Lost Horizon (Band 2) - Michael Ford - E-Book

Lost Horizon (Band 2) E-Book

Michael Ford

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Beschreibung

Von jetzt auf gleich wird Kobi zur letzten Hoffnung der Menschheit. Denn nach wie vor bedroht eine Seuche alles Leben auf der Erde, und Kobi ist der einzige Mensch, aus dessen Blut das Gegenmittel gewonnen werden kann. Vom Hauptquartier der Widerstandsorganisation Sol bricht er mit anderen Kindern – alle mit unterschiedlichen Mutationen und Talenten – auf eine Expedition auf, um ein noch wirksameres Gegenmittel zu finden. Die Mission läuft glatt, bis die Kampfdrohnen der korrupten Macht CLAWS angreifen. Nun liegt es an Kobi und seinen Freunden, das rettende Gegenmittel zu finden und CLAWS' Betrug an der restlichen Menschheit aufzudecken … und ums nackte Überleben zu kämpfen.

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Seitenzahl: 316

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Lost Horizon

eISBN: 978-3-96129-279-0

Edel Kids Books

Ein Verlag der Edel Verlagsgruppe

Copyright © Edel Verlagsgruppe GmbH, Kaiserstr. 14 a

80801 München

www.edel.com

Die englischsprachige Originalausgabe erschien

bei HarperCollins Children’s Books unter dem

Titel »Lost Horizon«

Copyright © 2019 by Working Partners, Ltd.

Text: Michael Ford

Übersetzung: Tanja Ohlsen

Covergestaltung: Formlabor

Lektorat: Silvia Müller-Borchert

Projektkoordination: Rebecca Hirsch

ePub-Konvertierung: Datagrafix GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

1

»Die Regeln sind lebenswichtig.«

Hundert Mal hatte er das schon gehört, also warum richtete er sich nicht danach? Warum war er nicht zurückgeblieben, wie man es ihm gesagt hatte?

»Dad?«, flüsterte Kobi. Mit seiner Machete bahnte er sich einen Weg durch das schulterhohe, raue Gras und kletterte dann auf einen verschlungenen Knoten von Wurzeln, die aus dem riesigen Stamm einer Zeder hervorragten. Seine Blicke durchsuchten das mutierte Unterholz nach Bewegung oder einem anderen Zeichen, dass sein Vater auf dem Weg zu ihm war. Doch da war nichts.

»Ich gehe voraus, und du bleibst genau da, wo du bist, bis ich zurückkomme und dir ein Zeichen gebe. So kommen wir sicher voran, verstanden?«

Kobi hatte seinen Vater angebettelt, ihn mitzunehmen, ihn in die Wildnis mitgehen zu lassen und ihm zu zeigen, wie man dort überlebt.

»Ich bin neun Jahre alt, Dad«, hatte er gefleht. »Ich bin bereit!«

Er war ja so dämlich gewesen.

Kobi hob den Arm, um einen Vorhang aus Laub beiseitezuschieben.

»Untersuch alles. Rühr dich nicht, ohne dich umgesehen zu haben.«

Kobi erstarrte.

Die Blätter der Ranke hatten kleine Zähnchen. Die Wildnis hatte die Pflanze zum Fleischfresser gemacht, stellte er fest. Er sah nach oben. Ganz oben in den Zweigen hing eine große Möwe in einem Gefängnis aus Astgeflecht. Die Säure hatte den armen Vogel schon stark zersetzt. Kobi musste daran denken, was sein Vater gesagt hatte: Der Würgeefeu war nicht ganz so tödlich wie der, der aus dem Boden hervorschoss, aber wenn er dich endgültig in seine Schlingen bekam, tötete er dich wesentlich langsamer.

Zitternd duckte er sich unter dem Würger durch und betrachtete misstrauisch die scharfzackigen Fühler, die nur Zentimeter über seinem Rücken hingen. Plötzlich stolperte er.

»Nichts überstürzen, Kobi!«

Einen Moment lang schloss Kobi die Augen. Sein Herz trommelte so heftig, dass er schon fürchtete, die Fühler könnten es merken. Aber er hatte Glück und blieb unbemerkt.

Eine Minute später ging er weiter, Schritt für Schritt mit äußerster Präzision, bis er aus der Reichweite des Würgers war.

»Dad?«, rief Kobi so laut, wie er sich traute. »Wo bist du?«

Er wollte rufen, schreien, damit sein Dad ihn hören konnte. Aber das wäre Selbstmord gewesen. Alles Mögliche konnte ihn hören. Würger, Wespen, Wölfe, Bären, Adler.

Snatcher.

Sein Dad hatte gesagt, dass diese Drohnen Geräusche aus fünf Meilen Entfernung hören konnten.

Kobi biss sich auf die Lippe, um nicht zu jammern. Er war verloren. Allein.

»Hier draußen sind wir Beute, Kobi. Denk immer daran. Hundert Dinge können uns hier umbringen.«

Dabei hatte das erste Training so gut angefangen. Doch Kobi hatte Angst bekommen. Als sein Vater nach zehn Minuten nicht wiedergekommen war, war er ihm nachgelaufen. Er hatte sein Vertrauen missbraucht. Das war das Schlimmste – noch schlimmer als die Angst, die sich in ihm zusammenballte. Ich habe Dad enttäuscht.

Links von ihm erklang ein Geräusch. Nur ein Rascheln.

»Dad?«

Er lief schnell und setzte dabei die Füße vorsichtig auf den schwammigen, moosbedeckten Boden. Als er sich unter einem Ast hindurch duckte, spürte er, wie die Zweige über seine Haare strichen. Durch eine Lücke im Blätterdach über ihm drang Sonnenlicht hindurch. Die Lichtung, auf der er warten sollte! Er hatte sich im Kreis bewegt. Er würde auf seinen Dad warten. Kobi wischte die Tränen weg und eilte weiter. Alles würde gut werden. Sein Dad brauchte gar nicht zu erfahren, dass er nicht auf ihn gewartet hatte.

Kobi sprang durch den Vorhang aus Zweigen und schob Blätter beiseite, die größer waren als sein Kopf.

Im Matsch kam er schlitternd zum Stehen. Das war nicht die Lichtung. Es war ein felsiger Anleger.

Vor seinen Augen lag die größte Wasserfläche, die er je gesehen hatte – sie erstreckte sich über viele Meilen.

»Elliot Bay«, flüsterte er. Das hatte er auf den Landkarten gesehen. Die schiere Größe verschlug ihm den Atem.

Große phosphorschimmernde Flecken schienen wie Öl im Wasser zu schwimmen, und auf der Oberfläche trieben riesige Seerosenblätter, aus denen sich Blüten in allen Farben erhoben. Ein paar Fetzen dichten Nebels zogen an einigen Stellen über das Wasser. In der Ferne erhoben sich am anderen Ufer gigantische grüne Monolithen bis in die Wolken. Downtown Seattle. Die Bill Gates High, wo Kobi und sein Vater ihr Lager aufgeschlagen hatten, war in West Seattle, einem früheren Wohnviertel der Stadt. Anders als sein Vater hatte er selbst nie die Brücke nach Downtown überquert, aber soweit er gehört hatte, wohnten dort früher über zwei Millionen Menschen, bevor die Wildnis die Bevölkerung ausgelöscht hatte und die genetisch veränderte Vegetation und die Tiere die Stadt übernahmen.

Kobi wollte sich schon zurückziehen und weiter nach seinem Vater suchen, als er plötzlich ein Geräusch vernahm: das leise Plätschern von Wasser. Dann traten plötzlich kleine Wellen aus einem Nebelstreifen hervor und kräuselten das Wasser, bis sie das Ufer zu seinen Füßen erreichten. Als Kobi die Augen zusammenkniff, konnte er gerade eine dunkle Form in der Mitte des Sees ausmachen, die sich mit gleichmäßiger Geschwindigkeit parallel zum Ufer bewegte. Fast hätten seine Knie nachgegeben, und er machte einen unsicheren Schritt nach vorne. Ein Segel? Ein Boot!

Sein Dad war sich immer so sicher gewesen, dass es keine weiteren Überlebenden gab, und in dem unwahrscheinlichen Fall, dass da draußen doch jemand war, dann waren sie wohl unerreichbar. Aber Kobi hatte die Hoffnung nie aufgegeben. Er konnte den Gedanken, den hartnäckigen, unmöglichen Traum, dass sie eines Tages noch andere Menschen finden würden, nicht loslassen – Kinder in seinem Alter, andere Familien, Menschen, denen sie vertrauen konnten. Und jetzt, wie durch ein Wunder, war dieser Tag tatsächlich gekommen. Da waren sie: Überlebende, nur ein paar Hundert Meter entfernt. Endlich fand Kobi seine Stimme wieder:

»Hey!«, schrie er.

Das Boot trieb weiter, in den Nebel hinein.

»Nein! Wartet!«, rief Kobi und winkte mit beiden Armen.

Doch das Schiff behielt seinen Kurs bei und wurde zu einem geisterhaften Schatten, bevor es vollends im Nebel verschwand.

Kobi sah sich nach etwas um, was er werfen könnte, einem Stein oder einem Ast. Irgendetwas, mit dem er ihre Aufmerksamkeit erregen konnte. Aber er fand nichts. Also sah er wieder in den Nebel und betete, dass sie umkehrten und zurückkamen. Warum hatten sie ihn denn nicht gehört?

»Kobi!«, rief eine panische Stimme in der Ferne. Dad! »Kobi! Wo bist du?«

Den Blick immer noch aufs Wasser gerichtet, rief Kobi zurück: »Alles gut! Ich bin am Wasser. Dad, ich …«

Plötzlich schoss eine große, glatte Finne zwanzig Meter vor ihm aus dem Wasser hoch, dessen Oberfläche sich nach oben wölbte, als ein riesiger Körper folgte. Kobi stolperte zurück.

Das war gar kein Boot gewesen, stellte er fest. Eine Wand aus Wasser stürzte über das Ufer und verpasste ihm eine plötzliche, eiskalte Dusche. Der Boden unter seinen Füßen verwandelte sich in glitschigen Matsch, in dem er ausrutschte. Er spürte, wie ihn der Rückstrom erfasste und ihm die Beine wegzog. Verzweifelt drehte er sich um und versuchte, sich festzuhalten, aber seine Finger fanden keinen Halt. Und dann war er unter Wasser.

Kobi wedelte wild mit den Armen. Wasser stieg ihm in die Nase und füllte seine Kehle. Er wollte ans Ufer kommen, doch der Grund fiel steil ab, und das brodelnde Wasser zog ihn tiefer. Er konnte nicht schwimmen. Er konnte nicht atmen. Doch noch schlimmer als diese Ängste war das Entsetzen vor der Kreatur, die im dunklen Wasser lauerte. Seine Finger berührten etwas Schleimiges, vor dem er zurückschreckte, und er schlug mit den Beinen aus, die auf etwas Festes trafen. Aus allen Richtungen gleichzeitig schien ein lang gezogener, klagender Laut zu kommen, den er unmöglich zuordnen konnte. Wieder spürte er, wie sich das Wasser bewegte, und als er nach unten sah, erhaschte er einen Blick auf silbrige, wabernde Haut und ein kränklich gelbes Auge, das ihn beobachtete. Dann verschwand es hinter einem fleischigen roten Lid, und die Kreatur stieg zu ihm auf. Seine Größe war unfassbar. Wie erstarrt betrachtete Kobi den vernarbten Kopf, eine stumpfe Nase und ein Maul, das sich wie ein Abgrund vor ihm auftat, mit Reihen zackiger Zähne, jeder lang genug, um ihn glatt aufzuspießen …

Plötzlich packte etwas seinen Oberarm und zog. Dann war er aus dem Wasser heraus und wurde über das schlammige Ufer an Land gezogen. Wieder explodierte eine Fontäne und übergoss ihn mit Wasser, als ein schwarz-weißer Körper auftauchte und zurück in den See klatschte. Es musste eine Art Orca sein, voller Narben und blutiger, roher Stellen im Fleisch. Kobi sah, wie er wieder unter Wasser verschwand, während er selbst weiter vom Ufer weggezogen wurde.

Sein Vater ergriff ihn an den Schultern und stellte ihn auf die Füße, während er Kobi von oben bis unten betrachtete.

»Bist du verletzt? Hat er dich gebissen?«, fragte er.

»Ich … nein, alles gut«, brachte Kobi hervor.

Sein Vater hockte sich vor ihn und sah ihn völlig panisch an. »Was zum Teufel hast du denn gemacht?«

»Ich … ich habe gedacht, es sei ein Boot. Überlebende.«

Mit ungläubigem Kopfschütteln sah sein Vater ihn an. Dann umarmte er seinen Sohn und hielt ihn fest an sich gedrückt, sodass Kobi sein Herz hämmern hören konnte.

»Lauf nie wieder davon«, sagte er und hielt ihn noch fester. »Verstanden?«

»Verstanden«, bestätigte Kobi.

Sein Vater ließ ihn los und sah ihn böse an, bis Kobi den Blick senken musste und rot wurde.

»Sieh mich an, Kobi«, verlangte sein Vater.

Kobi sah auf. Sein Vater schien nicht mehr böse zu sein, eher resigniert oder sogar traurig.

»Mein Sohn, es gibt keine Überlebenden«, sagte er und deutete auf die Skyline der Stadt auf der anderen Seite. »Ich war da. Ich habe es gesehen. Da ist niemand.«

»Aber wir haben doch überlebt«, wandte Kobi ein. »Vielleicht gibt es noch andere. Wenn sie ein Haus hatten und sich Essen beschaffen konnten, so wie wir …«

»Da ist niemand«, unterbrach ihn sein Dad. »Glaub mir. Wenn einen da drüben nicht die Raubtiere kriegen, dann die Wildnis. Es gibt keine Medizin. Die Luft ist toxisch. Ein Mensch könnte da keine Woche überleben.«

Gemeinsam betrachteten sie ein paar Sekunden lang den See. Er lag wieder vollkommen still, und nichts deutete auf den Schrecken hin, das sich unter seiner Oberfläche verbarg. Kobi fragte sich, ob er je in die Stadt kommen würde. Nach dem heutigen Tag wahrscheinlich nicht.

»Komm«, sagte sein Dad. »Gehen wir zurück ins Lager.«

Er stand auf, half Kobi hoch und legte ihm dann den Arm um die Schultern. »Ich habe schon geglaubt, ich hätte dich verloren«, sagte er leise und holte dann Luft, als versuche er, nicht zu ersticken. »Ich dachte, ich hätte dich verloren, mein Sohn.«

Kobi berührte die raue Hand seines Vaters auf seiner Schulter und flocht seine Finger zwischen seine. Sie fühlten sich real an, aber er wusste, dass sie das nicht waren, und dieses Wissen schmerzte unerträglich.

***

Kobi wachte aus dem Traum auf. Allerdings war es kein Traum. Es war mehr als das. Eine Erinnerung. Eine Rückblende. Das hatte Kobi oft. Es war, als würde die Vergangenheit seine Gegenwart immer dann überfallen, wenn er am verletzlichsten war. Er schüttelte die Decke ab und setzte sich auf. Die Visionen der Wildnis umgaben ihn noch wie Schatten auf den grauen Betonwänden seines Zimmers. Es gab kein Tageslicht, nur ein blaues Nachtlicht. Viel mehr Dekoration mochte Kobi nicht. Ein paar Bücher, ein paar Poster seiner Lieblingsfilme, die er sich mit Hales zusammen angesehen hatte – schwarz-weiße Klassiker von vor fast hundert Jahren. Die hatten Hales am besten gefallen. Kobi stellte fest, dass seine Wangen feucht waren, und wischte die Spuren mit dem Ärmel seines Pyjamas fort.

»Ich dachte, ich hätte dich verloren. Ich dachte, ich hätte dich verloren, mein Sohn.«

Hales’ Worte hallten durch Kobis vernebeltes Gehirn und lösten einen schmerzhaften Krampf aus.

»Ich war nie dein Sohn«, erklärte er laut.

»Kobi? Bist du wach?«

Es klopfte an seiner Tür. Kobi durfte kein Schloss haben, und bevor er etwas sagen konnte, öffnete sich die Stahltür, und Asha kam zum Vorschein, die ihn mit ihren dunklen Augen besorgt ansah. Ihr dichtes schwarzes Haar hing ihr bis auf die Schultern. Es lag auf dem Kragen eines beigen Fleece-Shirts und stand über ihrem Kopf in die Luft, wahrscheinlich durch die statische Aufladung beim Anziehen des Sweatshirts. Im bläulichen Licht leuchtete ihre braune Haut wie die Dämmerung.

»Ich habe dich gespürt«, sagte sie und tippte sich an die Schläfe. »Dieser Traum war echt lebhaft.«

Kobi nickte nur. Asha war ein Rezeptor, eine Telepathin, die die Gedanken und Gefühle aller vom Waste kontaminierten Organismen spüren konnte. Ohne eine Einladung abzuwarten, kam sie herein und setzte sich neben ihn. »Du hast einen Orca gesehen? Das war doch dieses Ding in der Bucht.«

»Ja«, antwortete Kobi und räusperte sich. »Das war mein erster Trainingstag außerhalb der Schule mit Hales. Danach sind wir monatelang nicht draußen gewesen. Ich mag das Wasser immer noch nicht – Meer oder See oder sonst was. Aber hier gibt es davon nicht viel.« Er lächelte sie an.

Einen Augenblick lang erwiderte sie sein Lächeln, dann wandte sie sich traurig ab. »Ich würde gerne irgendwann mal das Meer sehen. Als wir bei dir draußen in der Wildnis waren, haben wir es nie zu Gesicht bekommen.«

»Ich schätze, wir hatten nicht viel Zeit für Sightseeing.«

Genau wie Kobi war Asha in dem Glauben aufgewachsen, dass die menschliche Gesellschaft komplett vom Waste vernichtet worden war, nachdem es vor über zwanzig Jahren in die Umwelt entlassen worden war – eine Chemikalie, die das Wachstum von Getreide fördern sollte, das sich aber stattdessen in der ganzen Umwelt verbreitet hatte, Pflanzen und Tiere mutieren ließ und Menschen tötete. Bis vor sechs Monaten hatte sie ihr ganzes Leben in einer sicheren Einrichtung namens Healhome verbracht. Die Wissenschaftler unter der Leitung von Melanie Garcia nannten sich »die Guardians« und hatten ihr und den anderen Kindern gesagt, dass sie über eine natürliche Resistenz gegen das Waste verfügten und dass sie diese Resistenz erforschen wollten, um ein Heilmittel zu finden. Aber das waren Lügen.

In Wirklichkeit waren nur einige Stellen der Welt vom Waste verseucht worden. Die hatte man als Quarantänezonen abgeriegelt, während der Rest der Welt intakt war. Healhome lag gut verborgen ganz oben in einem Wolkenkratzer in New Seattle – hundert Meilen von der Stadt entfernt, die jetzt Old Seattle hieß. Man hatte die neue Stadt als ein Symbol des Widerstands der Menschheit gegen das Waste errichtet. Eine Sache, die Melanie erzählt hatte, war wahr: Sie war die Chefin von CLAWS – der Korporation führender Anti-Waste-Wissenschaftler. Aber sie versuchten nicht, ein Heilmittel zu finden. Sie wollten nur, dass ihre Medikamente gut genug wirkten, dass die Menschen von New Seattle mehr davon wollten. CLAWS hatte mit menschlichen Embryos experimentiert und sie absichtlich mit Waste kontaminiert. Die meisten waren gestorben, aber einige hatten überlebt, und die Mutationen des Waste verhalfen ihnen zu merkwürdigen, übermenschlichen Fähigkeiten.

Auch Kobi war einer dieser Embryos gewesen und der einzige, der sich dem Waste gegenüber als völlig immun erwies. Als er noch ein Baby war, hatte ihn deshalb Dr. Jonathan Hales, ein Wissenschaftler von CLAWS, entführt und nach Old Seattle gebracht, mitten ins Brachland. Er hatte gehofft, dass sie dort so lange sicher sein würden, bis er aus Kobis Blut ein wirkliches Heilmittel gegen das Waste herstellen konnte. Hales wusste, dass CLAWS Kobi lieber töten würden als ihr Imperium zu gefährden, wenn sie feststellten, dass er völlig immun war. Also hatte Hales Kobi erzählt, er sei sein Vater, damit er keine Fragen stellte.

Vor sechs Monaten hatte CLAWS Asha und zwei weitere Kinder von Healhome ins Brachland geschickt, um Kobi zu suchen – einen elfjährigen Jungen namens Fionn und Niki, die vierzehn war wie Asha, ein Jahr älter als Kobi. Als sie das geheime Labor von Kobis Dad gefunden hatten, hatte Asha Verstärkung von CLAWS gerufen. Kobi nahm es ihr nicht mehr übel – sie war manipuliert worden. Doch Asha war es immer noch unangenehm, darüber zu reden.

»Tut mir leid. Ich will nicht immer deinen Träumen zuhören«, sagte Asha. »Aber ich kann meine Kräfte nicht kontrollieren, wenn ich schlafe. Es macht wirklich keinen Spaß, die Albträume von anderen zu erleben.«

Kobi nickte. »Stimmt. Du musst dich nicht entschuldigen.«

»Hast du Mischik von dieser Erinnerung erzählt?« Asha deutete auf das Tagebuch auf seinem Schreibtisch, in dem er alles von Hales’ Arbeit aufschreiben sollte, an das er sich erinnerte. Daneben lag eine Karte von Old Seattle, auf der Kobi alle Labore und Vorratslager von Hales markiert hatte.

»Ich habe Mischik alles erzählt, wie er es verlangt hat. Aber er schien mir nicht sonderlich interessiert.«

»Er will sich nur auf den Plan konzentrieren«, erwiderte Asha in genau dem gleichen Wortlaut, den Kobi schon so oft von Mischik gehört hatte.

Genau. Der Plan. Der, der bedeutet, dass ich hier festsitze und abwarten muss.

Er hatte gedacht, wenn er sich der Widerstandsbewegung gegen CLAWS anschloss, würde er etwas tun können. Aber bisher hatte er nur gewartet.

Kobi stand auf und ging zu seinem kleinen Kleiderschrank. »Lass uns zum Freizeitraum gehen. Ich muss etwas machen … irgendwas. Dampf ablassen.«

Asha sah ihn ernst an. »Ich weiß, dass du frustriert bist, Kobi. Dieser Ort hier muss für dich ziemlich klaustrophobisch sein nach deinem Leben da draußen. Aber wir müssen stark bleiben.«

»Ich weiß«, knurrte Kobi. Je länger er in diesem Lager blieb, desto weniger stark fühlte er sich. Sein Körper fühlte sich müde an, sein Gehirn umnebelt. »Ich muss mich anziehen.«

»Ich warte draußen«, erklärte Asha.

Sobald sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, seufzte Kobi. Nirgendwo konnte er allein hingehen. Es kam ihm vor, als würde er jede Sekunde des Tages überwacht werden.

Und so war es auch. In einem Winkel des Zimmers blinkte ein kleines Kameralicht.

»Wir können es nicht riskieren, dass dir irgendetwas zustößt«, hatte Mischik gesagt. »Wir müssen dich im Auge behalten. Nur vorsichtshalber.«

Kobi zog sich an und ging hinaus, wo er an Asha vorbeiging, um sie durch die Basis zu führen. Hales hatte ihm beigebracht, wie man sich sichere Wege einprägt, und das bedeutete, dass er ohne Schwierigkeiten durch das Labyrinth von Tunneln zum Freizeitraum finden konnte. Über ihm rauschte fließendes Wasser, und einen Augenblick lang fühlte sich Kobi wieder in den See versetzt – hörte das Rauschen der Strömung in seinen Ohren, das seine Schreie erstickte, fühlte schwere Kleidung, die ihn nach unten zog, und sah ein großes gelbes Auge, das ihn aus dem trüben Dunkel anstarrte. Er hielt inne, und sein Stiefel traf mit lautem Klang auf den Metallboden.

»Alles in Ordnung?«, erkundigte sich Asha. Kobis Kopf kribbelte, als Asha seine Gedanken las.

Kobi ballte die Fäuste. »Ja. Es sind nur die Wasserleitungen.«

Asha sah auf. In diesem Werk hatten früher die Maschinen zu Erzeugung, Lagerung und Verteilung von Strom aus der Wasserkraft des nahen Damms am Columbia River gestanden, aber dann waren sie wegen der neuen Biomasseanlagen von CLAWS überflüssig geworden. Doch die Tunnel gab es immer noch. Es gab auch genügend Zugangsschächte, dass die Widerstandskämpfer von SOL, die »Scientists of Liberation«, sich verstecken, aber auch in der Stadt bewegen konnten wie Kaninchen in ihrem Bau, außer Sichtweite von CLAWS und den Behörden von New Seattle.

Ein paar Wissenschaftler von SOL in ihren Laborkitteln hielten inne, um ihn zu beobachten, und unterhielten sich leise. Vielleicht waren sie aufgeregt, vielleicht auch besorgt. Kobi wusste, dass ihre Arbeit nicht gut vorankam – sie versuchten, seine Antikörper synthetisch herzustellen, um die Produktion ihres neuen Anti-Waste-Mittels zu beschleunigen, ein Medikament, das sie Horizon nannten.

Als sie die Hauptgänge erreichten, presste Kobi einen Daumen auf einen Scanner, und die Türen öffneten sich zischend, um den Blick auf ein großes Atrium freizugeben, von dem in unterschiedlichen Höhen Gänge und Korridore abgingen. Die verschiedenen Ebenen erreichte man über Metalltreppen, die den Raum wie ein Amphitheater umgaben oder wie in einem Gefängnis. Überall gingen Wissenschaftler, Techniker und Feldagenten von SOL, insgesamt etwa hundert, zwischen Meetingräumen, Waffenlagern und Labors hin und her. Sie betrachteten Kobi ehrfürchtig, als er vorbeikam.

»Wenn das mal nicht unser Retter ist!«

Kobi wandte sich zu einem jungen Mann mit strubbeligen Haaren und dicken Brillengläsern um, der ein riesiges Sandwich aß. Etwas von der Füllung war ihm auf sein verwaschenes Metallica-T-Shirt gefallen.

»Hi Spike«, grinste Kobi.

Er erhaschte eine kurze Bewegung, und als er sich umsah, stellte er fest, dass Asha Spike kopfschüttelnd ansah.

»Äh – dann eben Nicht-Retter«, meinte Spike.

»Keine Angst«, erwiderte Kobi und verdrehte die Augen. »Asha will mir nur so weit wie möglich den Druck nehmen.« Er senkte die Stimme. »Das hat negative Auswirkungen auf meine Antikörper-Produktion.«

»He, das ist nicht der Grund!«, protestierte Asha.

Spike grinste breit. »Hey, wir sind alle gestresst.« Er nahm ein kleines Metallobjekt aus der Hosentasche und warf es in die Luft, woraufhin es sich zu einem metallischen Insekt entfaltete, das mit schwirrenden Flügeln in der Luft schwebte. »Ich zeige den Schlauköpfen mal diese neue Hackerwanze.«

»Cool«, fand Kobi. Spike hatte ihm geholfen, mit der neuen Technologie klarzukommen – VR-Brillen, Hologramme, Drohnen –, und er hatte mit ihm zusammen Maschinen auseinandergenommen und ihm erklärt, wie sie funktionierten. Es half Kobi, sich zu entspannen, er hatte das Gefühl, wieder in einer von Hales’ Werkstätten zu sein.

»Wir nennen sie Libelle«, erklärte Spike. »Sie hängt sich an die Drohnen und hackt sich in das Kommunikationsnetzwerk von CLAWS. Damit bekommen wir Zugang zu ihren Plänen – und können vielleicht sogar allen mit einer CLAWS-App auf ihren Geräten eine Botschaft schicken. Und das dürfte so ziemlich jeder auf der Welt sein. Und da das Signal von CLAWS-Technologie kommt, wird es auch nicht geblockt werden. Endlich könnten wir die Wahrheit an alle verbreiten. Cool, was?«

»Spike, du bist ein Genie«, grinste Kobi.

»Du sagst es.« Spike biss in sein Sandwich, spuckte den Bissen jedoch fast wieder aus, als er etwas hinter Kobi erspähte. »Sorry, ich muss los. Der Boss ist hier.«

Eine Gruppe wichtig aussehender Erwachsener kam durch das Atrium, darunter die große Gestalt von Alex Mischik, dem Anführer von SOL. Spike schnappte sich schnell die Libelle aus der Luft und steckte sie in die Tasche. »Das sollte ich wohl besser noch nicht herumzeigen«, murmelte er und schlug Kobi auf die Schulter. »Wir sehen uns – mein Retter.« Er grinste Asha an, die den Kopf schüttelte und missbilligend seufzte.

»Lass Spike doch in Ruhe«, verlangte Kobi, als sie weitergingen. »Zumindest behandelt er mich nicht wie eine Art Prophet oder als ob ich zerbrechen würde, wenn man mir zu nahe kommt.«

»Die Leute wollen nur, dass du bei der Sache bleibst«, wiederholte Asha. »Sie wollen dich nicht ablenken.«

Kobi antwortete nicht. Er war die ganzen letzten sechs Monate dabeigeblieben, sein Blut zu spenden, damit sie das Horizon-Mittel herstellen konnten, aber es hatte nicht den Anschein, als sei SOL dem Ziel, die Macht von CLAWS über die Stadt zu brechen, wesentlich näher gekommen.

»Wir müssen Vertrauen haben«, meinte Asha. »Wir müssen unser eigenes Wohlbefinden hinter das Gemeinwohl stellen. Es tut mir leid, Kobi. Ich weiß, es ist frustrierend, aber bald werden wir gewinnen. Eines Tages werden CLAWS, das Waste und das alles weg sein. Dann wird alles wieder so, wie es vor der Waste-Katastrophe war.«

Kobi hörte ihr zu und versuchte, sich vorzustellen, wie es wohl war, ein normales Kind zu sein, zur Schule zu gehen, Freunde zu haben. Eine Familie. Wo würde er wohnen? Bei Mischik oder den anderen Healhome-Kindern? Würde ihn jemand adoptieren?

Das einzige Bild, das er zustande brachte, kam ihm falsch und gestellt vor, wie in einem Werbefilm. Eine lachende Familie um einen Esstisch in einer ordentlichen Küche. Das einzige Problem war nur, dass sich jedes Mal, wenn Kobi versuchte, sich die Zukunft vorzustellen, die Vergangenheit dazwischendrängte und nur ein einziges Gesicht hängen blieb: das von Jonathan Hales. Die einzige Familie, die Kobi je gekannt hatte.

2

Nach weiteren zehn Minuten in den labyrinthischen Gängen der Basis gelangten Kobi und Asha schließlich zum Freizeitraum. Kobi rannte förmlich durch die große Bogentür in die alte Turbinenhalle. Die Decke war undicht, und es roch muffig und feucht. Als sie in der SOL-Basis angekommen waren, hatten die Kinder Poster an die nackten Betonwände geklebt und ein paar alte Fitnessgeräte in eine Ecke geräumt. Es gab einen Basketballkorb, einen Pool-Tisch und ein paar Sofas, auf denen gerade Leon und Rohan lümmelten. Mischik hatte einen Raum schaffen wollen, in dem sich die Healhome-Kinder entspannen konnten.

Kobi nickte Leon und Rohan zu und ging dann gleich zur Reckstange, wo er ein paar Klimmzüge machte. Er zog sich mit dem Kinn auf Höhe der Stange und stemmte dann den ganzen Körper hoch. Einen Augenblick verharrte er so, dann ließ er sich wieder hinunter und wiederholte die Übung. Nach zwanzig Wiederholungen taten ihm die Arme weh, aber er fühlte sich gut. Endlich begannen die Furcht und die Trauer aus seinem Traum zu verblassen.

Asha ließ sich auf einen Sitzsack fallen und zog das neue Smartphone hervor, das SOL ihr gegeben hatte. Vor ihr tauchten eine Reihe Hologramme auf. Viele der Apps waren von CLAWS: die Waste-Level-Überwachungs-App, der Waste-Scanner, CLAWS-Lebensmittel. Asha wusste gerne darüber Bescheid, was CLAWS so trieb. Sie zeigte mit dem Finger auf das vor ihr schwebende Holobild der Waste-Level-Überwachungs-App mit dem Logo von CLAWS. Es zeigte einen Live-Feed der Stadt, gefilmt von einer Drohne aus mehreren Hundert Meter Höhe. Ein gelb-oranger Filter zeigte die verschiedenen Waste-Verschmutzungsgrade in der Stadt. Die meisten Slums waren rot gezeichnet. Dazu stand in der App: Kritische Waste-Werte in dieser Gegend. Nicht im Freien aufhalten.

»Da gibt es nichts Neues«, stellte Kobi fest, stellte sich auf die Reckstange und hielt sich mit den Füßen fest. Mit einem Salto sprang er ab, stolperte aber bei der Landung, weil ihm ein stechender Schmerz durchs Knie fuhr. Verärgert knirschte er mit den Zähnen. Das konnte er besser.

»Es gibt eine Video-Warnung«, sagte Asha. Sie zeigte auf das Symbol einer Kamera, und Sam Stone, der Morgenreporter des CLAWS-Nachrichtensenders, erschien.

»Die Fälle von Kontaminierung mit Waste sind um zwei Komma drei Prozent gestiegen, wobei der Anstieg in den äußeren Distrikten stärker ist. Die Quarantänezonen müssen strikt eingehalten werden. Wer dagegen verstößt, dem droht sofortige Entfernung mittels einer Extraktionsdrohne. Brett Johns, Chefwissenschaftler bei CLAWS, sagt, der Anstieg sei – Zitat – kein Grund zur Beunruhigung, solange die Leute die Regeln befolgen und sich an ihr Anti-Waste-Medizinprogramm halten – Zitat-Ende.«

»Hey, Höhlenmensch – pass auf!«

Kobi wirbelte gerade noch rechtzeitig herum, um zu sehen, wie Leon von der anderen Seite des Raumes her einen Baseball warf. Nicht sehr genau, aber schnell. Kobi warf sich darauf, verfehlte ihn aber, und der Ball schoss durch das Hologramm, wo er das Gesicht von Sam Stone kurz verzerrte, und prallte dann von der Wand ab. Kobi hob ihn auf.

»Wenn du nicht besser wirst, schaffst du es nie ins SOL-Team«, meinte Leon und schnippte sich die langen Haare aus dem Gesicht. Er kam ebenfalls von Healhome und war groß und drahtig wie ein Kletterer. Auf seinem langen, knochigen Gesicht lag sein übliches spitzbübisches Grinsen.

»Hey, ich war aber dicht dran«, erwiderte Kobi und warf den Ball mit einer Hand mehrmals in die Luft. »Und du weißt, dass ich der beste Werfer bin. Du kannst ja nicht zielen.« Er holte aus, um den Ball so hart wie möglich zu Leon zurückzuwerfen, sodass der Ball zu Rohan schwenkte, der immer noch auf dem Sofa saß und auf seinem Tablet las.

»Vorsicht!«, rief Leon.

Rohan sah auf und fischte den Ball mit einer Hand aus der Luft. »Du bist draußen!«, erklärte er. Rohans Augen waren gelb, fast golden und leuchteten in einem warmen Gesicht mit kompakten Zügen. Seine Haut war hellbraun, und sein glänzendes, tiefschwarzes Haar war über den Ohren kurz geschnitten. Das Waste hatte seine Sehfähigkeiten auf vielerlei Art verbessert: Er konnte perfekt im Dunkeln sehen, Hitze- und Kältequellen mit einem Infrarotspektrum ausmachen und sogar das Waste selbst erkennen. Seine Mutation ermöglichte es ihm auch, selbst die schnellsten kinetischen Bewegungen innerhalb einer tausendstel Sekunde zu erkennen – wie er selbst sagte, war das, als sähe man die Welt in sehr langsamer Zeitlupe.

»Ich habe dir doch gesagt, der Höhlenmensch kann kein Baseball spielen«, beschwerte sich Leon. »Das passiert, wenn man in der Wildnis aufwächst.«

Kobi schüttelte grinsend den Kopf und ging nicht auf Leons Neckerei ein. Er war dankbar, dass Leon und Rohan ihn nicht behandelten wie eine kostbare Ressource, auf die man aufpassen musste. Wenn er mit ihnen zusammen war, konnte er sich fast vorstellen, ein normales Kind zu sein. Fast.

»Bin ich denn im Team?«, fragte Rohan und hielt den Ball hoch. »Ihr braucht doch Feldspieler, oder?«

»Dummerweise bist du ausgeschlossen«, erklärte Leon. »Ich habe einem von den Labortypen von dir erzählt, und er meinte, du hättest einen unfairen Vorteil.«

»Sagt der Kerl, dessen Muskeln fünf Mal so viel Kraft generieren wie die eines normalen Menschen«, gab Rohan zurück und wandte sich wieder seinem Text zu. »Das ist schlicht und einfach Diskriminierung.«

»Na gut, du bist drin. Aber ich bin der Werfer.«

Leon warf den Ball zu Kobi zurück, und dieses Mal sprang er hoch und fing ihn. Das Waste hatte seine Kraft, Geschwindigkeit und Heilungsfähigkeiten gestärkt – Fähigkeiten, die Jonathan Hales in ihrer Basis in Old Seattle regelmäßig getestet hatte. Es waren die grundlegenden Fähigkeiten, die alle Waste-Mutationen hatten. Jedes Kind aus Healhome besaß sie in gewissem Maße. Aber Johanna, das ältere Healhome-Mädchen mit der rindenartigen Haut, hatte Kobi gesagt, seine Basisfähigkeiten seien stärker als die der anderen, besonders seine Heilungsfähigkeit.

»He, hat irgendjemand Fionn gesehen?«, fragte Asha und kam zu ihnen. Sie versuchte, beiläufig zu klingen, doch ihre Hände verkrampften sich nervös. Die anderen sahen sich an. Seit einer Woche hatte ihn niemand mehr gesehen. Er wurde zwar nicht gerade vermisst – er war nur die Tunnel unter der Basis erforschen gegangen, die sich über viele Meilen erstreckten. Asha hatte gesagt, sie hätte gespürt, wie er zum Schlafen zurückgekommen sei, und Johanna hatte erzählt, er sei gelegentlich für die Tests erschienen, aber er war immer wieder verschwunden, bevor die anderen ihn sehen konnten. Keiner wollte es Mischik sagen, damit Fionn keinen Ärger bekam. Aber im Laufe des Tages wurde Kobi ebenso unruhig wie Asha.

»Er kommt schon klar«, beruhigte sie Kobi, war aber selbst nicht ganz überzeugt davon.

»Kannst du ihn denn jetzt nicht spüren?«, fragte Leon. »Kannst du nicht herausfinden, ob es ihm gut geht?«

Asha biss sich auf die Lippe und sah zu Boden. »Nicht heute. Es ist, als würde er mich ausschließen. Wenn ich versuche, seine Gedanken zu erspüren, dann ist da einfach … gar nichts.« Sie tippte auf das Kommunikationsgerät in ihrer Uhr. »Seine Anrufe beantwortet er auch nicht.«

»Vielleicht will er ja nur ein wenig Privatsphäre«, meinte Leon. »Und außerdem, wo soll er denn schon hin?«

»Stimmt«, meinte Asha, aber Kobi merkte, dass sie besorgt war.

»Ich habe ihn gesehen«, kam eine Stimme von oben. Kobi blickte hoch und sah Yaeko an den stählernen Industrierohren an der Decke hängen. Ihre Haut schimmerte mattsilbern. Wie viele andere der Healhome-Kinder war sie ein »Mischling«: In der Probe von Waste, mit der CLAWS sie als Embryo infiziert hatte, hatte sich tierische DNA befunden – in ihrem Fall die eines Chamäleons. Irgendjemand in der Stadt hatte sich wohl eine exotische Echse als Haustier gehalten, die dann weggelaufen war und deren Körper später verrottet und so ins Ökosystem geraten war. Das war jedenfalls die Theorie. Johanna hielt das für unwahrscheinlich. Sie war der Meinung, dass CLAWS die tierische DNA der Probe absichtlich beigemischt hatte. Vielleicht glaubten sie ja, dass die Kinder so schneller immun würden, vielleicht hatten sie auch nur aus reiner perverser Neugier herumexperimentiert. Kobi würde ihnen das jedenfalls durchaus zutrauen.

Asha verschränkte die Arme. »Wirst du mir auch sagen, wo du ihn gesehen hast, Yaeko, oder willst du da einfach nur so rumhängen?«

Blitzartig verschwand Yaeko. Kobi nahm die Bewegung an der Decke wahr und folgte Yaeko mit dem Blick. Ein paar Sekunden später kroch sie zur Sitzgruppe. Er konnte von ihr nur schwach die Form ihres schwarzen T-Shirts und ihrer kurzen Jeansshorts erkennen.

Asha seufzte frustriert. »Yaeko? Soll ich dich anbetteln? Sag es mir doch einfach!«

Yaeko tauchte wieder auf, betrachtete gelegentlich ihre Fingernägel, ohne irgendetwas zu sagen, und seufzte dann schließlich: »Na gut, wenn du es unbedingt wissen willst. Ich habe ihn erwischt, wie er sich mit Essen aus der Cafeteria davongeschlichen hat. Da bin ich ihm durch einige der tiefer gelegenen Tunnel gefolgt, die SOL nicht benutzt, und dann ist er durch einen alten Schacht mit einem Vorhängeschloss verschwunden. Das hat er wohl irgendwie geknackt. Auf dem Deckel des Schachts war ein Gefahrenzeichen.« Sie grinste Asha an. »Dann hatte ich keine Lust mehr, ihm weiter zu folgen. Ich habe nämlich verstanden, was das heißt.«

Asha knirschte mit den Zähnen. Niemand konnte sie so auf die Palme bringen wie Yaeko. Und wenn es Fionn betraf, war sie sowieso empfindlich.

»Ignorier sie«, riet ihr Rohan.

»Wir können ja in den Tunneln suchen, wenn du willst«, bot Kobi ihr an. »Aber ich glaube, es ist besser, wenn Fionn zu uns kommt, wenn er dazu bereit ist.«

Asha sah sie der Reihe nach finster an und murmelte dann: »Na gut.«

Die Kommunikationseinheit an Kobis Uhr vibrierte. Ein Anruf. Er antwortete, und ein kleines Hologramm von Alex Mischiks Kopf tauchte auf.

»Zeit für die Blutspende«, sagte der Anführer von SOL.

»Schon wieder?«, fragte Kobi.

»Sektor G«, befahl Mischik. »Zimmer vier.«

Damit verschwand er.

»Beeil dich lieber, Höhlenmensch«, mahnte Leon. »Du willst den Boss doch nicht warten lassen!«

***

Kobi sah zu, wie die Nadel in den Katheter in seinem Arm glitt. Der daran befestigte durchsichtige Schlauch begann sich schnell mit dunklem Blut zu füllen. Er führte zu einem leeren Blutbeutel, der neben einigen anderen, schon gefüllten, an einem Wagen hing. Johannas rankenartige Tentakelfinger schossen durch die Luft und schlossen sich um den Beutel wie kleine Würgerpflanzen, als sie ihn umdrehte, um zu sehen, ob er sich auch korrekt füllte.

»Nur noch ein Beutel«, sagte sie zu Kobi, während sich die Tentakel versteiften und zu Fingern und Daumen zurückschrumpften. Kobi mochte Johanna, aber ihre Mutation fand er gruselig. Die SOL-Wissenschaftler vermuteten, dass Würgepflanzen- und Baum-DNA zusammen mit dem Waste von ihrem Körper aufgenommen worden war, was ihre Haut rindenartig machte und ihren Händen und Armen die Fähigkeit verlieh, sich mit erstaunlicher Geschicklichkeit in lange, pflanzenartige Triebe zu verwandeln.

»Ist das alles?«, fragte Kobi. Er hatte es nicht sarkastisch gemeint, aber sie sah ihn stirnrunzelnd an.

»Tut mir leid, Kobi, aber so, wie dein Herz pumpt, kann es nur noch fünf Minuten dauern.«

»Länger als beim letzten Mal«, erwiderte Kobi.

Johanna schob sich auf einem Stuhl mit Rollen weg. Manchmal wünschte er sich, sie könnten tauschen und er würde im Labor arbeiten, während sie seinen Platz einnahm.

Kobi biss die Zähne zusammen und öffnete und schloss seine Hand, um den Blutstrom zu beschleunigen, der aus seinem Arm kam.

»Fast fertig«, bemerkte Johanna.

Kobi nickte und ignorierte die Schmerzen. Das war das Problem mit seinen Waste-Heilungsfähigkeiten. Die Haut, durch die die Nadel gestoßen wurde, versuchte, sich zu heilen. Der Katheter, ein kleines Plastikgerät, das unter seiner Haut blieb und mit seinen Venen verbunden war, war angebracht worden, damit man das Gewebe nicht so stark verletzte, doch längere Blutabnahmen zweimal täglich machten sich durchaus bemerkbar.