Forgotten City - Michael Ford - E-Book

Forgotten City E-Book

Michael Ford

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Beschreibung

In einer nicht allzu fernen Zukunft sind Kobi und sein Vater die vermeintlich einzigen Überlebenden einer weltweiten Katastrophe. Um die durch den Klimawandel verursachte weltweite Nahrungsknappheit zu beenden, wurde einige Jahre zuvor ein gentechnisch verändertes Hormon namens Waste entwickelt, das jedoch verheerende Folgen für Mensch und Umwelt hatte. Binnen kurzer Zeit gerieten Flora und Fauna außer Kontrolle: fleischfressende Würgepflanzen und gigantische Kreaturen zerstörten ganze Städte. Als Kobis Vater verschwindet, macht der Junge sich auf die Suche nach ihm – und trifft auf weitere Überlebende! Gemeinsam mit ihnen kämpft er sich durch die verwilderte Stadt. Doch schon bald lernt Kobi, dass die tödlichen Pflanzen nicht die größte Gefahr darstellen.

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Seitenzahl: 311

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Forgotten City

eISBN: 978-3-96129-205-9

Edel Kids Books

Ein Verlag der Edel Germany GmbH

Copyright © Edel Germany GmbH, Neumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Die englischsprachige Originalausgabe erschien bei HarperCollins Children’s Books unter dem Titel »Forgotten City«Copyright © 2018 by Working Partners, Ltd.Text: Michael Ford

Übersetzung: Ulrich Thiele

Covergestaltung: Formlabor

Lektorat & Projektkoordination: Rebecca Hirsch

ePub-Konvertierung: Datagrafix GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Kobi sah seinen Vater sterben.

Nicht, dass Dad in den nächsten Minuten, Stunden oder sogar Tagen tot umfallen würde. Solange er die richtigen Medikamente in der richtigen Dosierung einnahm und Ernährung und Fitness optimal aufeinander abstimmte, könnte er noch wer weiß wie lange durchhalten. Und trotzdem würde ihn das Gift in seinem Blut langsam, aber sicher töten.

Weder er noch Kobi sprachen darüber, natürlich nicht. Darüber zu reden, hätte nicht das Geringste geändert. Doch die Vorboten waren nicht zu übersehen: Wie dürr und knochig Dads Finger und Handgelenke wirkten, als er jetzt das Klebeband abpellte, mit dem die Eingangstür der Schule abgedichtet war. Das bisschen dünne Haar auf seinem Kopf, als er sich bückte und unten die Bolzen zurückschob. Das gelbliche Schimmern im Weiß seiner Augen, als er sich schließlich wieder zu Kobi drehte.

»Immer doppelt verkleben, ja?«, ermahnte Dad ihn.

»Ich will mit dir mitkommen«, sagte Kobi. Dabei konnte er sich die Antwort schon denken.

Dad schmunzelte. »Ein andermal, Kleiner. Wenn du –«

»Größer bist«, fiel Kobi ihm ins Wort. »Schon klar. Aber wie alt muss ich eigentlich sein? Dreißig?«

»Älter als jetzt jedenfalls. Du bist immer noch ein Kind.« Kobi richtete sich zu seiner vollen Körpergröße auf. Nun überragte er seinen Vater sogar leicht. »Okay, ein großes Kind.« Dad strubbelte ihm durch seine zerzausten schwarzen Haare und legte ihm die Hände auf die Schultern. »Nächstes Mal vielleicht, okay? Rühr dich einfach nicht von der Stelle, achte auf die Sicherheitsmaßnahmen und warte auf mich. In zehn Tagen bin ich wieder da. Oder in zwei Wochen, falls es sich im Labor länger hinzieht. Höchstens.«

»Aber …«

Ein Anflug von Ungeduld huschte über Dads Gesicht. »Ich bitte dich. Mach mir nicht noch ein schlechtes Gewissen. Ist so schon schwer genug, dich hierzulassen.«

»Aber ich kann helfen«, erwiderte Kobi. »Du weißt doch, was ich draufhabe. Ich habe Kraft, Dad, und du bist …« Kobi wusste nicht weiter. Wie sollte er das ausdrücken?

Als Dad lächelte, bemerkte Kobi sein auffällig bleiches Zahnfleisch. »Schönen Dank auch für die Erinnerung. Deshalb muss ich ja zum Labor. Hör mal. Ich weiß, du bist nicht gern allein hier, aber die weite Strecke bis übers Wasser ist nun mal zu gefährlich. Und ich werde dein Leben nicht aufs Spiel setzen. Ende der Diskussion, klar?«

Kobi zuckte mit den Schultern, gab sich geschlagen.

»Gut«, sagte Dad. »Zu essen hast du mehr als genug. Und vergiss nicht, dreimal täglich Fenster und Türen zu checken.«

»Weiß ich doch, Dad.« Kobi verdrehte die Augen.

»Und nimm deine Vitamine.«

»Aber in einem dieser Wissenschaftsmagazine stand, dass Nahrungsergänzungsmittel bloß ein Riesenschwindel der Pharmaindustrie sind.«

Dad lächelte, seine Stimme aber blieb ernst. »Das ist kein Witz, Kobi. Du darfst nicht nachlässig sein. Morgens und abends, ja? Du musst auf deinen Körper achten. Verstanden?«

»Verstanden.«

»Und immer jede einzelne Falle an allen Außentüren überprüfen.«

Kobi zwang sich zu einem Lächeln. »Jetzt hau schon ab.«

Mit einem Nicken ließ Dad Kobis Schultern los, bog die kleine Klappe im Pappdeckel über dem Türfenster hoch und linste hindurch. »Okay, die Luft ist rein. Bis bald, mein Junge. Ach, eins noch: Keine wilden Partys in meiner Abwesenheit, klar?«

Leise öffnete Dad die Tür, bis er gerade so hinausschlüpfen konnte, und schloss sie hinter sich.

»Kann ich nicht versprechen«, murmelte Kobi.

Er befestigte eilig neues Klebeband am Rahmen und strich es glatt, bis der Spalt sorgfältig abgedichtet war. Erst nachdem er rund um die Tür noch großzügig Anti-Waste-Spray versprüht hatte, spähte er selbst durch das Guckloch. Dad lief bereits die Vordertreppe hinunter in Richtung Bäume, und binnen Sekunden hatte ihn der Dschungel verschluckt. Noch eine Weile starrte Kobi hinaus und hielt Ausschau nach Bewegung im Blattwerk, nach irgendetwas Verdächtigem. Doch der Wald starrte bloß zurück, eine Wand aus Grün.

Kobi schloss die Klappe und schlug mit der flachen Hand gegen die Mauer. Ich hätte darauf bestehen sollen. Mich stur stellen müssen. Er ist zu schwach. Allein hat er da draußen keine Chance.

Langsam lief Kobi den Flur entlang, ein tonnenschweres Gewicht im Magen. Es war die Angst.

Zehn Tage. Höchstens zwei Wochen. Er musste wohl oder übel abwarten.

19 Tage später

Zum Spannen der Bärenfalle konnte man eine Kurbel verwenden, aber das hatte Kobi nicht nötig. Er zerrte die Stahlkiefer einfach mit bloßen Händen auseinander, bis der Mechanismus einrastete, und schob die Falle vorsichtig an ihren Platz hinter dem Notausgang von Klassenzimmer 9C. Er schwitzte. Von Raum zu Raum zu laufen und alle Sicherheitsmaßnahmen abzuarbeiten, dauerte ohne Dads Hilfe eine gute Stunde. Doch um seine nagende Angst in Schach zu halten, war es gar nicht schlecht, etwas zu tun zu haben, egal was. Als Nächstes überprüfte Kobi systematisch alle Fenster auf Lecks. Sich lückenlos von den Sporen und Pollen abzuschotten, die das Waste übertrugen, war ein ewiger Kampf – würde Kobi nicht regelmäßig alle Dichtungen mit Klebeband verstärken, würden sie die Schule in kürzester Zeit überfluten. Und überall dort, wo eine Kontamination drohte, versprühte er Dads selbst entwickeltes Pestizid.

Gegen Kobis Willen wanderte sein Blick während der Arbeit immer wieder zu den gekritzelten Buchstaben und Zahlen an der Tafel. Es war eine ihrer letzten Unterrichtsstunden: Rechnen.

»Was soll das bringen, Dad? Gegen das Waste hilft Mathe doch auch nichts.«

Dad hatte den Marker sinken lassen und die Brille abgenommen. »Irgendwann wird das Waste verschwinden. Wenn es so weit ist, muss die Welt wiederaufgebaut werden.«

»Von wem?«, hatte Kobi gefragt. »Wie’s aussieht, ist außer uns niemand übrig.«

Dad hatte sich wieder zur Tafel gedreht. »Konzentrier dich einfach, Klugscheißer.«

Sobald er mit den Fenstern fertig war, schnappte Kobi sich den Schwamm und schrubbte wütend die Tafel, bis die ellenlangen Gleichungen ausradiert waren. Dann marschierte er weiter.

Zuletzt musste er die Chemie- und Physikräume checken. Die erinnerten ihn immer besonders an Dad, noch mehr als die normalen Klassenzimmer. Hier hatte Dad am meisten Zeit verbracht, hier hatte er seine Waste-Experimente durchgeführt. Im dämmrigen Licht summte ein Kühlschrank, der mit den Solarmodulen auf dem Dach verkabelt war. Durch seine Glastür war die Halterung mit den Ampullen zu sehen – Waste-Reiniger. Vier davon hatte Dad mitgenommen. Schäden an befallenen Zellen konnte der Reiniger nicht beheben, aber er konnte das Waste aus dem Körper vertreiben. Zumindest vorübergehend. Er müsse es sich wie einen Krieg vorstellen, hatte Dad gesagt. Er konnte den Feind zurückschlagen, doch jeder weitere Angriff hinterließ schlimme Verwüstungen.

Und eine erneute Vergiftung konnte der Reiniger sowieso nicht verhindern. Draußen in der Stadt würde Dad früher oder später Waste-Sporen einatmen oder nicht zu hundert Prozent gereinigtes Wasser trinken, oder das Waste würde durch Insektenstiche oder kleine Wunden in ihn eindringen. Im allerbesten Fall bot eine Dosis sechs Tage Schutz. Insgesamt 24 Tage also. Noch fünf Tage, dann wäre Dad ein toter Mann. Der Feind würde ihn überrennen.

Aber er hat gesagt, ich soll hierbleiben. Was, wenn er zurückkommt, und ich bin nicht mehr da?

Den Werkraum hatte Dad vor langer Zeit zur Werkstatt für Waffen und Ausrüstung umfunktioniert. Auch hier überprüfte Kobi schnell Fenster und Türen. Überall verstreut lagen Dutzende halb fertige Apparaturen, lauter nie abgeschlossene Projekte: ein Ersatz-Stromgenerator, der sowohl durch Solarenergie als auch durch das Windrad auf dem Dach angetrieben werden sollte, ein Rauchbombenwerfer, eine Wasseraufbereitungsanlage, der zusammengestöpselte Funkempfänger, mit dem sie nie etwas empfangen hatten …

Eigentlich wollte Kobi nicht hinsehen, aber sein Blick wanderte schließlich doch zu der Ecke mit dem Snatcher. Er war das größte Objekt im Zimmer, ungefähr so groß wie ein Kleinwagen, eine Art riesige Metallspinne mit acht unter dem Rückenpanzer eingerollten Beinen – allerdings mit nur einem Flügel, der andere war ihr gut 250 Meter von der Schule entfernt bei der Kollision mit einem Baum abhandengekommen. Dads Theorie nach hatte es wahrscheinlich Probleme mit dem Navigationssystem gegeben. Eigentlich waren Snatcher nämlich nicht so weit draußen unterwegs und flogen erst recht nicht gegen Hindernisse. Normalerweise waren sie so gut programmiert, dass sie mit ihren Mikrodüsen auf verschlungenen Bahnen durch die Stadtlandschaft schwirren und sich still, leise und unbemerkt ihrer Beute nähern konnten, sprich: jedem Lebewesen in Sensorreichweite.

Kobi ging zu der Apparatur hinüber, betrachtete die ramponierte Titanhülle und die Solarpaneele auf dem einen Flügel. Unter dem »Kopf« ragten einige lose Kabel hervor. Damit der Snatcher nicht die Zentrale in der Stadt anfunken konnte, hatte Dad ihn auf der Stelle deaktiviert. Eine Vielzahl schwarzer »Augen« erwiderte Kobis Blick. Soweit er wusste, konnten sie ein breites Spektrum wahrnehmen, auch im Infrarot- und UV-Bereich. Der ideale Jäger. Kobi strich über den kalten Panzer. Seitlich am Kopf waren vier krakelige Buchstaben zu lesen: CLAWS. Ein passender Name, wenn man sich die unter dem massigen Körper zusammengekrümmten Gliedmaßen so ansah. Die Snatcher hätten eine ganz einfache Aufgabe, hatte Dad mal erklärt: Sie sollten in der Stadt patrouillieren und alle mit Waste infizierten Tiere einsammeln, auf dass diese entsorgt werden konnten. Egal ob Hund, Katze oder Reh, was ihnen eben von der Luft aus vor die Linse geriet.

Wenn sie nicht aufpassten, konnte auch mal ein Mensch dabei sein.

Die Schöpfer der Snatcher, wer auch immer das gewesen war, waren längst tot, doch dank Autopilot und Sonnenkraft liefen die Drohnen immer weiter. Bis ihre Hardware irgendwann schlappmachen würde.

19 Tage schon. Ich kann nicht anders, Dad. Höchstens zwei Wochen, hast du gesagt.

Kobi kehrte dem Snatcher den Rücken zu, spannte die Falle an der Tür, checkte die Abdichtung. Dann öffnete er den Kühlschrank und nahm zwei Ampullen mit Reiniger heraus.

Ich komme zu dir.

In der fensterlosen Umkleide entzündete Kobi die überall aufgestellten Kerzen und holte seine Kevlarweste aus Spind D22. Die hatten sie aus dem Polizeirevier mitgehen lassen, das ein paar Straßen entfernt lag. Er schlüpfte hinein, zog die Gurte fest und setzte den Rucksack auf. Danach schob er den Polizei-Taser in den alten Werkzeuggürtel des Hausmeisters, außerdem die Wasserflasche, die Taschenlampe, den Kompass. Die Machete in der Scheide schnallte er sich links an die Hüfte. Zuletzt hängte er sich die gespannte Armbrust über die Schulter. Für das Ding konnten sie sich bei Big Hank’s Jagdausstattung bedanken, wie auch für die Bärenfallen. Als er den Spind gerade schließen wollte, fiel ihm noch der Bärenmoschusduft ein. Damit konnte er seinen Geruch überdecken.

»Ein Glück, dass hier sowieso keine hübschen Mädchen mehr rumlaufen.«

Bei der Erinnerung an Dads Scherz schüttelte Kobi lächelnd den Kopf. Im Normalfall gingen ihm Dads schlechte Witze ziemlich auf die Nerven, jetzt hätte er aber alles dafür gegeben, endlich wieder seine Stimme zu hören. Wenn doch nur ein lautes »Sorry!« durch den Flur gehallt wäre, »tut mir leid, dass es so lange gedauert hat …«

Kobi besprühte seine Klamotten kreuz und quer mit Moschusduft und schob das Spray in den Gürtel.

Flackerndes Kerzenlicht fiel auf das Holofoto an der Innenseite der Spindtür. Der Junge darauf, Maxwell Trenton, machte einen netten Eindruck, ein dürrer Kerl mit Zahnspange, wahrscheinlich ein, zwei Jahre älter als Kobi und irgendwie leicht schräg. Auf dem Bild stand er mit Seahawks-Kappe auf dem Kopf zwischen zwei riesenhaften Linebackern vor einer gewaltigen Menschenmenge im städtischen GrowCycle-Stadion. So, wie die beiden Footballer aussahen, hätten sie Max ohne Probleme mitten durchbrechen können, sie lächelten aber freundlich in die Kamera. Die Unterschriften, die über dem unteren Rand schwebten, stammten sicher von den zwei Stars.

Maxwell war natürlich tot. Genau wie die Linebacker auf dem Foto, der ganze Rest der Seahawks-Mannschaft von 2029 und all die nichts ahnenden Zuschauer im Hintergrund. Und auch der Hausmeister, alle Cops von Seattle und sogar Big Hank, falls es den wirklich mal gegeben haben sollte.

Aber Dad ist nicht tot. Er darf nicht tot sein.

Kobis Blick blieb an den Stadionwänden mit der GrowCycle-Reklame hängen. Man hatte immer geglaubt, ein Atomkrieg würde eines Tages den Weltuntergang herbeiführen, die Erderwärmung oder ein Kometeneinschlag – aber ein Lebensmittelhersteller? Dad hatte ihm die Geschichte unzählige Male erzählt. Gegen Ende der 2020er-Jahre war es aufgrund des Klimawandels immer schwieriger geworden, die wachsende Weltbevölkerung mit Nahrung zu versorgen. Die Antwort darauf sollte GAIA sein, ein von GrowCycle entwickeltes Düngemittel zur Beschleunigung des Pflanzenwachstums. GAIA würde die Menschheit retten, dachte man, doch es lief nicht nach Plan. Die Forscher gingen zu weit. Ein genmodifiziertes Hormon breitete sich in der gesamten Umwelt aus und veränderte das Erbgut aller Organismen. Pflanzen, Tiere, Menschen, alles wandelte sich.

Der Rest war Geschichte. »Beziehungsweise deren Ende«, hatte Kobis Dad mal gescherzt.

Auf der Bank zwischen den Spinden entfaltete Kobi den Stadtplan und betrachtete die Bucht von Seattle mit ihrem Straßennetz. Es war ein vertrauter Anblick.

»Wo bist du, Dad?«, flüsterte er. Die Worte blieben ihm fast in der Kehle stecken. Automatisch griff Kobi nach den Vitaminen, die er meistens in der Innentasche bei sich trug, doch er hatte die Tabletten in der Turnhalle vergessen. Seit Dads Abgang hatte er keine mehr genommen. Damit wollte er Dad, der ihn hier einfach allein gelassen hatte, wohl irgendwie eins auswischen.

Rund um die Bill Gates Memorial High School, die am linken Rand der Karte und damit im Westen Seattles lag, war das Papier übersät von Hunderten handgemalten Kringeln, jeder davon in Dads unverwechselbarer Handschrift markiert: N stand für Nahrung, M für Medizin, W für Waffen, A für Ausrüstung. Auf dieser Seite der Brücke waren sämtliche Nahrungslager durchgestrichen. Alle leer geräumt. Anderswo waren noch etliche zu finden, nur eben jenseits der Brücke. Weit drüben auf Mercer Island prangte sogar ein L, doch an dieses Labor würden sie laut Dad wohl nie herankommen. Mercer Island war das Epizentrum der Waste-Seuche, nirgendwo sonst auf der Welt war die Konzentration so hoch. Vor der Katastrophe hatte GrowCycle dort eine Riesenladung Waste auf ein weitläufiges Feld gekippt, auf dem zuvor verschiedenste Pflanzenarten angesät worden waren. Es sollte ein PR-Gag werden, über Nacht sollte ein ganzer Park aus dem Boden schießen. Am Ende kam es ein bisschen anders.

Bis zum nächsten Labor, stellte Kobi fest, brauchte man zu Fuß etwa einen Tag – es befand sich in der alten Universität ein Stück hinter der Interstate 5. Die Frage war, ob Dad es überhaupt bis dorthin geschafft hatte. Kobi hatte bisher noch nicht mal die Brücke überqueren dürfen. Egal, wie oft er darum gebettelt hatte, Dad hatte ihn immer auf dieselbe Art abgewimmelt: »Du bist noch nicht so weit.«

Was war ihm zugestoßen? Es gab tausend Möglichkeiten, das war ja das Problem. In der Stadt waren nicht nur Snatcher unterwegs, sondern auch andere Jäger. Vor ein paar Monaten hatten sie in der Nähe der Schule Bärenkot gefunden – Kobi malte sich lieber nicht aus, wie groß ein mit Waste infizierter Grizzly werden könnte. Die Wirkung des Waste unterschied sich von Art zu Art. Unmittelbar nach Ausbruch der Seuche waren 99 Prozent der Tiere schlicht gestorben, doch die paar Überlebenden, die sich außerdem noch erfolgreich fortpflanzten, hatten den wildesten Nachwuchs hervorgebracht. Der teils auch noch weiter mutiert war.

Vielleicht war Dad aber auch wegen eines banalen Unfalls nicht nach Hause zurückgekehrt. Vielleicht war er gestürzt und hatte sich den Kopf angeschlagen. Auch weil es ihn trotz Reiniger eben ziemlich mitnahm, draußen unterwegs zu sein, mitten im Waste. Sobald er dem Zeug ein paar Stunden am Stück ausgesetzt war, wurde er zum alten Mann.

Und schon als er los ging, war er nicht gerade topfit.

Kobis Magen zog sich zusammen. Er wartete ab, bis der Krampf vorüberging. Etwas gegessen hatte er zuletzt vor einem Tag, und zwar eine Dose Wuffz-Hundefutter. Schmeckte gar nicht übel, jedenfalls wenn man die Augen zumachte, und war außerdem sehr nahrhaft: Vierzig Prozent Protein, eine Menge Fett und Ballaststoffe. Nur darauf kam es am Ende doch an. Trotzdem, je länger er abwartete, je länger sich der Hunger in seinen Magen bohrte, desto schwächer wurde er.

Wenn er aufbrechen wollte, dann jetzt.

Kobi faltete die Karte zusammen, blies die Kerzen aus und verließ die Umkleide, den Rucksack auf dem Rücken.

Auf die Bill Gates High waren einmal rund 1500 Schüler gegangen. In den Gängen und Klassenzimmern hallte ihr Leben lautlos nach, auf den schwarzen Brettern mit den Sportergebnissen und den Infos zum Abschlussball, in den Projektberichten an den Wänden, den Schmierereien in den Toilettenkabinen. Seit 13 Jahren war Kobi hier zu Hause, und mittlerweile kannte er jeden Zentimeter. Hunderte Spinde hatten Dad und er aufgebrochen, alle Klassenschränke und jedes einzelne Lehrerpult, immer auf der Suche nach Dingen, die ihnen das Überleben erleichtern könnten. Meist war es Zeitverschwendung, ein sinnloses Herumstochern in der Vergangenheit vergessener Menschen.

Kobi knipste die Taschenlampe an und ging den zentralen Flur hinunter. Seine Schuhe quietschten auf dem Boden, durch graues Dämmerlicht lief er zum Ausgang. Dort angekommen, pellte er vorsichtig das Klebeband ab und schob die Bolzen oben und unten zurück. Um ja keine böse Überraschung zu riskieren, linste er noch einmal durch das Guckloch. Er legte die Hand auf die Klinke, wollte schon die Tür aufdrücken, da hörte er in Gedanken eine Stimme.

»Du kannst machen, was du willst, aber geh bloß nicht alleine raus.«

»So wie du, meinst du?«, flüsterte Kobi in der Stille des Flurs. »Ich kann nicht anders, Dad.«

Als er die Tür öffnete, tat sich vor ihm ein lebendiges Vormittagspanorama auf, erfüllt vom Rascheln, Zwitschern und Summen von Insekten und Vögeln. Auf dem Parkplatz wuchs ein Wald aus Douglaskiefern, die sich 150 Meter hoch in den Himmel erhoben, dazwischen drängten sich andere, bescheidenere Bäume wie Platanen und Ahorn. Einzelne Sonnenstrahlen fielen durch das dichte Grün. In den Ästen einer Roteiche, fast fünfzig Meter über der Erde, hingen ein paar Fahrräder – während sich die Eiche vom Samen zum Spross und schließlich zum Baumriesen entwickelt hatte, waren sie von der Kraft der Natur emporgehoben worden. Anhand eines Buchs aus der Schulbibliothek hatte Kobis Vater ihm die Namen aller Pflanzen in der Stadt beigebracht. Wobei einige der neueren, tödlichen in keiner Liste auftauchten.

Zwischen den Bäumen ruhten hier und da verlassene Autos, die teils an Mini-Gewächshäuser erinnerten, da Gestrüpp aus ihren zerschlagenen Fenstern wucherte. Gegenüber hatten sich Schlingpflanzen um die Stangen des Football-Tors gewickelt, der Rasen war unter einem Teppich aus dicht miteinander verwobenem Unkraut verschwunden. Wie es wohl hier ausgesehen hatte, wenn Maxwell Trenton und seine Kumpels einem rivalisierenden Team gegenübergestanden hatten? Kobi konnte es sich nicht vorstellen.

Einen Moment lang spitzte er die Ohren, während sein Blick die Vegetation nach Hinweisen auf Raubtiere absuchte.

»Nur Geduld. Lieber langsam als tot.«

Kobi schaute in den Himmel. So weit vom Stadtzentrum entfernt ließen sich die Snatcher kaum je blicken, aber Vorsicht war besser als Nachsicht.

Nach einer Weile war er sich sicher, dass dort nichts auf der Lauer lag, und trat ins Freie. Nachdem er die Tür von außen mit Klebeband abgedichtet und die Vorhängeschlösser angebracht hatte, lief er die rissige Vordertreppe hinunter und den Pfad entlang, den Dad und er zur Straße geschlagen hatten. Obwohl Dad sich erst vor ein paar Wochen durch das Gras gehackt hatte, reichte es Kobi fast schon wieder über den Kopf. Mit der Machete hieb er auf vorwitzige Halme ein und spähte dabei immer wieder über die Schulter. Nicht, dass sich etwas von hinten anschlich.

»Vier Augen sehen mehr als zwei.«

»Und warum hast du mich dann nicht mitkommen lassen, Dad?«, murmelte Kobi.

Rasch schob er sich durch das hohe Gras, einmal musste er einen großen Schritt über einen armlangen Tausendfüßler machen. So gelangte er in dichteren Wald, in den nur wenig Licht vordrang. Er huschte von Baum zu Baum und hielt immer wieder inne, um die Umgebung zu checken.

»Du brauchst ein gutes Gespür für die Lage, Junge. Du musst immer wissen, was um dich herum los ist. Und wie du am schnellsten verschwinden kannst.«

Kobi wünschte, er hätte Dads Stimme ausknipsen können, doch auf ihren vielen gemeinsamen Expeditionen hatten sich Dads Regeln tief in sein Gedächtnis eingebrannt. Er kletterte über einen umgestürzten Baumstamm und atmete an einen umgekippten Schulbus geschmiegt durch. Die nächste Kreuzung bot kaum Deckung, fast einhundert Meter leerer Asphalt waren zu überwinden – ein Risiko, jedes Mal aufs Neue. Kobi beobachtete die von Kletterpflanzen überwucherten Gebäude auf der anderen Straßenseite. In den Eingängen könnte sich alles Mögliche verbergen. Und sollte dort etwas lauern, konnte es ihn gar nicht übersehen.

Aber soweit er es überblicken konnte, war die Luft rein. Also sprintete Kobi los. Für seinen Geschmack war Dad immer zu langsam unterwegs. Allein gelangte Kobi binnen Sekunden zu den Bäumen gegenüber und duckte sich erleichtert unter ihr Laubdach.

»Wenn möglich, bleib immer in Deckung. Damit du vom Himmel aus nicht zu sehen bist.«

Am nächsten Baumstamm entdeckte Kobi senkrechte Kratzspuren, wahrscheinlich von einem Puma. Vor ein paar Monaten waren Dad und er praktisch über einen gestolpert, und wie alle Waste-verseuchten Raubtiere war er hyperaggressiv gewesen. Erst nach drei Treffern mit der Armbrust hatte er Ruhe gegeben. Kobi erinnerte sich noch, wie sich das Adrenalin langsam aus seinem Körper verflüchtigt hatte. Sie hätten das Tier nur von seinem Elend erlöst, hatte Dad behauptet, und in dessen letzten Sekunden hatte Kobi in den gelben Augen wirklich so etwas wie Erleichterung gesehen. Glaubte er.

Mitten auf der Straße zwischen den dicken Baumstämmen lag die durchgerostete Karosserie eines Taxis, aufs Dach gerollt, wie eine gestrandete Schildkröte. Unkraut wuchs in den Fenstern, Ranken hatten die Vorder- und Hinterachse eingeschnürt. In ihrem Schatten wartete Kobi noch etwas ab, ehe er eilig weitermarschierte, unter einem Straßenschild durch. Er befand sich auf der Genesee Street.

Die Straße in Richtung Süden war kaum bewachsen, eine kahle braune Kruste erstreckte sich bis zu aufgehäuften Erdhügeln vor den Hausruinen. Ein Stück voraus klaffte eine dunkle Kerbe quer in der Fahrbahn – dort ging es nicht weiter. Kobi war schon einmal hier gewesen, mit Dad natürlich. Vor einiger Zeit war ein Wasserturm umgestürzt, daraufhin war der Schlamm durch zwei Straßen geschwappt und hatte mehrere Gebäude eingerissen, und nachdem er getrocknet war, hatte sich dieser Riss gebildet. Als Kobi näher kam, fiel ihm auf, dass die Spalte seit seinem letzten Besuch noch weitergewachsen war. Inzwischen war sie sechs Meter tief und viereinhalb Meter breit. Kobi spähte über den Rand. In der Grube wimmelte es von Würgepflanzen, wie Riesenanakondas glitten die stachelbewehrten Ranken träge übereinander. Eine davon hatte sich wieder und wieder um die Überreste eines großen pelzigen Tiers gewickelt, dessen Beine schief und krumm abstanden. Kobi erschauderte. Am Grund lagen einige Knochen. Schon so einige Kreaturen hatten das Pech gehabt, dort hineinzugeraten.

Aber Dad wäre das nie passiert.

»Wir machen einen Bogen drum herum«, verkündete er. »Man sollte nie ein unnötiges Risiko eingehen.«

Doch der Umweg hätte Kobi noch mehr Zeit gekostet und ihn außerdem in ein labyrinthisches Wohngebiet geführt, das er nicht gerade einladend fand. Kobi machte ein paar Schritte nach hinten, um Anlauf zu nehmen. »Sorry, Dad …«, sagte er, denn in seinem Kopf blitzte sofort das entsetzte Gesicht seines Vaters auf. Er wusste, er konnte es schaffen. In der Schulturnhalle hatten sie Tests durchgeführt, die zeigten, wie stark er sich in jeder Hinsicht gesteigert hatte. So stark, dass es nicht mehr normal war. In Sachen Kraft, Schnelligkeit, Ausdauer und Zellregeneration sprengte er jede Skala, vor allem für sein Alter. Warum das so war, wussten sie nicht genau, aber Dad meinte, es hänge vermutlich damit zusammen, dass er dem Waste schon vor seiner Geburt ausgesetzt gewesen war – Kobi entwickelte sich genauso prächtig wie Waste-verseuchte Tiere, allerdings ohne die schlimmen Nebenwirkungen.

Als er auf den Abgrund zusprintete, stellte Kobi sich vor, er hätte einen Football in den Händen und eine Reihe von abwehrbereiten Seahawks-Linebackern vor sich. An der Kante stieß er sich ab, pulsierende Kraft schoss durch seine Muskeln. Er überwand die Spalte locker.

Auf der anderen Seite erlaubte er sich ein breites Grinsen und riss die Hände hoch.

»Touchdown«, murmelte Kobi.

Nach zwei Schritten erwischte ihn etwas am Knöchel.

»Was zur –?«

Kobis Fuß wurde unter ihm weggerissen, der Bürgersteig raste ihm entgegen. Obwohl er sich im letzten Moment mit überkreuzten Armen abfangen konnte, prügelte ihm der Aufprall die Luft aus der Lunge. Er warf einen Blick zurück und stellte fest, dass sich eine gelbe Ranke um seinen Turnschuh gewickelt hatte, so dick wie sein Handgelenk.

Sie zog ihn zur Spalte. Panik durchzuckte Kobi, er rang um Atem. Als er sich losreißen wollte, stöhnte er vor Schmerz auf – die Stacheln der Würgepflanze bohrten sich durch den Hosenstoff in seine Haut. Verzweifelt versuchte er, sich festzuhalten, aber wo?

Kobi rollte sich auf den Rücken, riss die Machete aus der Scheide, zielte und hackte drauflos. Der erste Hieb ging daneben auf den Asphalt, Funken sprühten. Mit dem zweiten trieb er die Klinge tief in die Ranke. Gelber Saft floss aus der Wunde. Kobi holte noch einmal aus und schlug den Strang durch. Die verstümmelte Pflanze bäumte sich auf wie eine Schlange und glitt in den Abgrund.

Während Kobi sich völlig außer Atem aufrappelte, rutschten die abgestorbenen Schlingen von seinem Knöchel.

Wieder sah er Dads Gesicht vor sich. Seine Wangen brannten vor Scham. Er konnte sich nur zu gut vorstellen, was Dad jetzt gesagt hätte.

»Idiot!«, knurrte Kobi sich selbst an.

Er zog sein Hosenbein hoch und sah Blut – mehrere Reihen kleiner Stichwunden. Sie würden rasch verheilen, aber fürs Erste würde er nur langsamer vorankommen.

Und manche Raubtiere da draußen konnten Blut auf etliche Kilometer Entfernung wittern.

Leicht hinkend und extrem vorsichtig setzte Kobi seinen Weg durch dichten Wald fort. Der bemooste Boden war von Wasserläufen und sumpfigen Stellen durchzogen, Monsterfelsen entpuppten sich bei näherem Hinsehen als von Flechten bedeckte Autowracks. Hier und da schimmerten die Häuser abseits der Straße durch, manche wie aufgespießt von Baumskeletten, andere kaum zu erkennen vor lauter üppig wuchernden exotischen Blumen. In dieser Gegend hätte Kobi sich leicht verirren können, hätte er von seinen Ausflügen mit Dad nicht noch ein paar Orientierungspunkte im Kopf gehabt: der windschiefe Briefkasten von Hausnummer 3321; der alte Basketballkorb, der sich tapfer zwischen den Stämmen hielt; ein angespültes Rennboot, die Spitze hoch in der Luft, als hätte es eine Welle unter dem Bug; die alte Tankstelle mit dem Schild: »KEINBENZINMEHR!« Als sich das Waste richtig breitmachte, hatte Dad erzählt, hätten die Leute panisch die Flucht ergriffen, nur leider viel zu spät. Wohin hätten sie noch fliehen sollen?

Mit schnellen Schritten, aber äußerst wachsam ließ Kobi all das links liegen. Wann immer er etwas Deckung hatte, warf er einen Blick auf die Karte.

Nach einigen Stunden kam er in die Nähe des Flusses. Hier stieg die Fahrbahn an, größere Mietshäuser säumten die Straße und wichen schließlich Industriebauten, die meist schon vor Jahren eingestürzt waren. Bloß ein paar Kamine hielten der Flut an organischer Substanz, die unaufhaltsam an ihnen emporkroch, noch wacker stand. Weiter vorne, die Brücke war schon nicht mehr weit, war der Duwamish Waterway stellenweise über die Ufer getreten, ein Sumpfgebiet war entstanden. Wie die Leichen gestrandeter Wale ruhten mehrere Walmart-Lkws im Morast.

Die West Seattle Bridge stand noch. Um ihre Pfeiler hatten sich allerdings Kletterpflanzen geschlungen, und auf dem Asphalt wuchs eine Wiese aus Wildgräsern. Wie lange das Bauwerk sich wohl noch gegen die geballte Kraft von Waste und Natur würde stemmen können? Kobi wusste es nicht. Hinten schälte sich die Skyline aus dem Nebel: Wolkenkratzer über Wolkenkratzer, alle in einen Mantel aus Grün gehüllt wie Säulen aus Pflanzenmasse und überragt von einem einzelnen zierlichen Turm, der Space Needle. Nur sie war noch nicht vollständig von der Vegetation erobert worden, zur Spitze hin klafften Lücken im Grün. Kobi hatte viele Fotos von der früheren Stadt und sogar ein paar Filme aus dem Schularchiv gesehen: zahllose Menschen auf den Bürgersteigen, Tausende helle Lichter an den Fassaden, blinkende Ampeln und Werbetafeln, Unmengen von Autos … nichts davon existierte noch.

Kurz vor der Brücke blieb Kobi stehen und zückte erneut die Karte. Bis hierhin war er mit seinem Dad vorgedrungen, nie weiter. Er hatte nie weitergedurft. Jenseits der Brücke, wo die eigentliche Stadt begann, lauerten wer weiß welche Gefahren.

Sein Plan war nicht weiter kompliziert. Er wollte zu Dads Labor an der Universität. Und unterwegs möglichst nicht umkommen.

Mit kribbelnder Angst im Nacken setzte Kobi den ersten Fuß auf die Brücke. Er huschte von Autos zu Büschen, immer weiter, und ignorierte dabei den stechenden Schmerz in seinem Knöchel. Das Wasser unter ihm und drüben in der Bucht war dunkel und aufgewühlt. Ob irgendwelche Meeresbewohner die Waste-Seuche überlebt hatten, wusste er nicht. Denkbar, dass es genauso gelaufen war wie an Land … aber was hätte er davon gehabt, sich mutierte Seeungeheuer auszumalen?

Einige Minuten später hatte er drei Viertel der Brücke hinter sich gebracht. Weiter vorne hatte sich ein Laster quergestellt, seine Hecktüren hingen offen herab. Als Kobi ihn gerade vorsichtig umrundete, entdeckte er ein Schimmern am Himmel, und der Schrecken stach ihm in die Brust.

Ein Snatcher.

»Wenn du einen Snatcher sichtest, lässt du alles stehen und liegen und suchst dir Deckung. Das ist mein Ernst, Kobi. Ohne Wenn und ohne Aber. Du versteckst dich.«

Kobi schob sich unter den Truck und hielt den Atem an. Sollte der Snatcher bereits seine Wärmesignatur erfasst haben, musste er sprungbereit sein.

Nach ein paar Sekunden riskierte er einen ersten Blick in die Höhe. Das Ding flog gemächlich nach Norden, seine Drei-Meter-Flügel ausgebreitet. Beiderseits der Kamera- und Scannereinheiten an seinem Bauch glitzerten metallene Vogelklauen.

Kobi duckte sich wieder unter den Lkw. Alles in ihm schrie danach, umzukehren und zur Schule zu rennen. Mit seiner Armbrust und seinem Taser wäre er dem Snatcher niemals gewachsen.

Ich bin schon so nah an Dad dran. Ich kann jetzt nicht aufgeben.

Erneut spähte er hinaus. Am Himmel war nichts mehr zu sehen. Kobi rannte zum Brückengeländer – knapp zehn Meter tiefer verlief die untere Fahrbahn. Dad hätte sich bei einem solchen Sprung beide Beine gebrochen. Kobi dagegen schwang sich einfach hinüber, ließ sich so weit wie möglich hinab und öffnete die Hände. In geduckter Haltung federte er den Aufprall mit den Knien ab. Die Stichwunden an seinem Knöchel brannten, doch irgendwie schaffte er es, nicht zu schreien. Schnell blickte er sich auf der unteren Ebene um. Drohte auch hier Ärger? Doch es rührte sich nichts.

Also lief Kobi weiter, unter Überführungen und zwischen imposanten, von zerstörerischer Vegetation erstickten Lagerhallen hindurch, und nutzte dabei jede Deckung. Größere Raubtiere hätten hier zwar kaum Beute gefunden, ab und zu registrierte er aber ein leises Tapsen oder Vogelkreischen, und jeder Tierlaut bedeutete eine weitere Verzögerung. Immer musste er abwarten, bis das Geräusch verklungen war.

Alle paar Ecken warf er einen Blick auf die Karte, und manchmal hielt er sogar mehrere Minuten inne, um seine Umgebung in Augenschein zu nehmen. So gelangte er erst nach langer Zeit zum ersten N auf der Karte: einem Minimarkt. Dichtes Blattwerk schmiegte sich an die Scheiben und versperrte die Sicht ins Innere. Wie Kobi feststellte, stand die automatische Schiebetür einen Spaltbreit offen. Unter normalen Umständen hätten er und Dad erst sorgfältig die Lage erkundet. Solomissionen waren riskant.

Kobi zog seine Machete, denn im Nahkampf könnte er damit mehr anfangen als mit der Armbrust. Auch aus der Nähe deutete von außen erst einmal nichts auf lauernde Jäger hin. Keine Bewegung, kein Laut. Um das Gitter im Bürgersteig machte Kobi lieber einen Bogen – gut möglich, dass darunter Würgepflanzen schlummerten, die ihre Beute durch die Erschütterung erspüren konnten. Dann schob er die Tür etwas weiter auf und wischte eine Efeuschlinge beiseite. Im Inneren war es warm und stickig, der Boden übersät von Flaschensplittern, hinten war gerade so die Kasse zu erkennen. Wegen der zugewucherten Fenster war es ziemlich dunkel. Kobi schaltete die Taschenlampe ein und schwenkte sie einmal von links nach rechts.

Auf den ersten Blick erkannte er, dass der Laden bereits geplündert worden war. Vermutlich während der Tumulte kurz nach der ersten Infektionswelle oder auch später, durch Überlebende, die dem Waste erst nach einiger Zeit erlegen waren. Alles hatten sie jedoch nicht mitgehen lassen. Vieles war heute nur noch abgepackter Staub – Brot, Kartoffelchips und Bonbons etwa. Tütensuppen waren noch zu haben, aber deren Nährwert konnte man vergessen. In einem alten Kühlregal hatten sich mächtige Schimmel- und Pilzkulturen angesiedelt. Kobi trat in den nächsten Gang, und sein Herz machte einen Sprung – ein Regal voller Konservendosen! Er durchwühlte sie. Eine der ersten Lektionen, die Dad ihm beigebracht hatte, lautete: »Mindesthaltbarkeitsdaten« hatten null Bedeutung.

»Solange das Ding dicht ist, ist der Inhalt essbar.«

Kobi stöberte ein paar Dosen Makkaroni in Tomatensoße und einige Portionen Chili mit Rindfleisch auf, die ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen ließen. Außerdem Gemüse: Karotten, Kartoffeln und Bohnen.

Während er sich den Rucksack vollschaufelte, rechnete er bereits in Rationen. Von dem Zeug könnten sie sich wochenlang ernähren. Er könnte später noch mal mit Dad hierherkommen, auch wenn sie wahrscheinlich mehrmals hin- und zurückmüssten, um alles zur Schule zu schaffen. Als er versteckt hinter lauter Dosen mit Pilzen eine mit Ananas entdeckte, konnte Kobi sich nicht zurückhalten. Er stach den Deckel mit seinem Schweizer Taschenmesser an und setzte sie an die Lippen. Der Saft war herrlich süß, köstlicher als alles, woran er sich erinnern konnte. Er öffnete die Dose ganz und ließ die fleischigen Fruchtstücke in seinen Mund rutschen, schluckte sie fast ohne Kauen. Und rülpste.

»’tschuldigung auch«, murmelte er grinsend.

Ein blechernes Klappern. Das Grinsen verging ihm.

Kobi rührte sich nicht. Keinen Millimeter. Der Ananassaft tropfte ihm vom Kinn.

Ganz aus der Nähe kam ein Schlurfen und Schaben.

Da ist irgendwas im Laden …

Kobi schluckte und verfluchte sich dafür. Selbst das schien ihm zu viel Krach zu machen.

Wahrscheinlich ist es nichts. Nur eine Bewegung der Ranken. Ein bisschen Zugluft. Oder es ist Dad …

Da hörte er ein tiefes Schnauben. Sein Magen drehte sich um.

Eines war klar: Es war kein Mensch.

Das Schlurfen näherte sich. Langsam wandte Kobi sich in die Richtung des Geräuschs. Es kam aus dem hinteren Teil des Ladens. Ein Blick zum Ausgang. Kobi rechnete sich seine Chancen aus. Er konnte es schaffen. Aber nicht ohne Lärm.

Möglich, dass es bloß eine Ratte war. Die wurden teils auch aggressiv, stellten aber keine größere Gefahr dar, außer sie griffen im Rudel an. Und man konnte sie essen. Das heißt, Kobi konnte sie essen, weil ihm das Waste nichts anhaben konnte. Er zog die Armbrust von der Schulter.

Ein Krachen. Plötzlich wankte das Regal vor seiner Nase – offenbar war irgendetwas von der anderen Seite dagegengerempelt. Kobi spürte kalten Schweiß im Nacken.

So viel Kraft hat keine Ratte der Welt.

Das Schnaufen war nicht mehr weit entfernt, und wie es sich anhörte, stammte es von einem Riesentier. Das ihn außerdem trotz Bärenmoschus wittern konnte.

Oder hatte es einfach keine Angst vor Bären?

Kobi orientierte sich rasch. Sein Rucksack war zu weit entfernt, da kam er nicht heran. Wie in Zeitlupe hob er die halb leere Ananasdose.

Es muss einfach funktionieren. Bitte …

Er schleuderte die Dose tief in den Laden. Scheppernd kam sie auf, und wieder erzitterte das Regal vor seiner Nase – das Tier machte kehrt und stampfte immer schneller in dieselbe Richtung. Kobi stürmte bereits zum Ausgang.

Kobi brach durch die Tür und rannte.

Sekunden später krachte es hinter ihm. Er warf einen Blick zurück und beobachtete, wie ein riesiges vierbeiniges Etwas auf den Bürgersteig schlitterte, aus dessen grauem Fell Scherben in alle Richtungen stoben. Ein zweites, ein bisschen kleineres Etwas war dicht dahinter. Als Kobi genauer hinsah, gefror ihm das Blut in den Adern. Es waren Wölfe, der ausgewachsene sicher an die zwei Meter groß. Sie waren mitten durch die Glastür gerast. Ihre gekrümmten, schartigen Klauen schabten über den Boden, ihr Bauch war aufgebläht vom Hunger, und in ihren Augen schimmerte das ungesunde Gelb der Waste-Seuche.

Im Rennen verschaffte Kobi sich einen Überblick über die Umgebung: eine freie Fläche, kein Unterschlupf weit und breit. Und die Wölfe waren zweifellos schneller als er.

»Wenn es um Leben und Tod geht, triffst du sofort eine Entscheidung und hältst dich daran.«

Kobi blieb stehen und drehte sich um. Die Wölfe waren noch ungefähr 15 Meter entfernt. Seine Arme hingen bleiern an ihm herab. In Gedanken brüllte er sich an: Bewegung!

Er legte die Armbrust an und richtete das Visier auf den Kopf des kleineren Tiers. Eine Sekunde lang stellte er sich vor, Dad würde ihm über die Schulter gucken wie früher bei ihren Schießübungen in der Turnhalle …

»Immer auf den Körper gehen. Der ist am größten.«

Also zielte Kobi etwas tiefer und drückte ab. Doch ihm zitterten die Hände, und so schnellte der Pfeil in das Vorderbein des Tiers. Zuerst zuckte es zurück. Dann machte es den Hals lang, klemmte den Schaft zwischen den Zähnen ein und zog das Geschoss mit einem Ruck heraus.

Manche Kreaturen wurden durch das Waste nicht nur größer, sondern auch intelligenter.