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Schüler eines Berliner Abiturjahrgangs interessierten sich für Philosophie, daraufhin hielt Heinrich Elfferding 12 kurze Vorlesungen, in denen er Grundfragen der Philosophie zu Leibe rückt: ››› Was ist ein Philosoph? ››› Was heißt philosophisch Fragen und Antworten? ››› Kann man in der Politik streng philosophisch denken? ››› Liegt alle Wahrheit in der Sprache? ››› Kann Philosophie Mut machen? Eine Anregung für eine eigenständige Beschäftigung mit Philosophie, gestützt durch konkrete Textbezüge zu großen Werken und weiterführende Lektürehinweise.
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Seitenzahl: 213
Reclam
Alle Rechte vorbehalten
© 2016 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen
Made in Germany 2016
RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und
RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken
der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961089-4
ISBN der Buchausgabe 978-3-015071-9
www.reclam.de
Vorwort
1. Was ist ein Philosoph?
Ich denke, also bin ich. Descartes.
2. Was heißt philosophisch fragen und antworten? Der philosophische Diskurs
Sokrates im Angesicht des Todes. Platons Phaidon
3. Wie wollen philosophische Texte gelesen werden?
Eine Seite Dialektik von Hegel
4. Macht der Materialismus Schluss mit der Philosophie oder ist er selbst eine?
Marx’ elfte Feuerbachthese
5. Kann man in der Politik streng philosophisch denken?
Zu Kants politischer Philosophie
6. Bleibt die Philosophie eine »Magd der Theologie«?
Glauben und Wissen
7. Müssen wir das Gute tun oder müssen wir gute Verhältnisse schaffen?
Brecht und Nietzsche
8. Liegt alle Wahrheit in der Sprache?
Der linguistic turn in der Philosophie des 20. Jahrhunderts: Wittgenstein, Searle
9. Philosophische Kritik oder Konsensphilosophie?
Kritische Theorie, Habermas
10. Philosophieren nach Auschwitz – hat der Existentialismus der Metaphysik ein Ende bereitet?
Sartre
11. Kann Philosophie Mut machen?
Ernst Bloch
Literaturhinweise
Personenregister
Zum Autor
Hinweise zur E-Book-Ausgabe
Die folgenden Vorlesungen sind an einer Berliner Schule im Wintersemester 2013/14 entstanden. Einige Schülerinnen und Schüler des Abiturjahrgangs hatten Interesse an Philosophie bekundet. Diesem Interesse wollte der Autor nachkommen. In elf Vorlesungen werden Grundfragen der Philosophie aufgeworfen. Fragen sind wichtiger als Antworten, die jedoch auch vorkommen dürfen. Dabei entsteht hoffentlich genug Anregung für eigenständige Beschäftigung mit der Sache, gestützt durch konkrete Hinweise in jedem Kapitel.
Die Kapitel vermitteln Erstbegegnungen, dies auch in dem Sinne, dass nicht nur über Texte gesprochen, sondern immer wieder exemplarisch aus Texten gelesen wird. Es sind Erstbegegnungen unter Zeitdruck, denn in einem Prüfungsjahr war nicht mehr möglich. Eine Vorlesung dauerte eine gute halbe Stunde, anschließend eine Viertelstunde Colloquium – Gelegenheit für Nachfragen und Vertiefung.
Die Auswahl der philosophischen Texte und Themen ist subjektiv, wenn auch nicht ganz zufällig. Einerseits orientiert sie sich an dem, was der Autor kennt und für wichtig hält. Andererseits wurden Philosophen und Texte danach ausgewählt, ob sie erlauben, wichtige Fragen zu verdeutlichen, mit denen sich die Philosophie beschäftigt. Es versteht sich von selbst, dass vieles, das in der Philosophie vorkommt, hier keinen Platz findet. Auch die einzelnen Autoren werden mitunter nur an einer kleinen Ecke ihres Werkes berührt und betrachtet. Das liegt an der Aufgabenstellung, Fragen zu erläutern, nicht Positionen umfassend darzustellen. Gleichwohl soll der Reichtum an Gedanken doch so bemessen sein, dass Spuren für weitergehende Beschäftigungen mit der Philosophie gelegt sind.
Die Schriftfassung wurde stilistisch geglättet, der Duktus eines gesprochenen Textes jedoch beibehalten. Die Wahl der Form einer Vorlesung mag in Zeiten dominanter Schülerzentrierung des Unterrichts altmodisch erscheinen. Wer nicht ohnehin mit dem Autor die Überzeugung teilt, dass sich geistig anspruchsvolle Diskurse nicht beliebig in Häppchen, in bits and pieces aufspalten lassen, mag dies als punktuelles Gegengewicht gegen den methodischen Mainstream ansehen.
Zeitbezüge und mitunter eine persönliche Anekdote verweisen auf hermeneutische Situationen, welche das Verständnis philosophischer Positionen in einem pädagogischen Verhältnis grundieren. Auf Fußnoten wurde zugunsten der flüssigen Lesbarkeit verzichtet.
Eng auf den Gedankenraum dieser Vorlesung zugeschnittene Literaturhinweise und ein Namensverzeichnis sind beigegeben.
Cogito, ergo sum. Ich denke, also bin ich. – Das ist einer der berühmtesten Sätze der Philosophie. Descartes hat ihn auf Latein so nie niedergeschrieben, nur auf Französisch in der Schrift Discours de la méthode (Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs): »Je pense, donc je suis«. Und da taucht schon ein wichtiger Begriff auf, der uns wiederbegegnen wird: »le discours«, der Diskurs.
»Cogito, ergo sum«, so wird häufig zitiert. Das ist Lateinisch, Discours de la méthode hingegen Französisch. Was für ein Durcheinander! Cartesius, wie er auch genannt wird, war Franzose, René Descartes, daher hat er seine Schrift im Jahr 1637 in französischer Sprache veröffentlicht. Wenig später kam eine lateinische Übersetzung heraus, weil das eben damals in Europa die Sprache der Gelehrten war. Wer nicht Lateinisch sprach und schrieb, hatte an den Universitäten keine Chance, gehört oder gelesen zu werden.
Ich denke, also bin ich. Das klingt zunächst ziemlich ich-bezogen. In der deutschen Fassung kommt das Wort »ich« gleich zweimal vor, viel für einen kurzen Satz. Fast könnte der Satz sofort für einen Solipsismus gehalten werden. – Gleich zu Beginn dieser Vorlesung hagelt es philosophische Fachbegriffe. Nun, was es heißt, solo zu sein, wissen alle – allein zu sein eben. Der Solipsismus lehrt, dass wir nur unserer selbst ganz gewiss sein können, nur vom eigenen Ich wissen wir ganz gewiss, dass es existiert, in die anderen können wir nicht hineinschauen. Sie werden wohl unserer Einbildung entspringen.
Das steht ganz gewiss in dem Satz von Descartes so nicht drin, und insofern können wir den Begriff Solipsismus gleich wieder vergessen. Aber ein gewisser Subjektivismus scheint den Satz schon zu tragen. Schon wieder ein Fachbegriff, der längst in die Alltagssprache hinübergewandert ist. Vom Subjekt, vom Bewusstsein des Menschen, von seiner Wahrnehmung und seinem Blick auf die Welt auszugehen, kann Subjektivismus genannt werden, im Gegensatz zu einem Objektivismus, der die Objekte, die Gegenstände unserer Tätigkeit und unserer Wahrnehmung an den Anfang stellen würde. – Ist der Satz also subjektivistisch zu verstehen? Wie sollen wir eine solche Frage beantworten? Der Philosoph greift zum Text und liest nach.
Schon seit langer Zeit hatte ich bemerkt, dass man, was die Sitten betrifft, manchmal […] Ansichten, von denen man weiß, dass sie sehr unsicher sind, dennoch so befolgen muss, als ob sie unzweifelhaft seien.
Aber weil ich damals nur wünschte, der Erforschung der Wahrheit nachzugehen, dachte ich, genau das Gegenteil tun zu müssen und all das als vollkommen falsch zu verwerfen, bei dem ich mir den geringsten Zweifel vorstellen könnte […]. (Discours, 63)
Worum geht es hier? Es geht Descartes um die »Erforschung der Wahrheit«. Philo-sophie, Freundschaft mit der Wahrheit, Treue zur Wahrheit, so könnte der Begriff, neben vielen anderen Übersetzungen, ausformuliert werden. Wir befinden uns also im Zentrum der Philosophie. Um genauer herauszufinden, was Descartes sagen will, untersuchen wir die Entgegensetzung, die zwischen den beiden zitierten Absätzen stattfindet (»Aber weil …«). Denken in Gegensätzen – eine wichtige Methode des Denkens zur Klärung von Begriffen.
In praktischen Dingen, so Descartes, verlassen wir uns immer wieder auf unsichere Ansichten. Die Textilarbeiter von Dhaka haben das Fabrikgebäude schon vielhundertmal betreten und damit bezeugt, dass sie es für sicher hielten. Eines Tages im Jahr 2013 ist es zusammengestürzt. Sie unterstellten immer wieder, das Gebäude sei sicher, sie hielten, bei allem berechtigten Zweifel, für »unzweifelhaft«, wie Descartes formuliert, dass sie wieder zur Arbeit hineingehen können. Tausend Menschen haben das Vertrauen in diese Scheingewissheit mit ihrem Leben bezahlt.
Es gibt viele Beispiele. Ist nicht für den praktischen Gebrauch die Vorstellung, die Erdoberfläche sei eben und nicht gekrümmt, vielfach völlig ausreichend? Der Philosoph radikalisiert diese Überlegung und setzt unsere Träume mit den Gedanken im wachen Zustand gleich, denn, so sein Argument, die Traumbilder sind ebenso realistisch wie unsere wachen Sinneseindrücke. Warum also sollten wir Letztere für wahr, die anderen jedoch für Trugbilder halten? So beschloss Descartes, sich
[…] vorzutäuschen, dass die jemals in meinen Geist eingetretenen Vorstellungen nicht wahrer wären als die Illusionen meiner Träume. (Ebd.)
Aus heutiger Sicht, am Anfang des 21. Jahrhunderts und lange nach dem Erscheinen von Sigmund Freuds Traumdeutung (1900), sind wir versucht, diese Überlegung von Descartes im Lichte der Psychoanalyse zu kommentieren und ihr dadurch womöglich eine ganz andere und aktuelle Bedeutung beizumessen. Doch davon will ich hier absehen. Es genügt festzuhalten, dass Descartes offenbar von einem radikalen Zweifel ausgeht, der im Grundsatz alle unsere Gedanken betrifft. Auf die Frage, welchen Satz kann ich gewiss für wahr halten, antwortet er zunächst einmal: gar keinen.
Wer einen Blick auf die analytische Philosophie des 20. Jahrhunderts wirft, könnte Descartes als einen Falsifikationisten bezeichnen. Wir haben nämlich, wenn wir Wissenschaft betreiben, grundsätzlich zwei Möglichkeiten, wie wir unsere Aufgabe auffassen: Entweder versuchen wir, die Wahrheit von Hypothesen zu beweisen, oder wir suchen nach Belegen für die Unwahrheit eines Satzes. Im ersteren Fall halten wir einen Satz dann für wahr, wenn wir einen gültigen Beweis für ihn anführen können. Im zweiten Fall gibt es, vereinfacht gesagt, gar keine wahren Sätze, sondern wir haben nur noch nicht genügend Mühe darauf verwendet, ihre Falschheit nachzuweisen, sie zu falsifizieren. Letztere Auffassung hat Karl Popper in seiner Theorie des wissenschaftlichen Arbeitens vertreten.
Descartes beginnt seine Philosophie mit dem Zweifel an allem, was wir sehen, fühlen, denken. Ist das nicht ein bisschen übertrieben? Um diese Frage beantworten zu können, springen wir aus dem philosophischen Text heraus und wenden uns der Figur Descartes und seiner historischen Umgebung zu. In Europa tobte der Dreißigjährige Krieg. Galilei hatte im Jahr 1613 die Kopernikanische Wende des Weltbildes wissenschaftlich begründet und drei Jahre später auf Druck der Kirche widerrufen. Kurzum: Weltreiche und Weltbilder stürzten zusammen, mehr als ein Grund, nicht von jahrtausendealten Gewissheiten auszugehen, sondern vom Zweifel als Grundhaltung des Denkens.
Nun sucht aber Descartes, trotz oder wohl eher wegen der Radikalität seines Zweifels, den archimedischen, den einen festen Ausgangs-Punkt, von dem aus Gedanken sicher bewegt werden können. Descartes unterstellt sogar, dass sein eigener Körper nicht existent sein könnte – allein, dass er diesen Gedanken fasst, dies hält er für unbezweifelbar. Ich denke, also bin ich, ich existiere. – Wir sehen, nicht eine Selbstverliebtheit des Philosophen, kein Subjektivismus treibt ihn zu diesem »Ich bin …«, sondern ganz im Gegenteil, der radikalste Zweifel an sich selbst, an den eigenen Sinnen, an der Erfahrung lässt die ganze Welt zusammenstürzen – in Gedanken wenigstens, und das Einzige, was übrigbleibt, das Einzige, von dem aus die wahrgenommene Welt wieder aufgebaut werden kann, ist dieses selbstgewisse Denken, das seitdem den Namen des Bewusstseins trägt.
Eine Prüfung, ob der Gedanke des Descartes wahr ist, soll hier unterbleiben. Allerdings gibt es so gut wie keinen der großen Philosophen nach ihm, der sich nicht mit der Argumentation des Cartesius auseinandergesetzt hätte. Kant unterzieht ihn einer gründlichen Kritik, Hegel hält zu ihm, Heidegger, der wohl einflussreichste Philosoph des 20. Jahrhunderts, rechnet mit ihm gründlich ab. Doch das mag studieren, wer sich dafür im Einzelnen interessiert. Das Nachwort zum Discours von Holger Ostwald gibt erste Hinweise. – Mir geht es hier um etwas anderes: Mir geht es um das Bild des Philosophen, das mit diesem Gedanken in die Welt tritt und das bis heute bestimmt, was wir unter einem Philosophen und unter Philosophie verstehen.
Ich schlage vor, diese Figur des Philosophen zu betrachten, wie wir eine Versuchsanordnung in der Physik betrachten. Wer die Ergebnisse eines Experiments überprüfen und beurteilen will, muss die Versuchsanordnung betrachten. Welche Anordnung in der Lebenswirklichkeit drängt zu diesem Gedanken: Ich denke, also bin ich? – Descartes sitzt am Fenster. Er ist allein. Er konzentriert sich. Was heißt, sich zu konzentrieren? Das bedeutet, alle anderen Regungen auszuschalten, die ihn bei der Betrachtung der Welt und beim Denken stören könnten. Vielleicht hat er etwas gegessen, das in seinem Bauch rumort. Vielleicht sitzt sein Hosengürtel zu eng. Vielleicht macht sich ein Mitbewohner bemerkbar und will mit ihm sprechen.
Nein, all dies, das übrige Leben, muss zuerst einmal ausgeschaltet werden, um den einzig wahren Gedanken zulassen zu können – dieses Cogito. Einer meiner akademischen Lehrer hat diese Versuchsanordung die »Camera obscura des Bewusstseins« genannt. Die Camera obscura ist bekannt als eine dunkle Kammer, aus welcher der Blick durch ein kleines Loch in der Wand hinausfällt in die Welt. Nach den physikalischen Gesetzen der Optik stellt sich der Gegenstand der äußeren Welt, wie im menschlichen Auge, zwar auf einer Projektionsfläche im Innern der Kammer dar, aber auf dem Kopf stehend, also verkehrt herum.
Camera obscura, Federzeichnung, 17. Jahrhundert
Wofür steht dieses Bild? Es steht für die Lage des Bewusstseins, die Descartes bewusst konstruiert. Der denkende Mensch, der Philosoph ist aus allen Weltbezügen herausgelöst, denn all diese Bezüge sind unsicher, zweifelhaft und daher zunächst als unwahr zu nehmen. Cartesius geht so weit, den Phantomschmerz als Beleg für die Berechtigung seines Zweifels anzuführen. Selbst das amputierte Bein schmerzt noch. So führt uns der eigene Körper an der Nase herum – von ihm abstrahieren, das ist der Weg zur Wahrheit! Allein dieses Hirn im Dunkeln, sich seiner selbst bewusst, kann Wahrheit beanspruchen. Er beginnt nun, Schritt um Schritt damit die bezweifelte Welt wieder an sich heranzulassen und ihre Denkbarkeit nach den Regeln des Denkens, also z. B. der Logik, auf ihre Wahrheit zu prüfen.
Es ist leicht einzusehen, dass diese moderne Versuchsanordnung der Philosophie alles andere als selbstverständlich ist. Die Philosophen des Mittelalters übten ihr Handwerk, besser: Kopfwerk, im Rahmen der Kirche aus. Die berühmtesten, wie z. B. Augustinus, haben gewiss über die Grenzen des bis dahin in der Kirche Selbstverständlichen hinausgedacht. Aber immer verstand sich einer wie Augustinus als ein Organ in der großen, weltweiten Kirche, ihrer Geschichte und ihrer Zukunft. Niemals hätte er sich beschrieben, wie es Descartes tat.
Auch hat es soziale Voraussetzungen, sich die Dinge so zusammenzureimen, wie das Descartes in seiner Studierstube tut. Das fängt bei einer ganz einfachen, aber nicht unwesentlichen Tatsache an: Man muss die Zeit haben, nichts zu tun als nachzudenken. Oder, wie eine Pointe des brillanten Berliner Kabarettisten Wolfgang Neuss in einem seiner Programme lautete: »Heut’ mach ick mir kein Abendbrot, heut’ mach ick mir Jedanken«. – Eine Gesellschaft muss zuerst einmal dahin kommen, eine Gruppe von Menschen freizustellen von der Notwendigkeit, zu arbeiten, um leben zu können, damit sie sich mit nichts weiter als mit dem Denken beschäftigen können. Es ist klar, dass solche Leute wie Descartes, Adlige oder Großbürger, ohne materielle Sorgen sein mussten.
Die doppelte Reflexion des Bewusstseins: von der bezweifelten Welt auf sich zurück – vom Wissen über die Welt auf sich selbst
Aber noch mehr: Es muss auch, damit die Idee von einem isolierten, nur auf sich gestellten Bewusstsein auftauchen kann, die historische Figur des isolierten Privatmannes, also des menschlichen Trägers eines solchen Bewusstseins, auf die Bühne der Geschichte treten. Eine bestimmte gesellschaftliche Klasse muss sich aus den Bindungen von Zünften, Traditionen, von Fremdherrschaft und Bevormundung befreit haben, damit der Gedanke eines Ichs glaubwürdig wird, das nur sich selbst verpflichtet ist und das sich, was Wahrheit und Täuschung angeht, nur auf sich selbst verlässt. Das ist der moderne Bürger, der Privatbürger, der auf eigene Rechnung wirtschaftet, auf eigenes Risiko lebt und sich daran begibt, die Welt seinen Gesetzen zu unterwerfen. Philosophisch fängt er damit schon bei sich selbst an. Vor ihm kann nur bestehen, was von ihm, nach den Gesetzen seines Denkens, als wahr erkannt werden kann.
Von der Gesellschaftsgeschichte kommen wir zur Philosophiegeschichte. Denn wir müssen wissen, dass es zwar das Wort »Philosophie« gab, als Descartes die von mir zitierten Sätze aufschrieb. Aber wir dürfen dabei nicht an eine akademische Disziplin denken, für die man sich, wie heute, auf einer Universität einschreiben kann. Die Philosophie ist noch eng verbunden mit der Theologie, von der sie sich mit einiger Mühe und mit den größten Konflikten zu lösen versucht. In dem Discours von Cartesius finden sich einige Seiten Abhandlung über den Blutkreislauf. Heute würde ein Philosophieprofessor oder eine solche Professorin schwerlich eine Abhandlung über den Blutkreislauf veröffentlichen. Das sagt uns: die Wissenschaften und die Philosophie waren noch nicht klar voneinander getrennt. Descartes schrieb über Mathematik, über Physik, über Physiologie und einiges mehr.
Die Geschichte des Galileo Galilei hat Descartes wohl beobachtet. Recht unverblümt nimmt er darauf Bezug und erzählt den Lesern davon, dass er von der Veröffentlichung eines geplanten Buches abgesehen habe, ganz offensichtlich, um dem Konflikt mit der Kirche aus dem Wege zu gehen. Das Ich des Philosophen bildet sich zwar im Rückzug ins stille Kämmerlein, macht aber nach außen durchaus Aufhebens davon. Beargwöhnt von den traditionellen Mächten, von Kirche und König, angefeindet von deren angestellten Denkern, legt sich das neue Subjekt des Denkens eine dicke Haut zu. Sie besteht aus dem wachsenden Selbstbewusstsein, dass die Welt auf den Kopf gestellt gehört, dass, anders gesagt, nur vom Denken des Einzelnen aus die alte Welt des Aberglaubens und der unhinterfragten Autoritäten gestürzt werden kann. Nur das Cogito, so die feste Überzeugung, kann der Vernunft zum Durchbruch verhelfen.
Das neue Denken, das Bewusstsein des Bürgers, legt sich mit den alten Mächten an. Wo steht der Philosoph, wenn es um Herrschaft und Unterdrückung geht? Etwa an der Seite der Unterdrückten? Die Theologie beanspruchte immer eine Oberherrschaft über alle Wissenschaften, sie beriet die obersten Zensurbehörden von Kirche und Staat im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Reformation und Humanismus haben dagegen die ersten Bastionen eines neuen Bewusstseins und einer neuen individuellen Verantwortung der denkenden Menschen ins historische Neuland gebaut. Männer wie Galilei und Descartes bereiteten das vor, was 100 Jahre später nicht mehr aufzuhalten sein wird: der Ausgang des Menschen aus selbst verschuldeter Unmündigkeit, wie Immanuel Kant die Aufklärung ausformulierte.
Es sieht also, betrachten wir den historischen Zusammenhang, ganz so aus, als nehme die Philosophie in ihrem modernen Verständnis einen herrschaftskritischen, wenn nicht gar einen herrschaftsfreien Standpunkt ein. Aber kann ein Denken, das sich aus allen Lebensbezügen herauslöst, das von Sinnlichkeit, von Lebenspraxis, von menschlicher Arbeit völlig absehen zu müssen meint, an der Seite der Menschen stehen, deren Lebensmittelpunkt eben all dies ist: das praktische Leben, die Arbeit, die physische Abhängigkeit? Durs Grünbein, einer unserer bedeutendsten Dichter deutscher Sprache, hat Descartes ein schönes Versepos gewidmet. Es spielt in 42 Kapiteln in jener Situation, da Descartes in Deutschland war und in einem Quartier überwinterte. Vom Schnee heißt das Epos.
Grünbein stellt dem Philosophen einen proletarischen Diener namens Gillot an die Seite. Descartes versucht ihm den Zweifel schmackhaft zu machen. Dieser bleibt skeptisch und fragt: »Soll ich – Herr, seht mich an – auf meinen Riecher baun?« – Descartes redet auf ihn ein, er solle sich im Zweifelsfall am Zweifel festhalten. Doch die Zweifel des Dieners sind ganz anderer Art, sie betreffen ihn selbst, seine Stellung als Diener. Wunderbar formuliert Grünbeins Descartes: »Und Selbstgewißheit sammelt ein, / Was Zweifel dir in Stücke schlug.« Aber eben an dieser Selbstgewissheit fehlt es den Unteren der Gesellschaft. So fühlt sich Gillot auf den Arm genommen und kontert: »Nur weil manchmal hier was denkt – Er tippt sich an die Stirn – wird aus mir kein Professor.« (Grünbein 2003, 80 f.)
Wunderbares Dokument des tiefen Misstrauens, mit dem das Volk, das sogenannte niedere Volk, auf die Philosophen schaut. Dazu trägt nicht nur die abstrakte, häufig unverständliche Sprache bei. Vielmehr noch die Distanz, in die sich der Philosoph von der Welt der anderen versetzt. Gillot sieht sich nicht als das Ding, das denkt. Nein, er ist und er wird kein Philosophieprofessor.
Es mag verwundern, dass der Philosoph, der nach dem Volksvorurteil nutzlos ist, so wie er sich, als ein weltlicher, säkularer Mönch, eben von allem weltlichen Nutzen lossagt, der das Denken um des Denkens willen betreibt, an die Seite der Herrschaft zu rücken scheint. Und doch lehrt ein Blick in die Geschichte, dass das nicht so ohne weiteres von der Hand zu weisen ist. Platon versteht sich als Staatsphilosoph, auch wenn sein Held Sokrates von den Athenern verurteilt und hingerichtet wird. Die Mitwirkenden seiner Dialoge, einer Art philosophisches Sprechtheater, gehören ausnahmslos den Edlen und Reichen an. Hegel gilt, auch wenn er mitunter gleichsam von links als verkappter Revolutionär gelesen wird, als preußischer Staatsphilosoph. Heidegger setzte sich mit der Hakenkreuzbinde aufs Podium in der Aula der Freiburger Universität, als die Nazis ihn auf den Direktorenposten hievten.
Gewiss gibt es auch die Gegenreihe von Beispielen. Giordano Bruno landete für die mutige Verteidigung seiner Gedanken auf dem Scheiterhaufen. Kant riskierte, wenn auch kein Berufsverbot, so doch fortgesetzten Ärger mit den Zensurbehörden des preußischen Königs. Insgesamt jedoch scheint die Figur des Philosophen eher problematisch, immer im Verdacht, mehr Ideologie zu betreiben als der Wahrheit von Ideen verpflichtet zu sein. Werfen wir noch einmal einen Blick auf Descartes. Kaum hat er diesen bis heute in der Philosophie bewegenden, revolutionären Satz Cogito, ergo sum hingeschrieben, schon kommt er auf Gott zu sprechen. Wie denn das?
So weit, wie wir Descartes’ Gedankengang gefolgt sind, sieht er sein Denken als vom Zweifel und von jenem Selbstbewusstsein bestimmt, das sich in dem »Ich denke« artikuliert. Wenn, so argumentiert er, das eindeutige, unzweifelhafte Erkennen vollkommen ist, so ist das Zweifeln der Unvollkommenheit des Menschen zuzuordnen. Er sieht sich also gleichsam zusammengesetzt aus zweierlei, aus einem Vollkommenen und im Wesentlichen aber aus Unvollkommenheit. Da aber kam er auf »den Gedanken zu untersuchen, woher ich es vermocht hatte, an etwas zu denken, das vollkommener war als ich …« (Discours, 67).
Es zeichnet sich ab, wie die Sache weitergeht. Descartes schließt aus der Vollkommenheit des Cogito und aus der Unvollkommenheit menschlichen Erkennens, dass jene Vollkommenheit nur von einem vollkommeneren Wesen als der Mensch herrühren kann. Nun ist es nur noch ein kleiner Schritt zu dem, was in der Geschichte der Theologie und der Philosophie als ontologischer Gottesbeweis bezeichnet wird: da ein vollkommenes Wesen wohl nicht das Erzeugnis, auch nicht das gedankliche Erzeugnis, eines unvollkommenen, also des Menschen, sein kann, beweist, so Descartes, die vollkommene Wahrheit des Cogito, ergo sum nichts weniger als die Existenz Gottes.
»Da brat mir doch einer einen Philosophen!«, könnte der Diener Gillot bei Durs Grünbein sagen: Der Philosoph Descartes weiß genau, dass vier Jahre zuvor sein Berufskollege Galilei mit der Behauptung fast auf dem Scheiterhaufen gelandet wäre, die Erde drehe sich um die Sonne und nicht umgekehrt. Und dann schiebt er in seinem Buch, das anstelle eines wohlweislich unterdrückten Buches erscheint, der Inthronisierung des Ichs als Zentrum der Philosophie rasch noch einen Beweis Gottes nach. Wer da nicht Taktik gegenüber der Kirche vermutet, muss auf beiden philosophischen Augen blind sein.
Wie weiter mit der Frage nach dem Philosophen?
Es hat sich schon gezeigt: Diese Frage erweitert sich zu der nach der gesellschaftlichen Stellung der Intellektuellen. Dafür ist Brecht eine erste Adresse. Die Untersuchung der Abgehobenheit der Intellektuellen, der Tuis – ein Kunstwort für diese Spezies –, durchzieht sein Werk. Im Tui-Roman, aber auch in dem Stück Turandot oder der Kongress der Weißwäscher werden die Philosophen als Gruppe der Intellektuellen zum Gegenstand.
Wer über das Thema weiterdenken will, sei auf Antonio Gramsci verwiesen, der in den Gefängnisheften über die – Gedanken wie Massen – organisierende Rolle von bürgerlichen wie kommunistischen Intellektuellen viel notiert hat.
Die meisten Philosophen neigen dazu, ihre eigene Position im toten Winkel der Betrachtung zu belassen. Daher müssen sich Interessierte eben überwiegend an Theoretiker wenden, die zur Philosophie kritische Distanz halten.
Anpassung an die Gewalten? Also doch nicht einfach die Befolgung der reinen Denkgesetze, ohne Ansehen der Person und der Macht, sondern ein bisschen Selbsterhaltung, damit überhaupt noch ein Gedanke veröffentlicht werden kann? – Doch halt, vielleicht nehme ich den Cartesius zu kritisch vor, denn immerhin kommt kein einziger Philosoph der Zeit ohne den Gottesgedanken aus. Das philosophische »Gott ist tot« kommt erst mehr als zweihundert Jahre später zum Zuge. – So zeigt sich die Figur des Philosophen am Ende zwiespältig. Die Philosophie ist das Kopfwerk einer unheimlichen Abstraktion. Abstrahieren heißt: absehen von. Das ist es genau, was Descartes fordert: absehen von den Sinneseindrücken, vom Körper, von den Erscheinungen der Welt, abstrahieren von allem, das sonst unser Leben ausmacht.
Eine unheimliche, lebensferne, ja fast lebensverleugnende Haltung. Marx und Engels werden 200 Jahre später die deutsche Philosophie als Deutsche Ideologie nach Strich und Faden auseinandernehmen. So scheint die Haltung der modernen, der bürgerlichen Philosophie einem Wahn zu gleichen, dem Wahn, aus der absoluten Weltverleugnung, aus dem absoluten Zweifel, zu absoluter Gewissheit gelangen zu können. Da sind schon Zweifel an der Philosophie selbst berechtigt.
Auf der anderen Seite scheint gerade diese widersprüchliche, diese problematische Stellung des Philosophen zur Welt seine besondere Produktivität in der Geschichte ermöglicht zu haben. Historisch gilt das, insofern nur der radikale Zweifel an allem, was bisher als gesicherter Blick auf die Welt galt, eine wahre Revolution des Weltbildes, einen Durchbruch der modernen Wissenschaften und daher des modernen wissenschaftlichen Weltbildes ermöglichte. Methodisch kann Philosophie als denkende Beschäftigung mit dem Denken selbst nur dann bestehen, wenn sie als Gegenstand ihrer Beschäftigung das reine Denken aus allen tradierten, aus allen inhaltlichen, aus allen konkreten Bezügen herauslöst.
Nicht das Denken der Farben, nicht das Denken der Formen, nicht das Denken des Raumes, nicht das Denken der Zeit – nein, das Denken als Denken kann erst jetzt reiner Gegenstand des Denkens werden. Das ist die große, immer problematische Leistung dieses Schrittes, den Descartes gegangen ist. Der Philosoph bewegt sich, so harmlos er in seiner Studierstube am Fenster sitzt, auf einem schmalen Grat der Anpassung: Auf der einen Seite lauert die Entfremdung von der Welt, auf der anderen der Opportunismus gegenüber der Herrschaft. Auf der Höhe seines Handwerks kann er im Denken radikaler sein als die meisten seiner Zeitgenossen.
Mit diesem Gegensatz schließt die erste Vorlesung. Die nächste führt fast zweitausend Jahre zurück, gleichsam an die Wiege der abendländischen Philosophie: zu Platon.
Wer etwas von Platon gehört hat, hat etwas vom Höhlengleichnis gehört. Davon soll hier nicht die Rede sein. Da geht es um Platons Idealismus, den sogenannten Ideenhimmel und verwandte Fragen. Platons Werke sind in Gesprächsform gehalten, daher wird von den »Dialogen« Platons gesprochen. Zwei unter ihnen stechen durch ihre schiere Länge hervor, die Nomoi (Gesetze) und die Politeia (Staat), wo u. a. das Höhlengleichnis vorkommt. Darüber hinaus sind Briefe von Platon überliefert. Ich habe vor, am Beispiel eines Dialogs zu erläutern, welche Bedeutung Fragen und Antworten in der Philosophie hat. Mit Glück springt am Ende eine vorläufige Klärung des Diskursbegriffs heraus.
Bevor wir an einer bestimmten Stelle in einen Dialog, den Phaidon