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Nur einen Atemzug entfernt
Drei Monate ist es her, dass Adam jeglichen Kontakt zu Rosie abgebrochen hat. Noch immer jagen die Worte aus seinem Abschiedsbrief durch ihren Kopf, noch immer schmerzt ihr Herz genauso heftig wie am ersten Tag. Sie sehnt sich nach den tiefgründigen Gesprächen mit ihm und der Nähe, die sie zu ihm empfunden hat, selbst als er Tausende von Kilometern von ihr entfernt war. Ihre Webradio-Show bietet Rosie wenigstens ein bisschen Ablenkung, und sie arbeitet unermüdlich daran, diese nach dem misslungenen Scarlet-Luck-Interview wieder auf einen guten Weg zu bringen. Doch gerade als sie zu glauben beginnt, sie könnte irgendwann über Adam hinwegkommen, meldet sich dieser wieder bei Rosie - und mit einem Schlag sind all die Gefühle, Hoffnungen und Träume zurück, die sie so sehr versucht hat zu verdrängen. Aber wie soll es für sie beide eine Chance geben, wenn sie nach wie vor eine ganze Welt zu trennen scheint?
Die Fortsetzung der herzzerreißenden Liebesgeschichte von Rosie und Adam
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Seitenzahl: 574
Titel
Leser:innenhinweis
Zu diesem Buch
Widmung
Playlist
Prolog
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Epilog
Die Autorin
Die Romane von Mona Kasten bei LYX
Impressum
MONA KASTEN
Fragile Heart
ROMAN
Ich wünschte, ich könnte mein Versprechen an dich halten, aber es geht nicht. Ich kann nicht zu dir zurückkommen. Selbst drei Monate später jagen die Worte aus Adams Abschiedsbrief noch durch Rosies Kopf. Sie rauben ihr den Schlaf, lassen ihr Herz schmerzhaft pochen und machen es ihr unmöglich, sich auf ihre Webradio-Show zu konzentrieren. Dabei verlangt diese derzeit eigentlich ihre volle Aufmerksamkeit. Seit dem misslungenen Scarlet-Luck-Interview, nach dem sie von Fans der Band online aufs Schlimmste beschimpft wurde, ist es für Rosie immer schwieriger geworden, neue Interviewgäste zu verpflichten. Und dann, als Rosie gerade zu glauben beginnt, sie könnte doch irgendwann über Adam hinwegkommen, meldet sich dieser plötzlich wieder bei ihr. Augenblicklich sind die Erinnerungen zurück: an die langen, tiefgründigen Gespräche, die sie miteinander geführt haben, an die Nähe, die Rosie zu Adam empfunden hat, selbst wenn er mit seiner Band Tausende Kilometer entfernt war, und an die Gefühle und Hoffnungen, die nur er in ihr hat wecken können – und die sie so sehr zu verdrängen versucht hat. Aber wie soll es für sie beide eine Chance geben, wenn sie nach wie vor eine ganze Welt zu trennen scheint?
Liebe Leser:innen,
dieses Buch enthält Elemente, die triggern können. Deshalb findet ihr hier eine Triggerwarnung.
Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.
Euer LYX-Verlag
Für Tanja und Eva
Missing You – The Vamps
Memories – Conan Gray
Movies – Conan Gray
Lonely Heart – 5 Seconds of Summer
Take My Hand – 5 Seconds of Summer
Nights Like This (feat. Ty Dolla $ign) – Kehlani
altar – Kehlani
Streets – Doja Cat
Fair – Normani
neverletyougo – Role Model
How Does It Feel – Brandin Jay
you broke me first – Tate McRae
Ring (feat. Kehlani) – Cardi B
Unerreichbar weit – Joris
Call Me Lover – Sam Fender
August
Adam,
dir braucht nichts leidzutun. Ich bin unglaublich stolz auf dich, dass du dir Hilfe gesucht hast. Ich wünsche dir alles erdenklich Gute und bin in Gedanken jeden Schritt des Weges bei dir, auch wenn ich verstehe, dass du diesen Schlussstrich ziehen musstest. Solltest du irgendetwas brauchen, zögere trotzdem niemals, dich bei mir zu melden.
Deine
Rosie
Gelesen
September
Adam,
mir ist noch etwas eingefallen, jetzt, wo ich seit über einem Monat darüber nachdenke, und mir ist wichtig, dass du das weißt:
Du hast meine Zeit keineswegs verschwendet. Du hast sie bereichert, mit deinen trockenen Witzen, deiner Art, mir zuzuhören und mich zu verstehen wie kein Zweiter, deinen Grübchen und all den liebenswerten Dingen, die dich ausmachen. Du bedeutest mir so viel. Ich wünschte, ich könnte dir das irgendwie klarmachen.
Deine
Rosie
Gelesen
Oktober
Adam,
ich bin inzwischen ausgezogen, dein Reich gehört also wieder dir, wenn du zurückkommst. Das wollte ich dir nur kurz sagen. Ich hoffe so sehr, dass es dir besser geht. Und ich wollte dich wissen lassen, dass das, was ich dir bei unserem letzten Telefonat gesagt habe, immer noch gilt:
Du fehlst mir.
Du fehlst mir so sehr.
Ich wünschte, ich hätte die Chance bekommen, dir zu zeigen, dass dein Herz bei mir sehr gut aufgehoben wäre.
Deine
Rosie
Die Nachricht konnte nicht zugestellt werden.
August
Mir wurde ein Heft gegeben, in dem ich meine Fortschritte notieren soll. Großartig. Einfach großartig. Mein heutiger Fortschritt? Ich habe es geschafft, ins Klo zu kotzen statt daneben. Außerdem habe ich mein Handy für eine Stunde bekommen, nur um zu sehen, dass mir Hunderte Menschen geschrieben haben. Bloß einer davon hat mich wirklich interessiert.
Rosie.
Immer nur Rosie.
Aber ich weiß, dass es keinen Sinn hat. Es ist aussichtslos. Genauso wie mein ganzes beschissenes Leben.
September
Ich kann immer noch nicht schlafen und sehe Dinge, die ich nicht sehen will, weil ich ständig darüber reden muss. Langsam habe ich keinen Bock mehr. Es ist verflucht anstrengend. Das Anstrengendste, was ich jemals durchlebt habe. Jeder Tag ist ein Kampf. Meine Hände zittern. Ich nehme jede Woche ein bisschen mehr zu. Mein Herz rast tagein, tagaus und manchmal fühlt es sich an wie ein verdammter Herzinfarkt. In meinen schwachen Momenten wünschte ich, es wäre einer.
Ich weiß nicht, wie lange ich das hier noch schaffe. Aber in solchen Momenten denke ich an die Jungs. An Mam und Dad. Und an Rosie, auch wenn ich es nicht will.
Ich bin nicht die Person, die sie alle verdient haben. Aber ich arbeite daran, sie zu sein, ganz gleich, wie weh es tut. Und das tut es.
Bei Gott, das tut es.
Oktober
Es liegt so viel vor mir. Eine neue Einstellung. Neue Möglichkeiten. Und neue Medikamente.
Jetzt, wo wir endlich Tabletten gefunden haben, die ich vertrage, ist es ein bisschen besser. Seit einigen Wochen hasse ich mich nicht mehr ganz so sehr und mein Herz pumpt ruhig und gleichmäßig. Ich probiere neue Sachen aus, wie Johar mir geraten hat. Ich male. Ich lese. Ich schreibe an neuen Songs.
Obwohl mir all diese Dinge guttun, fühle ich mich zwischendurch immer noch ziemlich schlecht. Ich habe Angst vor dem Tag, an dem ich hier rauskomme und wieder zurück in alte Muster verfalle. Mein Therapeut hat dafür eine gute Metapher gefunden. Er meinte, dass die Sucht leiser werden wird, wenn ich weiter an mir arbeite. Sodass die Dinge, die von Bedeutung sind, im Vordergrund stehen. Diese Dinge sind wie ein guter Song. Eine Melodie, die ein Konzertstadion mit Zehntausenden Leuten füllt. Die Sucht dagegen ist das statische Rauschen im Hintergrund – es ist da, lässt sich aber gut ausblenden, bis man es irgendwann gar nicht mehr wahrnimmt.
Ich bin fast so weit, dass ich das glauben kann.
Fast.
Ich hatte es mir anders vorgestellt.
Nach drei Monaten in der Entzugsklinik war ich davon ausgegangen, erhobenen Hauptes durch den Eingang dieser Klinik zu marschieren. Geheilt. Ohne Probleme. Das Gesicht der Sonne entgegengestreckt.
Die Realität sah anders aus.
Statt die Klinik durch den Haupteingang zu verlassen, musste ich in einem viel zu kleinen Fahrstuhl in die Tiefgarage gefahren werden, da draußen ständig Paparazzi hockten und nur darauf warteten, ihr nächstes erbärmliches Foto zu schießen. Damit waren sie schon unzählige Male erfolgreich gewesen, das wusste ich. Ich kannte die Bilder. Menschen wie ich, mit über den Kopf gezogenen Kapuzen, deren aschfahle Gesichter trotzdem meist in irgendeinem Winkel zu erkennen waren. Auf diesen Fotos bemerkte man auf den ersten Blick, wie gebrochen diese Menschen waren. Man sah ihnen an, dass sie einen Kampf gegen die Sucht geführt hatten, der seinen Tribut forderte. Auch mir. Die letzten Monate hatten einen hohen Preis von mir verlangt. Zunächst die Symptome des Entzugs, die sich in Schlafstörungen, Schwindelanfällen, Herzrasen und heftiger Übelkeit geäußert hatten. Und danach hatte das Schlimmste begonnen: Ich hatte reden müssen. Jede Schicht meines Selbst wurde schmerzvoll aufgetrennt, durcheinandergeworfen und letztlich wieder grob zusammengenäht, sodass ich mich im Moment alles andere als geheilt fühlte, sondern vielmehr wie Frankensteins Monster. Ich wurde von Nähten zusammengehalten, die frisch und roh waren, und ich wusste, dass es noch eine lange Zeit brauchen würde, bis ich mich wieder ansatzweise wie ich selbst fühlte.
Hätte jetzt jemand ein Foto von mir geschossen, wäre auf diesem Bild ein Wrack zu sehen gewesen. Ein aus der Form gekommenes Wrack, mit strähnigen, ausgeblichenen Haaren, einem blassen Gesicht und herabgesunkenen Schultern. Jemand, der einen erbitterten Kampf nur mit Mühe überstanden hatte.
Ich starrte auf die leuchtenden Knöpfe gegenüber und wich den Blicken des Klinikpersonals aus. Das Einzige, was ich wollte, war, möglichst schnell zum Auto zu gelangen, einzusteigen und diesen Ort ungesehen zu verlassen. Denn das, was ich mir erhofft hatte, war nicht eingetreten. Ich fühlte mich nicht geheilt oder als verliefe mein Leben ab sofort wieder in der richtigen Bahn. Die Probleme waren nach wie vor da. Während der drei Monate in der Klinik hatten sie sich gebessert, keine Frage, aber sie existierten immer noch. Genauso wie alles andere, was da draußen auf mich wartete.
Unzählige Gesichter tauchten vor meinen Augen auf. All die Leute, die ich zurückgelassen und enttäuscht hatte. Ich sah Thorn, Buckley und Hunt. Leah. Meine Eltern. Und ein weiteres Gesicht, dessen Bild ich in Flammen aufgehen ließ, sobald es anfing, sich in meinen Gedanken zu materialisieren.
Denk nicht an sie, ermahnte ich mich, als die Fahrstuhltüren aufglitten. Nicht jetzt. Nie mehr.
Diese Worte waren in den letzten Monaten zu einem neuen Mantra geworden. Immer und immer wieder hatte ich sie mir eingebläut, was – zugegeben – ziemlich schwer gewesen war. Johar, mein Therapeut, hatte mir versichert, dass es in Ordnung war, wenn ich aufhörte, gegen mich selbst anzukämpfen, dass ich die Kontrolle in diesem Bereich meines Lebens ruhig loslassen könne, aber das, was ich seit Jahren tat, konnte ich innerhalb der kurzen Zeit nicht einfach abschütteln.
Ich wollte nicht an Rosie denken. Ich konnte schlichtweg nicht. Denn sie zu sehen oder auch nur an sie zu denken, sorgte dafür, dass die Panik, Wut und Sehnsucht in meiner Brust brüllend zum Leben erwachten. Und das konnte ich nicht ertragen, solange jeder Tag ein Kampf gegen meine Sucht war.
Jegliche Erinnerung an Rosie zu unterdrücken, tat zwar weh, ließ sich aber einigermaßen ertragen. Dagegen beherrschte der Alkohol immer noch zu viele meiner Gedanken. Im Moment brauchte ich nichts zu trinken, aber ich fürchtete mich seit Wochen vor dem Moment, an dem ich diese Klinik verlassen musste. Ich fürchtete mich davor, in eine Welt zurückzukehren, in der es ein Leichtes war, meinen Flachmann mit der nächstbesten Spirituose zu füllen.
Ich rieb mir mit der Hand über den Brustkorb. Mein Herz schlug mit einem Mal wie wild. Ich versuchte, es zu ignorieren, und trat hinter den beiden Mitarbeitern hinaus in die Tiefgarage. Wenige Meter vor mir stand ein schwarzer SUV mit abgedunkelten Scheiben – der Fahrer, der für mich herbeordert worden war. Er war gerade dabei, mein Gepäck im Kofferraum zu verstauen, und nickte uns kurz zu, bevor er die Klappe schloss, zur hinteren Tür trat und sie öffnete.
Ich wandte mich zum Klinikpersonal um und nickte ihnen zum Abschied zu. In diesem Moment sah ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Stirnrunzelnd drehte ich mich zurück zum Wagen – und erstarrte.
Eine Frau war aus dem Wagen gestiegen. Sie war mehr als einen Kopf kleiner als ich, hatte grau meliertes Haar und das wärmste Lächeln auf der ganzen Welt.
Ich runzelte die Stirn und fragte mich, ob mir meine Augen gerade einen Streich spielten. Mein Mund öffnete sich leicht, aber ich brachte kein einziges Wort heraus, als die Frau langsam auf mich zukam. Ich sah Tränen in ihren Augen aufsteigen und war immer noch wie festgefroren. Als sie bei mir ankam, zögerte sie keine Sekunde und schlang die Arme um mich. Sie war der einzige Mensch, bei dem das okay war. Der einzige Mensch, bei dem ich keinen Widerwillen dagegen verspürte. Trotzdem schaffte ich es im ersten Moment nicht, die Umarmung zu erwidern. Stocksteif stand ich da.
»Mam?«, brachte ich krächzend hervor. Zu mehr war ich nicht in der Lage. Meine Mam umarmte mich, ihr vertrauter Geruch nach zu Hause erfüllte meine Nase, während sie in beruhigenden Kreisen über meinen Rücken strich.
»Alles wird gut, Schatz«, murmelte sie.
Endlich schaffte ich es, meine Arme aus ihrer Starre zu lösen. Ich hob sie an und umschlang ihren Rücken. Müde ließ ich meinen Kopf nach vorne auf ihre Schulter sinken. Ich hatte keine Kraft mehr. Ich wusste nicht, wie ich jemals wieder welche zusammenkratzen sollte.
»Alles wird gut«, wiederholte sie. »Ich bin da.«
Ich umklammerte sie noch fester und kniff die Augen zusammen, denn ein übermächtiges Brennen stieg darin auf. Also hielt ich mich an meiner Mam fest, die mir immer und immer wieder versicherte, dass alles gut werden würde.
Während wir uns festhielten, schoss ein einziger Gedanke durch meinen Kopf.
Ich bin nicht allein.
Es war Awardshow-Season. Bedeutete, eine Award-Verleihung folgte der nächsten. Was wiederum hieß, dass ich nonstop arbeitete, und das war sehr praktisch, denn Arbeit lenkte mich ab. So konnte ich mich zu einhundert Prozent hineinstürzen und tauchte bloß selten wieder daraus auf.
Der heutige Abend bot eine solche Gelegenheit des Abtauchens.
Der rote Teppich bei den WorldMusicAwards war knalltürkis. Ein Prominenter nach dem nächsten wurde angekündigt, und die Reporter um mich herum fuhren die Ellenbogen aus und verteidigten ihre Plätze an der Absperrung mit mehr Körpereinsatz, als für meinen Geschmack notwendig war. Zum Glück war ich nicht allein. Ich warf einen Blick über die Schulter zu Bodhi. Seinem verkniffenen Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hatte auch er gerade einen Stoß in die Rippen bekommen.
Als er merkte, dass ich zu ihm sah, warf er mir ein schiefes Lächeln zu. »Alles klar, Boss?«
Seit ich ihn vor zwei Monaten eingestellt hatte, hörte Bodhi nicht auf, mich pausenlos »Boss« zu nennen. Am Anfang war es merkwürdig gewesen, aber inzwischen hatte ich mich dran gewöhnt.
»Ja. Ich glaube nur, dass ich morgen Blutergüsse in der Rippengegend haben werde.«
Sofort warf Bodhi dem Journalisten neben mir einen Blick aus zusammengekniffenen Augen zu. Wahrscheinlich dachte er, dass das bedrohlich wirkte, aber mit seiner schlaksigen Statur und den ellenlangen Armen und Beinen, die er meist sehr ungeschickt bewegte, wirkte Bodhi alles andere als bedrohlich. Vielmehr erinnerte er mich damit an ein Faultier. Das bezog sich allerdings nur auf sein Aussehen, nicht auf seine Arbeitsweise. Mit Bodhis Unterstützung war es mir möglich gewesen, wieder richtig auf die Beine zu kommen und die Show am Laufen zu halten, seit Kayla gegangen war. Heute fungierte er als Kameramann; er balancierte das schwere Gerät auf einer Schulter, während ich das Mikrofon mit dem Schriftzug der Rosie Hart Show in der Hand hielt.
Wir befanden uns seit mehreren Stunden hier, und inzwischen rann mir der Schweiß den Nacken hinab. Für Ende Oktober war es ohnehin schon warm, aber durch die Enge an der Absperrung kam es mir mehrere Grad heißer vor. Dazu kam, dass ich das Gefühl hatte, quasi umsonst hier zu sein. Seit einigen Monaten war ich schon dabei, das Ansehen meiner Show wieder zu heben, aber das war alles andere als leicht. Zum einen, weil mir noch immer das verpatzte Scarlet-Luck-Interview nachhing. Zum anderen, weil ich meine Produktionsassistentin und ehemalige Freundin Kayla an das Netzwerk MCT verloren hatte, bei dem sie inzwischen ihre eigene, viel beworbene Show hatte. Gemeinsam mit ihrem Chef Michael Seymour hatte sie nicht nur wichtige Klienten von mir abgeworben, sondern hinter den Kulissen auch Gerüchte darüber verbreitet, wie unprofessionell ich angeblich arbeitete. Mehrere Sponsoren waren mir seitdem abgesprungen, und es wurde immer schwerer, renommierte Artists in meine Show zu bekommen.
Und auch heute zeigten sich die Auswirkungen. Die Rosie Hart Show lief unabhängig – hinter uns stand kein großer Sender –, weshalb am türkisen Teppich kaum jemand bei uns innehielt. Nahezu alle geladenen Gäste liefen an uns vorbei und blieben lieber bei den Ellenbogenkämpfern links und rechts von uns stehen. Zumindest bis jetzt.
»Ashley Cruz ist auf dem Weg«, kündigte einer der Koordinatoren auf dem Teppich an, die Hand am Headset. Er bellte etwas in das Mikrofon vor seinem Mund, dann schaute er auf den Zettel in seiner Hand, auf dem notiert worden war, welcher Reporter mit welchem Star sprechen wollte. Im nächsten Moment rauschte er an uns vorbei in Richtung des Gebäudes, in dem die Veranstaltung stattfand.
»Ashley stand auf unserer Liste, oder?«, fragte Bodhi mich von hinten, und ich nickte. Ashley und ich kannten einander, und unser gemeinsames Interview war so gut gelaufen, dass ich mir gut vorstellen konnte, dass sie uns nicht ignorieren würde.
Ich strich mir das Haar über die Schulter und fächelte mir mit meinen Karten, auf denen ich unzählige Fragen notiert hatte, Luft zu. Normalerweise bereitete ich mich auf einer eher persönlichen Ebene auf Interviews vor. Das war bei einer Veranstaltung wie dieser leider nicht möglich, denn auf dem roten Teppich kam nie die richtige Stimmung für Fragen auf, die unter die Haut gingen. Stattdessen musste ich mich mit den üblichen nach aktuellen Projekten, der Veranstaltung und den Nominierten zufriedengeben.
Ich warf einen Blick auf meine Karten. Normalerweise behielt ich meine Fragen im Gedächtnis. In den letzten Monaten ähnelte mein Kopf jedoch einem Sieb. Anscheinend hatte er keinen Platz mehr übrig, um irgendetwas auswendig zu lernen. Also verließ ich mich auf meine Karten. Ich las die Fragen noch ein paarmal durch, bis die Reporter und Fotografen um uns herum laute Rufe ausstießen. Da hob ich den Blick und sah Ashley Cruz aus einer schwarzen Limousine steigen, die kurz vor dem türkisen Teppich angehalten hatte. Die Leute hinter der Absperrung drehten völlig durch und riefen durcheinander. Wäre ich auf diesem Teppich gewesen, hätte ich gar nicht gewusst, was ich hätte tun sollen, und vermutlich wäre mir von dem vielen Blitzlicht schier schwindelig geworden. Doch Ashley war ein Vollprofi. Schließlich besuchte sie Veranstaltungen wie diese schon, seit sie ein Kind gewesen war.
Sie sah fabelhaft aus in einem eng anliegenden lila Kleid, das in sanften Wellen ihren Körper hinabfiel. Ihre dunklen Haare waren zu großen seidigen Locken gestylt und lagen über einer Schulter, das Make-up war dunkel und intensiv. Sie lächelte in die Kameras, erst von einer Seite zur anderen, dann drehte sie sich um und warf den Blick über die Schulter, sodass man den tiefen Rückenausschnitt des Kleides zu sehen bekam, der bis zu ihrem Steißbein reichte. Die Fotografen fuhren total darauf ab, riefen ihren Namen immer lauter, und nach wenigen Sekunden war das Spiel auch schon zu Ende. Ashleys Pressereferentin trat zu ihr und berührte sie kurz am Arm, wobei sie ihr etwas ins Ohr flüsterte. Ashley nickte und fing dann an, die Reihen von Reportern abzuklappern, die sie alle interviewen wollten.
»Gleich sind wir dran«, murmelte Bodhi, und ich drückte die Schultern nach hinten. Kurz flackerte Aufregung in mir auf, aber ich drängte sie zurück. Ashley und ich – wir kannten uns. Sie war bereits einmal in meiner Show gewesen, und bei der Releaseparty von …
Ich zog eine Grenze zu meinem nächsten Gedanken, als ich etwas Dunkles in meinem Magen hochbrodeln spürte.
Nein, ich würde jetzt nicht an die Releaseparty damals denken. Denn wenn ich das tat, würden unweigerlich andere Erinnerungen folgen. Solche, die mit Musik zu tun hatten. Mit einem Spaziergang. Mit einem tiefgründigen Gespräch in einer sternenklaren Nacht. Mit einem Versprechen, das seine Gültigkeit inzwischen verloren hatte. Das konnte ich gerade echt nicht gebrauchen.
Ich blinzelte ein paarmal und zwang ein Lächeln auf mein Gesicht. Nur noch eine Person war vor uns dran, ich konnte Ashley bereits antworten hören. Wieder warf ich einen Blick auf meine Karten.
Es dauerte nicht lang, da war die Pressereferentin schon bei uns und lotste Ashley hinter sich her. Ich sah kurz zu Bodhi, um mich zu vergewissern, dass die Kamera lief.
»Und wir sind drauf«, sagte er und reckte einen Daumen in die Höhe.
Ich nickte und drehte mich zurück in Richtung des türkisen Teppichs, wo Ashley mich gerade entdeckt hatte. Sie lächelte mich breit an und kam in wenigen Schritten auf mich zu. Zum Glück – sie hielt tatsächlich bei uns an.
»Rosie, hi!« Sie umarmte mich flüchtig und deutete einen Kuss auf meine Wangen an. »Wie schön, dich zu sehen.«
Ich war ein bisschen überrumpelt, versuchte aber, es mir nicht anmerken zu lassen. Die Kamera lief. Jetzt hieß es, professionell zu sein. »Das kann ich nur zurückgeben. Du siehst unglaublich aus!«
Ashley strahlte und machte einen kleinen Knicks. »Das ist lieb von dir, danke.«
»Erst einmal herzlichen Glückwunsch zu deiner Nominierung am heutigen Abend«, sagte ich lächelnd. »Wie ist es für dich, mit einem persönlichen Album wie First Dreams nominiert zu sein?«
Ashley hob beide Hände ans Gesicht und schüttelte den Kopf, als könnte sie diese Tatsache nach wie vor nicht fassen. »Es ist eine große Ehre. Ich bin immer noch ganz baff. Das Album ist anders als alles, was ich zuvor gemacht habe. Es zeigt, dass ich gewachsen bin und eine andere Richtung eingeschlagen habe. Erst hatte ich Angst, aber die letzten Monate haben mir gezeigt, dass sie unbegründet war.«
»Wie bist du mit dieser Angst umgegangen?« Zwar stand die Frage nicht auf meinen Karten, aber ich wollte die Chance nutzen.
»Ich glaube, jeder von uns kämpft mit Selbstzweifeln. Man darf sich nur nicht von ihnen einnehmen und niederdrücken lassen. Wenn man das macht, kann man nichts Neues mehr erschaffen. Dabei ist das ja, was die Leute da draußen brauchen: Kunst. Sei es in Form von Musik oder anderen Arten. Ich habe versucht, all meine Emotionen in das Album zu stecken und Dinge zu verarbeiten, die ich selbst nach Jahren nicht vergessen konnte. Das war wie ein Befreiungsschlag.«
Ich wollte gerade den Mund aufmachen, als die Pressereferentin schon auf ihre Uhr tippte. Ashley hob kurz eine Hand und sah mich weiter erwartungsvoll an, was mir das Herz bis zum Hals schlagen ließ. Sie blieb länger bei uns stehen! Auch das musste ich nutzen, nicht jeder bekam so einen Vorteil. Gleichzeitig baute sich ein Druck in mir auf, der meinen Mund ganz trocken werden ließ. Während ich mich normalerweise immer völlig in meiner Mitte fühlte, wenn ich einmal drin war und im Dialog mit meinem Gegenüber stand, war es jetzt, als wäre mein Kopf leer gefegt.
Ich wollte auf meine Karten sehen, doch als ich es tat, fiel die oberste runter und segelte über die Absperrung auf den türkisen Teppich. Ich stieß einen leisen Fluch aus, und sofort weiteten sich meine Augen. Vor diesen ganzen Menschen sollte man kein Blackout haben, und schon gar nicht sollte man fluchen.
»Daumen drücken«, zischte Bodhi hinter mir.
Ich blinzelte. Dann atmete ich auf und hob das Mikro wieder an den Mund. »Und wem drückst du heute Abend noch die Daumen?«
Ich hielt Ashley das Mikro hin. Noch immer lag das professionelle Lächeln auf ihren Lippen, jedoch wirkte ihr Blick jetzt ernster, beinahe eindringlich. »Natürlich all den wunderbaren Frauen in meiner Kategorie. Es ist eine riesige Ehre, neben ihnen nominiert zu sein. Und ganz viel Glück wünsche ich Scarlet Luck, die in der Kategorie ›Album des Jahres‹ nominiert sind. Die Platte ist großartig, und die Jungs haben es wirklich verdient, das Ding heute mit nach Hause zu nehmen.« Sie hielt ihre gedrückten Daumen vor die Kamera, während sich in meinem Magen etwas zusammenzog. Mein Lächeln kostete mich inzwischen geradezu unmenschliche Kraft, ich bekam kaum noch Luft.
»Ich drücke dir auf jeden Fall auch fest die Daumen und wünsche dir noch einen ganz tollen Abend.« Die Worte schmeckten schal, fast schon bitter, aber ich hoffte, dass man mir das nicht anmerkte.
»Danke dir!« Ashley winkte in die Kamera. Kurz darauf ließ Bodhi sie sinken.
Die Pressereferentin tippte erneut auf ihre Armbanduhr, doch Ashley blieb bei uns stehen. Sie trat noch einen Schritt näher an das Absperrband und legte eine Hand auf meinen Arm. Die Berührung war federleicht, dennoch versteifte ich mich.
»Alles okay bei dir, Rosie? Du siehst blass aus«, wisperte sie, sodass die Umstehenden sie sicher nicht hören konnten.
Unzählige Floskeln keimten in meinem Kopf auf.
Alles bestens.
Mir ist nur etwas heiß.
Ich komme schon klar.
Doch Ashleys ehrliches Interesse und die Tatsache, dass sie mir in Interviews schon einige Wahrheiten über ihr Leben und ihre Probleme anvertraut hatte, machten es mir unmöglich, solche nichtssagenden Worte auszusprechen. In ihre braunen Augen war ein Verständnis getreten, das mir zeigte, dass sie meine Augenringe und die aschfahle Haut mit Sicherheit wahrgenommen hatte. Ich wollte sie nicht belügen. Also hob ich bloß unschlüssig eine Schulter.
Mitfühlend sah Ashley mich weiter an, als ihre Pressereferentin das Wort ergriff. »Weiter geht’s, Ash«, sagte sie ungeduldig.
Ashley warf mir und Bodhi noch ein hastiges Lächeln zu, dann zog sie zum nächsten Mikrofon weiter.
Ich blieb unterdessen stehen und fragte mich, wie schlecht ich darin war, meine Fassade aufrechtzuerhalten, wenn selbst eine nahezu Fremde wie Ashley es schaffte, sie zu durchschauen.
»Alles in Ordnung, Boss?«, fragte Bodhi hinter mir.
Ich kniff die Augen zusammen. Nein, nichts war in Ordnung. Mir ging es nicht gut, und ich fürchtete, jeden Moment zusammenzuklappen. Ich wusste nicht, wie ich hier stehen sollte, wenn sich alles in mir derart geschunden anfühlte. Aber so ging es mir seit über drei Monaten. Irgendwann würde ich mich daran gewöhnen. Ich konnte meine Karriere nicht in den Sand setzen, bloß, weil mein Herz gebrochen war. Das sah ich nicht ein.
»Alles super. Ich brauche nur einen Schluck Wasser, bevor wir das nächste Interview machen.«
Noch ehe ich den Satz beendet hatte, reichte Bodhi mir bereits eine geöffnete Flasche.
Wir hatten Plätze auf einem der Oberränge in der letzten Reihe zugewiesen bekommen. Von hier aus erkannte man ohne die Bildschirme zu beiden Seiten der Bühne quasi nichts vom Geschehen vorne, aber das Gute war, dass hier hinten fast ausschließlich andere vereinzelte Celebrity News Outlets ihre Plätze hatten. Das bedeutete, ich konnte mich guten Gewissens gegen die Stuhllehne sinken lassen und, so gut es ging, die Beine ausstrecken. Bodhi hatte dasselbe versucht, war aber so groß, dass seine Knie dabei gegen den Stuhl vor uns gestoßen waren. Jetzt saß er kerzengerade neben mir, während ich vor Erschöpfung zu einer formlosen Masse auf meinem Platz zusammengesunken war.
Die Veranstaltung hatte bereits begonnen. Mehrere berühmte Schauspielerinnen und Schauspieler standen auf der Bühne des Microsoft Theaters und kündigten die Gewinnerinnen und Gewinner in den verschiedensten Musikkategorien an, während ich in Gedanken immer noch dem Interview mit Ashley nachhing.
Nach unserem Gespräch hatte ich mechanisch weiter an der Absperrung gestanden, vollen Körpereinsatz gezeigt, aber dennoch war kein weiterer Star bei uns stehen geblieben. Es war demütigend und einfach nur traurig, aber ich schaffte es nicht mal, mich richtig zu ärgern, weil ich so fertig war. Und ich war mir sicher, dass man mir meinen Zustand auf dem einen Interview, das wir zustande gebracht hatten, auf jeden Fall ansehen würde.
Es war ärgerlich. Das hier war nicht der erste rote Teppich, bei dem ich angeschlagen war. Es hatte schon andere Veranstaltungen gegeben, die ich mit Fieber oder anderen Krankheitssymptomen besucht hatte, einfach weil man sich als kleine Show eine solche Gelegenheit schlichtweg nicht durch die Lappen gehen lassen konnte. Doch bei keinem dieser Abende hatte ich mich so gefühlt – oder dermaßen blöd angestellt – wie heute.
Andererseits, wieso wunderte ich mich? Mittlerweile ging es seit über drei Monaten so. Und es wurde nicht besser. Ich konnte nur weitermachen, etwas anderes blieb mir nicht übrig. Ich musste weitermachen. Immer weiter. Aber ich war müde. Einfach nur todmüde, und …
Das Nächste, was ich spürte, war ein leichtes Stupsen an meiner Schulter. Ich schreckte hoch und sah mich um, bis ich Bodhis Blick begegnete.
»Hab dir ne Cola gebracht, Boss«, sagte er und hielt mir eine Flasche hin. »Du sahst aus, als könntest du eine gebrauchen. Immerhin geht das Ganze noch ein paar Stunden.«
Ich rieb mir die Augen. »Wie lange habe ich geschlafen?«
»Nur eine Viertelstunde oder so.«
Ich nahm die Flasche mit einiger Verspätung an mich und trank dankbar einen Schluck, um das Kratzen in meiner Kehle loszuwerden. »Und du hast mich einfach schlafen lassen?«
Bodhi nickte ernst. »Du hast wahnsinnig müde ausgesehen. Mir hilft da oft ein Powernap. Er darf aber nie länger als zwanzig Minuten dauern, danach fühle ich mich sonst schlechter als vorher.«
Ich murmelte eine Zustimmung und sah zurück nach vorne ins Publikum. Von hier oben erkannte ich kaum jemanden, einzig Ashley hatte ich in der ersten Reihe ausgemacht, und das auch nur, weil ich ihr Kleid wiedererkannt hatte. Jetzt war der Saal jedoch so dunkel, dass ich gar nichts mehr sehen konnte. Auf der Bühne wurde gerade ein Zusammenschnitt der Kategorie Countrymusik gezeigt, wobei einzelne Bilder aufflackerten und Songschnipsel gespielt wurden. Ich war froh, dass es dunkel war. Andernfalls hätte Bodhi meine vor Scham rot gefleckten Wangen gesehen, und das musste echt nicht sein.
Nicht zum ersten Mal fragte ich mich, was Bodhi wohl von mir halten musste. Seit er bei mir angefangen hatte, war ich häufiger geistig abwesend gewesen, als ich an beiden Händen abzählen konnte. Ich war mehrfach am Schreibtisch eingeschlafen, weil ich nachts ständig wach lag, und bei den Placements von meinen Sponsoren hatte ich so oft den Text vergessen, bis ich irgendwann aufgegeben und es spätabends noch mal aufgenommen hatte, nachdem Bodhi das Studio schon längst verlassen hatte.
Irgendwo ganz tief in meinem Hinterkopf war mir bewusst, dass ich die ungefähr schlechteste Chefin aller Zeiten war. Gleichzeitig war es mir seltsam gleichgültig. Denn bis vor wenigen Monaten hatte ich mich eigentlich für eine ziemlich gute gehalten – und das hatte mich genau hierher gebracht. An den Tiefpunkt meines Lebens. Es gab auch noch einen anderen ziemlich großen Faktor daneben, aber die Art, wie Kayla mir das Herz mit ihrem Verrat gebrochen hatte, war beinahe so schmerzhaft gewesen wie jener Abschiedsbrief, über den ich auf keinen Fall nachdenken wollte. Leider hatte ich ihn so oft gelesen, dass ich ihn mittlerweile auswendig kannte und mir die Worte in den ungünstigsten Momenten durch den Kopf geisterten. Beispielsweise, wenn ich schlafen wollte. Oder aber, wenn ich mir einen Kaffee holte. Oder auch, wenn ich mich mitten in einem Interview für die Rosie Hart Show befand.
Ich wünschte, ich könnte mein Versprechen an dich halten, aber es geht nicht. Ich kann nicht zu dir zurückkommen.
Immer und immer wieder jagten ebenjene Worte durch meinen Kopf. Meistens verlangte mein Körper dann danach, sich schmerzhaft zusammenzukrümmen. Am Anfang waren gleichzeitig oft eine Menge Tränen geflossen, aber nach den vielen Wochen hatte ich schlichtweg keine mehr übrig. Ich war quasi leer geweint und zu einer Art Zombie geworden, der einzig durch Koffein am Leben erhalten wurde.
»Was habe ich verpasst?«, fragte ich tonlos.
»Nicht viel. Bloß den Auftritt von Menace.«
Ich verzog bitter die Mundwinkel. Menace war der Ex-Freund von Ashley Cruz und ein totales Arschloch. Da war ich parteiisch, weil ich hundertprozentig auf Ashleys Seite stand. Er hatte sie in aller Öffentlichkeit betrogen und es anschließend lange Zeit abgestritten. Deshalb fand ich seine Musik aus Prinzip schlecht.
»Er hat mitten im Auftritt sein Unterhemd zerrissen; und es sah aus, als hätte er sich mit Edding irgendwas auf die Brust gemalt. Das konnte ich von hier aus leider nicht erkennen. Aber viele Leute da unten haben sich die Hände vor den Mund geschlagen«, fuhr Bodhi fort.
Sofort zückte ich mein Handy und schaute auf Instagram nach. Ich hatte einige Newsseiten mit meinem offiziellen Show-Account abonniert und wurde schnell fündig. Als ich die Fotos sah, klappte mein Mund ein Stück auf.
Menace war darauf zu erkennen, wie er sein weißes Unterhemd zerriss und dabei die Zähne bleckte, sodass seine silbernen Grills zu sehen waren. Auf seiner Brust war neben einigen Tattoos tatsächlich etwas zu erkennen. Schwarze, leicht verschmierte Buchstaben, die dennoch deutlich zu lesen waren.
Heul ruhig weiter, Miststück.
Es war eindeutig, an wen diese Worte gerichtet waren.
Ich sah wieder nach vorne und reckte den Kopf, kniff die Augen zusammen und wartete, bis die vordere Reihe erleuchtet wurde. Der Platz, auf dem Ashley gesessen hatte, war inzwischen leer.
Ich stieß einen Fluch aus. Niemand verdiente, was dieser Mann ihr angetan hatte. Sie war lieb, eine Kämpferin und großartige Musikerin, sie hatte ernsthafte mentale Probleme, an denen sie arbeitete, womit sie einem jungen Publikum als riesiges Vorbild voranschritt.
»Was bildet sich dieser Typ eigentlich ein?«, knurrte ich und merkte, wie Bodhi sich zu mir neigte. Ich gab ihm mein Handy, damit er sehen konnte, was dort stand.
»Oh Mann. Wer hat dem denn ins Gehirn geschissen?«
Ich umklammerte die Colaflasche so fest, dass meine Knöchel weiß hervortraten. »Ich verstehe nicht, wie man so sein kann. Der Typ hat sie betrogen. Er hat ihr das Herz gebrochen, überall intime Details aus ihrem Leben ausgeplaudert, und jetzt will er diesen wichtigen Abend für sie ruinieren. Ich kapiere es nicht.«
»Er hat offensichtlich Komplexe.«
»Das ist keine Ausrede, sie bei einer öffentlichen Veranstaltung mit Millionenpublikum zu beleidigen und derart bloßzustellen. Jeder wird wissen, dass die Message an sie gerichtet war.«
Bodhi nickte. »Ich finde das auch echt mies. Aber was willst du dagegen unternehmen? Es gibt viele Rapper, die sich so inszenieren. Eigentlich müsste man ihnen die Plattform entziehen, aber dafür sorgen sie mit ihrer Präsenz und solchen Aktionen für zu viel Aufmerksamkeit.«
Ich stellte die Cola in die Halterung neben mir und verschränkte die Arme vor der Brust. Der Durst war mir eindeutig vergangen.
»Manchmal hasse ich diese Branche.«
»Wer tut das nicht?«
Plötzlich tönte donnernder Applaus durch den Saal. Ich zuckte zusammen, und Bodhi neben mir tat dasselbe. Fahrig steckte ich das Handy zurück in meine Tasche und blickte nach vorne.
Meine Schultern versteiften sich, das Herz schlug mir bis zum Hals.
Auf den Bildschirmen neben der Bühne waren Bilder von Scarlet Luck zu erkennen.
Sie hatten gewonnen.
Sie hatten tatsächlich in der Kategorie »Album des Jahres« gewonnen.
Obwohl sie am heutigen Abend eigentlich nicht persönlich anwesend hätten sein sollen, sah ich, wie drei Personen durch die Reihen nach vorne schritten, während im Hintergrund Hollow lief, der Titeltrack des Albums.
Erst befand ich mich in einer Art Schockstarre. Das verpatzte Interview, die Anspannung, dass ich vor Erschöpfung eingeschlafen war und mich dabei vor Bodhi blamiert hatte, der Abschiedsbrief in meinem Kopf und jetzt noch Scarlet Luck … es war zu viel.
Die Band betrat die Bühne, während das Lied lief, das ich zum ersten Mal bei der Releaseparty gehört hatte und das ich für immer mit jenem schicksalhaften Abend verbinden würde. Dem Abend, der die Dinge zwischen Adam Sinclair und mir verändert hatte.
Dem Abend, an dem er sich mir zum ersten Mal geöffnet hatte.
Dem Abend, der einen riesigen Meilenstein in unserer Geschichte dargestellt hatte. Eine Geschichte, die viel zu schnell und abrupt beendet worden war.
Das, was du siehst, ist das, was du bekommst, Rosie, hatte Adam mir damals gesagt. Und ich hatte geantwortet: Ich sehe eine ganze Menge.
Daran hatte sich bis heute nichts geändert. Adam war nach wie vor einer der wundervollsten Menschen, die ich jemals kennengelernt hatte. Das, was ich ihm vor wenigen Tagen geschrieben hatte, war immer noch wahr. Er fehlte mir. Auch wenn es keinen Sinn ergab, jemanden so sehr zu vermissen, mit dem man live und in Farbe nicht allzu viel Zeit verbracht hatte. Aber ich tat es nun einmal. Und ich konnte nichts dagegen unternehmen.
In meiner Brust verengte sich alles, und in meinem Magen krampften sich die Muskeln zusammen. Hitze kroch meinen Hals hinauf bis in meine Wangen, während sich ein Kloß in meinem Hals bildete. Der Schmerz war wieder da, so heftig und unvermittelt, dass ich es kaum schaffte, mich aus der Starre zu lösen. Es dauerte einen Moment, bis ich es hinbekam.
Ich stand auf, als die Jungs auf die Bühne traten. So konnte ich zumindest etwas auf den Bildschirmen erkennen. Die Band sah komisch aus, weil ganz eindeutig jemand fehlte, der ein Loch hinterlassen hatte. Es kam mir fast schon falsch vor, als sie den Award entgegennahmen, dabei hatten sie ihn so sehr verdient.
Jasper Thorn, der Frontmann der Band, trug seine engen Locken inzwischen nicht mehr lang, an den Seiten hatte er sein dunkelbraunes Haar kurz rasiert. Auf dem Hemd, das er zu einer seidenen schwarzen Hose kombiniert hatte, prangten bunte Blumen, die seinem dunklen Teint schmeichelten. Rechts von ihm stand Cillian Hunt, noch blasser als sonst, mit leerem Blick und nahezu kahl rasiertem Kopf. Sein Outfit bestand aus einem schlichten schwarzen Anzug, unter dem er ein weißes Hemd trug, während Logan Buckley ganz links eine zerrissene Röhrenjeans und ein Jackett mit Kapuze anhatte – seine Version von Abendgarderobe. Logan hatte zwischen sich und Thorn eine Lücke gelassen, als würde er so Platz für Adam demonstrieren wollen. Zwar war er nicht anwesend, aber er war im Geiste mit dabei. Der Anblick rührte mich, und ich presste mir eine Hand auf die Brust. Mein Herz donnerte viel zu schnell.
Thorn hielt die silberne Statue vor sein Gesicht, die sie für ihr Album erhalten hatten. Dann schüttelte er den Kopf und streckte sie in die Höhe, sodass jeder sie sehen konnte.
»Wow. Einfach wow«, sagte er ins Mikrofon und blickte erst die Bandmitglieder zu seinen Seiten an, dann zurück ins Publikum. »Mir fehlen selten die Worte, aber ich glaube, das hier ist einer dieser Augenblicke.« Er räusperte sich, und auf dem riesigen Bildschirm erkannte ich, wie er hastig blinzelte, als würde er nicht auch nur ansatzweise wollen, dass sich dort Tränen bildeten. Noch einmal räusperte er sich, dann hatte er sich einigermaßen gefasst. »Wir danken unserem Label, das es uns möglich gemacht hat, diese Platte aufzunehmen, insbesondere Leah Miller für ihre unermüdliche Unterstützung. Wir danken unseren Fans für ihre Liebe und dafür, dass sie immer noch an unserer Seite stehen, egal, wie viel Zeit vergeht.« Er räusperte sich wieder, schluckte ein paarmal und schüttelte erneut den Kopf. Anscheinend fehlten ihm wirklich die Worte. Zu meiner Überraschung legte Hunt ihm eine Hand auf die Schulter und beugte sich über das Mikro. Hunt, der bekannt dafür war, so gut wie nie zu sprechen. Hunt, der in diesem Moment genauso ergriffen zu sein schien wie Thorn und auch Logan, der offensichtlich keine Scham für seine Tränen empfand. Er wischte sich gerade mit dem Ärmel über die Augen, dann über den Kiefer.
»Wie ihr seht, fehlt heute ein wichtiger Teil von uns. Dieser Award ist Beast gewidmet, ohne den wir uns unvollständig fühlen. Vielleicht sitzt er gerade vor dem Fernseher und sieht uns zu. Wenn ja: Wir lieben dich, Mann. Und wir sind unglaublich stolz auf dich«, erklang Hunts tiefe Stimme durch die Lautsprecher.
Lauter Applaus brandete im Saal auf. Ein paar Leute erhoben sich von ihren Stühlen. Die Mitglieder von Scarlet Luck reckten den Award noch einmal in die Höhe, wandten sich dann ab und verließen die Bühne zu einer Seite, wo sie kurz darauf hinter den Vorhängen verschwunden waren.
Offensichtlich war ich doch noch nicht leer geweint. Denn in diesem Moment kostete es mich große Mühe, nicht in Tränen auszubrechen.
»Wie wäre es, wenn du dir eine Katze anschaffst?«, fragte Mam unvermittelt.
Ich drehte den Kopf zu ihr und sah sie mit hochgezogener Braue an. »Wieso sollte ich das tun?«
»Früher hat es dir sehr gutgetan, wenn du schlecht gelaunt aus der Schule kamst und Chubby sich mit seinem dicken Hintern auf dich gesetzt hat.«
Ich stieß ein schnaubendes Lachen aus, das jedoch schnell abklang. Dann sah ich wieder aus dem Fenster und betrachtete das Meer. Wir saßen in meinem Wohnzimmer in Malibu, und erst, als wir hier angekommen waren, war mir aufgefallen, wie sehr ich diesen Ausblick vermisst hatte. Die Wellen brandeten auf und verloren sich im Nichts. Der Wind war stark, und sie erhoben sich mächtig und krachten in sich zusammen, immer und immer wieder. In etwa so fühlte ich mich jeden Tag. Ich stand auf, fiel hin, kratzte mühsam zusammen, was übrig geblieben war, und tat das Ganze von vorne, ohne zu wissen, wann ich das nächste Mal zusammenbrechen würde.
Mam versuchte seit mittlerweile einer Woche, Dinge zu finden, die mir guttun könnten, aber ihre Vorschläge ließen zu wünschen übrig (auch wenn ich ihr das niemals offen sagte). Sie konnte nichts dafür. Für sie war das, was ich gerade durchmachte, schwer zu greifen, und sie glaubte, neben der Therapie und den Medikamenten würde eine Katze zum Knuddeln garantiert dabei helfen, all meine Probleme zu lösen. Jedoch zweifelte ich stark daran, dass ein Haustier meine Panik vor Berührungen und die Alkoholsucht in irgendeiner Weise würde lindern können. Da waren die Medikamente schon effektiver, auch wenn ich durch sie inzwischen mehrere Kilo Gewicht zugenommen hatte. Ich wünschte, das wäre mir egal gewesen, aber wie es schien, war nach meinem Zusammenbruch ein kleiner Teil Eitelkeit übergeblieben. Ich versuchte jedoch, mich damit zu arrangieren, weil die Tabletten wirklich halfen. Das Leben wirkte zwischendurch nicht mehr ganz so schwer.
»Ich habe keine Zeit für ein Haustier, Mam«, antwortete ich mit einiger Verspätung. »Außerdem würde ich das arme Tier nicht allein lassen wollen, wenn wir …«
… monatelang auf Tour gehen, wollte ich eigentlich sagen, doch die Worte blieben mir im Hals stecken. Ich hatte keine Ahnung, ob ich nach dem, was geschehen war, überhaupt jemals wieder auf Tour gehen würde. Ob die Jungs mich noch dabeihaben wollten. Oder ob ich alles unwiderruflich kaputt gemacht hatte.
Ich betrachtete weiter das Meer, doch als Mam eine ungewöhnlich lange Zeit schwieg, wandte ich mich wieder zu ihr. Ihr Kopf war auf dem Sessel zur Seite gesackt, ihr Mund stand leicht offen. Sie war eingeschlafen.
Kein Wunder. In den letzten Tagen hatte sie mich ununterbrochen umsorgt und unaufgeräumte Ecken in meinem Haus ausfindig gemacht, die ich in den letzten Jahren selbst völlig aus den Augen verloren hatte. Dabei hatte ich mich eigentlich für einen ordentlichen Typen gehalten. Das sah jedoch anders aus, wenn meine Mutter zu Besuch war.
Seit einer Woche verbrachte sie jede Minute des Tages mit mir, als würde sie fürchten, ich könnte mir etwas antun, sobald sie sich auch nur zwei Meter von mir entfernte. Diese Fürsorge – und die dazugehörige Angst in ihren Augen, die sie stets vergeblich vor mir zu verbergen versuchte – machte mich noch wahnsinnig. Einmal hatte ich sie dabei erwischt, wie sie vor dem Bad gestanden hatte, als ich unter der Dusche gewesen war. Erst da hatte ich ihr gesagt, dass mir ein kleines bisschen Abstand zwischendurch ganz guttun würde. Woraufhin sie deftigen Irish Stew gekocht und mich gezwungen hatte, mehrere Schüsseln davon zu verdrücken, was mich schwer an meine Kindheit in Irland erinnert hatte. Es war eine gute Alternative zum Wachestehen vor dem Bad, also fand ich mich dankbar damit ab.
Ich stand vom Sofa auf, nahm die grob gestrickte Wolldecke, die Mam aus Irland mitgebracht hatte, und trat zu ihr an den Sessel, dessen Lehne sie ein Stück nach hinten gestellt hatte, um die Decke über ihr auszubreiten. Danach schnappte ich mir die beiden leeren Teebecher, die sie uns vorhin gemacht hatte, und räumte sie in der Küche in den Geschirrspüler. Danach stand ich dort und wusste einen Moment lang nicht, was ich mit mir anfangen sollte. Das Ticken der Uhr über der Tür klang beinahe übernatürlich laut.
Mein Blick fiel auf die Terrassentür. Ohne groß nachzudenken, ging ich barfuß nach draußen. Die Haare peitschten mir ins Gesicht, und sofort fingen meine Augen an zu tränen. Ich schirmte mein Gesicht vom Wind ab und schaute zu der Tür, die ich seit einer Woche nicht einmal richtig angesehen hatte, weil sich allein beim Gedanke daran etwas schmerzhaft in meiner Brust zusammenzog.
Es war das erste Mal, dass Mam vor mir eingeschlafen war. Das erste Mal seit meiner Rückkehr, dass ich wirklich einen Moment für mich hatte. Ich war mir nicht sicher, ob das hier die Sache war, womit ich diese Zeit verbringen wollte. Aber anscheinend war ich nicht derjenige, der entschied – mein Körper verselbstständigte sich und trat auf die Verbindungstür zum Gästehaus zu. Da Mam im Haupthaus in dem Zimmer gegenüber von meinem schlief, war seit Rosies Abreise niemand mehr hier drin gewesen.
Ich schob die Glastür zur Seite hin auf und betätigte den Lichtschalter. Langsam steuerte ich das Zimmer links an. Das Holz unter meinen Füßen fühlte sich kalt an, als ich eintrat. Auch hier schaltete ich die Lampe ein.
Der Raum, den ich sonst immer zum Proben genutzt hatte, sah genauso aus wie vorher. Keine Spur wies darauf hin, dass hier bis vor Kurzem noch jemand gewohnt hatte.
Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte, aber mein Magen begann sich zu drehen, bis mir schwindelig davon wurde. Ich machte ein paar Schritte und ließ mich auf das Bett sinken. Etwas knisterte unter mir. Ich rutschte ein Stück beiseite und griff unter die Decke. Gleich darauf zog ich eine kleine Tüte hervor, die mit vielen kleinen Hello Kittys bedruckt war. Meine Hände fingen an zu beben.
Ich öffnete die Schleife, mit der die Tüte verschlossen worden war, und griff hinein. Stirnrunzelnd förderte ich ein weißes T-Shirt, an dem noch ein Preisschild hing, und eine Tafel Schokolade zutage. Darauf befand sich ein Briefumschlag.
Adam, stand dort in kleinen schrägen Buchstaben.
Ein Kloß trat in meinen Hals. Mit einem Mal spürte ich das ganze Gewicht meines schlechten Gewissens auf mir lasten.
Rosie hatte mehrfach versucht, mich zu kontaktieren. Sie hatte mir Nachrichten geschrieben, auf die ich schlichtweg nicht imstande gewesen war zu antworten. Als ich in die Klinik gegangen war, war einfach alles zu viel gewesen. Ihre Worte zu lesen und zu wissen, wie schwer ich sie enttäuscht hatte, hatte das Loch in meiner Brust noch weiter aufgerissen.
Mein Therapeut hatte immer wieder betont, wie wichtig es war, dass ich mich auf mich konzentrierte. Ich sollte herausfinden, was ich wollte. Was mich glücklich machte. Ich sollte mich den Dämonen stellen, vor denen ich so lange davongelaufen war, und mir war klar, dass ich das nicht konnte, wenn ich mich meinen komplizierten Gefühlen Rosie gegenüber hingab. Ich sollte die negativen Stimmen in meinem Kopf loswerden, und um das zu tun, musste ich eine andere Person werden. Und diese Person hatte keinen Platz, sich um jemand anderen zu kümmern als um sich selbst. Das mochte egoistisch klingen, aber es war notwendig, damit ich überlebte und heil aus dieser Sache rauskam.
Seit meinem letzten Gespräch mit Rosie waren Monate vergangen. Während des Entzugs hatte ich oft an sie gedacht, obwohl ich es nicht wollte. Irgendwann hatte es so wehgetan, dass ich das alles verdrängt und mich erst mal um die schwerwiegendsten Probleme gekümmert hatte. Ich hatte mein Handy und den dazugehörigen Vertrag entsorgt. Keine Ahnung, ob sie mir noch mehr Nachrichten geschrieben hatte. Hätte ich das in ihrer Position getan? Vermutlich schon. Vielleicht auch nicht. Irgendwann musste man schließlich weiterziehen, und ich hoffte inständig, dass sie das getan hatte.
Ich atmete tief ein. Dann drehte ich den Umschlag in der Hand und öffnete ihn. Rosie hatte ihn mit glitzerndem Tape zugeklebt, und ich schluckte den Kloß in meinem Hals runter, als ich es zerriss und den Brief herausholte. Ich faltete das Papier auseinander und wappnete mich für alles: Ihre Wut. Ihre Enttäuschung. Ihren Hass. Erst, als ich eine dicke Mauer in mir hochgezogen hatte, fing ich an zu lesen.
Lieber Adam,
danke, dass du mich hier hast wohnen lassen! Ich habe dir den Rest der Miete überwiesen. Leider habe ich dein T-Shirt mit Haarfarbe ruiniert, deshalb ist hier ein Ersatz.
Liebe Grüße
Rosie
Ich las den Brief noch mal. Und noch einmal.
Das Zittern meiner Hände wurde stärker, und im ersten Moment verstand ich nicht, wieso. Da lag keine Wut in ihren Worten. Keine Enttäuschung. Auch kein Hass.
Vermutlich war genau das das Problem.
In diesen paar Zeilen lag überhaupt nichts. Kein Hinweis auf das, was wir miteinander geteilt hatten. Keine Worte des Abschieds, keine Emotionen, vor denen ich mich so gefürchtet hatte. Stattdessen verabschiedete sie sich mit »Lieben Grüßen«, als hätte sie eine beschissene E-Mail an einen Kollegen geschrieben.
Ich ließ mich nach hinten in die Kissen sinken, auf denen Rosie in den letzten Monaten geschlafen hatte. Dies war der Ort, an dem sie sich befunden hatte, als sie am Telefon meinen Namen geflüstert hatte, leise, verzweifelt und voller Gefühl.
Ich starrte an die Decke, während sich in meinem Kopf alles drehte.
Wahrscheinlich sollte ich froh sein, dass sie den Brief so nüchtern formuliert hatte. Dass dort kein Wort mehr wie »Deine« zu lesen war. Denn Rosie hatte nie wirklich zu mir gehört, auch wenn ich es mir eine Zeit lang gewünscht hatte. Ich sollte mich freuen, dass ich sie anscheinend weniger verletzt hatte als angenommen.
Nach einer Weile rollte ich mich auf die Seite und holte tief Luft. Das Bettzeug roch nach frisch gewaschener Wäsche. Keine Spur mehr von ihr. Alles war sauber und genauso, wie ich es hinterlassen hatte, bevor sie eingezogen war. Bis auf den Brief wies in diesem Raum nichts darauf hin, dass Rosie jemals hier gewesen war. Dass sie auf diesem Bett in meinem T-Shirt gesessen und das Foto für mich geschossen hatte, das ich selbst auf dem neuen Handy schlichtweg nicht hatte löschen können. Dass sie hier gelegen und mit mir am Telefon gelacht hatte. Dass sie hier gewesen war, als wir uns gegenseitig gestanden hatten, dass wir einander fehlten. Als ich mich ihr gegenüber zum ersten Mal geöffnet hatte, etwas, was ich noch nie getan hatte.
Es war gut so.
Alles war genauso, wie es sein sollte.
Nur die Art, auf die sich mein Magen verkrampfte, fühlte sich überhaupt nicht danach an.
Ich saß gerade am Redaktionsplan für die Weihnachtszeit, von der ich immer noch nicht fassen konnte, dass sie tatsächlich schon nächsten Monat begann. Es war die Zeit, zu der Sponsoren am meisten Geld für die kurzen Einsprecher in unserer Show bezahlten, und nach den letzten Monaten konnte ich das wirklich gut gebrauchen. Obwohl meine Klickzahlen viel besser waren als noch im Jahr davor, war nach dem viralen Vorfall und meiner langen Pause im Sommer einer meiner Hauptsponsoren abgesprungen und wir mussten dieses Loch mit anderen Werbekunden füllen. Daran arbeitete ich seit Monaten, und es war immer noch kein Land in Sicht. Für jeden Gast musste ich mich doppelt und dreifach bemühen, was sich als äußerst schwierig erwies, wenn man kaum Kraftreserven übrig hatte.
»Manchmal hasse ich diese Branche«, sagte Bodhi von seinem Schreibtisch aus. Er hatte sich mit hinter dem Kopf verschränkten Händen zurückgelehnt und sah auf seinen Computerbildschirm. Seine Worte erinnerten mich an unser Gespräch bei den World Music Awards, als wir über Menace und seine bescheuerte Aktion gesprochen hatten.
»Wieso?«, fragte ich und speicherte schnell die letzte Änderung am Redaktionsplan, bevor ich zu ihm rüberlief.
»Wer macht bitte von so was Fotos? Das ist einfach nur geschmacklos.« Er deutete auf den Bildschirm, als ich neben ihn trat, um rauszufinden, was ihn so aufwühlte. Er drehte den Computer so, dass ich die Großaufnahme darauf erkennen konnte.
Mein Herz machte einen Satz. Setzte einen Schlag aus. Dann holperte es wieder los und schlug mir bis zum Hals. Mit einem Mal wurden meine Knie weich. Ich griff zur Seite, erst ins Leere, dann bekam ich die Lehne von Bodhis Stuhl zu fassen, grub meine Nägel hinein, bis das Kunstleder knarzte.
Ich wollte das Foto sofort aus meinem Gedächtnis löschen. Wünschte, Bodhi hätte es mir nicht gezeigt. Denn niemand, wirklich niemand, hatte das Recht, Zeuge dieses Augenblicks zu werden. Und doch wurde ich gerade selbst dazu. Genau wie wahrscheinlich Hunderttausende andere Menschen auf der Welt. Weil es einem Paparazzo an Ehr- sowie Mitgefühl mangelte und er nur an das Geld dachte, das er mit diesem Foto sicher in rauen Mengen verdient hatte.
Ich wollte den Blick abwenden, konnte es aber nicht.
Auf dem Foto war Adam zu erkennen.
Adam, der sich seit Monaten in einem Entzug befand.
Adam, der jetzt augenscheinlich entlassen worden war.
Mein Adam, der nie wirklich mein gewesen war.
Auf dem Foto trat er gerade aus einem Fahrstuhl, hinter ihm zwei Männer, deren Gesichter verpixelt worden waren. Eine Frau hatte beide Arme um seine breite Statur gelegt, und er war nach vorne gesunken. Er trug eine graue Jogginghose, ein schlabbriges, durchlöchertes T-Shirt, und seine Haare waren um einiges länger. Keine Spur mehr von der blauen Haarfarbe, die er vor wenigen Monaten noch getragen hatte. Das Haar hing ihm strähnig ins Gesicht, sodass man kaum etwas davon erkennen konnte. Aber das brauchte man auch nicht. Denn seine Haltung wirkte so gebrochen und kraftlos, dass der Anblick allein mir die Kehle zuschnürte.
Mir wurde schlecht. Es war wie bei einem Blitzeinschlag – ich wollte wegsehen, aber das Ganze geschah so schnell, dass ich nicht dazu imstande war. Der Anblick brannte sich in mein Gedächtnis. Ohne dass ich es wollte. Ohne dass ich etwas dagegen unternehmen konnte.
Er war entlassen worden.
Er war wieder da.
Gleichzeitig war er es nicht.
Diese Nachricht, die er mir damals geschickt hatte … sie hatte mich traurig, wütend und verletzt zurückgelassen. Gleichzeitig hatte ich unglaubliches Mitgefühl für ihn empfunden. Ich hatte für ihn da sein und ihm dadurch helfen wollen, aber es ging nun einmal nicht um mich. Es hatte auch wehgetan, mir das einzugestehen. Ich fühlte mich hilflos, wollte irgendetwas unternehmen, konnte dies aber nicht. Weil er sich auf sich konzentrieren musste, nicht auf mich oder das, was sich mit der Zeit zwischen uns entwickelt hatte. Ich konnte das verstehen, ich wollte unbedingt, dass es ihm besser ging, aber das änderte nichts an der Tatsache, dass ich das, was wir gehabt hatten, mit jedem Atemzug schmerzlich vermisste. Mir fehlten unsere Gespräche, unsere bescheuerten Textnachrichten, die mich immer zum Lachen gebracht hatten, seine Stimme am Telefon, wie er verschlafen und rau mit mir sprach und mir das Gefühl gab, ich wäre einer der wenigen Menschen, auf die er sich am Tag wirklich freute. Ich hatte so sehr auf seine Rückkehr hingefiebert. So, so sehr. Weil ich gehofft hatte, ihm endlich zeigen zu können, was ich für ihn empfand. Aber er hatte mir gesagt, dass er das nicht wollte, und das hatte mir das Herz auf eine Weise gebrochen, die ich zuvor nicht für möglich gehalten hätte.
Jetzt, wo ich ihn auf diesem Bild sah, so völlig fertig und mitgenommen, schien mein Herz erneut für ihn zu brechen. Gleichzeitig wäre ich am liebsten in das nächste Taxi gestiegen, zu ihm gefahren und hätte ihn genauso fest in den Arm genommen, wie es die Frau auf dem Bild tat. Ich erkannte sie von dem Foto wieder, das in Adams Esszimmer stand. Es musste seine Mutter sein.
Immerhin wusste ich so, dass er jemanden an seiner Seite hatte, der ihm half, sich nach der langen Zeit wieder einzuleben. Bei unseren Gesprächen hatte ich immer den Eindruck gehabt, dass Adam seiner Familie nahestand, es war also gut, dass er seine Mutter bei sich hatte. Zwar hatte ich keine Ahnung, was ein Entzug alles beinhaltete, aber ich hatte in den letzten Monaten einige Artikel gelesen, in denen gestanden hatte, dass ein gefestigtes Umfeld sehr wichtig für die Rückkehr in den Alltag war.
»Schlimm, oder? Den Paparazzo würde ich an seiner Stelle verklagen«, erklang Bodhis Stimme wie aus weiter Ferne.
Ich brauchte einen Moment, um meinen Blick von dem Foto loszureißen. Dann räusperte ich mich, würgte den Kloß in meiner Kehle mühsam herunter. »Du kannst helfen, indem du das Bild meldest. Wegen Verletzung der Persönlichkeitsrechte«, sagte ich und lief zurück zu meinem Schreibtisch, wo ich mich auf den Stuhl fallen ließ. Kurz darauf hörte ich Bodhis Mouse klicken und wie er etwas auf der Tastatur tippte.
»Hab’s gemacht.«
»Und die Seite, die das gepostet hat, am besten mit unserem Showaccount abonnieren. Fotos sind in Ordnung, aber nicht, wenn sie derart unter die Gürtellinie gehen. Wenn jemand so etwas verbreitet, wollen wir denjenigen auf keinen Fall unterstützen«, fuhr ich fort. Ich konnte selbst hören, wie belegt meine Stimme klang. Was ehrlich gesagt kein Wunder war. Denn neben dem Wunsch, den Paparazzo ausfindig zu machen, der das Foto geschossen hatte, und ihn in Grund und Boden zu schreien, beherrschte ein Gedanke meinen Kopf:
Adam ist zurück.
Seine Abschiedsworte waren deutlich genug gewesen. Er wollte einen Schlussstrich ziehen und musste sich auf sich selbst konzentrieren. Dennoch konnte ich nichts gegen den kleinen Hoffnungsschimmer unternehmen, der in mir zu flackern anfing. Dieser hatte nichts mit uns zu tun, sondern vor allem etwas mit der Tatsache, dass es Adam inzwischen hoffentlich besser ging. Dass er nicht mehr dermaßen von dem gequält wurde, was ihn in diese Lage gebracht hatte. Und das war alles, was ich ihm wünschte.
Mit jedem Teil meines kaputten Herzens.
Johar blies in seinen Tee und sah mich über den Rand seines Bechers hinweg an. Ich hatte das Gefühl, er tat das, damit ich die Schrift auf dem Becher sah und herzlich darüber lachte.
Keep talking … I’m diagnosing you, stand dort in schwarzen Blockbuchstaben.
Ich tat ihm den Gefallen mit dem Lachen nicht. Zum einen, weil er das als Bestätigung gesehen hätte, zum anderen, weil ich seine Becher einfach nur bescheuert fand.
Seit ich vor zwei Wochen die Klinik verlassen hatte, hatte ich mich mit Mam im Strandhaus in Malibu verschanzt. Wie in der Klinik verfolgte ich einen festen Tagesablauf, der mir Halt gab. Ich wachte auf, frühstückte, trieb Sport, malte, las oder schrieb an Songs, aß Mittag, verbrachte Zeit mit Mam, während der wir meist am Strand spazieren gingen. Abends kochten wir zusammen, wenn ich mich dazu aufraffen konnte, und schauten uns beim Essen an, was das Trash-TV zu bieten hatte, dann ging ich spätabends ins Bett, quälte mich irgendwie durch die Nacht und am nächsten Tag ging das Ganze von vorne los. Ich füllte jede Minute mit kleinen Sachen und hangelte mich an diesem Stundenplan entlang. Eine Routine, die nur durchbrochen wurde, als ich Mam eines morgens telefonieren hörte.
»Sie haben diese Bilder überall gedruckt, Ms Miller. Überall! Ich weiß nicht, wie ich es ihm sagen soll. Können Sie denn gar nichts tun?« Eine Pause war gefolgt. Dann … »Er hat wieder ein Handy. Nein, bisher noch nicht. Er soll es von mir hören. Gott, unternehmen Sie bitte etwas. Er hat so tolle Fortschritte gemacht, ich habe einfach Angst …« Den Rest des Satzes hatte ich nicht verstanden.
Erst hatte ich nicht gewusst, ob ich mich mit meinem Handy im Gästehaus verkriechen sollte, wo ich seit jenem Abend, an dem ich Rosies Brief gefunden hatte, schlief. Doch letztlich hatte ich mich überwunden und war zu Mam in die Küche gegangen, wo sie sich mit Tränen in den Augen zu mir umgedreht hatte. Wenig später hatte ich von den Bildern erfahren.
»Man hat Fotos von meiner Entlassung geschossen. Keine Ahnung, warum die erst jetzt überall auftauchen – vielleicht wollten sie den Preis in die Höhe treiben.« Ich haute die Information einfach raus. In den letzten Monaten hatte ich gelernt, dass es besser so war. Johar und ich hatten eine Stunde, und diese ging meist schneller vorbei, als ich zunächst geglaubt hatte.
Am Anfang hatte ich mich gegen den Therapeuten gesträubt, weil Reden wirklich das Allerschlimmste für mich war. Außerdem war Johar ein unerträglicher Besserwisser; er freute sich immer ein bisschen zu sehr, wenn er etwas aus mir rausbekam. Auch jetzt sah er mich an, als wüsste er ohnehin schon, was mich beschäftigte, müsste es in Gedanken aber noch mal genau analysieren, bevor er antwortete. Er hatte indische Wurzeln, schwarzes, von grauen Strähnen durchzogenes Haar, das er locker zurückgelte, einen Bart, dessen Kanten für meinen Geschmack zu perfekt getrimmt waren, und trug meistens Jeans und Hemden mit bunten Mustern, die mich manchmal an Thorn erinnerten. Nur dass Johar die Knopfleiste immer bis ganz oben schloss und die Yeezys an seinen Füßen nie wirklich zum Rest seines Outfits passten. Es hatte ein bisschen gedauert, aber mit der Zeit hatte ich ihn zu schätzen gelernt. Nach und nach hatte ich gemerkt, wie gut es tat, mit einer Person zu sprechen, die nicht so sehr in dem ganzen Scheiß drinsteckte. Jemand, der Erfahrung mit Problemen wie meinen hatte und mir half, aus dem Gedankenkreisel auszubrechen, wenn er mich schier niederdrückte. Außerdem hatte er mir noch nie vorgeschlagen, mir gegen meine psychischen Probleme eine Katze anzuschaffen, was ebenfalls ein Pluspunkt war.
»Wie fühlt sich das für dich an?«, fragte Johar in diesem Moment.
Ich zog eine Augenbraue hoch. »Was glaubst du, wie es sich für mich anfühlt?« Wir duzten uns, seit ich ihn im Entzug nach einem »Durchbruch«, wie Johar es genannt hatte, als selbstgerechtes Arschloch bezeichnet und anschließend losgeheult hatte. Er behauptete, auch das gehörte zu dieser »Reise« dazu. Er benutzte generell oft seltsame Wörter für das, was ich gerade durchmachte, aber mit der Zeit hatte ich mich auch daran gewöhnt.
»Ich habe zuerst gefragt.« Am liebsten hätte ich ihm seinen albernen Becher weggenommen, einfach nur weil er dieses kleine Lächeln im Gesicht kleben hatte, das immer aussah, als wäre er der größte Klugscheißer der Welt, der ohnehin alles über einen wusste, noch bevor man es aussprach.
»Es hat sich kacke angefühlt. Ich glaube, es würde sich für jeden Menschen kacke anfühlen, wenn man am Tiefpunkt seines Lebens angekommen ist und Bilder dazu für jedermann zur freien Verfügung stehen.«