
»Das ist in der Tat grausam. Wie geht es ihm?«, fragte Frank.
Der Soldat hatte neben diversen Knochenbrüchen und zerfetzten Sehnen schwere innere Verletzungen erlitten. Die größte Gefahr ging allerdings von einer Kopfverletzung aus, die für den jungen Mann lebensgefährlich war.
»Er liegt ebenfalls im Koma. Wir konnten bislang weder ihn noch die Fahrerin zur Sache vernehmen«, antwortete May-Britt.
Im Wagen der Deutschen hatten die uniformierten Polizisten zwar eine Umhängetasche gefunden, doch darin befanden sich keinerlei Ausweispapiere. Es wurde genauso wenig ein Führerschein oder eine Fahrzeugzulassung entdeckt.
Frank erinnerte sich an May-Britts Eingangsbemerkung. »Ihr konntet die Frau mittlerweile identifizieren, sagtest du?«, hakte er nach.
Erneut tätigte May-Britt einige Eingaben über die Tastatur. Auf dem Monitor erschien gleich darauf die Fahndungsakte einer gewissen Birte Hallweg. Der Aufruf kam von der Hamburger Polizei, die in Verbindung mit kriminellen Handlungen im Rahmen des G20-Gipfels nach der als radikal bekannten Ökoaktivistin suchten.
Frank studierte die Angaben und nickte schließlich. »So langsam verstehe ich eure Wut«, sagte er.
May-Britt drehte den Monitor zurück zu sich und lehnte sich dann im Schreibtischstuhl zurück.
»Rene Christiansen ist gerade erst 22 Jahre alt geworden. Hallweg ist 24 und offenkundig seit längerer Zeit als radikale Aktivistin unterwegs. Was hat ihr ein dänischer Soldat getan, dass sie ihn brutal über den Haufen fährt?«, fragte sie.
Auf der Fahrt hierher hatte Frank sich dazu natürlich seine Gedanken gemacht. Doch eine hilfreiche These, wer für einen derartigen Anschlag in Betracht käme, hatte er dabei nicht entwickeln können.
»Ich habe bei uns im System nachgefragt, ob es irgendwelche Hinweise auf Verbrechen gibt, in die Hallweg verwickelt sein könnte. Nichts, wobei eine junge Frau eine Rolle gespielt haben könnte. Ehrlich gesagt können wir kein Motiv finden«, sagte die Kommissarin frustriert.
Da Hallweg unmittelbar vor dem Kontrollposten den Wagen erkennbar beschleunigt hatte, kam ein technisches Versagen ebenfalls nicht in Betracht. Was blieb dann noch?
Ein leiser Signalton meldete den Eingang einer neuen Mail an May-Britts Computer. Sie beugte sich vor und studierte den Inhalt. Frank sah, wie ihre Augenbrauen in die Höhe schossen und ihr Gesichtsausdruck sich verhärtete.
»Das ist eine Nachricht aus der Kriminaltechnik. Sie haben die Kleidung von Hallweg untersucht und sind dabei auf interessante Dinge gestoßen. Es existieren Anhaftungen zweier Substanzen, die als Brandbeschleuniger eingesetzt werden«, sagte sie.
Frank setzte sich auf und schaute die Kommissarin ungläubig an. »Hallweg und der Brand an der Ballastbrücke? Sonja glaubt, Bertram Jansen trägt dafür die Verantwortung«, stieß er hervor.
Auf einmal gab es eine Verbindung zwischen den Fällen und auch zwischen Jansen und Hallweg.
»Ein Bauunternehmer, der illegal Sondermüll entsorgen lässt, und eine radikale Umweltaktivistin. Das ergibt tatsächlich Sinn«, stellte er fest.
Die Erkenntnis setzte bei Henrik erst mit einer gewissen Verzögerung ein. Er stellte den Kaffeebecher ab und trat ins Freie, um die unerwartete Besucherin zu begrüßen. Sein Gehör hatte ihn nicht getäuscht; Ulrike Tewes stand auf dem Deck. Die Rechtsanwältin trug einen dunkelblauen Hosenanzug, dazu eine weiße Bluse sowie Pumps mit hohen Absätzen. Henrik konnte sich nicht gegen die Flut an Erinnerungen wehren, die ihn zu überwältigen drohten. Ulrike in seinen Armen, ihr schmaler Körper, der sich an seinen schmiegte.
»Moin, Henrik«, sagte sie mit einem flüchtigen Lächeln.
Er verjagte die Bilder aus seinem Kopf und erwiderte den Gruß, wobei seine Stimme heiser klang.
Ulrike musterte sein Gesicht. »Dr. Kersten hat mir mitgeteilt, dass du die Ermittlungen im Fall Bertram Jansen übernehmen sollst. Ist das noch so oder soll ich mir einen anderen Privatdetektiv suchen?«, fragte sie schließlich.
Ulrike Tewes war also die Partnerin des Strafverteidigers in Flensburg. Henrik hatte keine Sekunde darüber nachgedacht, obwohl es durchaus auf der Hand lag. Sie war sehr erfahren und genoss nicht ohne Grund einen guten Ruf. Henrik selbst hatte von Ulrikes Qualitäten als Rechtsanwältin profitiert.
»Nein, nein. Alles in Ordnung. Lass uns unter Deck gehen. Da können wir in Ruhe sprechen«, schlug er vor.
Er ging voraus und bot Ulrike vom frisch aufgebrühten Kaffee an, während sie auf der Sitzbank am Tisch Platz nahm. Bei diesem so vertrauten Anblick stürmten erneut Erinnerungen auf Henrik ein, die ihn irritierten. Er drehte sich der Küchenzeile zu und füllte den Becher langsam voll, um seine Gedanken wieder unter Kontrolle zu bekommen. Schließlich wandte er sich wieder um, stellte den Becher vor Ulrike ab und rutschte auf den Platz neben ihr.
Der schwache Duft ihres Parfüms stieg in seine Nase. Doch dieses Mal war Henrik besser darauf vorbereitet und deutete auf den Umschlag, den sie aus der Aktentasche gezogen hatte. »Das ist meine Bezahlung für eine Woche, korrekt?«, fragte er.
»So ist es. Einschließlich Spesen. Kersten hat mir gesagt, dass ihr es so vereinbart habt«, stimmte sie zu.
Henrik nickte, unterschrieb das bereits vorausgefüllte Formular und schob den Umschlag dann ungeöffnet auf die andere Seite des Tisches. Ulrike registrierte den Vertrauensbeweis mit einem flüchtigen Lächeln.
»Du hast Unterlagen zu eurem Mandanten, nehme ich an?«, wollte Henrik wissen.
Nachdem sie das Formular sorgsam in einer schmalen Mappe verstaut hatte, zog Ulrike eine dunkelgrüne Akte heraus und legte sie vor Henrik ab. Er öffnete sie und überflog die Zusammenfassung auf dem obersten Blatt. In ihrer gemeinsamen Vergangenheit hatte er bereits einige Male für Ulrike als Ermittler gearbeitet und war daher mit ihrer präzisen Vorbereitung gut vertraut. Der Umfang der Akte überraschte ihn.
»War Jansen schon früher dein Mandant?«, fragte er.
Tatsächlich hatte Ulrike den Bauunternehmer bereits in zwei Prozessen vertreten und dabei Freisprüche erreicht.
»Du hast bestimmt schon von Kalle einiges über Jansen gehört. Er hat sich vom einfachen Maurer hochgearbeitet und ein gut gehendes Bauunternehmen aufgebaut. Dass dabei auch Methoden zum Einsatz kamen, die sich häufig in der rechtlichen Grauzone bewegten, steht außer Frage. Offenbar ist er aber besonders Staatsanwalt Lorenz und Kommissar Fechner ein Dorn im Auge. Beide sehen in Jansen einen Kriminellen, auch wenn sie es bislang nicht beweisen konnten«, schilderte sie.
Henrik war Lorenz noch nie persönlich begegnet. Er wusste aber, dass auch Sonja viel von dem Staatsanwalt hielt.
»Du hast ihn verteidigt. Wie würdest du Jansen beschreiben? Traust du ihm eine Brandstiftung zu?«, hakte Henrik nach.
Sie ließ sich Zeit mit der Antwort, wog ihre Worte gewohnt vorsichtig ab.
»Wie gesagt. Jansen lotet gerne die Grenzen des rechtlich Zulässigen aus. Vermutlich würde er auch zum Mittel der Brandstiftung greifen, wenn er daraus einen wirtschaftlichen Vorteil ziehen könnte. Doch der ist in diesem Fall nicht vorhanden, weshalb die Anschuldigungen schlicht aus der Luft gegriffen sind«, antwortete sie schließlich.
Dennoch hatte der Staatsanwalt sofortige Untersuchungshaft erwirkt. Seine Argumente mussten einen neutralen Richter überzeugt haben.
»Wieso sitzt Jansen dann in U-Haft? Liegt noch etwas anderes gegen ihn vor?«, fragte Henrik daher.
Ulrike schüttelte den Kopf, beugte sich zu ihm hinüber und blätterte einige Seiten in der Akte um. Henrik sog den vertrauten Duft ihrer Haare ein und erinnerte sich, wie sie hier Arm in Arm gekuschelt hatten.