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Der Westen protzt. Der Westen stellt sich in Frage. Einerseits EU-Schulterschluss im Angesicht des Ukrainekrieges. Selbstzweifel, Selbstkritik und Selbstdementierung auf der anderen Seite. Zur europäisch-nordamerikanisch-westlichen Praxis gehört eben nicht nur die Erfindung der Demokratie und der Menschenrechte, nicht nur die Idee der Gleichheit der Menschen und die Idee pluralistischer Ordnungen, der Gewaltenteilung und des vernünftigen Interessenausgleichs, sondern auch seine radikale Dementierung. Kolonialismus, Faschismus und Nationalsozialismus, Imperialismus und Rassismus sind ohne Zweifel keine nicht-westlichen, keine nicht-modernen Erscheinungen. Sie gehören konstitutiv zur westlichen Moderne dazu. Das Kursbuch 211 stellt sich dieser Ambivalenz auf vielfältigste Weise. Helmut Heit beschreibt in seinem Beitrag sehr eindringlich, dass das Lügengespinst um den Irak-Krieg jener »Koalition der Willigen« nach 9/11 nicht nur für sich normativ beurteilt werden kann, sondern gerade deshalb besonders eklatant ist, weil der Westen sich hier gewissermaßen selbst negiert. Er beschreibt dies aus der Perspektive eines akademischen Lehrers im Reich der Mitte, dessen Selbstbewusstsein inzwischen beginnt, den universalistischen Vorrang des Westens für eine kurzzeitige historische Anomalie zu halten.
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Seitenzahl: 21
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Inhalt
Helmut HeitFortgesetzte IdentitätskriseDer Westen im Spiegel Chinas
Der Autor
Impressum
Helmut HeitFortgesetzte IdentitätskriseDer Westen im Spiegel Chinas
Dass es sich bei »dem Westen« trotz des bestimmten Artikels um eine reichlich unpräzise Flurbezeichnung handelt, versteht sich eigentlich von selbst. Da die Erde rund ist, liegt jeder Standort immer auch westlich von einem anderen. Dennoch war ich einigermaßen verblüfft, als ich im September 2010 mit einem polnischen Kollegen und seiner Frau durch Kiew spazierte und sie mit Blick auf die Architektur und die Kleidung der Menschen sagte: »Das ist alles ungeheuer interessant hier. Ich war ja noch nie im Osten.« Spontan – und entlarvend – kam mir diese Bemerkung völlig absurd vor, da sie als Polin in meiner Wahrnehmung selbst voll und ganz aus dem Osten kam; und zwar nicht nur aus einem Land östlich von Westdeutschland, sondern in einem irgendwie tiefer und unklar in meinem Weltbild verankerten Sinne aus »dem Osten«. Diesen Gedanken habe ich zum Glück wohlerzogen für mich behalten und stattdessen begriffen, dass der Westen eine Frage der Perspektive ist und dass man sich auch in den Ländern des früheren Ostblocks mehr oder weniger westlich begreifen kann.
Seit dem 24. Februar 2022 scheint es nun nicht wenigen, dass die Ukraine selbst ein unveräußerlicher Teil des Westens ist und dass es gilt, dort den Westen und seine Werte zu verteidigen. Tatsache ist, dass die Russische Föderation einen westlich gelegenen Nachbarn ohne Not und gegen jedes Völkerrecht überfallen hat und seither mit brutaler kriegerischer Gewalt überzieht. Mit dem Krieg scheint es wieder einfacher zu sein, den Westen als ein durch Werte und Überzeugungen verbundenes und gegen den gemeinsamen Feind auch militärisch solidarisches Bündnis zu definieren. Der Krieg, der große Vereinseitiger und Simplifizierer, hat noch stets die sonst offenen und fluiden Fragen nach Identität und Zugehörigkeit mit der gewaltförmigen Klarheit des Freund-Feind-Schemas zu beantworten gewusst. Aber ob sich im Modus dieses Ausnahmezustands verstehen lässt, was der Westen ist, was er macht, was ihn ausmacht und ob er derzeit im Donezbecken verteidigt wird, das soll hier mindestens gedanklich einmal zur Disposition gestellt werden.
Der Westen als normatives Projekt der Rationalisierung
Bei der Tagung an der Nationalen Taras-Schewtschenko-Universität in Kiew 2010 ging es um die Transformationen von Öffentlichkeit und Demokratie in Europa, insbesondere in einigen Ländern Osteuropas.1