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Nur noch wenige Wochen bis zum Abschluss - und Antonella DeLuca wird klar, dass sie ihre Zeit am College vergeudet hat. Zu sehr hat sie sich aufs Lernen konzentriert und dabei ihr Liebesleben völlig vernachlässigt. Doch das wird Nell nun ändern, und zwar mit Hilfe des sexy Footballspielers Mateo Torres. Dieser ist nur zu gern bereit, der hübschen Nell in puncto Lebensgenuss auf die Sprünge zu helfen - auch wenn sie seinen Entschluss, sich niemals fest zu binden, gefährlich ins Wanken bringt.
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Seitenzahl: 409
Titel
Über dieses Buch
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Epilog
Danksagung
Über die Autorin
Die Romane von Cora Carmack bei LYX
Impressum
CORA CARMACK
Forever in Love – Meine Nummer eins
Roman
Ins Deutsche übertragen von
Nele Junghanns
Nells Leben folgt einem einfachen Plan: Lass nichts und niemanden zwischen dich und deine Ziele kommen! In den letzten Jahren hat sie ihre ganze Energie und Zeit darauf verwendet, zu lernen und ihren Collegeabschluss mit Erfolg und in verkürzter Zeit hinzulegen. Doch wenige Wochen, bevor es soweit ist, kommen ihr Zweifel. Hat sie ihre Zeit am College wirklich sinnvoll genutzt? Keine Dates, kaum Freunde und viele Stunden in der Bibliothek sind die Summe der eigentlich aufregendsten Zeit ihres Lebens. Soll das schon alles gewesen sein? Organisiert wie sie ist, beschließt Nell, eine Liste mit typischen Collegeerfahrungen anzulegen, die sie vor ihrem Abschluss noch abhaken will. Da dürfen heiße Küsse mit einem sexy Footballer natürlich nicht fehlen. Gut, dass sich Mateo Torres für Nells Liste zur Verfügung stellt. Ganz im Gegensatz zu der strebsamen Studentin kostet Mateo das Collegeleben in vollen Zügen aus und lebt nach der Devise: sich bloß nicht festlegen oder tiefere Gefühle entwickeln! Doch was als Gefallen begonnen hat, entwickelt sich schon bald zu etwas Anderem, etwas Echtem. Und während Mateo Nell zeigt, was es heißt, das Leben zu genießen, merkt er, dass er bereit ist, die Fassade des Playboys aufzugeben und sich in das Abenteuer Liebe zu stürzen.
Für den Fummelkönig –
du weißt schon, wen ich meine.
Danke für alles, was du außer fummeln noch tust.
Nells To-do-Liste:
Den Rest für Fortgeschrittene Biomechanik lernen
Mehr Kaffee besorgen
In meiner Küche steht ein halb nackter Mann.
Genau genommen ist er mit seinen schwarzen, sehr eng anliegenden Retroshorts eher zu 90 Prozent nackt. Doch sie sind so eng, dass ich auf 95 Prozent erhöhe. Ich gebe ein undamenhaftes Quieken von mir, und er schickt sich an, sich umzudrehen. Hastig versuche ich, mich in das Dunkel des Flurs zu verziehen, aber irgendwie bleibe ich mit meinem Flip Flop am Teppich hängen und lasse stattdessen sämtliche Bücher fallen, die ich in den Armen hatte. Ein dickes landet direkt auf meinem Zeh, und ich stöhne auf, während der Rest hinunterpurzelt und sich halb aufgeschlagen zu meinen Füßen verteilt. Ich schließe für einen Moment die Augen, um mit dem Schmerz in meinem Fuß klarzukommen, und als ich sie wieder öffne, steht der nackte Mann vor mir und ist einfach so was von … nackt.
Er hat zerwühltes goldbraunes Haar, das kunstvoll sein Gesicht einrahmt, und um ihm nicht in die Augen zu blicken, sinke ich auf die Knie und fange an, meine Bücher einzusammeln. Peinlicherweise blicke ich jetzt statt in seine Augen auf seinen Schritt.
»Komm, ich helfe dir.« Seine Stimme ist tief und viel zu nah, als er sich neben mir hinkniet. Hektisch versuche ich, meine Sachen aufzuheben, und bekomme alles zu fassen bis auf meinen Collegeblock. Den hat er bereits in der Hand und hält ihn mir hin.
»Du musst Antonella sein«, meint er.
Ich bin froh, dass er es sagt, denn ich bin nicht sicher, ob es mir angesichts der vielen Haut eingefallen wäre.
»Ja, bin ich.«
Eine Tür öffnet sich, und Licht fällt auf den Flur. Ich höre meine Mitbewohnerin rufen: »Silas?«
Ich drehe mich um, und Dylan in einem Rusk-Football-Shirt, das ihr bis zur Mitte der Oberschenkel geht, reibt sich verschlafen die Augen. Sie sieht mich, blinzelt und blickt dann an mir vorbei zu ihrem Freund.
»Silas! Wo sind deine Klamotten?«
Er grinst sie an, und der Blick, den er ihr zuwirft, ist glühend und sollte wirklich besser hinter verschlossenen Türen bleiben.
»Das meiste davon hast du an.«
Dylan schlängelt sich an mir vorbei und sieht aus, als versuche sie, Silas zurück in ihr Zimmer zu schieben, aber er rührt sich nicht von der Stelle. Sie schnaubt entnervt. »Tut mir leid, Nell. Ich habe nicht gehört, dass er aufgestanden ist, sonst hätte ich dafür gesorgt, dass er sich was anzieht.«
»Du kannst mir mein Shirt ja sofort zurückgeben«, grinst er. »Wenn es dir wirklich so wichtig ist.«
Sie gibt ihm einen Klaps, und das Klatschen auf seiner Haut ruft eine lächerliche Röte auf meinen Wangen hervor.
»Silas, hör auf. Du machst sie noch verlegener, als sie ohnehin schon ist.«
»Es ist sechs Uhr morgens. Ich habe nicht damit gerechnet, dass schon jemand wach ist.«
Ich zucke mit den Achseln – nicht dass noch jemand von ihnen auf mich achtet. »Ich schreibe heute eine Klausur in Biomechanik und will noch ein bisschen pauken«, erkläre ich, obwohl keiner gefragt hat.
Dylan schiebt Silas zurück zu ihrer Tür, und diesmal bewegt er sich, umfasst ihre Handgelenke und zieht sie hinter sich her.
»Silas.« Sie sagt seinen Namen gedehnt, als würde sie sich beschweren, wehrt sich aber nicht gerade mit Händen und Füßen, als er sie in die Arme nimmt.
Über die Schulter ruft sie: »In zwei Minuten ist er weg. Versprochen.«
»Fünfzehn«, widerspricht Silas.
»Fünf.«
»Zehn.«
»Fünf, Silas.«
Er stöhnt, und dann schließt sich mit einem leisen Klicken Dylans Schlafzimmertür.
Langsam atme ich aus und presse meine warme Wange an die Schulter, weil ich die Hände voll habe. Ich kann bloß hoffen, dass ich nur leicht rosa angelaufen bin statt meinem üblichen Feuermelderrot.
Allerdings bezweifle ich es.
Im Wohnzimmer lade ich meine Bücher auf dem Couchtisch ab. Bei einigen sind Seiten geknickt, und eine Weile bringe ich damit zu, sie zu glätten. Wenn du dich dabei ertappst, dich bei einem Buch entschuldigen und es trösten zu wollen, weißt du endgültig, dass du ein Nerd bist.
Drüben in ihrem Zimmer höre ich Dylan quietschen und schreien: »Silas, nicht!«
Nach den dumpfen Schlägen und der darauf folgenden Stille zu urteilen, hat Dylan diesen Kampf wohl nicht gewonnen.
Ich schlage meinen Collegeblock auf und nehme mein Lehrbuch für die Klausur heute Vormittag in die Hand. Einige Buchseiten sind mit Haftnotizen markiert (weil in Bücher zu schreiben meine Definition von Bösartigkeit ist). Auf die Zettel habe ich in der kleinstmöglichen Schrift meine Gedanken und Fragen gequetscht. Ich blättere zu der Stelle, an der ich gestern mit dem Lernen aufgehört habe, und suche dann nach dem entsprechenden Kapitel, aber auch, als ich es gefunden habe, kann ich mich nicht auf die Wörter vor meinen Augen konzentrieren.
Mit den Gedanken bin ich in dem Schlafzimmer, das nicht mal mein eigenes ist. Nicht aus gruseligen Motiven, sondern einfach … aus Neugier. Ich kenne Dylan jetzt seit über zwei Jahren, wohne die Hälfte dieser Zeit mit ihr zusammen und habe sie bei zahlreichen Gelegenheiten mit ihrem Langzeitfreund vor Silas erlebt, aber jetzt ist es anders. Bei ihrem Ex hatte ich eigentlich nie das Gefühl, dass ich intime Momente störe. Aber jetzt liegen ein Flur und eine Tür zwischen uns, und trotzdem habe ich das Gefühl, zu nah dran zu sein.
Gemessen daran, wie selten ich Dylan dieses Semester bisher gesehen habe und wie sie von ihm spricht, hätte ich mir denken können, dass dieser neue Typ anders ist, aber trotzdem hätte ich niemals vorhersagen können, was für eine greifbare Chemie sie verbindet. Ich denke daran, wie er sie in seine Arme geschlossen hat. Ich halte zwar nicht gerade viel davon, Gefühle so zur Schau zu stellen, neige aber auch nicht zur Eifersucht. Doch die beiden so zu sehen, war, als hielte man sich zu dicht an der Sonne auf. Als wäre ihre gegenseitige Anziehungskraft so stark, dass sie alles in ihrer Umgebung mitreißt, einschließlich meiner Fähigkeit, mich zu konzentrieren.
Ich wusste gar nicht, dass es solche Beziehungen gibt. Ich dachte immer, das sei alles eine maßlose Übertreibung von Schriftstellern, Filmstudios und Marketingleuten, die das naive Bedürfnis der Menschen nach Liebe zu Geld machen wollen. Ich lebe in einer Welt der Fakten, Zahlen und Gleichungen, aber das mit Silas und Dylan … so schwer es auch zuzugeben ist, geht über alle Logik hinaus. Zusammen sind sie mehr als die Summe ihrer Einzelteile.
Vielleicht ganz gut, dass ich bald meinen Abschluss mache, in ungefähr zwei Monaten, um genau zu sein. Mein Instinkt sagt mir, dass ich mich ansonsten bald nach einer neuen Mitbewohnerin umsehen müsste.
Erst nach einundzwanzig Minuten öffnet sich Dylans Zimmertür, und die beiden tauchen wieder auf, komplett angezogen und mit feuchten Haaren, wahrscheinlich von einer gemeinsamen Dusche. Meine Mitbewohnerin wirkt verlegen, und bei dem zufriedenen Gesichtsausdruck ihres Freunds muss ich an die Belehrungen meiner Nonna über die verführerische Schönheit Luzifers denken.
Irgendwie glaube ich nicht, dass Dylan es gut fände, wenn ich Silas mit Satan vergleiche, auch wenn die streng katholische Erziehung meiner Familie bei mir nicht so richtig gegriffen hat.
Ich stecke den Kopf in meine Bücher, während sich die beiden an der Tür voneinander verabschieden. Es sind ein paar eindeutige Kussgeräusche zu hören, etwas Gekicher und ein leises Murmeln, und ich bin froh, dass ich die Worte nicht verstehen kann. Ich sollte sie eigentlich ausblenden können, aber aus mir unerklärlichen Gründen ist mir jeder Laut und jede Bewegung, die sie in meinem peripheren Gesichtsfeld machen, überbewusst.
Selbst als sich die Tür schließt und Silas längst weg ist, bleibt noch eine merkwürdige Andersartigkeit im Raum zurück, als hinterließe ihre Beziehung Gespenster, um einsame Singles mit ihrer strahlenden Glückseligkeit zu verhöhnen. Dass Dylan mit glasigen Augen und einem Lächeln auf den Lippen an der Tür lehnt, macht das Ganze auch nicht besser. Hm. So muss wohl echt guter Sex aussehen.
»So, so«, sage ich. »Scheint was … Ernstes zu sein.«
Sie schwebt geradezu zur Couch hinüber, und ich vergewissere mich doch tatsächlich, ob ihre Füße den Boden berühren. Sie setzt sich neben mich, zieht die Beine hoch und schlingt die Arme um ihre Knie.
»Ja. Das ist es wirklich.«
»Und findest du nicht, dass es etwas schnell geht?«, frage ich. Sie kennen sich erst seit ein paar Monaten und waren erst irgendwie zusammen und irgendwie auch wieder nicht. Dann hatten sie sich zu Anfang des Schuljahrs wohl getrennt, ehe sie es dann geklärt haben. Soweit ich weiß, sind sie offiziell erst seit etwa zwei Wochen zusammen.
Sie lacht. »Ja, es geht unglaublich schnell. Aber das war mir bei ihm von vornherein klar. Bei ihm gibt es nur alles oder nichts.«
»Und das ist okay für dich … alles?«
Dylans Augen begegnen meinen, und in meinem Bauch zieht etwas. Vielleicht bin ich ein kleines bisschen eifersüchtig. Aber nicht auf den Typen, auch nicht auf die Beziehung … eher auf die Gabe, eine solche Beziehung führen zu können. Nach ein paar völlig nichtssagenden Beziehungen habe ich beschlossen, dass ich einfach nicht das gewisse Etwas habe, in das sich Typen verlieben. Nonna sagt, ich bin zu wählerisch. Dad behauptet, ich bin stur. Mom glaubt, dass ich einfach jemanden brauche, der so schlau ist wie ich.
Ich sage, ich bin besser für Ideen gewappnet als für Gefühle.
Ich kann mir mich in einer befriedigenden Beziehung einfach nicht vorstellen, geschweige denn in einer, die sich innerhalb weniger Wochen entwickelt und aufblüht. An Dylans Stelle würde mich die Aussicht auf alles wahnsinnig machen.
»Ich kann es schlecht in Worte fassen«, sagt sie. »Zumindest nicht in welche, die nicht klischeehaft klingen, aber bei Silas fällt es mir leicht, mich für alles zu entscheiden, weil ich sonst das Gefühl hätte, meine Zeit zu verschwenden. Keine Ahnung, mit ihm zusammen zu sein erscheint mir einfach … unvermeidlich. Auf die beste Art. Und die Sache zu bremsen oder einzuschränken kommt mir einfach nicht natürlich vor, weißt du?«
Ich nicke, obwohl ich es ehrlich gesagt nicht weiß.
»Trotzdem tut es mir leid«, fährt sie fort, »dass ich dir nicht Bescheid gesagt habe, bevor ich ihn mit hierher gebracht habe. Du warst ja noch so spät in der Bibliothek, und bei ihm zu Hause war ein Haufen Leute, also sind wir hierher, um etwas für uns zu sein. Wir hatten eigentlich vor, dass er noch nach Hause fährt, aber wir sind eingeschlafen. Ich verspreche, ich werde nicht so eine Mitbewohnerin, die ihre bessere Hälfte quasi bei sich einziehen lässt.«
Wieder nicke ich und glaube ihr auch. Dylan ist eine fantastische Mitbewohnerin und tendiert dazu, alle anderen über sich selbst zu stellen … und zwar fast zu sehr.
»Wie wäre es, wenn ich dir als Entschuldigung Frühstück mache? Von wegen leerer Bauch studiert nicht gern und so.«
»Musst du nicht.«
»Ist doch kein Ding. Ich wollte mir sowieso etwas zubereiten. Ich mach einfach etwas mehr.«
Sie steht auf und geht beschwingt in die Küche. Ich sollte es einfach dabei belassen und mich wieder meinem Lernstoff widmen, aber irgendwas lässt mir keine Ruhe, und ich kann dem Drang nicht widerstehen, ein bisschen nachzubohren. Neugier und Katzen und töten hin oder her. Ich folge Dylan, lehne mich direkt vor der Küche an die Wand und sehe zu, wie sie Pfannen, Speck, Eier und Kochbesteck herausholt.
»Du wirkst verändert«, sage ich. »Glücklicher. Nicht dass du vorher traurig gewirkt hättest, aber …« Ich verstumme, weil ich nicht genau weiß, was sie vorher war. Sie schien immer vollkommen zufrieden gewesen zu sein, intelligent, sogar kontaktfreudig. Äußerlich sah ihr Leben so gut wie perfekt aus. Also, entweder gab es etwas, wovon ich nichts wusste, oder dieser Silas ist die Superheldenversion von einem Liebhaber.
Oder … vielleicht ist der Sex wirklich so gut. Vielleicht wird sie einfach nur von einer Unmenge Endorphinen überflutet.
»Ich bin glücklich. Glücklicher.« Sie grinst in sich hinein, als sie sich an die Zubereitung des Frühstücks macht. »Warst du schon mal sicher, etwas zu wissen, bis sich herausstellte, dass du völlig falsch lagst?«
Ich denke kurz nach. »In letzter Zeit nicht, nein. Ich sehe normalerweise nichts als sicher an, bevor ich eine Theorie mehrfach geprüft habe.«
»Ich spreche doch nicht von Naturwissenschaften oder Mathe, Nell. Ich meine … über dich. Hast du jemals etwas über dein Leben gedacht und irgendwann deine Meinung geändert?«
»In der Mittelstufe habe ich eine Zeit lang gedacht, weißer Eyeliner würde mir schmeicheln.«
Sie lacht, und ich bin froh, denn ihre Worte liegen mir schwer im Magen. Tatsächlich gibt es etwas, das ich in letzter Zeit infrage stelle. Oder genauer gesagt: mich stur weigere infrage zu stellen, auch wenn ich es will.
»Ich sage nur so viel«, fährt sie fort, »nämlich, dass ich dachte, ich könnte leben, indem ich mich nur von meinem Kopf leiten lasse. Dass es mich erfüllen würde, wenn ich andere Menschen glücklich mache und meine Ziele verwirkliche. Aber nie hätte ich geahnt, wie viel ich verpasse, bis mein Herz ins Spiel kam. Es sind die kleinen Dinge … wie zu Silas’ Spielen zu gehen und auf Partys, neue Leute kennenzulernen und spontan zu sein. Ich habe das Gefühl, ich habe die letzten beiden Collegejahre damit vergeudet, zu schnell erwachsen werden zu wollen, und jetzt hole ich alles nach.«
Meine Stirn legt sich in Falten. »Wenn du die letzten zwei Jahre vergeudet hast, was sagt das dann über mich aus?«
Ich habe meine Zeit gut genutzt. Nicht viele in unserem Alter können von sich behaupten, dass sie das College nach nur zweieinhalb Jahren abschließen. Klar, ich habe hier mit Tonnen von Stunden aus AP-Examen, Sommerkursen und so weiter angefangen, aber keiner kann sagen, ich hätte meine Zeit vertrödelt.
Ich hatte die Frage rhetorisch gemeint, aber als sie schweigt und meinem Blick ausweicht, überdenke ich meine Worte noch einmal.
»Du glaubst, ich vergeude meine Zeit?«
Ihre Antwort kommt langsam und behutsam. »Ich glaube, dass du und ich uns sehr ähnlich waren.«
»Waren?«
»Sind. Du und ich, wir tendieren beide dazu, uns auf Leistungen zu konzentrieren, Punkte und Ziele auf einer Liste abzuhaken. Und was mir jetzt klar wird, ist, dass es im Leben nicht darauf ankommt, was man erreicht, sondern wie man es erreicht. Wir haben uns beide mit Vollgas auf unsere Ziele zubewegt, aber ich weiß, ich hatte noch nicht genug gelebt, um überhaupt zu wissen, was ich wollte. Bei den meisten Dingen lag ich sogar völlig daneben.«
»Und du glaubst, ich liege auch daneben?«
Verdammt. Fragen, die ich mir nicht erlaube zuzulassen – was viel schwerer ist, wenn jemand anders sie für dich stellt.
»Nein, das sage ich nicht. Das kann ich ja nicht wissen, sondern nur du.« Sie macht eine Pause und sieht mich abschätzend an. »Ich sage nur, das College ist eine Zeit zum Experimentieren. Wenn du versuchen würdest, eine Gleichung zu lösen oder eine Theorie zu überprüfen, würdest du sie nicht nur aus einem Blickwinkel betrachten. Du würdest alle Möglichkeiten auswerten, verschiedene Methoden abwägen, jede Variable genau prüfen. Also solltest du vielleicht auch deine Zeit hier als Gelegenheit ansehen, deine Möglichkeiten auszuloten. Versuch und Irrtum. Vor allem, weil du frühzeitig abgehst. Weil du das hier abschließt und weitergehst auf die Grad School. Ich weiß nicht, wie viele Gelegenheiten dir dann noch bleiben.«
Ich muss zugeben, da ist was dran. Wenn ich etwas bin, dann übergründlich. Aber hier habe ich das nicht gemacht. Ich habe mich für Biomedizinische Technik entschieden und dann den Kopf in die Bücher gesteckt. Es gab kein wie auch immer geartetes Ausloten oder Experimentieren. In meinen Kursen und Praktika würde ich niemals ein vorbestimmtes Ergebnis wählen und dann meine Studien in genau diese Richtung lenken. Das ist nicht vernünftig. Das ist nicht … schlau.
»Also?«, frage ich. »Soll ich mich jetzt betrinken und mit einem Lampenschirm auf dem Kopf herumtanzen?« Das ist sicherlich auch nicht schlauer als mein bisheriges Verhalten.
Sie hält inne und lacht. Sie hört gar nicht mehr auf zu lachen. »So was … wäre mir nie in den Sinn gekommen. Nein, du brauchst nicht betrunken mit einem Lampenschirm herumzutanzen. Es sei denn, du hast Lust darauf, dann tu dir keinen Zwang an. Ich finde einfach, du solltest mal aus deiner Routine ausbrechen und ganz normale Collegesachen machen.«
Was soll das denn nun wieder heißen?
Einen Moment lang runzele ich die Stirn, dann deute ich Richtung Wohnzimmer. »Ich geh lernen.«
Nur dass ich das gar nicht mache.
Stattdessen setze ich mich aufs Sofa und denke nach, worüber ich nicht nachdenken sollte.
Zwei Monate bis zu meinem Abschluss. Zwei Monate, bis ich mit dem College fertig bin.
Klar, ich habe für das Frühlingssemester eine Forschungsstelle in Aussicht und bewerbe mich für nächsten Herbst bei Graduiertenschulen, aber auch wenn ich weiß, dass ich noch eine lange Ausbildung vor mir habe, hat es so etwas Endgültiges an sich.
Das College ist eine große Phase der Wandlung, und wenn es vorbei ist, soll man die Wandlung vollzogen haben. Man ist nicht nur altersmäßig erwachsen, sondern auch erfahrungsmäßig. Das Problem ist …
Ich fühle mich nicht anders.
Ich fühle mich nicht wie jemand, der sich zu den ersten Schritten seiner Karriere aufmacht.
Ich fühle mich nicht anders als am ersten Tag, als ich den Fuß auf den Campus setzte.
Sicherlich habe ich eine Menge gelernt. Meine Naturwissenschafts- und Mathelehrer von der Highschool könnten bei dem Zeug, mit dem ich hier zu tun habe, selbst noch was lernen. Aber ich – das Ich, das nicht daraus besteht, was ich in Büchern gelesen, für Kurse oder im Labor gelernt habe –, jenes Mädchen, hat sich in mehr als zwei Jahren hier kaum verändert.
Und in ruhigen Momenten, wenn mein Gehirn nicht mit irgendeiner Aufgabe oder Analyse beschäftigt ist, frage ich mich, ob ich bereit bin. Und was geschieht, wenn nicht?
Mit Dylans Worten im Kopf schlage ich eine neue Seite in meinem Collegeblock auf, greife nach einem Stift und schreibe.
Normale Collegesachen
Ich starre auf die Buchstaben, die ich oben auf die Seite gekritzelt habe, und denke daran, wie Dylan sich in den letzten paar Monaten verändert hat, an das »Normal«, zu dem sie gefunden hat. Dann schreibe ich den ersten Punkt auf meine Liste.
Einen Sportler aufreißen.
Ich starre auf die drei Wörter und lache. Sie sind einfach so weit außerhalb meines Erfahrungsbereichs, dass ich es mir noch nicht mal vorstellen kann. Davon abgesehen … es ist nicht gerade so, als verfügten Sportler per se über ein magisches Gen, das sie befähigt, die Welt eines Mädchens auf den Kopf zu stellen.
Und ein Kerl ist auch nicht der alleinige Grund, dass Dylan glücklicher ist. Sie hat sich einfach richtig entschieden, was sie auch immer für eine merkwürdige Erleuchtung erlebt hat. Der Typ ist bloß der Katalysator.
Vielleicht brauche ich auch nichts weiter. Ich könnte ein paar neue Sachen ausprobieren, mich aus meinem Wissensbereich, meinem vertrauten Feld herausbewegen. Vielleicht katapultiert es mich ja vorwärts in eine bisher unbekannte Zukunft.
Oder – was wahrscheinlicher ist – es zeigt mir, dass ich die ganze Zeit richtig lag. Dass ich weiß, wer ich bin und was ich will, und dass all diese Zweifel nur mein Hirn sind, das vor Veränderungen zurückscheut.
Mit diesem Gedanken tue ich, was für mein überorganisiertes Gehirn ganz natürlich ist.
Ich mache eine Liste.
Nells To-do-Liste:
Normale Collegesache Nr. 2 abhaken: Neue Freunde finden
Endlich Wäsche waschen, du Faulpelz!
»Ehrlich gesagt«, sagt Dylan, »hätte ich nie gedacht, dass du zusagst, als ich dich eingeladen habe, mit Silas’ Freunden Ultimate Frisbee zu spielen.«
Ich zucke zusammen. »Wolltest du gar nicht, dass ich mitkomme?« Ich zupfe an dem zu engen Sport-BH, der meine Brüste so hochdrückt, dass ich das Gefühl habe, sie könnten rebellieren und den Stoff mitten durchreißen. Ich hab mir das blöde Teil von Dylan ausgeliehen, weil ich eigentlich nie Anlass hatte, selbst einen Sport-BH zu besitzen. Aber sie hat mindestens zwei Körbchengrößen weniger als ich, und jetzt fürchte ich, in meinem eigenen Dekolleté zu ersticken. »Ich muss nicht unbedingt. Wirklich.«
Im Kopf mache ich mir eine Notiz, Sport-BH kaufen auf meine Liste zu setzen.
»Nein! Nein. Ich kann es kaum erwarten, dass du sie alle kennenlernst. Ich war nur … überrascht, das ist alles.«
Ich zucke mit den Achseln. »Ich habe über das nachgedacht, was du letzte Woche gesagt hast. Von wegen ausloten, was das College alles zu bieten hat.« Dylan lächelt mich an, und ich bin mir ziemlich sicher, dass man ihren Blick als selbstzufrieden bezeichnen könnte. Ich füge hinzu: »Außerdem stehen keine Klausuren an, und ich habe alle Aufgaben für die nächsten eineinhalb Wochen erledigt.«
Sie schüttelt den Kopf und beugt sich vor, um an der Klimaanlage ihres Autos herumzustellen. »Das war mir klar.«
Sie dreht die Lüftung hoch, und ich bin dankbar für den kühlen Luftzug. Nur in Texas ist es im Oktober noch so warm. Ich nehme mein Haar im Nacken zusammen und bin froh, dass ich stets ein Haargummi am Handgelenk trage. Die Luft fühlt sich gut an auf der frisch befreiten und verschwitzten Haut in meinem Nacken.
»Dann erzähl mal, was ich über diese Leute wissen muss.«
Nachdenklich trommelt Dylan auf dem Lenkrad herum und sagt: »Tja, Silas kennst du ja schon. Irgendwie. Er ist … Er … na ja, er ist schwer zu beschreiben, aber er wird nett zu dir sein. Darüber brauchst du dir also keine Gedanken zu machen. Sie sind alle echt nett. Seine beiden Mitbewohner kommen. Isaiah Brookes – die Jungs nennen ihn entweder bei seinem Nachnamen oder Zay. Ich glaube, den könntest du mögen. Er ist manchmal etwas schwer einzuschätzen, aber sehr … nachdenklich. Klug. Geradeheraus. Das habt ihr beide gemeinsam. Sein anderer Mitbewohner ist Torres.«
»Auch ein Nachname?«, frage ich.
»Mateo Torres. Aber jeder nennt jeden beim Nachnamen. Das ist so beim Sport. Oder bei Kerlen. Ich weiß auch nicht so genau. Aber du gewöhnst dich daran.«
»Ich will aber nicht, dass die Leute mich De Luca nennen. Das klingt doch doof. Ich muss mich also daran gewöhnen, auf einen anderen Namen zu hören, und dabei noch einen ganz neuen Sport lernen. Hört sich stressig an.«
»Bei den Mädchen machen sie es nicht so. Und wirklich, Ultimate Frisbee ist nicht kompliziert. Das kriegst du schon hin. Versprochen.«
»Na schön. Zurück zu den Leuten. Du warst dabei, von jemandem namens Torres zu erzählen.«
Dylan verzieht das Gesicht und entgegnet etwas zugeknöpft: »Vielleicht wäre es besser, wenn du nicht allzu viel Zeit mit Torres verbringst.«
»Warum? Ist er gefährlich?«
»Gott, nein. Er ist einfach nur unverschämt. Ich weiß doch, dass du dich ungern in Verlegenheit bringen lässt, und wenn Torres in der Nähe ist, nun ja, dann ist so was unvermeidlich. Irgendwas sagt oder tut er immer, oder er zieht seine Klamotten aus.«
Noch mehr nackte Kerle?
»Von Torres fernhalten. Alles klar. Weiter.«
»Dann sind da Carson und Dallas. Sie sind jetzt ein Jahr zusammen und so was wie der Ruhepol der Gruppe. Carson ist der Quarterback, also auch der Mannschaftsführer, und er neigt dazu, diese Rolle auch außerhalb des Spielfelds einzunehmen.«
Ich schürze die Lippen. »Interessant. Ist das so üblich? Lassen alle außerhalb des Spielfelds ihre sportlichen Neigungen und Stärken raushängen?«
Dylan denkt kurz darüber nach. »Vielleicht. Ja, kann sein. So hatte ich es bisher nicht gesehen, aber eigentlich schon. Carson ist derjenige, der die Kontrolle über das Team hat, der sie alle liest wie ein Buch. Silas ist die Kraft auf dem Platz. Er macht die kurzen, schwierigen Läufe durch eine zähe Verteidigung hindurch. So ist er auch im echten Leben. Er kann fast alles durchstehen. Torres ist auf dem Feld genauso auffällig wie außerhalb. Brookes spielt auf derselben Position wie Torres, aber er ist der tendenziell Zuverlässigere. Er ist derjenige, dem sie die leichteren Würfe geben, während Torres die größeren, riskanteren Spielzüge macht.«
Ich denke einen Moment lang darüber nach, aber es sind zu viele Informationen, um sie zu verdauen, und das über Leute, denen ich noch nicht einmal begegnet bin. Also lege ich sie ab für später, wenn ich Gesichter an die Namen heften kann.
»Okay. Wer noch?«
»Also, dann gibt es noch Ryan. Er ist nicht in der Mannschaft, sondern der Manager. Er ist witzig und lässig. Dallas hatte ich erwähnt. Mit ihr kann man Spaß haben, sie ist mutig und ehrlich. Ich bin nicht sicher, ob auch Stella kommt, Dallas’ Zimmergenossin. Sie ist cool, aber …«
»Aber was?«
»Nichts. In letzter Zeit ist sie nur etwas unberechenbar.«
»Inwiefern?«
»Es hängt vom Tag ab. Normalerweise ist sie lebhaft und extrovertiert und steht gern im Mittelpunkt. Aber im Moment ist sie irgendwie … sie hat ein paar Probleme, und deshalb ist sie manchmal … anders.«
»Wie anders?«
Dylan seufzt, und ich bin ziemlich sicher, dass ich zu viele Fragen stelle. Einer meiner Fehler. Oder Stärken, je nach Situation.
»Keine Ahnung, Nell. Es variiert. Sei einfach verständnisvoll mit ihr, und ich bin sicher, alles wird gut.«
Ich beschließe, vorerst keine Fragen mehr zu stellen, und sie redet nicht weiter, also vermute ich, dass die Gruppe damit komplett ist. Es ist Sonntag, daher ist der Parkplatz in der Nähe der Außenplätze am Naturwissenschaftsgebäude ziemlich leer.
»Bist du bereit?«, fragt sie, und ich nicke. »Sei nicht nervös.«
»Bin ich nicht.«
Es hat wenig Sinn, nervös zu sein, wenn ich gar nicht weiß, was auf mich zukommt. Und mal ehrlich, wie schwer kann dieses Spiel schon sein?
Zehn Sekunden nachdem ich das Spielfeld betreten habe, segelt ein fremdes Frisbee in meine Richtung, und hinter ihm kommt ein großer, verschwitzter Typ direkt auf mich zugesprintet. Ich schreie auf, halte mir die Hände über den Kopf und mache mich klein. Ein Luftzug weht über meinen Kopf hinweg, etwas Schweres trifft meine Unterarme und zwingt mich in die Knie, und dann höre ich einen dumpfen Schlag, ein, zwei Meter von mir entfernt.
Als ich meine Arme so weit hebe, um darunter hervorzuspähen, sehe ich den Kerl, der auf mich zugerannt kam und jetzt auf der anderen Seite von mir flach auf dem Bauch liegt.
Er ist einfach über mich gesprungen.
Plötzlich scheint das unkomplizierte und harmlose Frisbeespiel, das ich mir vorgestellt hatte, wesentlich stressiger zu werden. Der Typ rollt sich auf den Rücken und springt wieder auf. Dylan packt mich am Arm und zieht mich hoch, von dem Spiel weg. Sobald wir in Sicherheit sind, legen sie wieder mit Volldampf los. Als wir uns einer Gruppe nähern, die um einen Picknicktisch herumsitzt, höre ich eine laute Stimme sagen: »Die wähle ich in mein Team.«
Der zu der Stimme gehörige Typ ist groß und breitschultrig. Seine Haut ist von einem warmen Bronzeton, und sein dunkles Haar kurz. Seine Zähne, die er mir zeigt, als er mich anlächelt, sind strahlend weiß. Und ich bin ziemlich sicher, dass er mich gerade beleidigt hat, trotz seines Grinsens.
Dylans Freund boxt ihm gegen den Arm. »Sei kein Arsch.«
»Ich bin kein Arsch. Ich necke das Mädchen nur, damit sie sich wie ein Teil der Gruppe fühlt. Es gehört zu meiner Willkommensstrategie. Was sagst du, Hübsche? Fühlst du dich willkommen?«
Sein Ton ist verspielt und leichtfertig, aber sein Blick hat eine Intensität, die mich verunsichert. Wie versteinert mustere ich ihn und weiß es sofort. »Du bist Torres.«
Alle lachen, und ein Mädchen mit feuerroten Haaren sagt: »Bei ihr klingt schon dein Name irgendwie wie eine Beleidigung, Teo. Ich glaube, sie passt hier genau rein.«
Teo. Ich versuche mich zu erinnern, welchen Vornamen Dylan erwähnt hatte. Mateo?
Er führt eine Hand an seine Brust, links, wo sein Herz sitzt, und wirft mir einen verletzten Blick zu – Welpe hoch zehn. Ich kann mich nicht entscheiden, ob das in mir den Wunsch weckt, näher zu kommen oder in die andere Richtung davonzurennen.
»Immerhin weiß sie, wer ich bin«, sagt er. »Keiner von euch Luschen ist so wichtig.«
Ich sehe mir den Rest der Gruppe an und versuche nach und nach die Personen den Beschreibungen zuzuordnen. Das Mädchen mit den roten Haaren ist am offensichtlichsten. Ein großer, attraktiver Kerl hat einen Arm um ihre Schultern gelegt, und sie bilden eindeutig den Kern der Gruppe.
Ich deute auf sie: »Dallas und Carson.« Der als Carson Bezeichnete hebt überrascht die Augenbrauen. Nur ein Mädchen ist noch anwesend, eine zierliche Asiatin mit dunklen Haaren, kurz geschnitten und um ein hübsches Gesicht herum gestylt. »Du musst Stella sein.« Lächelnd deutet sie mit einem Finger auf den lockigen Typ neben ihr und formt »Ryan« mit den Lippen. Nickend nehme ich ihren Hinweis auf und benenne auch ihn. Den nächsten habe ich erst vor wenigen Tagen nackt in meiner Küche gesehen. Das Gesicht werde ich nicht so schnell wieder vergessen. »Das ist Silas, was bedeutet …« Ich wende mich dem letzten noch nicht identifizierten Typ zu, ein großer Schwarzer mit Muskeln, die wie gemeißelt sind, und einem symmetrischen Gesicht. Ich verstehe, was Dylan damit meinte, dass er am schwersten einzuschätzen sei. Aber er sieht mich mit einem berechnenden Gesichtsausdruck an, der mich an mich selbst erinnert, und ich lächle. »Und du musst Isaiah Brookes sein.«
Mit einem Pfiff zieht Torres meine Aufmerksamkeit wieder auf sich. »Wie kommt es, dass du seinen vollen Namen kennst?«
Ich zucke mit den Schultern.
Er springt von dem Picknicktisch hinunter, auf dem er gesessen hat, und ist mit wenigen langen Schritten bei mir. Als würde er mich seit Jahren kennen und nicht erst seit ein paar Minuten, legt er mir einen Arm um die Schultern, und plötzlich bin ich eng an den härtesten Körper gepresst, den ich je im echten Leben berührt habe. Genau genommen bin ich einem so definierten Körper am nächsten bei diesen Erste Hilfe-Übungspuppen gekommen, die aus Metall, Gummi und Plastik bestehen.
Torres sagt: »Vergesst, was ich vorhin gesagt habe. Ich will sie nicht in meinem Team, ich will sie bei meinen Hausaufgaben. Sie ist ein Genie oder so was.«
»Oder sie hat Bilder von uns gesehen«, sagt Brookes, der mich immer noch taxiert.
Torres fragt Dylan: »Hast du ihr Bilder von uns gezeigt, Captain Planet? Ich hoffe, du hattest ein gutes von mir.«
»Nein, ich hab ihr gesagt, dass du auffällig und unverschämt bist. Sie hat ganz allein eins und eins zusammengezählt.«
Das Gelächter, das auf Dylans Erklärung folgt, ist noch lauter als zuvor und dauert einige lange Sekunden an, in denen ich rasch die Runde überfliege und versuche, die gesamte Dynamik zu erfassen, aber meine Gedanken fallen komplett in sich zusammen, als ich heißen Atem an meinem Ohr spüre und dann etwas, das Lippen sein müssen, die meine Haut streifen. Torres fragt: »Wie heißt du?«
Es muss der Autopilot sein, der mich antworten lässt, denn all meine bewussten Gedanken sind zu sehr von diesem Körper vereinnahmt, der sich viel zu dicht an mich drängt, von seiner Wärme und dem schwachen Duft von etwas Zitronig-Holzigem, den seine Haut verströmt.
»Nell.«
»Nell – und weiter?«
Ich zögere. Ich will nach wie vor nicht bei meinem Nachnamen genannt werden.
»Einfach nur Nell.«
»Na schön, einfach nur Nell. Ich bin Mateo.«
Seine Lippen berühren immer noch ganz zart meine Ohrmuschel, die Hitze seines Atems kitzelt mich, und ich kann bereits spüren, wie mir die Röte ins Gesicht schießt. Und wer kommt einer völlig fremden Person schon so nah?
Hallo? Grenzen?
Ich schüttele seinen Arm von meinen Schultern und sage das Erste, was mir in den Sinn kommt. »Ich soll mich von dir fernhalten.«
Ich höre mich verrückt an. Wie ein Kind, das Angst vor einem Fremden hat, der ihm Bonbons anbietet, aber so blödsinnig das auch klingt, genauso fühle ich mich. All meine Sinne sind in Alarmbereitschaft, die Haare auf meinen Unterarmen stellen sich auf, und mein Atem geht schneller, als es durch mein absolutes Stillstehen gerechtfertigt wäre.
Ich fühle mich wie Beute.
Er tut nichts, als mich anzulächeln. Und sein Lächeln sagt mir, dass er genau null Absichten hat, irgendeinen Abstand zwischen uns zu schaffen.
In dem Moment kommt ein schlanker kleinerer Schwarzer im Laufschritt an und sagt: »Hi. Tut mir leid, dass ich zu spät komme.« Als er gut einen Meter entfernt stehen bleibt, korrigiere ich meine Beschreibung in weniger groß. Er ist vielleicht nicht so hoch aufragend wie der Grenzen missachtende Kerl neben mir, aber immer noch groß.
Carson, den Dylan als den Anführer der Gruppe bezeichnet hat, tritt vor und sagt: »Kein Problem, wir haben dir ja auch sehr kurzfristig Bescheid gesagt.« Er stellt den Neuen als Keyon vor und dann mich und Dylan. Ich vermute mal, alle anderen kennt er. Dann fügt Carson hinzu: »Und damit sind wir zehn, eine gerade Zahl, wir können also Teams bilden und loslegen.«
Torres hebt die Hand: »Ich bin Mannschaftskapitän.«
Seine Ankündigung verwandelt meinen Magen in ein Nervenbündel, ohne dass ich weiß, warum.
Carson zögert kurz, dann zuckt er die Achseln. »Meinetwegen. Du und Brookes seid wahrscheinlich die schnellsten. Also könnt ihr Kapitäne sein.«
Sie werfen eine Münze, und Brookes darf als Erster wählen. Ich rechne damit, dass er einen von den Jungs nimmt, das ist schließlich am naheliegendsten. Als Footballspieler sind sie in Form und von Natur aus sportlicher. Aber stattdessen wendet er sich Torres zu, die Augen zusammengekniffen. Dann sieht er zu mir.
»Nell heißt du?«, fragt er.
Er hat etwas an sich, das gebieterisch und zugleich vertrauenserweckend, fast tröstlich wirkt. Wenn er mich noch lange so anschaut, verrate ich ihm vielleicht nicht nur meinen vollen Namen, sondern auch Geburtsdatum, Sozialversicherungsnummer und alles, was er sonst noch wissen will.
Aber vorerst nicke ich nur.
Er blickt Torres mit hochgezogener Augenbraue an und sagt: »Ich nehme Nell.«
Mateo
Ach, verdammte Scheiße. Es ist, als wäre Zay nur auf der Welt, um mir den ganzen Spaß zu verderben. Mit zusammengekniffenen Augen blicke ich ihn an und frage mich, was er genau im Schilde führt. Ich mustere Nell, als sie mich verlässt. Sie ist hübsch, keine Frage. Klein und mit Kurven, die einen umbringen könnten. Lange, dunkle Haare und glatte Olivenhaut. Und sie ist schüchtern.
Keine Ahnung, warum, aber ich hatte schon immer was für Schüchterne übrig. Mir gefällt es, derjenige zu sein, der ihre harte Schale knackt.
Will Brookes sie etwa auch? Geht es darum? Oder will er nur nicht, dass ich sie kriege? Wahrscheinlich Letzteres. Ich höre schon seine Standpauke.
Finger weg von Dylans Freundinnen. Wenn du sie verärgerst, was unvermeidlich ist, oder ihnen das Herz brichst, ist die ganze Gruppe sauer auf dich.
Ich bin kein Idiot. Ich werde einen Teufel tun, was mit Dylans Freundin anzufangen, denn dann hätte ich Dylans Freund im Nacken. Und Silas Moore ist kein angenehmer Zeitgenosse, wenn seine Freundin unzufrieden ist.
Aber das heißt doch nicht, dass ich nicht mit ihr flirten darf. Im Gegensatz zur allgemein herrschenden Meinung weiß ich, wo ich die Grenze ziehen muss.
Na ja, bloß weil Brookes einen ritterlichen Stock im Arsch hat, heißt das noch lange nicht, dass ich mich dumm stellen muss. Ich werde kein anderes Mädchen wählen, bloß um für einen Ausgleich zu sorgen.
»Silas«, sage ich.
»Dylan«, wählt Brookes.
Sie blinzelt ein paarmal, bevor sie rüber zu Brookes und ihrer Freundin geht. Sie sagt: »Ich glaube, das ist das erste Mal, dass ich bei so was nicht als Letzte gewählt werde.«
Ich werfe ihm einen Blick zu und frage mich, was für ein Spiel er spielt.
Ich wähle McClain. Er wählt Dallas.
Und da kapiere ich es.
Er will die Mädchen benutzen, um meine Jungs abzulenken.
Hinterhältiger kleiner Scheißer.
Tja, bei dem Spiel können zwei mitmachen.
»Stella«, sage ich.
Seufzend wirft sie mir einen Blick zu. »Falsche Entscheidung, Torres. Ganz falsch.«
Als Nächstes sucht Brookes Keyon aus, was ich eigentlich hätte tun sollen. Er gehört nicht zu unserer Clique. Er wird sich von niemandem ablenken lassen. Verflucht. Bleibt für mich nur noch Ryan. Er sagt: »Jaja. Der Manager wird zuletzt gewählt. Schon verstanden.«
Stella zuckt mit den Schultern. »Du bist weder Collegesportler, noch hast du Titten. War doch klar, dass du der Letzte bist. Finde dich damit ab.«
Meine Mannschaft versammelt sich hinter mir, und ich nehme mir einen Moment Zeit, um unsere Gegner einzuschätzen. Brookes, Keyon und drei umwerfende Mädels, von denen zwei mit meinen beiden besten Kandidaten zusammen sind.
Fuck.
Kaum haben wir die Köpfe zum Strategiegespräch zusammengesteckt, da sagt Silas: »Ich decke Dylan.«
Ich habe kaum Zeit, den Mund aufzumachen, als Carson auch schon einwirft: »Und ich Dallas.«
»Ach, kommt schon, Leute. Ihr macht genau das, was Brookes will.«
Silas zuckt die Achseln. »Niemand sonst kommt so nah an mein Mädchen ran, um Mann gegen Frau zu spielen. Sorry.«
»Meine Rede«, ergänzt Carson.
Ich seufze. »Unglaublich. Ist das so was wie eine Krankheit? Verdreht es einem vielleicht das Hirn, wenn man bei einem Mädchen lang genug andockt? Wir sind Sportler. Euch sollte wichtig sein, wie wir gewinnen können.«
Silas sagt: »Mir ist wichtig, Dylan in knappen Shorts zu sehen. Das sind im Moment meine Prioritäten.«
Un-fucking-fassbar.
»Na schön. Ich decke Brookes. Ryan, du nimmst Keyon, und Stella das kleine Genie.«
Das ist das Beste, was wir machen können.
Wir müssen warten, bis Brookes Nell die Regeln erklärt hat, und ich nutze die Zeit, um mit meiner Mannschaft die Strategie zu besprechen. Ich blicke McClain und Moore an und sage: »Ihr beiden. Keine Rücksicht auf eure Freundinnen. Lasst sie nicht an euch vorbei, bloß weil ihr Angst habt, sie lassen euch sonst heute Abend nicht ran.«
Damit handele ich mir bloß ein sarkastisches »Ja klar, Coach« ein.
Brookes durfte als Erster wählen, also bekommt mein Team die Scheibe zuerst. Wie vorherzusehen war, spielt Brookes’ Mannschaft auf Manndeckung und hat die Mädchen ihren jeweiligen Freunden zugeteilt. Innerhalb von Sekunden wird klar, dass die Mädchen unsportlich spielen wollen. Eigentlich ist Ultimate kein Kontaktsport, und man kann Foul anzeigen, wenn es zu weit geht.
McClain und Moore zeigen mit Sicherheit kein Foul an, wenn ihre Mädchen auf Körperkontakt gehen. Ich werfe einen kurzen Pass zu Ryan, der die Scheibe gerade noch fängt, bevor Keyon an ihm vorbeifliegt und versucht, sie zu Boden zu schlagen. Ich renne los, aber Brookes ist mir dicht auf den Fersen. Ich wirbele herum, ändere ein paarmal die Richtung und versuche, ihn abzuschütteln, doch er sitzt mir immer noch im Nacken. Die Regeln des Spiels besagen, dass man nicht mit der Scheibe rennen darf, also sitzt Ryan fest, bis jemand aus unserem Team frei ist, damit er ihn anspielen kann.
Aus dem Handgelenk lässt er die Scheibe auf McClain zusegeln, und mit Entsetzen sehe ich zu, wie sich Dallas vor ihn schiebt und sie abfängt.
In dem Stil geht das Spiel die nächsten fünf Minuten weiter, und wir liegen mit null zu drei zurück, als Stella Auszeit ruft.
»Hey«, sage ich. »Ich bin der Kapitän. Ich rufe Auszeiten aus.«
»Ja schon, aber die treten uns doch in den Arsch, Captain.«
Dem kann ich nicht widersprechen.
Die Hände in die Hüften gestemmt, steht Stella da, und selbst verschwitzt sieht sie hübsch aus. Wie machen Mädels das bloß immer?
»Lass mich Keyon decken«, sagt sie.
»Wieso? Nichts gegen dich, aber er ist wesentlich schneller als du.«
»Er ist auch schneller als Ryan. Und wie ich schon sagte … nur eine Person in dieser Mannschaft hat Titten.«
»Auf gar keinen Fall«, mischt sich Ryan ein.
Stella verdreht die Augen. »Komm schon. Er ist ein Freshman. Ich flirte ein bisschen mit ihm. Mache vielleicht einen Schmollmund darüber, wie hart das Spiel ist. Er wird ein leichtes Ziel sein.«
Ryan starrt sie zornig an. »Du brauchst dich ihm nicht an den Hals zu werfen nur wegen eines blöden Spiels.«
Sie ignoriert ihn und sieht mich an. »Was sagst du, Captain?«
Ryan verschränkt die Arme vor der Brust und richtet seinen wütenden Blick jetzt auf mich. Ich bin mir nicht sicher, ob seine miese Stimmung daher rührt, dass er etwas für Stella übrig hat und nicht will, dass sie mit einem anderen Kerl flirtet, oder ob er wegen dem, was vor ein paar Wochen auf dieser Verbindungsparty passiert ist, den Beschützer spielt. Ich kenne die Einzelheiten nicht. Stella spricht auf jeden Fall nicht darüber, und ich weiß, dass es Silas und Dylan waren, die sie bewusstlos in einem Zimmer gefunden haben, nachdem sie von einem aus der Mannschaft dort zurückgelassen worden war. Silas hat sich mit dem Typen, Jake Carter, geprügelt, und ich kam ungefähr zur gleichen Zeit dazu wie die Bullen. Carter ist daraufhin aus dem Team geflogen, aber er wurde nicht verhaftet und ist immer noch an der Uni eingeschrieben. Von Leuten auf dem Campus habe ich jede Menge Spekulationen darüber gehört, was in jenem Zimmer passiert ist, und danach, und was als Nächstes geschehen wird, aber hier hat niemand ein Wort darüber verloren. Jedenfalls nicht mir gegenüber.
Zu mir kommt nie jemand, um ein ernsthaftes Gespräch zu führen. Ich schüttle den leichten Stich ab, den dieser Gedanke verursacht. Nicht dass ich Ernsthaftigkeit will. Die meiste Zeit verbringe ich damit, allen überdeutlich zu machen, dass mein Name und dieses Wort nicht mal in denselben Satz gehören.
Aber für einen Moment wünschte ich, die Leute würden mir etwas mehr vertrauen. Dann wüsste ich, ob es eine blöde Idee ist, Stella mit Keyon flirten zu lassen. Daraus, wie alle sie mit Samthandschuhen anfassen, schließe ich, dass da ziemlich großer Mist passiert ist. Aber auf der anderen Seite verhält sich Stella, als hätte sich nichts geändert. Mir vertraut vielleicht nicht jeder seine Geheimnisse an, aber ich kenne Stella gut genug, um zu wissen, dass sie es nicht leiden kann, wenn andere ihr sagen, was sie tun soll. Wenn sie das machen will, kann ich ihr es verbieten? Silas und Carson schweigen zu dem Thema, also vermute ich, dass sie sich da auch nicht einmischen wollen.
Ich begegne ihrem entschlossenen Blick und nicke. Ryan flucht, und ich sage: »Ein Versuch kann nicht schaden. Wenn es nicht funktioniert oder du wieder wechseln willst, Stella, musst du es bloß sagen.«
Sie schenkt mir dafür ein süßes Lächeln und sagt: »Ihr könnt euch jetzt bei mir bedanken.«
Ein paar Minuten des Flirtens später, und plötzlich beschließt Keyon, dass er lieber Stella decken will als Ryan. Während Nell noch dahinter zu kommen versucht, für wen sie jetzt zuständig ist, erzielt Ryan unseren ersten Punkt in diesem Spiel.
Beim nächsten Mal versucht Brookes ihr zu helfen, die entstandene Lücke auszufüllen, aber er kann ihr nicht gleichzeitig mit Ryan helfen und mich erfolgreich decken. Carson lässt lang genug von seinem Flirt ab, um einen hohen und langen Pass in meine Richtung zu spielen. Ich sprinte darunter hindurch bis in die Endzone. Brookes ist über einen Meter hinter mir, und ich mache einen Hechtsprung, um unseren Abstand auf eine Ellenlänge zu verringern.
Brookes ruft eine Auszeit aus, und während sie sich beraten, schließe ich Stella in eine verschwitzte Umarmung.
»Hab ich dir schon gesagt, wie klasse du bist?«
Sie zuckt die Achseln. »Notfalls höre ich mir das auch ein paarmal am Tag an.«
»Also, du bist klasse.«
Ihr Lächeln wirkt leicht und aufrichtig. Jedenfalls, bis ich sie ein paar Sekunden zu lang anstarre, dann versteift sich ihre Haltung, und ich lasse von ihr ab und schaue weg, bevor ich ihr irgendwie zu nahe trete.
Als wir uns aus dem Huddle lösen, bin ich zu siegessicher.
Eine Angewohnheit von mir.
Sie werfen die Scheibe ein paarmal zwischen Dallas und Dylan hin und her, und ich stöhne, als Carson und Silas keinerlei Anstalten machen, die Pässe abzufangen oder wegzuschlagen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es sich um ein Ablenkungsmanöver handelt, also bleibe ich dicht an Brookes und stelle fest, dass auch Ryan näher an mich heranrückt. Er hat wohl denselben Gedanken.
Das Nächste, was ich weiß, ist, dass Dallas die Scheibe über unsere Köpfe fliegen lässt, und als ich nachsehe, steht Nell allein und völlig ungedeckt in der Endzone.
Sie streckt die Hände aus und starrt auf die Scheibe, als wäre es ein Raketengeschoss und nicht ein Stück Plastik. Ich setze mich in ihre Richtung in Bewegung, für den Fall, dass sie sie verfehlt. Ich will mir die Scheibe schnappen und sie so schnell wie möglich wieder ins Spiel bringen.
Während ich sprinte, gleitet ihr die Scheibe durch die Finger und trifft sie direkt in die Brust. Sie schnappt nach Luft, die ihr zweifellos aus der Lunge gewichen ist. Die Scheibe prallt ab, und wenn ich einen Hechtsprung mache, könnte ich sie ganz vielleicht fangen, aber ich kann meine Augen nicht von ihr losreißen. Ihre Brüste quellen förmlich oben aus ihrem winzigen Tanktop heraus. Vorhin, als ich den Arm um sie gelegt hatte, hatte ich einen Platz in der ersten Reihe. Jetzt umklammert sie sich selbst vor Schmerz, aber alles, was ich sehen kann, sind ihre glatten, zarten Arme, die sich gegen die Wölbung ihrer Brüste pressen und sie noch weiter nach oben drücken.
Ich sollte wegsehen, bevor in meinen weiten Sportshorts etwas sehr Peinliches passiert, aber jetzt male ich mir aus, wie dieses schüchterne Mädchen unter mir allmählich locker wird. Allzu leicht kann ich mir jene großen Augen, die sie gemacht hat, als ich meinen Arm um sie gelegt habe, im gedämpften Licht meines Zimmers vorstellen, ihren Kopf auf meinem Kissen und die Beine weit gespreizt.
Sie gibt einen wimmernden Laut von sich, und nun steigen auch meine übrigen Sinne in die Fantasie ein, und ich überlege, wie sie sich anfühlen, anhören, wie sie schmecken würde. Ich frage mich, wie weit ich ihre Hemmungen würde runterschrauben können. So weit, dass sie meinen Namen sagen – oder schreien – würde?
»Verflucht«, stöhne ich und versuche, den Kopf freizukriegen. »Alles in Ordnung?«
Sie sieht zu mir hoch, fasst sich immer noch an die Brust, und auf ihren Wangen macht sich Röte breit. Sie sagt kein Wort.
»Okay«, sage ich. »Man kann das ehrlich nicht fragen, ohne wie ein Schwein zu klingen, also versuche ich es gar nicht erst. Und echt, ich finde, in solchen Situationen kannst du genauso gut volle Kanne gegen die Wand rennen. Also auf die Gefahr hin, eine gelangt zu kriegen: Wie geht’s deinen Titten?« Ich überlege kurz, ob ich ihr anbieten soll, sie für sie zu untersuchen, schätze aber, dass das etwas zu weit ginge.
Sie presst den Mund zu einer festen, geraden Linie zusammen. »Es waren nicht meine …« Sie verstummt.
»Titten«, beende ich den Satz für sie. »Du hast sie. Du kannst das Wort ruhig sagen.«
»Sie hat mein Schlüsselbein getroffen, nicht die Brüste.«
Brüste. Ich ziehe eine Braue hoch, und sie verdreht die Augen.
Ich mache einen Schritt nach vorn und sage: »Lass mich mal sehen.«
»Auf gar keinen Fall.«
Ich mache noch einen Schritt, bis mein Schatten auf sie fällt, dann ergreife ich eins ihrer Handgelenke. »Du hast doch gesagt, du wurdest nicht an den Brüsten getroffen. Also lass mich mal sehen. Mit dem richtigen Schwung und gutem Wind kann eine Frisbee locker dreißig Stundenkilometer schnell fliegen. Ich hab sie schon Finger und Nasen brechen sehen.«
»Mann, Torres!«, ruft Silas hinter mir. »Worauf wartest du? Schnapp dir die Scheibe und weiter geht’s!«
Zögernd frage ich: »Willst du eine Pause machen? Wieder zu Atem kommen und mich nachsehen lassen?«
Stur schüttelt sie den Kopf. »Ich will nicht, dass das Spiel meinetwegen unterbrochen wird.«
Ich drehe mich um und rufe Silas zu: »Nell und ich machen eine Pause. Ihr könnt ja zu acht weiterspielen.«
Am Ellbogen ziehe ich sie vom Feld runter Richtung Picknicktische. Sie protestiert, aber nur schwach, und greift sich immer noch an die Stelle kurz oberhalb ihres Ausschnitts. Und als ich auf sie hinabblicke, sehe ich, dass ihre langen Wimpern in den Augenwinkeln von Tränen benetzt sind.