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Max Miller hat ein Problem: Ihre Eltern haben sich zu einem Besuch angekündigt, und all die beschönigenden Halbwahrheiten, die sie ihnen über ihr Leben in Philadelphia erzählt hat, drohen aufzufliegen. Vor allem ihr Freund Mace ist mit seinen Tätowierungen alles andere als vorzeigbar. Da trifft Max den angehenden Schauspieler Cade und bittet ihn, sich ihren Eltern gegenüber als ihr Freund auszugeben. Doch Cade spielt seine Rolle zu gut, und Max weiß schon bald nicht mehr, wo ihr Spiel endet und wo echte Gefühle beginnen ...
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Seitenzahl: 409
Titel
Zu diesem Buch
Widmung
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Epilog
Danksagungen
Die Autorin
Die Romane von Cora Carmack bei LYX
Impressum
CORA CARMACK
Roman
Ins Deutsche übertragen von
Sonja Häußler
Zu diesem Buch
Mackenzie Miller hat ein Problem: Ihre Eltern haben sich vollkommen überraschend für einen Besuch angemeldet, und all die beschönigenden Halbwahrheiten, die sie ihnen über ihr Leben in Philadelphia erzählt hat, drohen aufzufliegen. Max weiß, dass ihre gefärbten Haare und die Tatsache, dass sie in einer Rockband spielt, schon ausreichen, um auf der Stelle enterbt zu werden. Aber was am schlimmsten ist: Ihre Eltern können es kaum erwarten, Max’ gut gekleideten, höflichen Freund kennenzulernen, von dem sie so oft am Telefon geschwärmt hat. Den gibt es allerdings gar nicht, und ihr tatsächlicher Freund Mace ist mit seinen Tätowierungen alles andere als vorzeigbar. Doch gerade als Max sich mit ihrem Schicksal abgefunden hat, trifft sie auf den angehenden Schauspieler Cade. Mit einem Blick auf sein adrettes Erscheinungsbild ist Max klar, dass vor ihr die Lösung ihres Problems steht: Cade soll sich als ihr Freund ausgeben! Doch Cade, der mit aller Macht versucht, sich von seinen eigenen Problemen abzulenken, stürzt sich etwas zu enthusiastisch in die Rolle: Max’ Eltern sind begeistert von dem freundlichen Schwiegermuttertraum, und so sind die beiden gezwungen, den Schein noch weiter zu wahren – bis auch Max plötzlich nicht mehr klar ist, wo das Spiel endet und wo echte Gefühle beginnen …
Für meine Mutter
Cade
Man sollte annehmen, dass ich mich mittlerweile daran gewöhnt hätte. Dass es sich nicht jedes Mal anfühlte, als würde jemand mein Herz mit einem rostigen Schneebesen zerfetzen, wenn ich sie zusammen sah.
Man sollte annehmen, ich würde aufhören, mich dieser Folter zu unterziehen, die Frau, die ich liebte, mit einem anderen Typen zusammen zu sehen.
All diese Annahmen sind komplett falsch.
Ein Nordostwind war gerade durchgezogen, deshalb war die Luft in Philadelphia frisch. Unter meinen Stiefeln knirschte der Neuschnee. Das Geräusch wirkte ungewöhnlich laut, als wäre ich auf dem Weg zum Galgen anstatt ins Café mit Freunden.
Freunde.
Ich stieß einen dieser lustigen Eigentlich-ist-das-gar-nicht-witzig-Lacher aus, und mein Atem sah dabei aus wie Rauch. Ich sah sie vorne an der Ecke stehen. Bliss hatte die Arme um Garricks Nacken gelegt, die beiden standen eng umschlungen auf dem Bürgersteig. So eingepackt in Mäntel und Schals sahen sie aus wie auf einem Werbefoto in einer Zeitschrift oder einem dieser perfekten Bilder, wie man sie fertig gerahmt kaufen kann.
Ich hasste diese Bilder.
Ich versuchte, nicht eifersüchtig zu sein. Ich würde darüber hinwegkommen.
Wirklich.
Ich wollte unbedingt, dass Bliss glücklich war. Und wie sie so dastand, die Hände in Garricks Manteltasche vergraben, während sich zwischen ihnen eine Nebelwolke aus Atem bildete, sah sie eindeutig glücklich aus. Aber genau das war ein Teil des Problems. Selbst wenn ich es schaffte, meine Gefühle für Bliss vollkommen loszulassen, so war es das Glück der beiden, das mich eifersüchtig machte.
Weil ich verdammt unglücklich war. Ich versuchte, mich zu beschäftigen, schloss Freundschaften und hatte mich hier ganz gut eingelebt, aber es war einfach nicht dasselbe.
Neu anzufangen war ätzend.
Auf einer Skala von eins bis Ghetto war meine Wohnung eine solide Acht. Zwischen mir und meiner besten Freundin herrschte immer noch eine unangenehme Stimmung. Ich hatte so hohe Studienkredite aufgenommen, dass ich jederzeit unter ihnen zu ersticken drohte. Ich hatte mir vorgestellt, dass ich durch meinen Master wenigstens einen Teil meines Lebens richtig machen würde … FALSCH.
Ich war der Jüngste in diesem Programm, und alle anderen hatten bereits jahrelange Arbeitserfahrung gesammelt. Sie hatten ihr Leben im Griff, während meines ungefähr so aufgeräumt war wie die Gemeinschaftsbadezimmer im Wohnheim für Erstsemester. Ich war inzwischen drei Monate hier, und die einzige Rolle, die ich bekommen hatte, war ein Kurzauftritt als Obdachloser in einer Werbung für den Arbeiter-Samariter-Bund.
Ja, das war alles ganz toll.
Ich wusste genau, wann Bliss mich entdeckte, denn sie zog die Hände aus Garricks Taschen und legte sie behutsam an ihre Seiten. Sie löste sich aus seinen Armen und rief »Cade!«.
Ich lächelte. Immerhin kam ich so wenigstens ein wenig zum Schauspielern. Ich ging auf dem Gehweg auf sie zu, und Bliss umarmte mich. Kurz. Pflichtschuldig. Garrick schüttelte mir die Hand. Sosehr es mich auch ärgerte, ich mochte diesen Kerl wirklich. Er hatte Bliss nie daran gehindert, mich zu treffen, und offenbar hatte er mir eine ziemlich herausragende Empfehlung geschrieben, als ich mich für Temple beworben hatte. Er lief nicht herum und markierte sein Territorium oder sagte mir, dass ich verschwinden solle. Er schüttelte mir die Hand, lächelte, und klang aufrichtig, als er sagte: »Schön, dich zu sehen, Cade.«
»Auch schön, euch zu sehen, Leute.«
Es folgte ein Augenblick unbehaglichen Schweigens, dann fröstelte Bliss übertrieben. »Ich weiß nicht, wie es euch geht, Jungs, aber ich bin am Erfrieren. Lasst uns reingehen.«
Gemeinsam gingen wir durch die Tür. Das Mugshots war tagsüber ein Café, abends wurde Alkohol ausgeschenkt. Ich war noch nicht hier gewesen, weil es ziemlich weit weg war von meiner Wohnung am Campus der Temple University und weil ich keinen Kaffee trinke, aber ich hatte viel Gutes darüber gehört. Bliss liebte Kaffee, und ich liebte es immer noch, Bliss glücklich zu machen, deshalb hatte ich eingewilligt, sie dort zu treffen, als sie mich angerufen hatte. Ich überlegte, ob ich nach Alkohol fragen sollte, obwohl es noch Morgen war. Stattdessen entschied ich mich für einen Smoothie und fand einen Tisch für uns, der so groß war, dass wir alle viel Abstand zueinander halten konnten.
Bliss setzte sich zuerst, während Garrick auf ihre Getränke wartete. Ihre Wangen waren rosa von der Kälte, aber das Winterwetter stand ihr gut. Der blaue Schal, den sie sich um den Hals geknotet hatte, brachte ihre Augen zur Geltung, und ihre Locken fielen ihr windzerzaust und wunderbar auf die Schultern.
Verdammt. Ich musste damit aufhören.
Sie zog ihre Handschuhe aus und rieb die Hände aneinander. »Wie geht es dir?«, fragte sie.
Ich ballte meine Hände unter dem Tisch zu Fäusten und log. »Mir geht es großartig. Der Unterricht ist gut. Ich mag Temple. Und die Stadt ist toll. Es geht mir großartig.«
»Wirklich?« Ihrer Miene nach zu urteilen wusste sie, dass ich log. Sie war meine beste Freundin, deshalb war es ziemlich schwer, ihr etwas vorzumachen. Sie war schon immer gut darin gewesen, mich zu durchschauen … außer als es darum ging, was ich für sie empfand. Sie erfasste so ungefähr alle meine anderen Ängste und Unsicherheiten, aber das nicht. Manchmal glaube ich, dass dies reines Wunschdenken gewesen war. Vielleicht hatte sie meine Gefühle nicht erkannt, weil sie es nicht wollte.
»Ja, wirklich«, versicherte ich ihr. Sie glaubte mir immer noch nicht, aber sie kannte mich gut genug, um zu wissen, dass ich an meiner Lüge festhalten musste. Ich konnte mir meine Probleme ihr gegenüber nicht von der Seele reden, nicht im Moment. Diese Art von Beziehung hatten wir nicht mehr.
Garrick setzte sich. Er hatte unsere drei Getränke mitgebracht. Ich hatte nicht einmal gehört, wie meine Bestellung ausgerufen wurde.
»Danke«, sagte ich.
»Keine Ursache. Worüber reden wir?«
Jetzt geht das schon wieder los.
Ich nahm einen langen Schluck von meinem Smoothie, damit ich nicht gleich zu antworten brauchte.
Bliss sagte: »Cade hat mir gerade von seinem Unterricht erzählt. Er hat die höhere Bildung fest im Griff.«
Wenigstens ein paar Dinge hatten sich nicht geändert. Sie kannte mich noch immer gut genug, um zu wissen, wann ich eine Auszeit brauchte.
Garrick schob Bliss ihr Getränk hin und lächelte, als sie einen langen, dankbaren Schluck nahm. Er wandte sich mir wieder zu. »Schön zu hören, Cade. Ich bin froh, dass es gut läuft. Ich verstehe mich immer noch gut mit den Dozenten in Temple. Falls du mal Hilfe brauchst, dann frag mich einfach.«
Gott, warum konnte er kein Arschloch sein? Dann würde nämlich ein ordentlicher Faustschlag viel dazu beitragen, die Anspannung in meiner Brust zu lindern. Und es wäre viel billiger, als eine Wand in meiner Wohnung einzuschlagen.
»Danke. Ich werd’s mir merken«, sagte ich.
Wir plauderten über Belanglosigkeiten. Bliss erzählte von ihrer Aufführung von Stolz und Vorurteil, und mir wurde klar, dass Garrick wirklich gut für sie war. Ich hätte nie gedacht, dass ausgerechnet sie von uns allen diejenige sein würde, die so kurz nach dem Abschluss professionell Theater spielt. Nicht, dass sie kein Talent dazu hätte, aber sie war nie selbstbewusst gewesen. Ich hatte geglaubt, sie würde den sichereren Weg wählen und Inspizientin werden. Mir gefiel der Gedanke, ich hätte das auch aus ihr herausholen können, aber da war ich mir nicht mehr so sicher.
Bliss erzählte von ihrer gemeinsamen Wohnung am Rande des Lesben- und Schwulenviertels. Bisher hatte ich es immer geschafft, mich aus allen Einladungen irgendwie herauszuwinden, aber früher oder später würden mir die Ausreden ausgehen und ich müsste mir die Wohnung mal ansehen, in der sie wohnten. Zusammen.
Offenbar lag sie in einem ziemlich großen Vergnügungsviertel. Sie wohnten direkt gegenüber einer wirklich beliebten Bar. Garrick sagte: »Bliss hat einen so leichten Schlaf, dass es zu einem regelmäßigen Ereignis geworden ist, aufzuwachen und dem Drama zuzuhören, das sich unvermeidbar vor unserem Fenster abspielt, wenn der Laden zumacht.«
Sie hatte einen leichten Schlaf? Ich hasste, dass er das wusste und ich nicht. Ich hasste es, so zu empfinden. Sie fingen an, eines dieser nächtlichen Ereignisse auszubreiten, aber sie sahen mich dabei kaum an. Sie starrten sich gegenseitig an, lachten und durchlebten die Erinnerung noch mal gemeinsam. Ich war der Beobachter ihrer vollkommenen Harmonie, und es war eine Show, derer ich überdrüssig war.
Ich gab mir selbst das Versprechen, dass ich mir das nicht wieder antun würde. Nicht bevor ich meinen ganzen Krempel in den Griff bekommen hatte. Das musste das letzte Mal sein. Ich lächelte und nickte den Rest der Geschichte über und war erleichtert, als Bliss’ Handy klingelte.
Sie schaute auf das Display und sagte nicht mal was, bevor sie den Anruf annahm und das Handy ans Ohr drückte. »Kelsey? Oh mein Gott! Ich habe seit Wochen nichts mehr von dir gehört!«
Kelsey hatte genau das gemacht, was sie schon angekündigt hatte. Am Ende des Sommers, als alle in eine neue Stadt zogen oder sich an einer Universität einschrieben, war Kelsey nach Übersee gegangen und machte die Reise ihres Lebens. Jedes Mal, wenn ich auf Facebook war, hatte sie ein neues Land auf ihre Liste hinzugefügt.
Bliss hielt den Finger hoch und formte mit den Lippen: »Bin gleich wieder da.« Sie stand auf und sagte ins Telefon: »Kelsey, einen Moment. Ich kann dich kaum hören. Ich gehe nach draußen.«
Ich schaute ihr nach und erinnerte mich an die Zeiten, als ihr Gesicht auch so aufgeleuchtet hatte, wenn sie mit mir redete. Es war deprimierend, wie sich die Lebenswege in verschiedene Richtungen verzweigten. Bäume wuchsen nur nach oben und zur Seite, nicht zurück zu den Wurzeln, zu der Art und Weise, wie die Dinge früher einmal waren. Nachdem ich vier Jahre mit meinen College-Freunden verbracht hatte, fühlte es sich an, als wären wir eine Familie. Aber jetzt waren wir im ganzen Land verstreut und würden wahrscheinlich nie wieder alle zusammenkommen.
»Cade, ich würde gern etwas mit dir besprechen, solange Bliss weg ist«, begann Garrick.
Oje, das würde mies werden. Das wusste ich jetzt schon. Als wir uns das letzte Mal allein unterhalten hatten, hatte er mir erklärt, dass ich über Bliss hinwegkommen sollte, dass ich mein Leben nicht auf der Basis meiner Gefühle zu ihr aufbauen konnte. Damit lag er immer noch verdammt richtig.
»Ich bin ganz Ohr«, erwiderte ich.
»Ich weiß nicht, wie ich das jetzt am besten sagen soll …«
»Sag es einfach.« Das war das Schlimmste an dem Ganzen. Meine beste Freundin hatte mir das Herz gebrochen, und nun schlichen alle auf Zehenspitzen um mich herum, als wäre ich kurz vor einem Nervenzusammenbruch wie ein Mädchen mit PMS. Offenbar durfte man nur Gefühle haben, wenn man auch eine Vagina besaß.
Garrick holte tief Luft. Er wirkte einerseits verunsichert, andererseits verzog ein Lächeln sein Gesicht, gegen das er sich anscheinend nicht wehren konnte.
»Ich werde Bliss fragen, ob sie mich heiraten will«, berichtete er.
Da wurde die Welt auf einmal ganz still, und ich hörte nur das Ticktack der Wanduhr neben uns. Es klang wie das Ticken einer Bombe, was reine Ironie war, da all die Teile von mir, die ich bisher mit schierer Willenskraft zusammengehalten hatte, gerade in tausend Stücke gesprengt worden waren.
So gut ich konnte, hielt ich meine Gesichtszüge unter Kontrolle, obwohl ich das Gefühl hatte, keine Luft mehr zu bekommen. Ich machte eine Kunstpause, was einfach nur ein hochtrabendes Theaterwort für Pause ist, aber es fiel mir leichter, wenn ich das Ganze von außen als eine Szene betrachtete, als etwas Fiktives. Als einen bedeutungsschweren Moment der Veränderung, ein Innehalten.
Mensch, war das vielleicht eine höllische Kunstpause.
»Cade …«
Bevor Garrick etwas Nettes oder Tröstliches sagen konnte, drängte ich die Person, die ich spielte – drängte ich mich selbst – zum Handeln. Ich lächelte und machte ein Gesicht, das – wie ich hoffte – nach Glückwünschen aussah.
»Das ist großartig, Mann! Sie hätte keinen Besseren finden können.«
Es war wirklich wie Theaterspielen, wenn auch schlecht umgesetzt. So als würden sich die Worte in meinem Mund nicht natürlich anfühlen und meine Gedanken von dem, was ich gerade sagte, getrennt sein. Egal wie sehr ich mich auch anstrengte, meine Rolle zu verkörpern. Meine Gedanken preschten vor und versuchten zu beurteilen, ob mir das Publikum meinen Auftritt abkaufte oder nicht, ob Garrick mir das abkaufte.
»Dann ist es also okay für dich?«
Es war zwingend, mir jetzt keine Pause zu erlauben, bevor ich antwortete. »Natürlich! Bliss ist meine beste Freundin, und ich habe sie noch nie so glücklich gesehen, was bedeutet, dass auch ich darüber nicht glücklicher sein könnte. Die Vergangenheit ist abgehakt.«
Er griff über den Tisch und klopfte mir auf die Schulter, als wäre ich sein Sohn oder sein kleiner Bruder. Oder sein Hund.
»Du bist ein guter Kerl, Cade.«
Genau das war ich: immer der gute Kerl, was bedeutete, dass ich immer nur die Nummer zwei sein würde. Mein Smoothie schmeckte bitter auf der Zunge.
»Du hattest letzte Woche ein paar Vorsprechen, nicht wahr?«, fragte Garrick. »Wie sind sie ausgegangen?«
Oh, bitte nicht! Gerade erst hatte ich von seinen Heiratsplänen erfahren. Wenn ich jetzt auch noch mein vollständiges, gründliches Scheitern als Student darlegen musste, würde ich mich in einen Dolch stürzen.
Glücklicherweise wurde ich durch Bliss’ Rückkehr erlöst. Sie steckte ihr Handy zurück in die Tasche und trug ein breites Lächeln auf dem Gesicht. Sie stand hinter Garricks Stuhl und legte ihm die Hand auf die Schulter. Plötzlich wurde ich von dem Gedanken überwältigt, dass sie Ja sagen würde.
Irgendwo tief in der Magengrube spürte ich die Gewissheit, dass sie es tun würde. Und das brachte mich um.
Tick. Tack. Tick.
Ich sollte etwas sagen, irgendwas, aber ich konnte nicht. Weil das keine Fiktion war. Es war kein Stück, in dem wir unsere Rollen spielten. Das war mein Leben, und Veränderungen hatten es so an sich, dass sie sich von hinten anschlichen und mir das Messer in den Rücken rammten.
Ahnungslos wandte Bliss sich an Garrick und sagte: »Wir müssen los, Babe. Wir bekommen in etwa dreißig Minuten einen Anruf am anderen Ende der Stadt.« Sie wandte sich an mich. »Tut mir leid, Cade. Ich hätte gern mehr Zeit gehabt, um mit dir zu plaudern, aber Kelsey war seit Wochen wie verschollen. Ich musste einfach drangehen. Und wir geben heute noch eine Matinee für eine Gruppe von Studenten. Aber ich verspreche, das wiedergutzumachen. Kommst du morgen zu unserem Thanksgiving-Abend?«
Seit Wochen wich ich dieser Einladung schon aus. Ich war mir ziemlich sicher, dass sie der einzige Zweck dieser Verabredung zum Kaffee war. Ich war schon kurz davor gewesen nachzugeben und hinzugehen, aber nun ging das nicht mehr. Ich wusste nicht, wann Garrick vorhatte, seinen Heiratsantrag zu machen, aber ich wollte auf keinen Fall in dem Moment dabei sein oder kurz danach. Ich brauchte Abstand und eine Pause von ihnen, von Bliss. Und davon, in ihrer Geschichte immer die Nebenrolle zu spielen.
»Ich hatte ganz vergessen, es dir zu sagen – ich werde an Thanksgiving doch nach Hause fahren.« Ich hasste es, sie anzulügen, aber es ging einfach nicht mehr. »Oma geht es nicht so gut, deshalb hielt ich es für eine gute Idee, hinzufahren.«
Ihr Gesicht wurde besorgt, und sie streckte ihre Hand nach meinem Arm aus. Ich tat, als hätte ich es nicht gesehen, und ging weg, um meinen leeren Smoothie-Becher in den Müll zu werfen.
»Was ist mit ihr?«, fragte Bliss.
»Ach, nichts weiter. Wahrscheinlich nur ein Virus, aber in ihrem Alter weiß man ja nie.«
Ich hatte soeben meine siebzigjährige Großmutter, die Frau, die mich aufgezogen hatte, als Ausrede benutzt. Was für ein mieser Zug.
»Oh, dann grüß sie mal schön von mir, ich hoffe, dass es ihr bald wieder besser geht. Und dir einen guten Flug.«
Bliss beugte sich vor, um mich zu umarmen, und ich wich nicht zurück. Tatsächlich umarmte ich sie ebenfalls. Weil ich nicht vorhatte, sie so bald wiederzusehen, nicht bevor ich nicht (ohne zu lügen) sagen konnte, dass ich über sie hinweggekommen war. Und in Anbetracht der Art und Weise, wie mein ganzer Körper bei ihrer Berührung zu singen schien, würde das eine Weile dauern.
Die beiden packten ihre Sachen zusammen, um zu gehen, doch ich setzte mich wieder hin und sagte, dass ich noch eine Weile bleiben würde, um zu lernen. Ich zog ein Theaterstück zum Lesen heraus, aber in Wirklichkeit war ich nur noch nicht für den Nachhauseweg bereit. Ich konnte nicht noch mehr Zeit allein verbringen, gefangen in meinen Gedanken. Das Café war so voll, dass ich von den Geräuschen anderer Leute, von ihren Leben und Gesprächen erfüllt war. Bliss winkte mir durch das Fenster zu, als sie gingen, und ich winkte zurück und fragte mich, ob sie die Endgültigkeit dieses Abschieds spürte.
Max
Mace Hand glitt zur selben Zeit hinten in meine Hosentaschen, als das Handy in der vorderen Tasche klingelte. Ich gewährte ihm die drei Sekunden, die ich brauchte, um mein Handy herauszufischen, dann versetzte ich ihm einen Stoß mit dem Ellbogen und er zog die Hand weg.
Auf dem Weg zum Café hatte ich ihn schon dreimal mit dem Ellbogen angestoßen. Sein Erinnerungsvermögen war nicht besonders ausgeprägt.
Ich sah auf das Display, das ein Foto meiner Mutter anzeigte, das ich geschossen hatte, als sie gerade nicht hinschaute. Sie schnitt gerade Gemüse und sah aus wie eine messerschwingende Verrückte, was sie im Großen und Ganzen auch immer war, nur ohne Messer.
Ich rannte die letzten paar Schritte bis zum Mugshots und trat ein, bevor ich ranging.
»Hallo Mom.«
Im Hintergrund liefen Weihnachtslieder. Thanksgiving war noch nicht mal vorbei und sie hörte schon Weihnachtslieder. Verrückt.
»Hi, Süße!« Sie zog das Ü in »Süße« so lang, dass es wie ein Roboter klang, der nicht mehr richtig funktioniert. Schließlich fuhr sie fort: »Was machst du gerade?«
»Nichts, Mom. Ich bin gerade im Mugshots angekommen, weil ich einen Kaffee trinken will. Du weißt schon, dieser Laden, in dem wir waren, als Dad und du mir beim Umzug geholfen habt.«
»Ja, ich erinnere mich! Das war dieses süße Café. Ein Jammer, dass sie dort auch Alkohol ausschenken.«
Tja, so war sie, meine Mom.
Mace wählte genau diesen Moment (unglücklicherweise einen ruhigen Moment), um zu sagen: »Max, Babe, für dich das Übliche?«
Ich fuchtelte kopfschüttelnd mit der Hand und machte ein paar Schritte weg von ihm.
Mom musste mich wohl auf Lautsprecher gestellt haben, denn mein Dad mischte sich ein. »Und wer war das, Mackenzie?«
Mackenzie.
Ich schauderte. Ich hasste die absolute Verweigerung meiner Eltern, mich Max zu nennen. Und wenn ihnen Max für ihr kleines Mädchen schon nicht gefiel, dann würden sie es bestimmt nicht gutheißen, dass ich mit einem Typen namens Mace ging.
Dad würde auf der Stelle der Schlag treffen.
»Nur so ein Typ«, sagte ich.
Mace stieß mich an und rieb Daumen und Zeigefinger aneinander. Stimmt, ja. Er war gefeuert worden. Ich reichte ihm meinen Geldbeutel, damit er bezahlen konnte.
»Ist das ein Typ, mit dem du ausgehst?«, fragte Mom.
Ich seufzte. Es war nichts dabei, ihr das zu sagen, solange ich ein paar Details frisierte. Oder vielleicht alle Details.
»Ja, Mom. Wir sind seit ein paar Wochen zusammen.« Eigentlich seit drei Monaten, aber egal.
»Ist das so? Wie kommt es dann, dass wir nichts über diesen Kerl wissen?« Dad wieder.
»Weil es noch ganz frisch ist. Aber er ist echt ein netter Typ, klug auch.« Ich glaube nicht, dass Mace überhaupt die Highschool zu Ende gebracht hatte, aber er war toll und ein großartiger Schlagzeuger. Ich war nicht geschaffen für die Art von Kerlen, wie meine Mutter sie für mich wollte. Mein Gehirn würde innerhalb einer Woche vor Langeweile schmelzen. Wenn ich ihm nicht schon vorher den Laufpass gegeben hätte.
»Wo habt ihr euch kennengelernt?«, fragte Mom.
Ach weißt du, er hat mich in dieser Go-Go-Bar angemacht, in der ich tanze. Das ist dieser Nebenjob, von dem ihr keine Ahnung habt.
Stattdessen sagte ich: »In der Bibliothek.«
Mace in der Bibliothek. Einfach lachhaft. Das Tattoo über seinem Schlüsselbein würde »Villian« lauten anstatt »Villain«, wenn ich nicht dabei gewesen wäre, um es zu verhindern.
»Echt?« Mom klang skeptisch. Das nahm ich ihr nicht weiter übel. Nette Typen in der Bibliothek kennenzulernen war nicht so mein Ding. Jedes Mal, wenn ich meinen Eltern jemanden vorgestellt hatte, endete es in einer Katastrophe: Jedes Mal waren sie davon überzeugt, dass ihre Tochter von einem gottlosen Individuum einer Gehirnwäsche unterzogen worden war, und mein jeweiliger Freund hatte daraufhin mit mir Schluss gemacht, weil ich zu viel emotionalen Ballast mit mir herumschleppte.
Mein Ballast hieß Betty und Mick, und sie trugen Blusen mit Pünktchen und Pullunder, wenn sie aus dem Bridge-Club nach Hause kamen. Manchmal war es schwer zu glauben, dass ich von ihnen abstammte. Als ich meine Haare zum ersten Mal knallpink gefärbt hatte, brach meine Mom in Tränen aus, als hätte ich ihr gesagt, ich wäre sechzehn und schwanger. Und dabei war es nur eine Tönung.
Heute war es leichter, sie einfach bei Laune zu halten, vor allem, weil sie mich finanziell unterstützten. So konnte ich mehr Zeit damit verbringen, an meiner Musik zu arbeiten. Und es war ja nicht so, dass ich sie nicht liebte – das tat ich. Ich liebte nur nicht den Menschen, der ich ihrer Ansicht nach sein sollte.
Deshalb brachte ich kleine Opfer dar. Ich stellte ihnen meine Freunde nicht mehr vor. Immer bevor ich nach Hause fuhr, färbte ich meine Haare in eine relativ normale Farbe um. Ich entfernte meine Piercings oder verdeckte sie und trug langärmlige, hochgeschlossene Oberteile, um meine Tattoos zu verbergen. Ich erzählte ihnen, dass ich in einer Steuerberatungsfirma am Empfang arbeitete, anstatt in einem Tattoo-Laden, und meinen anderen Job in der Bar erwähnte ich erst gar nicht.
Wenn ich nach Hause fuhr, spielte ich ein paar Tage lang die Normale und machte mich dann vom Acker, bevor meine Eltern versuchen konnten, mich mit einem verkrusteten Buchhalter zu verkuppeln.
»Ja, Mom. In der Bibliothek.«
Wenn ich zu Weihnachten nach Hause fuhr, würde ich einfach behaupten, dass es mit dem Typen aus der Bib nicht geklappt hatte. Oder dass er ein Serienmörder wäre. Und das Ganze als Ausrede dazu benutzen, nie wieder mit netten Jungs auszugehen.
»Na, das klingt ja großartig. Wir würden ihn gern kennenlernen.«
Mace kam mit meinem Geldbeutel und unserem Kaffee zurück. Heimlich holte er einen Flachmann aus der Tasche und fügte seinem Getränk das gewisse Etwas hinzu. Ich winkte ab, als er mir etwas davon anbot. Das Koffein reichte. Komisch, dass er sich keinen Kaffee leisten konnte, aber Alkohol.
»Klar, Mom.« Mace ließ seine Hand in meinen Mantel gleiten und schlang ihn um meine Taille. Seine Hand war groß und warm, und seine Berührung auf meinem dünnen T-Shirt ließ mich erschauern. »Ich glaube, ihr würdet ihn echt mögen.«
Ich beendete den Satz mit einem gehauchten Seufzer, weil Mace’ Lippen die Haut an meinem Hals fanden. Meine Augäpfel rollten nach hinten vor Wonne. Ich hatte noch nie einen Buchhalter kennengelernt, der das konnte. »Er ist sehr, ähm, talentiert.«
»Ich denke, das werden wir schon bald selbst herausfinden«, erwiderte Dad schroff.
Ha! Wenn sie sich einbildeten, es gäbe auch nur eine winzige Chance, dass ich zu Weihnachten einen Kerl mit nach Hause brächte, dann waren sie wahnsinnig.
»Klar, Dad.«
Mace’ Lippen waren ein schlagendes Argument dafür, die Bandprobe heute Morgen ausfallen zu lassen, aber es war das letzte Mal, dass wir vor unserem Gig nächste Woche alle zusammen probten.
»Großartig«, erwiderte Dad. »Wir sind dann in etwa fünf Minuten in diesem Café.«
Mein Kaffee schlug auf dem Boden auf, noch bevor ich die Gelegenheit hatte, ihn zu probieren.
»Ihr seid WAS? Ihr seid nicht zu Hause in Oklahoma?«
Mace machte einen Satz, als der Kaffee über unsere Füße spritzte. »Mann, Max!« Ich hatte keine Zeit, mir Gedanken um ihn zu machen. Ich hatte weitaus größere Probleme.
»Sei nicht böse, Liebes«, sagte Mom. »Wir waren so traurig, als du sagtest, du könntest an Thanksgiving nicht nach Hause kommen, und dann beschlossen Michael und Bethany auch noch, über die Feiertage Bethanys Familie zu besuchen. Deshalb beschlossen wir, dich zu besuchen. Ich habe sogar einen Truthahn bestellt! Oh, du solltest deinen neuen Freund einladen. Den aus der Bibliothek.«
SHIT. SHIT. UNDNOCHMALSHIT.
»Tut mir leid, Mom. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass mein Freund an Thanksgiving zu tun hat.«
Mace sagte: »Nein, habe ich nicht.« Und ich wusste nicht, ob es daran lag, dass er all die Jahre in Bands gespielt und sein Gehör Schaden genommen hatte, oder ob er zu viele Gehirnzellen verloren hatte, aber der Kerl brachte nicht mal ein verdammtes Flüstern zustande!
»Oh, großartig! Wir sind in ein paar Minuten da, Süße. Küsschen, Boo-Boo-Bärchen.«
Wenn sie mich vor Mace Boo-Boo-Bär nennen würde, würde ich vor Scham auf dem Boden zerfließen. »Warte mal, Mom …«
Die Verbindung war tot.
Das wäre ich am liebsten auch gewesen.
Schnell nachdenken, Max. Eltern in geschätzten zwei Minuten im Anmarsch. Zeit für Schadensbegrenzung.
Mace hatte uns um den verschütteten Kaffee herumgeführt, während ich telefonierte, und wollte mir gerade wieder seine Arme um die Taille legen. Ich schob ihn weg.
Dann betrachtete ich ihn eingehend: seine schwarzen, struppigen Haare, die umwerfenden dunklen Augen, die Earplugs, um die sich seine Ohrläppchen spannten und das stereotype Tattoo eines Totenschädels seitlich an seinem Hals. Ich liebte es, wie sich seine Persönlichkeit auf der Haut widerspiegelte.
Meine Eltern würden es abscheulich finden.
Meine Eltern fanden alles abscheulich, was sich nicht ordnen, beschriften und fein säuberlich in einen Käfig sperren ließ. Sie waren nicht immer so gewesen. Früher hatten sie zugehört und die Menschen nach den Dingen beurteilt, auf die es ankam, aber das war schon lange vorbei, und jede Minute konnten sie hier sein.
»Du musst gehen«, forderte ich ihn auf.
»Was?« Er hakte seine Finger in meinen Gürtelschlaufen ein und zog mich zu sich, bis sich unsere Hüften berührten. »Wir sind doch gerade erst gekommen.«
Ein kleiner Teil von mir überlegte, ob Mace vielleicht mit meinen Eltern klarkommen könnte. Immerhin hatte er mich damals verzaubert, und für die meisten Leute war dies dasselbe, wie einen Python zu beschwören. Vielleicht war er ja nicht besonders klug oder ausgeglichen, aber er besaß eine Leidenschaft für Musik und für das Leben. Und er besaß eine Leidenschaft für mich. Zwischen uns knisterte es. Wie ein loderndes Feuer, das nicht gelöscht werden durfte, nur weil meine Eltern noch in der Vergangenheit lebten und nicht darüber hinwegkamen, was mit Alex passiert war.
»Tut mir leid, Babe. Meine Eltern kommen mich spontan besuchen, sie werden in einer Minute da sein. Deshalb musst du jetzt gehen oder so tun, als würdest du mich nicht kennen oder so.«
Ich wollte mich dafür entschuldigen und sagen, dass ich mich seinetwegen nicht schämte, dass ich nur noch nicht bereit dafür war. Doch ich bekam nicht die Gelegenheit dazu, denn er hielt sofort abwehrend die Hände hoch und wich zurück. »Verdammt! Kein Problem. Ich bin weg.« Er wandte sich zur Tür. »Ruf mich an, wenn du die Sippschaft wieder losgeworden bist.«
Dann machte er sich davon. Ohne irgendwelche Fragen. Kein heldenhaftes Angebot, tapfer zu sein und meine Eltern kennenzulernen. Er ging zur Tür hinaus, zündete sich eine Zigarette an und verschwand. Einen Moment lang dachte ich darüber nach, ihm zu folgen. Um zu flüchten oder ihm eine reinzuhauen – da war ich mir gerade nicht ganz sicher.
Aber ich konnte nicht.
Denn jetzt musste ich mir nämlich überlegen, was ich meinen Eltern über meinen plötzlich abwesenden, Bibliotheken besuchenden netten Kerl von einem Freund erzählen sollte. Ich würde ihnen einfach erzählen müssen, dass er arbeiten oder zum Unterricht gehen musste. Oder die Kranken heilen oder so. Ich suchte den Raum nach einem freien Tisch ab. Wahrscheinlich würden sie die Lüge sofort durchschauen und wissen, dass es gar keinen netten Kerl gab, aber es führte kein Weg daran vorbei.
Verdammt! Das Café war rappelvoll, und es gab keine freien Tische mehr.
Nur einen Vierertisch, an dem ein Typ saß, der so aussah, als wäre er fast fertig. Seine kurzen braunen Locken waren zu etwas Ordentlichem und Sauberem gezähmt worden. Er sah recht attraktiv aus, wie ein braver, perfekter Vorzeige-Amerikaner. Er trug Pulli und Schal, und vor ihm auf dem Tisch lag ein Buch. In einer Momentaufnahme würde er so aussehen wie einer, den Bibliotheken in Werbungen einsetzen sollten, um die Leute dazu zu bringen, mehr zu lesen.
Normalerweise hätte ich mich kein zweites Mal nach ihm umgeschaut, denn Typen wie er passten nicht zu Frauen wie mir. Doch er erwiderte meinen Blick. Eigentlich starrte er mich an. Er hatte die gleichen dunklen, durchdringenden Augen wie Mace, aber irgendwie waren sie sanfter. Freundlicher.
Und es war, als würde mir das Universum ein Geschenk machen. Alles, was noch fehlte, war ein leuchtendes Neonschild über seinem Kopf, auf dem LÖSUNGALLDEINERPROBLEME stand.
Cade
Ich war gerade dabei, Leute zu beobachten, mir ihr Leben auszumalen, um mich von meinem eigenen abzulenken, als sie mich anblickte.
Ich hatte in den letzten paar Minuten sie und ihren Freund beobachtet, hatte versucht, aus ihnen schlau zu werden. Beide strahlten Selbstbewusstsein aus und wirkten auf mühelose Art und Weise cool. Der Kerl war überwiegend dunkel: dunkles Haar, dunkle Augen, dunkle Tattoos. All die Tinte, die ich sehen konnte, wirkte deprimierend oder brutal – Totenköpfe und Waffen und Schlagringe. Sie hingegen war schrill und bunt. Angefangen von ihren knallig roten Haaren bis hin zu ihren geschminkten Lippen, die irgendwie mit ihren Tattoos harmonierten. Ein paar kleine Vögel flogen an ihrem Hals hinauf, und aus dem herzförmigen Ausschnitt ihres Fünfzigerjahre-Kleides lugte etwas heraus, das wie der Wipfel eines Baumes aussah.
Sooft er sie auch berührte und küsste – ich konnte keine echte Verbindung zwischen ihnen erkennen. Sie blickte kein einziges Mal zu ihm hinüber, während sie telefonierte. Und als sie ihn nicht beachtete, machte er sich nicht die Mühe, sie überhaupt anzusehen. Als wären sie Teile verschiedener Sonnensysteme, die sich nicht gemeinsam, beziehungsweise umeinander drehten, und als wären sie nur für diesen vorübergehenden Moment zusammen.
Er hob nicht mal ihren Kaffeebecher auf, als sie ihn hatte fallen lassen. Er schob sie nur aus dem Weg, und jemand kam um die Bar herum, um sich darum zu kümmern.
Jetzt war er weg und sie sah mich an, als hätte ich etwas, das sie begehrte. Mein Mund wurde trocken, und in meiner Brust regte sich etwas. Auch etwas anderes begann, sich zu regen.
Sie kam an meinen Tisch, ihre Hüften brachten den weiten Rock zum Schwingen, und zum ersten Mal sah ich so richtig ihr Gesicht. Sie war hübsch – volle Lippen, hohe Wangenknochen und eine gerade Nase. Eine weiße Blume steckte in ihren skandalös roten Locken. Sie sah aus wie die trendige Version eines Pin-up-Girls aus den Fünfzigern und war das vollkommene Gegenteil jeder Frau, mit der ich je ausgegangen war oder ausgehen wollte. Sie war das vollkommene Gegenteil von Bliss. Vielleicht war das zum Teil der Grund dafür, dass ich meinen Blick nicht von ihr wenden konnte.
Jetzt konnte ich erkennen, dass die Tätowierung auf ihrer Brust eindeutig einen Baum darstellte. Kahle Zweige reckten sich bis zu ihrem Schlüsselbein hinauf, und als sie sich vorbeugte und ihre Hände auf meinem Tisch abstützte, bot sie mir einen guten Blick auf den Baumstamm, der in dem Tal zwischen ihren Brüsten verschwand.
Ich schluckte und brauchte länger als nötig, um meinen Blick davon abzuwenden und sie anzusehen. Sie sagte: »Ich werde dich jetzt etwas fragen, und es wird sich total verrückt anhören.«
Dann würde es ja zum Rest meiner Gedanken passen.
»Okay«, sagte ich.
Sie ließ sich auf den Platz neben mir gleiten, und ich konnte ihren Duft wahrnehmen – etwas Feminines, Süßes, das einen krassen Gegensatz zu ihrer tätowierten Haut bildete. Ich dachte immer noch an diesen verdammten Baum, stellte mir vor, wie der Rest des Tattoos wohl aussähe, und fragte mich, wie weich ihre Haut wäre.
»Meine Eltern sind völlig unerwartet in der Stadt aufgekreuzt und wollen meinen Freund kennenlernen.« Sie rückte ein wenig näher und tippte mit ihren rot lackierten Fingernägeln auf den Tisch.
»Und was kann ich da tun?«
»Na ja, ich muss sie einem lieben, netten Mann vorstellen, den ich in der Bibliothek kennengelernt habe, was nicht gerade der Realität entspricht.« Sie legte ihre Hand auf meinen Unterarm, und ich verfluchte all meine winterlichen Kleidungsschichten, denn ich wollte ihre Haut spüren.
»Und du glaubst, ich wäre lieb und nett?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Du siehst jedenfalls so aus. Ich weiß, dass das verrückt ist, aber ich wäre dir wirklich dankbar, wenn du so tun würdest, als wärst du mein Freund, bis ich es schaffe, sie wieder loszuwerden.«
Ich blickte wieder auf ihre kirschroten Lippen. Sie ließen mich an Dinge denken, die weder lieb noch nett waren.
Was sie wollte, war verrückt, aber ich würde schauspielern, und das war genau das, was ich in den letzten paar Wochen vermisst hatte. Außerdem wollte ein Teil von mir Cade-den-netten-Kerl fesseln und knebeln und in den Kofferraum werfen. Dieser Teil von mir fand, dass es eine sehr gute Idee wäre, Zeit mit dieser jungen Frau zu verbringen.
»Bitte«, sagte sie. »Ich werde auch das Reden übernehmen und das Treffen beenden, sobald ich kann. Ich kann dich dafür bezahlen!« Ich zog eine Augenbraue nach oben, und sie fuhr fort: »Okay, ich kann dich nicht bezahlen, aber ich werde mich mit irgendetwas dafür revanchieren. Alles, was du willst.«
Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass sie diesen letzten Teil nicht zu jemandem gesagt hätte, der nicht »lieb und nett« aussah. Da dieser Teil meines Gehirns gerade verhindert war, hatte ich eine ganz gute Vorstellung von dem, was ich von ihr wollte.
»Ich mache es.« Ihr ganzer Körper entspannte sich. Sie lächelte zum ersten Mal, und es warf mich um. Dann fügte ich hinzu: »Im Austausch gegen ein Date.«
Sie zuckte zurück, und diese vollen, roten Lippen kräuselten sich vor Verwirrung. »Du möchtest ein Date mit mir?«
»Ja. Sind wir im Geschäft?«
Sie blickte auf die Uhr an der Wand, fluchte vor sich hin und sagte dann: »Also gut. Wir sind im Geschäft. Gib mir deinen Schal.« Sie gab mir nicht mal die Chance, mich zu rühren, sondern zerrte ihn mir gleich vom Hals.
Ich grinste. »Du gehst mir jetzt schon an die Wäsche?«
Überrascht sah sie mich an und setzte ein schiefes Lächeln auf. Dann schüttelte sie den Kopf und wickelte sich selbst den Schal um den Hals. Er bedeckte die zarten Vögel und die glatte Porzellanhaut ihres Dekolletés, das nur durch die dünnen schwarzen Linien des tätowierten Baumes unterbrochen wurde. Sie schnappte sich eine Serviette vom Tisch und wischte sich etwas von ihrem hellroten Lippenstift ab.
»Alles, was meine Eltern wissen, ist, dass wir uns in der Bibliothek kennengelernt haben. Du bist lieb, nett und mustergültig. Meine Eltern sind stockkonservativ, also keine Witze darüber, wer hier wem an die Wäsche geht. Wir gehen seit ein paar Wochen miteinander aus. Nichts Kompliziertes. Sonst habe ich ihnen nichts erzählt, sie sollten es uns also ziemlich leicht abkaufen.«
Mit geübten Fingern wischte sie sich etwas von der schwarzen Farbe ab, die ihre Augen umrandeten. Sie strich ihr Haar nach vorne, um die Palette von Piercings in ihren Ohren zu bedecken.
»Und du? Was machst du?«
»Ich bin Schauspieler.«
Sie verdrehte die Augen. »Das werden sie ebenso hassen wie die Tatsache, dass ich Musikerin bin, aber es muss trotzdem gehen.«
Hektisch versuchte sie weiterhin ihr Make-up wegzuwischen und sich die Haare zu glätten. Dabei blickte sie sich suchend um, als wünschte sie, sich unter einem Hut oder sonst etwas verstecken zu können.
Beruhigend legte ich ihr die Hand auf die Schulter und sagte: »Du siehst hübsch aus. Mach dir keine Sorgen.«
Ihre Miene erstarrte, und sie sah mich an, als würde ich Swahili sprechen. Dann presste sie ihre Lippen zusammen, und es sah fast wie ein Lächeln aus.
Meine Hand ruhte noch immer auf ihrer Schulter, als eine Frau vorne im Café auf einmal rief: »Mackenzie! Oh, Mackenzie, Liebes!«
Mackenzie. Sie sah nicht aus wie eine Mackenzie.
Bebend schnappte sie nach Luft, dann stand sie auf und wandte sich der Frau zu, von der ich annahm, dass sie ihre Mutter wäre. Ich stand ebenfalls auf und legte meiner »Freundin« den Arm um die Schulter. Sie schien fix und fertig zu sein, was seltsam war, denn bis gerade eben hatte sie vor Selbstbewusstsein nur so gestrotzt.
Also ehrlich, sie hatte gerade einen komplett Fremden darum gebeten, sich als ihren Freund auszugeben. Sie hatte dabei ziemlich furchtlos auf mich gewirkt. Ihre Eltern waren offenbar ihre Schwachstelle.
Ich sah das Paar mittleren Alters an, das sich uns näherte. Der Mann hatte eine Glatze und trug eine Brille mit Drahtgestell, das Haar der Frau war an den Schläfen ergraut. Sie hielten sich an den Händen und streckten ihren jeweils äußeren Arm nach vorne, als würden sie erwarten, dass ihre Tochter auf sie zurennen würde, damit sie sich gemeinschaftlich in die Arme fallen konnten. Mackenzie sah aus, als würde sie eher von einer Klippe springen.
Ich lächelte. Das konnte ich.
Ich drückte ihre Schulter und sagte: »Alles wird gut.«
»Boo-Boo-Bär! Oh, Liebes, was hast du denn da Schlimmes mit deinen Haaren angestellt? Ich habe dir doch gesagt, du sollst nicht mehr diese Färbemittel in der Schachtel kaufen.«
Als ihre Mutter sie in eine Umarmung zog, biss sich Mackenzie so heftig auf die Lippen, dass ich überrascht war, dass es nicht blutete. Dann übernahm ihr Vater, und ich musste sie loslassen. Ich trat beiseite und streckte ihrer Mutter die Hand hin.
»Ich freue mich so, Sie kennenzulernen, Mrs …«
Die Worte waren kaum aus meinem Mund, als mir klar wurde, dass ich keine Ahnung hatte, wie Mackenzie mit Nachnamen hieß. Verdammt, ich hatte ja nicht mal gewusst, dass sie Mackenzie hieß!
Ihre Mutter ergriff meine Hand, sah mich mit schräg gelegtem Kopf an und wartete darauf, dass ich den Satz beendete. Ich bemerkte, wie sich Mackenzie neben mir der Umarmung ihres Vaters entwand; ihrem entsetzten Gesichtsausdruck nach dämmerte es ihr.
Verdammt!
Ich setzte mein gewinnendstes Lächeln auf und sagte: »Wissen Sie, Mackenzie hat mir schon so viel von Ihnen erzählt, dass ich das Gefühl habe, ich sollte Sie einfach Mom nennen.« Dann zog ich sie in eine Umarmung.
Max
ERUMARMTEMEINEMUTTER.
Ein völlig Fremder. Ich konnte höchstens ein paar wenige Umarmungen pro Jahr von ihr ertragen, ohne mich erdrückt zu fühlen, und er war drei, vier, fünf Sekunden lang in ihre Boa-Constrictor-Arme eingehüllt.
Die Umarmung hielt noch immer an. Und es war eine Umarmung mit vollem Körperkontakt, nicht so eine seitliche, verlegene, wie ich sie mit meinem Dad immer austauschte.
Himmel noch mal, ihr Kopf klemmte unter seinem Kinn. Seinem Kinn!
Die Sekunden schienen sich zu einer Ewigkeit auszuweiten, während er mich über den Kopf meiner Mutter hinweg mit großen Augen ansah. Der Art und Weise nach zu urteilen, wie meine Mutter an ihm hing, würde er nie wieder freikommen. Es war wie in einer dieser traurigen Geschichten, in denen ein Kind so heftig eine Katze umarmt, dass es sie erdrückt.
Er lachte und tätschelte ihr den Rücken. Anders als mein Lachen in Gegenwart meiner Eltern, klang es nicht so, als würden sie ihn mit einer Schusswaffe bedrohen.
Endlich, nach einer nahezu ZEHN Sekunden dauernden Umarmung, ließ sie ihn los. Nach zehn Sekunden hätte ich längst hyperventiliert. Aber andererseits hätte sie mich auch nicht schon nach zehn Sekunden losgelassen. Ich war der Überzeugung, dass meine Mutter glaubte, sie könnte alle bösen Einflüsse aus mir herauspressen, wenn sie mich nur lang genug umarmte.
Er blieb in Umarmungs-Reichweite stehen und sagte: »Es ist so wundervoll, dass Sie beide spontan zu Besuch kommen. Mackenzie würde das nie zugeben, aber sie vermisst Sie beide schrecklich.«
Ich zuckte zusammen, als er mich Mackenzie nannte, doch meine Mutter strahlte. Ihre Abneigung, mich Max zu nennen, rührte entweder daher, dass es wie ein Jungenname klang, oder weil es sie an Alexandria – an Alex – erinnerte.
Mom blickte mich über seine Schulter hinweg an, mit Tränen in den Augen. Fünfzehn Sekunden – und schon hatte er sie dazu gebracht, Freudentränen zu vergießen. Waren meine Ex-Freunde im Vergleich zu ihm wirklich so schlimm gewesen?
Okay, ich hatte den Fehler gemacht, meinen Eltern Jake vorzustellen. Er hatte darauf bestanden, dass sie ihn mit seinem Spitznamen ansprachen: Scissors.
Doch das war ein Tiefpunkt gewesen! Außerdem hatten wir sie damit nur ärgern wollen. Nicht alle meine Ex-Freunde waren so schlimm gewesen. Mein neuer Vorzeige-Freund wandte sich an meinen Vater und stellte sich vor: »Sir, ich heiße Cade Winston. Sie haben eine wundervolle Tochter.«
Mein Vater schüttelte ihm die Hand und erwiderte »Wirklich?«
WIRKLICH. Er sagte wirklich.
Nicht »danke« oder »ich weiß«. Er brauchte volle fünf Sekunden, bis er endlich lächelte – als wäre es sein Verdienst, dass ich wundervoll war. Schließlich meinte er: »Schön, dich kennenzulernen, mein Sohn.«
Für ihn war ich wohl schon so gut wie verheiratet.
Ich musste mich setzen.
Sprachlos ging ich auf den Tisch zu. Doch ich musste nicht einmal etwas sagen, denn mein angeblicher Freund, Cade, musste irgendeinen verrückten sechsten Sinn haben. In Sekundenschnelle war er an meiner Seite und schob einen Stuhl hinter mich. Meine Eltern blieben ein paar Schritte von uns entfernt stehen und starrten uns an, als würden sie dieses Bild von uns für immer in ihrer Erinnerung bewahren wollen.
Cade ergriff meine Hand und schlang unsere Finger ineinander. Seine Haut auf meiner elektrisierte meinen ganzen Arm. Ich war so schockiert, dass der ganze Stress und Ärger aus mir herauswich und ich nur dasaß und ihn anstarrte, während meine Eltern stehen blieben und uns beide anstarrten. Mom zog ein Taschentuch heraus. Vielleicht würde ich eines Tages zurückblicken und über die Lächerlichkeit dieses Moments lachen können. Vielleicht würde ich auch eines Tages in einem U-Bahnwaggon sitzen, der nicht nach Pisse röche. Man konnte sich auf vieles freuen, das die Zukunft einem bringen würde.
Schließlich wandte Dad sich an Mom: »Lass uns Kaffee holen gehen, Betty. Cade, Mackenzie, wir sind gleich wieder da.«
Ich wartete, bis meine Eltern sich angestellt hatten, dann wandte ich mich an ihn, wobei ich das Bedürfnis, physischen Schaden anzurichten, kaum unterdrücken konnte.
»Was zum Teufel war das denn?«
Er zog die Augenbrauen zusammen und wandte den Kopf ab, während unsere Hände noch immer ineinander verschränkt waren. Warum hatte ich meine Hand noch nicht weggezogen?
»Ich habe gerade deine Eltern kennengelernt.«
Ich versuchte, an meiner Wut festzuhalten, aber Jungs sollten wirklich nicht so tolle Augen und so lange Wimpern haben dürfen. Eine ungewohnte Hitze kroch mir am Hals hinauf, und ich wusste, dass ich rot wurde.
Normalerweise gehörte ich nicht zu den Frauen, die leicht erröteten.
Eilig riss ich meinen Blick von ihm los und zog meine Hand aus seiner. Meine Stimme bebte, und meine ganze Wut war verraucht, als ich sagte: »Du hast eher meine Chancen ruiniert, dass sie jemals einen meiner tatsächlichen Freunde mögen werden.« Es war leichter, ihn nicht anzuschauen. Meine Gedanken wurden klarer. »Also wirklich, du hast meine Mom umarmt. Umarmungen sind wie Crack für diese Frau.«
»Tut mir leid. Du hast mir euren Nachnamen nicht gesagt, deshalb habe ich improvisiert.«
Ich verschränkte die Arme vor der Brust. Er hatte das alles ziemlich gut gemacht, und meine Eltern schienen überzeugt und glücklich zu sein. Er war eindeutig gut in solchen Dingen. Das hätte eigentlich meine Nervosität verringern sollen. Tat es aber nicht. Ich fühlte mich noch immer, als könnte mir jeden Augenblick das Herz stehen bleiben.
»Achte einfach darauf, sie nicht noch mal zu umarmen.« Womöglich würde sie dann von mir erwarten, dass ich das auch ständig täte. »Ich muss das nur überstehen, ohne dass meine Eltern Verdacht schöpfen. Nicht notwendig, eine oscarreife Vorstellung zu liefern. Und der Nachname ist Miller.«
»Klar. Tut mir leid, Mackenzie.«
Der Name knirschte mir in den Ohren. Es war Jahre her, dass mich jemand außerhalb meiner Familie so genannt hatte, und irgendwie hasste ich es jetzt sogar noch mehr. Ich knurrte fast, als ich ihn anfuhr: »Sag nicht Mackenzie zu mir! Ich heiße Max.«
Meine Wut brachte ihn überhaupt nicht aus der Fassung. Er hielt einen Moment inne, dann lächelte er. »Max. Das passt viel besser zu dir.«
Verflucht sollte er sein! Er hatte so etwas an sich, meine Wut zu ersticken, die mehr als frustrierend war. Er legte seinen Arm um meinen Stuhl und drehte sich zu mir. Ich zog meine Schutzmauern hoch. Nun fühlte ich mich von ihm eingekreist. Seine karamellfarbenen Augen waren direkt vor mir, und der Duft von Rasierwasser – würzig und süß – stieg mir in die Nase. Ich hätte mich dem entziehen sollen. Ich hätte seine Wimpern nicht noch mal anschauen sollen. Er beugte sich vor und die Bartstoppeln auf seinem Gesicht streiften meine Wange. Die Alarmglocken in meinem Kopf schrillten, selbst als ich die Augen schloss. Er flüsterte: »Deine Mom kommt zurück. Tut mir leid. Keine Umarmungen mehr, versprochen.«
Seine Lippen waren noch immer an meinem Ohr, als meine Mutter wieder bei uns war. Er spielte Theater. Er wollte mich nicht anmachen. Er wollte nur nicht, dass meine Mom alles hörte. Das war alles. Die Alarmglocken beruhigten sich wieder, aber ich fühlte mich immer noch unbehaglich.
Cade stand auf und zog den Stuhl meiner Mutter unter dem Tisch hervor, während mein Vater auf die Getränke wartete. Ich schloss die Augen und versuchte, meine verworrenen Gedanken zu ordnen.
Mom fragte: »Nun, Cade, Mackenzie sagt, ihr beiden habt euch in der Bibliothek kennengelernt.«
Ich öffnete den Mund, um zu antworten, doch Cade kam mir zuvor.
»Oh, ja. Das stimmt. Max« – er lächelte mir kurz zu – »hat mir geholfen, ein Buch zu finden, das ich gesucht habe. Ich war in der völlig falschen Ecke gelandet.«
Moms perfekt gezupfte Augenbrauen schossen nach oben. »Ach wirklich? Ich wusste gar nicht, dass sie sich in einer Bibliothek zurechtfindet. Als sie jünger war, konnten wir sie kaum dazu überreden, überhaupt etwas zu lesen außer diese CD-Beilagen mit den Liedtexten. Normale Kinder kann man mit Süßigkeiten dazu bringen, ihre Hausaufgaben zu machen. Nicht unsere Mackenzie.«
Ich knirschte mit den Zähnen, damit ich nicht damit herausplatzte, wer die Normale in der Familie war. Cade zögerte nicht. »Na ja, es war ein Buch über Musikkomposition, das ich für mein Referat brauchte, deshalb hatte ich Glück, eine Expertin gefunden zu haben. Sie war genau das, was ich brauchte.« Er blickte mich von der Seite an, und sein Arm wanderte von der Stuhllehne um meine Schulter. »Und das ist sie bis heute.«
Dieser Kerl hatte eine äußerst seltsame Wirkung auf mich. Ein echt kleiner Teil von mir wäre bei dieser schmalzigen Liebeserklärung fast schwach geworden. Aber der überwiegende Teil hätte sich am liebsten übergeben. Nicht, dass das eine Rolle spielte, immerhin war das alles ja nur vorgetäuscht.
Bei Mom zog es allerdings. Sie gab einen verzückten Laut von sich und vergaß völlig, wie sehr sie es hasste, dass ich mich für Musik interessierte.
»Referat?«, fragte sie. »Studierst du?«
»Ja, Ma’am. Ich mache an der Temple University meinen Master.«
Herrjemine! Wie war das noch gleich mit »nicht übertreiben«?
»Einen Masterabschluss?« Mutters Gesicht leuchtete einen Moment auf, dann verfinsterte es sich ein wenig. »In Musik?«
»Nein, Ma’am. Schauspielerei. Ich schrieb damals ein Referat über den Einsatz von Livemusik im Theater.«
»Schauspielerei? Ach, wie schön.« Mutters Lächeln wurde ein wenig dünner.
Endlich etwas, das meiner Mutter an diesem Kerl nicht gefiel.
»Ja, Ma’am. Das ist meine Leidenschaft. Aber ich interessiere mich auch dafür, an der Hochschule zu unterrichten.«
»Ein Dozent, wie wundervoll!«
Ich geb’s auf. Im Kampf um die Anerkennung meiner Eltern, habe ich gegen einen vollkommen Fremden verloren.
Dad kam mit zwei Tassen Kaffee zurück und fragte: »Worüber sprecht ihr gerade?«