Forensisches Therapieprogramm für angemessenes Sexualverhalten - Leonardo Vertone - E-Book

Forensisches Therapieprogramm für angemessenes Sexualverhalten E-Book

Leonardo Vertone

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Beschreibung

Das Therapieprogramm für angemessenes Sexualverhalten (ThePaS) richtet sich an Jugendliche und junge Erwachsene, die grenzverletzendes Sexualverhalten gezeigt haben. Das primäre Ziel ist es, eine Verhaltensänderung bei den Teilnehmenden zu erreichen und so weiteren Delikten vorzubeugen. Das wissenschaftlich evaluierte Programm kombiniert kompetenz- und ressourcenorientierte Inhalte mit einem deliktfokussierten Vorgehen. Durch den modularen Aufbau ist es möglich, die Inhalte auf die jeweiligen Bedürfnisse der Jugendlichen abzustimmen. Kernstück des Programms bilden die 12 deliktfokussierten Pflichtmodule, die eine vertiefte Auseinandersetzung mit den verübten Grenzverletzungen ermöglichen. Je nach Bedarf können flexible Module hinzugezogen werden, die auf Wissenserwerb (Sexualaufklärung, Recht und Gesetze) oder auf das Erlernen sozialer und emotionaler Fertigkeiten (z.B. Umgang mit Gefühlen, mit schwierigen Situationen sowie Konflikten, Beziehungsaufbau) fokussieren. Das therapeutische Vorgehen orientiert sich dabei an kognitiv-verhaltenstherapeutischen Prinzipien und wird ausführlich für jedes Modul beschrieben. Zahlreiche Arbeitsmaterialien unterstützen die Durchführung und können nach erfolgter Registrierung von der Hogrefe Website heruntergeladen werden. Das Programm eignet sich für das Gruppensetting ebenso wie für das Einzelsetting und lässt sich sowohl im ambulanten als auch im stationären Rahmen durchführen. Das ThePaS schließt somit eine Versorgungslücke im deliktpräventiven Umgang mit jungen Personen mit grenzverletzendem Sexualverhalten.

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Leonardo Vertone

Marcel Aebi

Daniela Imbach

Thomas Best

Cornelia Bessler

Forensisches Therapieprogramm für angemessenes Sexualverhalten

Das ThePaS-Manual

Leonardo Vertone, lic. phil., geb. 1974. Fachpsychologe für Psychotherapie und Rechtspsychologie. Seit 2005 Mitarbeiter und seit 2020 Co-Leiter des Zentrums für Kinder- und Jugendforensik der Psychiatrischen Universitätsklinik (PUK) Zürich.

PD Dr. phil. Marcel Aebi, geb. 1971. Fachpsychologe für Psychotherapie und Rechtspsychologie. 2009 – 2017 Leiter der Forschung am Zentrum für Kinder- und Jugendforensik der PUK Zürich. Seit 2017 als forensischer Gutachter und Psychotherapeut in eigener Praxis tätig. Seit 2020 wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Forschung und Entwicklung, Justizvollzug und Wiedereingliederung des Kantons Zürich.

Daniela Imbach, lic. phil., geb. 1974. Fachpsychologin für Psychotherapie und Rechtspsychologie. 2004 – 2013 Mitarbeiterin in leitender Funktion am Zentrum für Kinder- und Jugendforensik der PUK Zürich. Seit 2012 als forensische Gutachterin, Psychotherapeutin und Supervisorin eigener Praxis tätig.

Thomas Best, lic. phil., geb. 1966. Psychologe, 1999 – 2004 Tätigkeit beim Amt für Justizvollzug des Kantons Zürich. 2005 – 2012 Tätigkeit in der Kinder- und Jugendforensik der PUK Zürich. Seit 2013 Behördenmitglied und Supervisor im behördlichen Kindes- und Erwachsenenschutz im Kanton Zürich.

Dr. med. Cornelia Bessler, geb. 1955. Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie sowie für Psychiatrie und Psychotherapie. Langjährige Tätigkeit in leitenden Funktionen in der Kinder- und Jugendforensik in Zürich, zuletzt von 2015 – 2020 als Chefärztin des Zentrums für Kinder- und Jugendforensik der PUK Zürich. 2020 – 2022 wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Forschung und Entwicklung im Amt für Justizvollzug und Wiedereingliederung des Kantons Zürich. Seit 2020 in eigener Praxis tätig.

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[email protected]

www.hogrefe.de

Satz: Sabine Rosenfeldt, Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen

Format: EPUB

1. Auflage 2024

© 2024 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen

(E-Book-ISBN [PDF] 978-3-8409-3141-3; E-Book-ISBN [EPUB] 978-3-8444-3141-4)

ISBN 978-3-8017-3141-0

https://doi.org/10.1026/03141-000

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|5|Vorwort von Prof. Dr. phil. Jérôme Endrass

Vor dreißig Jahren erschütterte ein schweres Verbrechen Zürich. Eine junge Frau wurde in einem Waldstück vor den Toren Zürichs tot aufgefunden. Der Schock der Bevölkerung wandelte sich rasch in Bestürzung und Wut, als der Täter ermittelt wurde. Es handelte sich um einen Sexualstraftäter, der bereits zuvor zwei Tötungsdelikte begangen hatte und zum Zeitpunkt der Tat in der Strafanstalt Regensdorf einsaß. Die Ermittlungen zeigten, dass der Täter während eines Hafturlaubs die junge Frau überfallen und vergewaltigt hatte und anschließend in die Strafanstalt zurückgekehrt war. Der Hafturlaub war bewilligt worden, damit der Täter außerhalb der Gefängnismauern einen Psychotherapeuten aufsuchen konnte. Im Rahmen einer parlamentarischen Enquete stellte sich heraus, dass der behandelnde Psychotherapeut weder eine Dokumentation über den Verlauf der Therapie angelegt noch Fortschritte (oder deren Ausbleiben) kommuniziert hatte. Die Therapie selbst war nicht fokussiert erfolgt, es war nicht wirklich nachvollziehbar, mit welchen Methoden gearbeitet worden war. Die Ergebnisse der Enquete ließen die Psychotherapie von Sexualstraftätern in einem schlechten Licht erscheinen. Zeitzeugen berichten dreißig Jahre später, dass es sich dabei nicht um einen Ausreißer in der psychotherapeutischen Szene handelte. Die Struktur- und Ziellosigkeit war beinahe Programm. Therapie galt als nicht messbar und schon nur die Forderung nach Ergebnisforschung wurde als unmögliche reduktionistische Forderung abgekanzelt.

Zur gleichen Zeit sorgte ein Psychotherapieforscher aus Bern für Aufsehen, der genau diese Immunisierung der Psychotherapiepraxis deutlich kritisierte. Klaus Grawe forderte, dass man sich wenigstens darüber erkundigen könne, ob es den Patientinnen und Patienten nach der Therapie besser gehe. Eine Forderung, die noch weit weg von modernen Untersuchungsdesigns zur Wirksamkeitsforschung war, aber immerhin die Notwendigkeit verdeutlichte, das Ziel der Therapie ins Auge zu fassen. Die Ergebnisse der Berner Forschungsinitiative setzten nicht nur eine Debatte im Gang, sie stieß auch weitere Untersuchungen an. Auch Psychotherapierichtungen, die gegenüber der Wirksamkeitsforschung eine eher kritische Haltung einnahmen, wie z. B. psychodynamische Ansätze, schlossen sich der breiten Forschungsinitiative an. Dies resultierte bis heute in über 200 Untersuchungen zur Wirksamkeit von psychodynamischen Therapien auf Grundlage randomisierter Kontrollgruppenstudien.

Knapp zehn Jahre nach dem von Klaus Grawe ausgelösten Diskurs wurde eine ähnlich gelagerte Debatte im Bereich der forensischen Psychotherapie ausgetragen. Im Gegensatz zum Berner Diskurs wurde in der Forensik allerdings nicht die Frage diskutiert, ob Wirksamkeitsforschung überhaupt erstrebenswert sei, sondern vielmehr darüber gestritten, wie Wirksamkeit belegt werden könne. Während eine Gruppe von erfahrenen Sexualstraftäter-Therapeutinnen und -Therapeuten ökologisch valide Untersuchungsmethoden forderte, drängten andere darauf, randomisierte Kontrollgruppendesigns zum Standard zu erklären. Dabei zeigten Metaanalysen, dass bis dato nur eine Handvoll Studien diese Kriterien erfüllte. Abgesehen von einer Studie handelte es sich dabei ausschließlich um Untersuchungen zu jugendlichen Sexualstraftätern. Während die randomisierte Kontrollgruppenstudie keinen Effekt der Psychotherapie bei erwachsenen Straftätern aufzeigen konnte, waren die Effekte bei Kindern und Jugendlichen deutlich ausgeprägt. Trotz der ermutigenden Befunde bei jugendlichen Straftätern nahmen einige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dieses Ergebnis zum Anlass, die Wirksamkeit von Therapien bei Sexualstraftätern überhaupt infrage zu stellen. Nachdem in den 1970er Jahren eine kriminologische Übersichtsarbeit zum inzwischen widerlegten Ergebnis gekommen war, dass rehabilitative Interventionen bei jugendlichen Straftätern aussichtslos seien, drohte ein neuer Nihilismus die Disziplin der forensischen Psychotherapie zu ergreifen.

|6|Dies war der Zeitgeist, mit dem die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler rund um das ThePaS konfrontiert waren. Sie setzten sich zum Ziel, klinisch gut fundierte Therapieansätze anhand möglichst stringenter methodischer Ansätze empirisch zu untersuchen. Es gelang ihnen dabei die Brücke zu schlagen, die in der forensischen Psychotherapieforschung zunächst noch als unüberwindbar erschienen war: das Spannungsfeld zwischen ökologischer Validität und randomisiertem Kontrollgruppendesign. Mit diesem Vorgehen steht die forensische Psychotherapieforschung gegenüber den wissenschaftlichen Entwicklungen im Bereich der allgemeinen Psychotherapie nicht mehr im Abseits.

Vor knapp drei Jahrzehnten wies eine parlamentarische Enquete gravierende Versäumnisse im Bereich der forensischen Psychotherapie auf. Es ist erfreulich, dass es der Disziplin gelungen ist, aus diesem Versagen zu lernen sowie fachliche Spannungen geschickt zu nutzen, um eine wissenschaftliche Initiative loszutreten, die als aktuellen Kulminationspunkt die Publikation des vorliegenden Therapiemanuals vorweisen kann.

Prof. Dr. phil. Jérôme Endrass Co-Leiter Forschung und Entwicklung, Justizvollzug und Wiedereingliederung Zürich Co-Leiter der Arbeitsgruppe Forensische Psychologie, Universität Konstanz

|7|Vorwort von Prof. Dr. med. Elmar Habermeyer

Als Erwachsenenforensiker und Klinikdirektor, der in der Begutachtung, Behandlung und Forschung Straftäter:innen über die gesamte Lebensspanne hinweg überblickt, bin ich vom Nutzen und der Wichtigkeit (früh ansetzender) präventiver Interventionen überzeugt. Gerade bei Sexualdelinquenz sind frühzeitige Reaktionen von Fachpersonen wichtig. Was geschieht, wenn diese ausbleiben, wurde dem Autor dieser Zeilen, der sich wissenschaftlich über Jahre hinweg mit gutachterlichen Fragestellungen im Kontext der Sicherungsverwahrung beschäftigt hat, in diesem Bereich wiederholt vor Augen geführt. Diese nicht zuletzt auf rezidivierende Sexualdelinquenten abzielende Maßregel steht nämlich am Ende von zumeist langjährigen Kriminalitätsentwicklungen, die oftmals schon mit einer einschlägigen Delinquenz im Jugendalter begonnen haben. Daher stellte sich bei Beschäftigung mit diesem Thema zwangsläufig auch die Frage, ob etwas und wenn ja, was genau, getan werden kann, um solche problematischen Verläufe zu verhindern.

Dabei erscheint gerade das Jugendalter mit seinen vielfältigen Lern- und Entwicklungspotenzialen als ein Zeitraum, in dem eine präventiv ausgerichtete therapeutische Arbeit besonders erfolgversprechend sein kann. Nicht zuletzt aus diesem Grund war es ausgesprochen verdienstvoll, dass im hiesigen Zentrum für Kinder- und Jugendforensik im Rahmen des ThePaS-Projekts über mehrere Jahre hinweg nach erfolgversprechenden Therapiemethoden gesucht wurde. Die beteiligten Mitarbeiter:innen haben mit hohem Engagement, über die initiale Konzeptualisierung mit Verschmelzung der allgemein-psychotherapeutischen und deliktpräventiven Arbeit hinweg, mit der anschließenden Manualisierung der Module, der Implementierung und Umsetzung der Inhalte im klinischen Alltag und der konkreten Planung der wissenschaftlichen Begleitung hervorragende Arbeit geleistet. Ihre Beharrlichkeit und Expertise mündete in der finalen fachlichen Ausarbeitung eines Therapieprogramms, das nun auch anderen Institutionen und Fachpersonen in Form eines Manuals zur Verfügung steht.

Dieses basiert auf einer spezifischen wissenschaftlichen Grundlage, ohne die pragmatisch-konkrete Ebene zu vernachlässigen, die erfahrene Praktiker:innen auszeichnet und im Umgang mit Jugendlichen, die grenzverletzendes Verhalten zeigen, erfolgsversprechend ist. Deswegen bin ich überzeugt, dass das vorliegende Manual einen Beitrag dazu leisten kann, dass jugendliche Sexualstraftäter nicht mehr einschlägig delinquieren. Damit lassen sich nicht nur ungünstige Delinquenzverläufe, sondern auch zukünftige Opfer verhindern, weshalb solche früh einsetzenden Therapien für die Gesellschaft von hohem gesellschaftlichen Interesse sind. Nicht zuletzt aus diesem Grund wünsche ich dem Manual eine angemessene Verbreitung und Erfolg auch in dem Sinne, dass die Leser:innen bei der Lektüre und der Arbeit mit dem Programm dazu stimuliert werden, über ihre Erfahrungen und mögliche Weiterentwicklungen nachzudenken und diese mit den Autor:innen zu diskutieren.

Prof. Dr. med. Elmar Habermeyer Direktor der Klinik für Forensische Psychiatrie, Psychiatrische Universitätsklinik Zürich

Inhaltsverzeichnis

Vorwort von Prof. Dr. phil. Jérôme Endrass

Vorwort von Prof. Dr. med. Elmar Habermeyer

Einleitung und Danksagung

Teil I Theoretischer Hintergrund

Kapitel 1  Sexuell grenzverletzendes Verhalten bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen

1.1  Sexuelle Entwicklung bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen

1.1.1  Sexualität als Entwicklungsprozess über die Lebensspanne

1.1.2  Befunde zum sexuellen Verhalten im Jugendalter

1.2  Sexuelle Übergriffe im Jugendalter

1.2.1  Jugendalter als Risikophase

1.2.2  Häufigkeiten von sexuellen Übergriffen aus der Perspektive der Geschädigten

1.2.3  Häufigkeiten von sexuellen Übergriffen aus Täterperspektive

1.2.4  Gesellschaftliche Reaktion auf sexuelle Grenzverletzungen Jugendlicher

1.3  Merkmale Jugendlicher, die sexuell grenzverletzendes Verhalten zeigen

1.3.1  Charakteristiken von Jugendlichen mit sexuell grenzverletzendem Verhalten

1.3.2  Sexuelle Opfererfahrungen und psychosoziale Belastungsfaktoren

1.4  Interventionen

1.4.1  Problematische Interventionen

1.4.2  Grundlagen von geeigneten Interventionen

1.4.3  Kognitiv-verhaltenstherapeutische Therapieansätze

1.4.4  Multisystemische Therapieansätze

1.4.5  Das Risk-Need-Responsivity-Prinzip

1.4.6  Good Lives Model und Ressourcenaktivierung

1.5  Wirksamkeit von Interventionen

1.5.1  Allgemeine Wirksamkeit von forensischen Therapien

1.5.2  Wirksamkeit von spezifischen Therapien für Jugendliche mit Sexualdelikten

Kapitel 2  Entwicklung und Evaluation des ThePaS-Behandlungskonzepts

2.1  Erste Entwicklung eines Behandlungsprogramms für Jugendliche mit Sexualdelikten

2.2  Entwicklung zweier Therapievarianten und Evaluation – Modellversuch ThePaS

2.2.1  Beschreibung der Studie

2.2.2  Design der Studie

2.2.3  Ein- und Ausschlusskriterien der Stichproben für beide Teilstudien

2.2.4  Ergebnisse der Teilstudie 1 – Allgemeine Wirksamkeit

2.2.5  Ergebnisse der Teilstudie 2 – Spezifische Wirksamkeit

2.2.6  Fazit aus dem Modellversuch

2.3  Notwendigkeit der Anpassung des Behandlungskonzepts

2.4  Das Konzept des ThePaS

Teil II Das Therapieprogramm

Kapitel 3  Klinische Anwendung

3.1  Rechtliche Rahmenbedingungen

3.1.1  Gesetzliche Rahmenbedingungen in der Schweiz

3.1.2  Gesetzliche Rahmenbedingungen in Deutschland

3.1.3  Gesetzliche Rahmenbedingungen in Österreich

3.2  Rechtliche Grundlagen für die Zuweisung zum ThePaS

3.2.1  Zuweisungsmodi in der Schweiz

3.2.2  Zuweisungsmodi in Deutschland

3.2.3  Zuweisungsmodi in Österreich

3.3  Zielgruppe: Indikation und Ausschlusskriterien

3.3.1  Alter und Geschlecht

3.3.2  Voraussetzungen für die Teilnahme

3.3.3  Erwartete Risikoverminderung

3.3.4  Art des grenzverletzenden Verhaltens

3.3.5  Ausschlusskriterien

3.4  Anmeldeprozess und Behandlungsvereinbarung

3.5  Abklärungsprozess und Vorgespräche

3.6  Setting und Aufbau des ThePaS

3.6.1  Gruppen- und Einzelsetting

3.6.2  Module und Ablauf des ThePaS

3.7  Struktur der Sitzungen

3.8  Abschluss des Programms

3.8.1  Abschlussprüfung

3.8.2  Abschlusszertifikat

3.8.3  Behandlungsbericht und Abschlussbeurteilung

3.8.4  Systemische Verankerung des absolvierten Programms

3.8.5  Booster-Sitzung

3.9  Allgemeine Hinweise für die Durchführung

3.9.1  Aktivierung der Teilnehmenden

3.9.2  Einsatz abwechslungsreicher Unterrichtsmethoden

3.9.3  Fokus auf Ressourcen und Fähigkeiten

3.9.4  Disziplin herstellen – Präzises Lob, präzise Kritik

3.9.5  Ansprache (Höflichkeitsform)

3.9.6  Neutralität und Objektivität

3.9.7  Gleichmäßiger Einbezug jedes Gruppenmitglieds

3.9.8  Transparenz – Klare Aufträge erteilen

3.9.10  Transfersicherung – Die Teilnehmenden arbeiten lassen

3.9.11  Repetition und Redundanz – Verankerung der wesentlichen Inhalte

3.9.12  Hausaufgaben

3.9.13  Arbeitsblätter

3.9.14  Hinweise auf Inhalte aus dem Internet

3.9.15  „Gender-Aspekte“

3.10  Infrastruktur

3.11  Qualifikation der Therapeut:innen

Kapitel 4  Module

4.1  Pflichtmodul P1: Einführung und Kennenlernen

4.2  Pflichtmodul P2: Lebensziele, Stärken und Fähigkeiten

4.3  Pflichtmodul P3: Umgang mit Sexualität und Pornografie

4.4  Flexibles Modul F1: Sexuelle Aufklärung

4.5  Flexibles Modul F2: Recht und Gesetze

4.6  Pflichtmodul P4 (Einzelsetting): Das grenzverletzende Verhalten verstehen

4.7  Flexibles Modul F3: Mein Körper

4.8  Flexibles Modul F4: Achtsamkeit

4.9  Flexibles Modul F5: Umgang mit Gefühlen

4.10  Pflichtmodul P5: Das grenzverletzende Verhalten vorstellen

4.11  Pflichtmodul P6: Bilanz ziehen und Veränderung anstreben

4.12  Flexibles Modul F6: Flirten und Beziehungsaufbau

4.13  Flexibles Modul F7: Umgang mit schwierigen Situationen

4.14  Flexibles Modul F8: Umgang mit Konflikten

4.15  Flexibles Modul F9: Nein sagen

4.16  Pflichtmodul P7.1: Empathie mit der geschädigten Person – Gefühle

4.17  Pflichtmodul P7.2 (Einzelsetting): Empathie mit der geschädigten Person – Perspektivwechsel

4.18  Pflichtmodul P8.1: Rückfallprophylaxe – Risikofaktoren und Alternativen

4.19  Pflichtmodul P8.2 (Einzelsetting): Rückfallprophylaxe – Verankerung

4.20  Pflichtmodul P9: Abschlussprüfung und Zertifizierung

4.21  Pflichtmodul P10: Booster-Sitzung (Auffrischungssitzung)

Literatur

Anhang

Behandlungsvereinbarung

Hinweise zu den Online-Materialien

|13|Einleitung und Danksagung

Sexualität zu leben bzw. zu erleben hat für uns alle hohe Relevanz. Insbesondere aber bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen steht dieses Thema ganz im Vordergrund, da es eine der prominenten Entwicklungsaufgaben von Jugendlichen und Heranwachsenden ist, sich mit ihren neu auftauchenden sexuellen Gefühlen, Impulsen und Gedanken auseinanderzusetzen und diese altersentsprechend in ihre Persönlichkeit zu integrieren. Jugendliche befinden sich in einem tiefgreifenden biopsychosozialen Umbruch. Vor dem Hintergrund dieses Entwicklungsprozesses müssen sie den Kompromiss zwischen dem, was sie sich wünschen, dem, was ein Gegenüber sich wünscht, und dem, was zugelassen ist, neu definieren. In diesem ohnehin herausfordernden Prozess kommt in den letzten Jahren der Einfluss der quantitativen Ausweitung sexueller Erlebnismöglichkeiten im Umgang mit den neuen Medien interferierend hinzu. Die Integration neu aufgetauchter sexueller Wünsche in sozial adäquate Umgangsformen und legale Rahmenstrukturen kann gerade für belastete und für selbstunsichere Jugendliche mit Defiziten in ihren sexuellen und sozialen Kompetenzen eine Überforderung darstellen (Bessler, 2012). Kommen weitere, spezifische Risikofaktoren hinzu, dann kann es gerade im Jugendalter zu sexuell grenzverletzendem Verhalten kommen.

Sexualstraftaten machen betroffen und stellen die Gesellschaft vor Herausforderungen im Umgang mit den Täter:innen und mit den Geschädigten. Gesellschaftlich gehören Sexualdelikte zu den am wenigsten akzeptierten Delikten, da sie einen Tabubereich tangieren und für Geschädigte schwere emotionale Belastungen zur Folge haben können. Wenn es sich bei den Täter:innen um Jugendliche handelt, löst dies Unsicherheit, gar Hilflosigkeit aus. Polemik, Schuldzuweisungen und der Ruf nach harter Bestrafung sind dabei erwiesenermaßen wenig hilfreich, zumal diese nicht in den gesellschaftlichen Auftrag von Unterstützung und Resozialisierung, vor allem von Jugendlichen passen. Die über diese Art von Delinquenz immer wieder heftig geführten Diskussionen sind ebenso dem Umstand geschuldet, dass zwischen grenzverletzendem und noch adäquatem sexuell-explorierendem Verhalten bei Jugendlichen nicht immer eindeutig unterschieden werden kann. Dennoch, sexuelle Interaktionen ohne gegenseitiges Einverständnis bei unterschiedlichen Machtverhältnissen und/oder unter Zwang werden üblicherweise zu Recht als Missbrauch bezeichnet und als Straftat geahndet. Übereinstimmung herrscht ebenso dahingehend, dass Jugendliche, die sexuell grenzverletzendes Verhalten zeigen, von einer klaren Reaktion der erwachsenen Umgebung profitieren können und dass es sinnvoll, richtig und wichtig ist, dabei vor allem präventiv einzuwirken; sei es primärpräventiv (im Sinne der Verhinderung einer Erstmanifestation solchen Verhaltens) als auch sekundärpräventiv (im Sinne der Verhinderung einer Wiederholung eines bereits erfolgten Verhaltens). Dramatisieren hilft dabei ebenso wenig wie bagatellisieren. Es braucht einen sachlichen und fachlichen Zugang. Fachpersonen müssen abstrahieren, objektiv und angemessen einordnen und den Fokus konsequent auf den präventiven Aspekt legen. Denn es sind unterschiedliche Faktoren, die dazu führen, dass Jugendliche Sexualstraftaten begehen. Pauschalurteile greifen zu kurz, es ist wichtig, genau hinzuschauen. Auch wenn Grenztestungen im Jugendalter zur Entwicklung dazugehören, sollte bei Grenzüberschreitungen aktiv auf die Jugendlichen zu- und eingegangen und entsprechende Angebote sollten bereitgestellt werden.

Das Forensische Therapieprogramm für angemessenes Sexualverhalten (ThePaS) bietet einen solchen Zugang auf Seite der Täter:innen. Es berücksichtigt dabei, dass im konkreten therapeutischen Umgang mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die grenzverletzendes oder gar strafrechtlich relevantes Sexualverhalten gezeigt haben, sowohl delikt- und störungsspezifisch vorzugehen als auch ein kompetenz- und ressourcen|14|orientierter Fokus zu verfolgen ist. Sofern dem grenzverletzenden Verhalten keine sexuelle Devianz oder eine andere schwere psychische Störung zugrunde liegt, hat es sich – gerade im Zwangskontext – zur Orientierung und Motivation aller Beteiligten als hilfreich erwiesen, solche Interventionen strukturiert durchzuführen, modular zu konzipieren und zeitlich zu begrenzen.

Das ThePaS ist pragmatisch kognitiv-verhaltenstherapeutisch ausgerichtet. Sein deklariertes und primäres Ziel ist die Verankerung von Verhaltensänderungen bei den Teilnehmenden im Sinne der Deliktprävention. In der Tradition solcher deliktpräventiven Programme und basierend auf den Resultaten der begleitenden Forschungsstudie, orientiert sich das ThePaS primär an einem unangemessenen, meist grenzverletzenden oder gar strafrechtlich aktenkundigen Sexualverhalten, welches bereits stattgefunden hat. Die Teilnehmenden sollen ihr früheres Verhalten verstehen und in der Auseinandersetzung damit lernen, wie sie solches künftig vermeiden können. Dabei ziehen sie entsprechend hilfreiche Schlüsse, stärken ihr Bewusstsein und die Wachsamkeit für ihr weiteres (Sexual-)Verhalten und erlernen konkrete deliktvermeidende und alternative Strategien. Damit wird ein direkt deliktpräventiver Effekt erzielt. Dass die Jugendlichen unangemessenes Verhalten nicht mehr zeigen, heißt allerdings noch nicht, dass sie wissen, wie sie sich angemessen verhalten sollen. Deshalb ist das ThePaS ebenfalls darauf ausgerichtet, Teilnehmende zu einem regel- und sozialkonformen Sexualverhalten zu befähigen. Hierzu wird relevantes Wissen, u. a. zur Sexualität, vermittelt und es wird schrittweise eingeübt, die Perspektive eines Gegenübers einzunehmen. Die Teilnehmenden sollen zudem Fähigkeiten an die Hand bekommen, die es ihnen ermöglichen, ihre Wünsche und Ziele im Leben auf eine für sie befriedigende, aber legale Weise zu verwirklichen. Es werden dabei nicht nur sexualitätsbezogene, sondern auch generelle wie auch individuell auf die Teilnehmenden zugeschnittene Handlungskompetenzen im Denken, Fühlen und Handeln gefördert. Durch diese Kompetenzerweiterung wird das psychosoziale Funktionsniveau der Betroffenen verbessert und damit die Wahrscheinlichkeit der Erreichung prosozialer Ziele erhöht. Mit der damit verbundenen (Re-)Integration der Betroffenen wird eine indirekte deliktpräventive Wirkung erzielt. Letztlich – und dies gilt es zu betonen – wird mit dem ThePaS ein wesentlicher Beitrag zu einem effektiven Opferschutz geleistet.

Erfahrungsgemäß unterziehen sich Jugendliche und junge Erwachsene selten freiwillig einem solchen therapeutischen Prozess, ist ein solcher doch mit der Auseinandersetzung mit dem eigenen Fehlverhalten verbunden, was zunächst einmal negative Gefühle auslöst. Zumeist erfolgt die Teilnahme auf äußeren Druck hin. Dabei ist es nicht immer eine juristische Behörde, die kraft ihres gesetzlichen Auftrags die Teilnahme an einem solchen Programm anordnet, sondern irgendeine Form von Instanz, die eine spezifische Intervention fordert. Dies können die Eltern, Lehrpersonen, Fachpersonen aus Sozialarbeit, Sozialpädagogik oder Heimarbeit oder eine zivilrechtliche Behörde sein. Die Durchführung von Therapien in einem solchen Zwangskontext, bei dem „therapiert werden muss“ und der oftmals mit einer eingeschränkten intrinsischen Motivation der Teilnehmenden einhergeht, unterliegt einer besonderen Dynamik. Das Spannungsfeld, das dadurch erzeugt wird, muss in die Planung und Durchführung der Intervention aufgenommen und produktiv kanalisiert werden. Mit dieser Anforderung sieht sich nicht nur die deliktpräventiv tätige Fachperson konfrontiert, sondern auch die junge Person, die sich diesem therapeutischen Rahmen, der eigenen Regeln unterliegt, stellen muss.

Das ThePaS basiert auf jahrelanger klinischer Erfahrung mit der Zielklientel, aber ebenso – und das macht es besonders – auf einer kliniknahen Longitudinalstudie, die zur Überprüfung der Wirksamkeit des Programms durchgeführt wurde. Die differenzierten Resultate der Studie stimmen weitgehend mit den klinischen Eindrücken und der bisherigen Forschung im Feld überein. So konnte belegt werden, dass dank solcher therapeutischer Behandlungsprogramme, die auf einer differenzierten Täter:innen- und Tatdiagnostik beruhen, die Rückfallrate von jugendlichen (Sexual-)Straftäter:innen gesenkt, deren Kompetenzwissen gesteigert, deren psychopathologische Belastung gelindert und deren Entwicklung in prosozialer Weise unterstützt werden können. Auf der Basis der Resultate unserer eigenen Studie haben wir die Vorzüge einer deliktfokussierten und einer kompetenzorientierten Vorversion des ThePaS (vgl. hierzu Kap. 2) gewinnbringend in der vorliegenden Version des Therapieprogramms vereint.

Wir sind stolz, Ihnen im Folgenden das ThePaS präsentieren zu können, und sind überzeugt davon, dass dieses Ihnen und Ihren teilnehmenden Jugendlichen und jungen Erwachsenen nützlich und hilfreich sein wird. Wir wünschen Ihnen bei der Anwendung des Handbuchs viel Erfolg.

Danksagung

Die klinisch-praktische Entwicklung des vorliegenden Therapieprogramms, wie auch deren langjährige wissenschaftliche Begleitung, wären ohne die Beteiligung |15|von zahlreichen Ermöglichenden, Unterstützenden und Mitarbeitenden rund um das Autor:innenteam nicht möglich gewesen. Sie alle haben zum Gelingen des „Dekadenprojekts ThePaS“ beigetragen und damit letztlich – und dies ist die Hauptsache – einen wesentlichen Beitrag zur Deliktprävention beigetragen. Wir möchten daher die Gelegenheit nutzen, unseren Dank an folgende Personen auszusprechen:

An Frau Dr. med. Madleina Manetsch von der Abteilung Jugendforensik der Klinik für Forensik der Universitären Psychiatrischen Kliniken (UPK) Basel, welche als Mitarbeiterin des Zentrums für Kinder- und Jugendforensik (ZKJF) der Klinik für Forensische Psychiatrie Zürich wesentlich zur Konzipierung früherer Versionen des ThePaS beigetragen hat. An lic. phil. Eva Stieger vom Massnahmenzentrum Uitikon in Zürich, die ebenfalls als Mitarbeiterin des ZKJF wesentliche ThePaS-Entwicklungsarbeit leistete. Weiter gilt ein besonderer Dank den Therapeut:innen der Jugendforensik Basel sowie des ZKJF, die „an der Front“ monate- und jahrelang beharrlich ThePaS um ThePaS durchführten und dabei in zusätzlichem Aufwand gewissenhaft die für die begleitende Studie notwendige Dokumentation durchführten. An die Institution Berufslauf in Zürich, welche die Bilder für das Beziehungsspiel gestaltete. An Herrn Dr. iur. Thierry Urwyler vom Amt für Justizvollzug und Wiedereingliederung des Kantons Zürich (JuWe), und Herrn Dr. med. Martin Fuchs von der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Tirol Kliniken, Österreich, die die rechtlichen Inhalte betreffend Schweiz und Deutschland (T. Urwyler) und Österreich (M. Fuchs) kritisch gelesen, korrigiert und ergänzt haben. An Prof. Dr. phil. Jérôme Endrass und PD Dr. phil. Astrid Rossegger vom Amt für Justizvollzug und Wiedereingliederung (JuWe), welche bei der Erstellung des Manuals Unterstützung geboten haben. Intern und übergeordnet an Prof. Dr. med. Susanne Walitza, Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (PUK), unter deren Schirmherrschaft das Projekt ursprünglich startete. An Prof. Dr. Elmar Habermeyer, Direktor der Klinik für Forensische Psychiatrie der Psychiatrischen Universitätsklinik (PUK) Zürich, unter dessen Schirmherrschaft die allermeisten der Teilnehmenden das Programm durchliefen. An die Oberjugendanwaltschaft des Kantons Zürich, namentlich insbesondere Herrn lic. iur. Marcel Riesen-Kupper, ohne dessen Placet es nicht möglich gewesen wäre, zu einer ausreichend großen Population an Teilnehmenden zu gelangen, welche uns durch die kantonalen Jugendanwaltschaften (spezifischer Dank!) geduldig und stoisch zugewiesen wurden.

Letztlich gilt der Dank allen anderen, die wie unsere fleißigen Studentinnen Léana Schaub und Seraina Schmed durch Korrekturarbeit oder auf sonstige Weise ihren Beitrag an diesem Manual geleistet haben.

Letztlich danken wir dem Hogrefe Verlag, mit welchem wir mit dem ThePaS in produktiver Kooperation – nach dem Forensischen Therapieprogramm für junge Straftäter (ForTiS) – nun bereits das zweite deliktpräventive Manual aus dem „Zürcher Haus“ veröffentlichen können.

Zürich, Luzern und Uster,

Leonardo Vertone,

im Herbst 2023

Marcel Aebi,

Daniela Imbach,

Thomas Best

und Cornelia Bessler

|17|Teil I Theoretischer Hintergrund

|19|Kapitel 1Sexuell grenzverletzendes Verhalten bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen1

1.1  Sexuelle Entwicklung bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen

1.1.1  Sexualität als Entwicklungsprozess über die Lebensspanne

Die sexuelle Entwicklung eines Menschen beginnt bereits während der Schwangerschaft und dauert an bis zum Tod. Die Sexualität selbst wandelt sich in ihren Ausdrucks- und Erscheinungsformen aber über die Lebensspanne hinweg. Bereits Säuglinge explorieren ihre Sinneswahrnehmungen, Kleinkinder haben Interesse an ihrem eigenen Körper und schon vor dem Schulalter untersuchen Kinder den Körper ihrer Spielkameraden. Forschungsergebnisse zeigen auf, dass 40 bis 85 % der Kinder vor dem 13. Lebensjahr sexuelles Verhalten zeigen oder in sexuelle Spiele mit anderen Kindern involviert sind (DeGraaf, Mouthaan & van der Doef, 2014; Fortenberry, 2013). Die sexuellen Spiele und Erfahrungen werden meist positiv erinnert, insbesondere, wenn diese ausgeglichen und im gegenseitigen Einverständnis geschahen.

Die Adoleszenz ist allerdings eine spezifische Lebensphase, die durch eine neue, intensiv aufkeimende Sexualität geprägt wird. Neben den anatomischen, hormonellen und physiologischen Veränderungen rücken die Bewusstwerdung sexueller Erregung und die Entwicklung und Ausgestaltung von sexuellen Wünschen in den Vordergrund. Die meisten Jugendlichen experimentieren mit ihren für sie neuen sexuellen Gefühlen und Empfindungen. Sie sammeln zuerst Erfahrungen mit ihrem eigenen sich wandelnden Körper, bis sie es dann wagen, sich einem Partner zuzuwenden und intime Beziehungen auszuprobieren. Dabei testen sie Neuland und emotionale sowie körperliche Grenzen aus und erleben sich im Beziehungsaufbau und in der intimen Interaktion mit einem Gegenüber selbst wieder neu.

1.1.2  Befunde zum sexuellen Verhalten im Jugendalter

Im Rahmen einer umfassenden Umfrage in der Schweiz, an welcher sich 29350 Teilnehmende mit einer Alterspanne von 18 bis 54 Jahren beteiligten, wurde festgestellt, dass das angegebene Durchschnittsalter beim ersten Geschlechtsverkehr bei Frauen bei 17 Jahren und bei Männern bei 18 Jahren liegt (Hermann, Nowak, Bosshardt & Milic, 2016). 62 % der weiblichen und 48 % der männlichen Teilnehmenden gaben an, dass sie ihren ersten Geschlechtsverkehr vor dem 18. Lebensjahr und 23 % der weiblichen und 19 % der männlichen vor dem 16. Lebensjahr hatten. Fast alle Befragten gaben an, ihren ersten Geschlechtsverkehr vor dem 25. Lebensjahr gehabt zu haben.

In einer repräsentativen Studie aus Deutschland (Bode & Hessling, 2015) wurde festgestellt, dass ca. 95 % der Teilnehmenden mit 18 Jahren in irgendeiner Form sexuell aktiv waren. Dabei wurde Küssen |20|als erstaufgenommene sexuelle Aktivität benannt (ca. 75 % der 14- bis 17-Jährigen und über 95 % der 18- bis 25-Jährigen berichteten über Erfahrungen mit Küssen). Auch Petting wurde als frühe Form sexuellen Verhaltens benannt (40 bis 50 % der 14- bis 17-Jährigen und 70 bis 90 % der 18- bis 25-jährigen Teilnehmenden berichteten über solche Aktivitäten). 7 bis 12 % der teilnehmenden Mädchen und 4 bis 6 % der teilnehmenden Jungen berichteten zudem, während des letzten Jahres Kontakte mit gleichgeschlechtlichen Partner:innen gepflegt zu haben. Insgesamt bezeichneten sich 34 % der weiblichen Jugendlichen und 28 % der männlichen Jugendlichen zwischen 14 und 17 Jahren als derzeitig sexuell aktiv.

Eine repräsentative Studie aus den USA analysierte Selbstangaben von über 15.000 Schüler:innen der 9. bis 12. Klasse (Kann et al., 2016). Insgesamt berichteten 41 % der Teilnehmenden (39 % der Mädchen und 43 % der Jungen) über sexuelle Aktivitäten (definiert als mindestens einmaliger Geschlechtsverkehr in den letzten drei Monaten). Im Vergleich zu den Vorjahren fiel aber eine Abnahme der Raten auf. 2013 gaben 47 % der Schüler:innen der 9. bis 12. Klasse sexuelle Aktivitäten an, 1991 waren es noch 54 %. Auch die Rate der 13-Jährigen, die bereits einmal Geschlechtsverkehr hatten, hatte abgenommen. 1991 waren dies 10 %, 2013 6 % und 2015 noch 4 %. Auch die Rate der Jugendlichen mit derzeitiger sexueller Aktivität scheint geringer geworden zu sein. 1991 berichteten noch 38 %, 2013 noch 34 % und 2015 noch 30 % darüber, aktuell sexuell aktiv zu sein.

Im Kontrast zur festgestellten Abnahme der konkreten physischen sexuellen Aktivitäten Jugendlicher weisen neuere Studien hingegen auf ein sexuelles Verhalten Adoleszenter im Internet hin, was das Herstellen, das Konsumieren und den Austausch von explizit sexuellen Bildern und/oder Videos sowie auch die sexuell motivierte Unterhaltung betrifft (Ashurst & McAlinden, 2015; Mohler-Kuo et al., 2014; Wolak & Finkelhor, 2011). In der JAMES-Studie (Bernath et al., 2020), einer regelmäßigen und repräsentativen Befragung von Kindern und Jugendlichen in der Schweiz zu Aktivitäten und Mediennutzung, ergab sich, dass ca. 10 % der 12- bis 13-jährigen Kinder angaben, pornografische Inhalte angeschaut zu haben, während bei den 18- bis 19-Jährigen ca. die Hälfte Erfahrungen mit pornografischen Inhalten hatte. Jungen hatten häufiger Pornofilme auf dem Handy oder Computer angeschaut als Mädchen (57 % vs. 27 %). Demgegenüber erhielten Mädchen häufiger erotische oder aufreizende Fotos bzw. Videos von anderen als Jungen (44 % vs. 28 %) und Mädchen hatten solche Fotos bzw. Videos auch häufiger von sich selbst erstellt im Vergleich zu Jungen (14 % vs. 7 %). Dass sich Kinder und Jugendliche durch das Erstellen und Verschicken von sexuell expliziten Inhalten strafbar machen können, scheint dabei den meisten von ihnen nicht bewusst zu sein (Aebi, Plattner, Ernest, Kaszynski & Bessler, 2014; Boonmann, Grudzinskas Jr. & Aebi, 2014). Hill (2011) weist zudem darauf hin, dass der Pornografiekonsum im Jugendalter ungünstige Auswirkungen hat und das Auftreten von sexuell auffälligem und übergriffigem Verhalten begünstigen kann. Die Ergebnisse seiner Längsschnittstudie implizieren, dass durch den Konsum von Pornografie die individuellen sexuellen Skripte und Verhaltensweisen beeinflusst werden und dass dies Sensation-Seeking, sexuelle Permissivität und sexuelle Aggressionsbereitschaft erhöht.

1.2  Sexuelle Übergriffe im Jugendalter

1.2.1  Jugendalter als Risikophase

Es ist eine der prominenten Entwicklungsaufgaben der heranwachsenden Jugendlichen, dass sie sich mit ihren neu auftauchenden sexuellen Empfindungen und Impulsen auseinandersetzen, mit ihnen umgehen lernen und diese in ihre Persönlichkeit integrieren müssen. Sie müssen in dieser Phase ein neues Verhältnis zu ihrem Körper, ihren Gefühlen und ihren neu auftauchenden Gedanken finden. Sie erleben ihr soziales Umfeld in einer neuen Art und Weise und lösen auch andere Reaktionen aus. Die Jugendlichen befinden sich in dieser Lebensphase in einem tiefgreifenden biopsychosozialen Umbruch. Die heranwachsenden jungen Menschen müssen vor dem Hintergrund dieses Entwicklungsprozesses den Kompromiss zwischen dem, was sie sich wünschen, dem, was ein Gegenüber sich wünscht, und dem, was zugelassen ist, neu definieren. Die dafür nötige Selbstsicherheit und das nötige Selbstvertrauen fehlen aber vielen jungen Menschen. Die Jugendlichen verfügen noch über kein gefestigtes sexuelles Selbstkonzept. Die Integration der neu aufgetauchten sexuellen Wünsche in sozial adäquate Umgangsformen und in die Rahmenstrukturen, welches Verhalten als legal gilt und welches unter Strafe steht, können gerade für selbstunsichere Jugendliche mit Defiziten in ihren sexuellen und sozialen Kompetenzen eine Überforderung darstellen (Bessler, 2017). Schließlich orientieren sich Jugendliche in ihrem Verhalten stark an gleichaltrigen Peers. Sexuelle Übergriffe werden teilweise auch von mehre|21|ren Jugendlichen gemeinsam begangen und sind häufig auch durch eine ungünstige Gruppendynamik mitbedingt (Bijleveld & Hendriks, 2003; gegenseitiges Anstiften, Wunsch, von den anderen Jugendlichen bewundert zu werden). Die Adoleszenz stellt daher gesamthaft eine Entwicklungsphase dar, welche mit einem erhöhten Risiko einhergeht, dass es auch zu sexuell unangemessenem bis missbräuchlichem Verhalten kommen kann.

1.2.2  Häufigkeiten von sexuellen Übergriffen aus der Perspektive der Geschädigten

Kinder und Jugendliche berichten relativ häufig über erlebte sexuelle Übergriffe. Im Rahmen der Studie von Mohler-Kuo et al. (2014) wurde in der Schweiz eine repräsentative Stichprobe von mehr als 6700 Schüler:innen der 9. Klasse (Mittelwert des Alters: 15,5 Jahre) befragt. 40 % der Mädchen und 17 % der Jungen berichteten über erlebte Opfererfahrungen von Sexualstraftaten (im direkten Kontakt oder im Internet). So gaben 35 % der Mädchen und 15 % der Jungen Opfererfahrungen ohne Körperkontakt an, 15 % der Mädchen und 5 % der Jungen berichteten über Opfererfahrungen ohne Geschlechtsverkehr und 3 % der Mädchen und 1 % der Jungen über Opfererfahrungen mit Penetration. Dabei war ein beträchtlicher Anteil der Täter:innen unter 18 Jahre alt und die Geschädigten kannten meist die Täter:innen. Dies waren meist Bekannte oder (frühere) Intimpartner:innen.

1.2.3  Häufigkeiten von sexuellen Übergriffen aus Täterperspektive

Basierend auf einer repräsentativen Befragung in der Schweiz stellten Aebi et al. (2015) fest, dass insgesamt 4 % (1 % Mädchen, 7 % Jungen) der damals 16-jährigen Teilnehmenden darüber berichteten, auch selbst einmal jemanden zu sexuellen Handlungen mit Körperkontakt genötigt zu haben. Wenn man die behördlichen Angaben in Form von polizeilichen Anzeigen oder Urteilen analysiert, bestätigt sich, dass ein relevanter Anteil von Sexualdelikten von noch sehr jungen Personen begangen wird. Gemäß der polizeilichen Kriminalstatistik in Deutschland waren im Jahr 2021 von insgesamt 81545 Tatbeschuldigten 28868 (35 %) unter 21 Jahre alt. 18 % der Tatbeschuldigten waren Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren, und 9 % der Tatbeschuldigten waren Kinder unter 14 Jahren, welche nach dem deutschen Strafgesetz noch nicht schuldfähig waren (Bundeskriminalamt Deutschland, 2022). Ein ähnliches Bild ergibt sich, wenn man die Anzahl der Verurteilungen in Deutschland betrachtet: Von den im Jahre 2019 abgeurteilten Sexualdelikten betrafen 18 % Minderjährige (14 bis 18 Jahre) oder Heranwachsende (18 bis 21 Jahre). In den letzten Jahren zeigt sich eine Zunahme von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Im Pressebericht des Bundeskriminalamts von 2020 wurde ein Anstieg von sexuellem Missbrauch an Kindern um 7 % und ein Anstieg von 53 % an sexuellen Missbrauchsabbildungen (Kinderpornografie) gegenüber dem Vorjahr festgestellt. Die starke Zunahme bei der Verbreitung von Missbrauchsabbildungen durch Minderjährige wurde als besorgniserregend beurteilt: Gemäß der polizeilichen Kriminalstatistik Deutschland hat sich die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die Missbrauchsabbildungen – insbesondere in sozialen Medien – weiterverbreiteten, erwarben, besaßen oder herstellten, in Deutschland seit 2018 mehr als verfünffacht – von damals 1373 auf 7643 angezeigte Fälle im Jahr 2021 (Bundeskriminalamt Deutschland, 2021). Die Zahlen aus anderen Ländern weisen trotz Unterschieden in den Strafgesetzen in Bezug auf die sexuelle Selbstbestimmung bzw. sexuelle Integrität große Ähnlichkeiten auf: Das Risiko, ein Sexualdelikt zu begehen, ist im Jugendalter am höchsten und nimmt mit zunehmendem Alter kontinuierlich ab (Bouchard & Lussier, 2015). In der Schweiz war der Verlauf bezüglich der Anzahl der Verurteilungen wegen Straftaten gegen die sexuelle Integrität, wie sexuelle Handlungen mit Kindern, sexuelle Nötigung, Vergewaltigung, Schändung, Ausnutzen der Notlage, Exhibitionismus, Förderung der Prostitution und sexuelle Belästigungen, bis 2018 relativ konstant (127 bis 434 Verurteilungen pro Jahr), ist aber ab 2019 deutlich angestiegen (708 bis 856 Verurteilungen pro Jahr; Schweizerische Eidgenossenschaft, 2022). Dies ist überwiegend durch die zunehmenden Verurteilungen wegen Pornografie in den letzten Jahren bedingt. Dabei ist zu beachten, dass insgesamt (alle Delikte) seit 2009 die Kriminalitätsraten bei Jugendlichen bis 2015 um ca. 32 % gesunken und erst in den letzten Jahren wieder leicht angestiegen sind (Schweizerische Eidgenossenschaft, 2022).

Ein großer Teil der Forschungsbefunde zu Jugendlichen, welche sexuelle Grenzüberschreitungen begangen haben (JS), stammt aus dem angloamerikanischen Raum. In Europa sind die Niederlande mit ihrer Forschung zum Thema führend. Obschon die Gesetzgebung und das strafprozessuale Vorgehen über die(se) Länder hinweg sehr unterschiedlich sind, weisen die Häufigkeiten von JS Ähnlichkeiten zu den Befunden in Deutschland, Österreich und der Schweiz auf. In |22|den Vereinigten Staaten waren im Jahr 2015 ca. 17 % aller wegen einer Vergewaltigung oder einer anderen Sexualstraftat (außer Prostitution) Inhaftierten minderjährig (Federal Bureau Of Investigation, 2016). Finkelhor, Ormrod und Chaffin (2009) stellten fest, dass Jugendliche ein Drittel (36 %) der Sexualstraftäter:innen ausmachen, die an Minderjährigen sexuelle Handlungen ausführen. In den Niederlanden waren 25 % aller Sexualstraftäter:innen Jugendliche, wobei es sich vor allem um männliche Jugendliche handelt (98 %), die ihr Opfer kannten (75 %; Nationaal Rapporteur, 2014).

Es bleibt darüber hinaus darauf hinzuweisen, dass anhand der offiziellen Kriminalstatistiken als Referenzbasis die Häufigkeit der sexuellen Straftaten generell unterschätzt wird, weil auch oder gerade bei dieser Deliktkategorie nur wenige der Opfer Anzeige erstatten. Viele Opfer vermeiden eine Offenlegung ihrer Erfahrungen und es kommt daher nur selten zu einem strafrechtlichen Verfahren (Maier, Mohler-Kuo, Landolt, Schnyder & Jud, 2013). So stellten in ihrer Studie Bode und Hessling (2015) fest, dass nur ca. ein Viertel der Frauen, die Opfer einer sexuellen Nötigung wurden, dies jemandem erzählten. Wenn sie darüber sprachen, taten sie dies gegenüber Gleichaltrigen oder den Eltern und nur sehr selten suchten sie den Rat bei professionellen Fachpersonen. Auch Mohler-Kuo et al. (2014) stellten fest, dass nur ungefähr die Hälfte der weiblichen Opfer und eine Minderheit der männlichen Opfer mit jemandem über ihre Erfahrungen sprach. Die Polizei sei nur in 10 % der Fälle involviert gewesen. Das bedeutet, dass die offiziellen Polizeistatistiken nur einen kleinen Teil der verübten Sexualdelikte widerspiegeln. Noch prägnanter fällt dies bei den Strafurteilen ins Gewicht, da es oft zu keiner Verurteilung kommt. Es muss also von einer viel höheren Zahl an Sexualdelikten im Dunkelfeld ausgegangen werden (Cunneen & White, 2011; Wittebrood, 2006).

1.2.4  Gesellschaftliche Reaktion auf sexuelle Grenzverletzungen Jugendlicher

Die Erkenntnis, dass Sexualstraftaten auch von Kindern und Jugendlichen begangen werden, führt in der öffentlichen Diskussion immer wieder zu Kontroversen. Über die Erscheinungsformen, die Häufigkeit und die Ursachen und Hintergründe solcher Vergehen wird oft heftig gestritten. Einige beurteilen Sexualstraftaten von Minderjährigen als Anzeichen einer schwerwiegenden Fehlentwicklung der jeweiligen Täter:innen, andere schätzen diese Delikte als vernachlässigbare „Ausrutscher“ im Rahmen eines normalen sexuellen Explorierverhaltens ein. In den Medien wird oftmals mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass die Anzahl der von Minderjährigen begangenen Sexualstraftaten auch aufgrund des freizügigen medialen Umgangs mit dem Thema Sexualität und der neuen Zugriffs- und Kommunikationsmöglichkeiten im Internet angestiegen sei. Auf der anderen Seite wird vermutet, dass eine mögliche Zunahme der registrierten Sexualstraftaten durch die erhöhte Anzeigebereitschaft der Bevölkerung zu erklären sei. Vor dem Hintergrund der mit dem Thema verbundenen Emotionen driften demzufolge die Meinungen, welche juristischen Konsequenzen demnach bei Jugendlichen angebracht sind, oft weit auseinander. Es herrscht eine große Verunsicherung, wie man mit JS umgehen soll, welche Risiken von ihnen ausgehen und welche Maßnahmen die geeignetsten sind, um weitere Delikte zu verhindern und um eine gesunde sexuelle und die allgemeine Entwicklung dieser Jugendlichen zu fördern. Der häufig geäußerten Forderung nach härteren Strafen liegen ein emotional starkes Bedürfnis nach Sühne sowie die Hoffnung, dass damit das Problem besser in den Griff zu bekommen ist und weitere erneute Delikte vermeiden werden können, zugrunde. Die Forschung zum Thema JS in den letzten 20 Jahren und einige groß angelegte Untersuchungen können zu den Fragen betreffs der Erscheinungsformen, der Typen von Jugendlichen und deren Risiken auf sachlicherer Ebene valide Antworten geben.

1.3  Merkmale Jugendlicher, die sexuell grenzverletzendes Verhalten zeigen

1.3.1  Charakteristiken von Jugendlichen mit sexuell grenzverletzendem Verhalten

Die überwiegende Anzahl von JS ist männlich. Es sind ganz wenige Fälle bekannt, bei denen weibliche Jugendliche sexuelle Straftaten begehen, wobei sie dann teilweise auch als Mittäterinnen und Gehilfinnen tätig waren (Siegel & Fix, 2020). Im Vergleich zu Jugendlichen mit anderen Straftaten sind JS häufig jünger und die Taten sind weniger ausschließlich mit einen dissozialen Verhaltensstil bzw. entsprechenden aggressiven Verhaltensproblemen assoziiert (Aebi & Bessler, 2012; Seto & Lalumière, 2010). Ansonsten erweist sich die Gruppe der JS als heterogen und lässt |23|nicht auf einen bestimmten Tätertypus eingrenzen. Mehrere Studien zeigen, dass JS in Bezug auf ihr Tatverhalten, ihre soziale Einbettung bzw. familiäre Situation, ihre Persönlichkeit und die bei ihnen vorhandene psychischen Störungsbilder keine einheitliche Gruppe darstellen (Aebi, Vogt, Plattner, Steinhausen & Bessler, 2012; Righthand & Welch, 2004). Es wurde versucht, verschiedene Subgruppen von JS zu identifizieren, um damit ein besseres Verständnis von jugendlicher Sexualdelinquenz zu erhalten. Am besten etabliert ist die Unterscheidung von JS, welche sexuelle Übergriffe gegenüber jüngeren Kindern zeigen, gegenüber JS, welche Delikte gegen gleichaltrige oder ältere Personen begangen haben. Diese Unterscheidung entspricht auch der gängigen Typologie bei erwachsenen Personen (Robertiello & Terry, 2007), die Personen, welche Kinder sexuell missbrauchen („child molesters“), von Personen, welche andere Erwachsene zu sexuellen Handlungen zwingen („rapists“), unterscheidet. Die Unterscheidung erweist sich sicherlich in Bezug auf unterschiedliche Risikoprofile und damit einhergehende Behandlungsbedürfnisse als sinnvoll. Auch wenn sich Befunde von Erwachsenen nicht einfach auf Minderjährige übertragen lassen, zeigen Studien über Jugendliche, dass es dennoch Sinn macht, diese beiden Gruppen zu unterscheiden: JS mit Delikten gegenüber jüngeren Kindern (meist definiert als drei und mehr Jahre Altersunterschied) zeigen im Vergleich zu JS mit gleichaltrigen oder älteren Opfern häufiger Übergriffe gegenüber männlichen und verwandten Opfern, jedoch weniger häufig einen psychischen Gewalteinsatz, Waffengebrauch und einen vorhergehenden Alkohol- oder Drogenkonsum (Leroux, Pullman, Motayne & Seto, 2016; Stevens, Hutchin, French & Craissati, 2013). Erstere weisen zudem mehr internalisierende Störungsbilder und Selbstwertprobleme auf, während bei Letzteren häufiger externalisierende Störungen bestehen (Aebi et al., 2014; Ueda, 2017). JS, die sexuelle Übergriffe gegenüber Jüngeren begehen, zeigen mehr soziale Probleme (soziale Kompetenzdefizite, Einsamkeit, Mobbingerfahrungen).