Frankenstein oder, Der moderne Prometheus. Überarbeitete Fassung von 1831 - Mary W. Shelley - E-Book

Frankenstein oder, Der moderne Prometheus. Überarbeitete Fassung von 1831 E-Book

Mary W. Shelley

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Beschreibung

Ungekürzte Neuübersetzung der Ausgabe von 1831 mit umfangreichem Kommentarteil und Zusatzmaterial. "Der Roman 'Frankenstein oder der moderne Prometheus' ist als eine bloße Erzählung zweifellos eines der originellsten und vollständigsten Werke unserer Zeit. Wir fragen uns beim Lesen verwundert, welche besonderen Erlebnisse die Gedankengänge hervorgerufen haben könnten - woraus die besonderen Erlebnisse bestanden, die sie erweckt haben - , die in den Gedanken des Autors zu den erstaunlichen Kombinationen von Motiven und Ereignissen und der verblüffenden Katastrophe geführt haben, aus denen sich diese Geschichte zusammensetzt. (...) Wir werden atemlos vor Spannung und Mitgefühl, der Abfolge von Vorfall auf Vorfall, und dem berauschten Werk der Leidenschaft davongetragen. Wir schreien 'Halt, halt! genug!' - aber es folgt noch etwas; und wie das Opfer, dessen Geschichte es erzählt, glauben wir, es nicht mehr ertragen zu können, und doch ist noch mehr zu ertragen. (...) Wir erklimmen Alpe um Alpe, bis der Horizont leer, inhalts- und grenzenlos erscheint; bis uns der Kopf schwindelt und der Boden unter unseren Füßen nachzugeben scheint." - Percy Bysshe Shelley in einer Rezension zur Erstausgabe.

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Seitenzahl: 584

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… als ich im Flackern des halb erloschenen Lichtes sah, wie sich das glanzlose gelbe Auge des Wesens öffnete; es atmete schwer, und ein krampfhaftes Zucken erfaßte seine Glieder … stürzte ich aus dem Zimmer. - Kap. 5.

Schließlich kam der Tag meiner Abreise. - Kap. 3.

Übersetzt aus dem Englischen nach der Ausgabe letzter Hand:

Frankenstein; or, The Modern Prometheus.

London, 1831..

Von

Maria Weber

Inhaltsverzeichnis.

Einleitung.

Vorrede.

1. Brief.

2. Brief.

3. Brief.

4. Brief.

1. Kap.

2. Kap.

3. Kap.

4. Kap.

5. Kap.

6. Kap.

7. Kap.

8. Kap.

9. Kap.

10. Kap.

11. Kap.

12. Kap.

13. Kap.

14. Kap.

15. Kap.

16. Kap.

17. Kap.

18. Kap.

19. Kap.

20. Kap.

21. Kap.

22. Kap.

23. Kap.

24. Kap.

Walton, Fortsetzung.

Einleitung.

DIE Verleger der Standard Novels1 haben, als sie „Frankenstein“ für eine ihrer Reihen auswählten, den Wunsch geäußert, ich möge ihnen etwas über die Entstehung der Geschichte erzählen. Dem komme ich um so lieber nach, als ich bei dieser Gelegenheit eine umfassende Antwort auf die mir so oft gestellte Frage geben kann, wie ich, damals ein junges Mädchen2, auf den Gedanken verfallen konnte, eine so abscheuliche Idee zu entwickeln und auszuarbeiten? Zwar bin ich sehr abgeneigt, in gedruckter Form über mich selbst zu sprechen3; aber da meine Erklärung nur als ein Anhang zu einem früheren Erzeugnis erscheinen wird, und da sie sich nur auf solche Gegenstände beschränken wird, die mit meiner Autorschaft zu tun haben, kann ich mich kaum persönlicher Aufdringlichkeit bezichtigen.

Es ist nichts Außergewöhnliches, daß ich als Tochter zweier bedeutender literarischer Persönlichkeiten4 schon sehr früh im Leben auf den Gedanken kam zu schreiben. Als Kind kritzelte ich; und mein liebster Zeitvertreib in meinen freien Stunden war es, „Geschichten zu schreiben“. Doch hatte ich noch ein teureres Vergnügen als dieses, nämlich das Bauen von Luftschlössern – das Schwelgen in Wachträumen – das Verfolgen von Gedankengängen, die das Ausformen einer Abfolge von erfundenen Ereignissen zum Gegenstand hatten. Meine Träume waren zugleich phantastischer als auch gefälliger als mein Geschriebenes. In letzteren war ich eine rechte Nachahmerin – ich tat eher, was andere getan hatten, als daß ich den Anregungen meines eigenen Geistes gefolgt wäre. Was ich schrieb, war für wenigstens ein anderes Auge bestimmt – für die Gefährtin und Freundin meiner Kindheit5; meine Träume aber gehörten mir allein; ich legte niemandem gegenüber Rechenschaft über sie ab; sie waren meine Zuflucht, wenn ich verdrossen war – mein teuerstes Vergnügen, wenn ich unbeschäftigt war.

Als Mädchen lebte ich hauptsächlich auf dem Land6 und verbrachte eine beträchtliche Zeit in Schottland. Ich besuchte gelegentlich die malerischeren Gegenden, aber mein gewöhnlicher Aufenthalt war am öden und trostlosen Nordufer des Tay, in der Nähe von Dundee. Öde und trostlos nenne ich es im Rückblick; für mich war es das damals nicht. Es war der Adlerhorst der Freiheit und die angenehme Region, in der ich ungestört mit den Geschöpfen meiner Phantasie kommunizieren konnte. Ich schrieb damals – aber in einem sehr gewöhnlichen Stil. Es war unter den Bäumen des Grundstücks, das zu unserem Haus gehörte, oder an den kahlen Hängen der unbewaldeten Berge in der Nähe, wo meine wahren Kompositionen, die Höhenflüge meiner Phantasie, geboren und gehegt wurden. Ich machte mich selbst nicht zur Heldin meiner Erzählungen. Das Leben schien mir eine zu alltägliche Angelegenheit zu sein, was mich selbst betraf. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß romantische Leiden oder wunderbare Ereignisse je mein Los sein würden; aber ich war nicht auf meine eigene Person beschränkt, und ich konnte die Stunden mit Schöpfungen bevölkern, die mir in diesem Alter weitaus interessanter schienen als meine eigenen Empfindungen.

Danach wurde mein Leben ereignisreicher, und die Wirklichkeit trat an die Stelle der Dichtung. Mein Mann war jedoch von Anfang an sehr darauf bedacht, daß ich mich meiner Abstammung würdig erweisen und mich auf der Seite des Ruhmes einschreiben würde. Er spornte mich immer wieder dazu an, literarisches Ansehen zu erlangen, was mir zu diesem Zeitpunkt selbst wichtig war, obschon es mir inzwischen unendlich gleichgültig geworden ist. Zu dieser Zeit wünschte er, daß ich schreiben sollte, nicht so sehr aus der Vorstellung heraus, daß ich irgend etwas Bemerkenswertes hervorbringen könnte, sondern damit er selbst beurteilen könnte, inwieweit ich in der Zukunft Besseres verhieße. Dennoch tat ich nichts. Reisen und die alltäglichen Sorgen einer Familie nahmen meine Zeit in Anspruch, und das Studium in Form von Lektüre oder der Verbesserung meiner Ideen im Austausch mit seinem weitaus kultivierteren Geist war alles an literarischer Beschäftigung, was meine Aufmerksamkeit in Anspruch nahm.

Im Sommer 1816 besuchten wir die Schweiz und wurden Nachbarn Lord Byrons7. Zunächst verbrachten wir unsere Mußestunden auf dem See oder wanderten an seinen Ufern entlang; und Lord Byron, der gerade den dritten Gesang von „Childe Harold“8 schrieb, war der einzige unter uns, der seine Gedanken zu Papier brachte. Diese, wie er sie uns nach und nach enthüllte, gekleidet in alles Licht und alle Harmonie der Poesie, schienen die Herrlichkeiten des Himmels und der Erde, deren Einflüsse wir gemeinsam erlebten, als göttlich zu prägen.

Aber der Sommer erwies sich als naß und ungemütlich9, und unablässiger Regen hielt uns oft tagelang im Haus gefangen. Einige Bände mit Gespenstergeschichten, aus dem Deutschen ins Französische übersetzt10, fielen uns in die Hände. Da war die Geschichte des treulosen Liebhabers, der, als er die Braut, der er sein Gelübde gegeben hatte, umarmen wollte, sich in den Armen des bleichen Gespenstes derjenigen wiederfand, die er verlassen hatte. Da war die Geschichte des sündigen Ahnherren seines Geschlechts, dessen elendes Schicksal es war, allen jüngeren Söhnen seines unglückseligen Hauses den Kuß des Todes zu geben, gerade als sie das Mannesalter erreichten. Seine riesenhafte, schemenhafte Gestalt, gekleidet wie der Geist in Hamlet, in vollständiger Rüstung, aber mit offenem Visier11, wurde um Mitternacht in den unbeständigen Strahlen des Mondes gesehen, wie sie langsam die düstere Gasse entlangschritt. Die Gestalt verlor sich im Schatten der Burgmauern; bald aber schwang ein Tor auf, ein Schritt war zu hören, die Tür des Gemachs öffnete sich, und er schritt zur Bettstatt der blühenden Jünglinge, die in gesunden Schlaf gewiegt dalagen. Unendlicher Kummer lag auf seinem Gesicht, als er sich herabbeugte und die Stirn der Knaben küßte, die von dieser Stunde an dahinwelkten wie Blumen, deren Stiel geknickt war. Ich habe diese Geschichten seither nicht wieder zu Gesicht bekommen; aber ihre Geschehnisse sind mir so frisch im Gedächtnis, als hätte ich sie erst gestern gelesen.

„Wir wollen alle eine Gespenstergeschichte schreiben“, sagte Lord Byron; und sein Vorschlag wurde angenommen. Wir waren unserer vier. Der edle Dichter begann eine Erzählung, von welcher er ein Fragment am Ende seines Gedichts Mazeppa abdruckte. Shelley, der eher dazu neigte, Gedanken und Gefühle im Glanz prachtvoller Bilder und mit der Musik der harmonischsten Verse, die unsere Sprache zieren, Gestalt zu verleihen, begann eine, die auf den Erlebnissen seiner Jugend beruhte. Der arme Polidori12 hatte eine schreckliche Idee über eine totenschädelige Dame13, die auf jene Weise bestraft wurde, weil sie etwas durch ein Schlüsselloch erspähen wollte – was, habe ich vergessen – zweifellos etwas sehr Schockierendes und Anstößiges; aber als sie einmal in einen schlimmeren Zustand als der berüchtigte Tom von Coventry14 versetzt worden war, wußte er nicht, was er mit ihr tun sollte, und war gezwungen, sie in die Gruft der Capulets15 zu schicken, den einzigen Ort, für den sie geeignet war. Auch die gefeierten Dichter16, verdrossen über der Flachheit der Prosa, gaben die unangenehme Aufgabe rasch wieder auf.

Ich bemühte mich sehr, mir eine Geschichte auszudenken, – eine Geschichte, die denen, die uns zu dieser Aufgabe angeregt hatten, mindestens ebenbürtig sein sollte. Eine, die die geheimnisvollen Ängste unserer Natur ansprechen und fesselndes Grauen erzeugen würde – eine, die dem Leser Angst davor einflößen würde, sich umzusehen, die das Blut stocken und den Puls schneller schlagen lassen würde. Wenn ich diese Dinge nicht erzielen würde, wäre meine Gespenstergeschichte ihres Namens nicht würdig. Ich sann und grübelte – vergebens. Ich fühlte jenen völligen Mangel an Erfindungsgeist, der das größte Elend des Schriftstellers ist17, wenn das dumpfe Nichts auf unsere flehentlichen Beschwörungen antwortet. Hast du dir eine Geschichte ausgedacht?, wurde ich jeden Morgen gefragt, und jeden Morgen war ich gezwungen, mit einer demütigenden Verneinung zu antworten.

Jedes Ding muß einen Anfang haben, um es mit den Worten Sancho Pansas18 auszudrücken; und dieser Anfang muß mit etwas verbunden sein, das davor geschehen ist. Die Hindus geben der Welt einen Elefanten, um sie zu stützen, aber sie lassen den Elefanten auf einer Schildkröte stehen.19 Erfindungsgeist, das muß man demütig zugeben, besteht nicht darin, etwas aus der Leere zu schaffen, sondern aus dem Chaos; es müssen zuerst die Materialien bereitgestellt werden: sie können dunklen, formlosen Substanzen eine Form geben, aber nicht die Substanz selbst ins Leben rufen. Bei allen Entdeckungen und Erfindungen, selbst denen, die der Phantasie angehören, werden wir immer wieder an die Geschichte von Kolumbus und seinem Ei20 erinnert. Erfindungsgeist besteht in der Begabung, die Möglichkeiten eines Gegenstandes aufzugreifen und die damit verbundenen Ideen zu formen und zu gestalten.

Zahlreich und ausgedehnt waren die Unterhaltungen zwischen Lord Byron und Shelley, denen ich als eine hingebungsvolle, aber fast stumme Zuhörerin beiwohnte. Während einer dieser Unterhaltungen wurden verschiedene philosophische Lehren diskutiert, unter anderem die Natur des Lebensprinzips und die Frage, ob es je möglich sei, ihm auf den Grund zu kommen. Sie sprachen von den Experimenten des Dr. Darwin21 (ich spreche nicht von dem, was der Doktor wirklich getan oder gesagt hat, daß er es getan hat, sondern, da es meinem Zweck dienlicher ist, von dem, worüber man damals als von ihm Getanes sprach), der ein Stück Vermicelli22 in ein Glasgefäß gab, wo es durch einige außergewöhnliche Mittel begann, sich selbständig zu bewegen. Nicht, daß dadurch schließlich Leben verliehen werden würde. Vielleicht würde eine Leiche wiederbelebt werden; der Galvanismus23 hatte Zeugnisse für solche Dinge gegeben: vielleicht könnten die einzelnen Teile eines Wesens hergestellt, zusammengefügt, und ihm Lebensodem eingehaucht werden.

Der Abend verging über diesem Gespräch, und sogar die Geisterstunde war verstrichen, ehe wir uns zur Ruhe zurückzogen. Als ich mein Haupt auf mein Kissen bettete, schlief ich nicht, noch könnte man sagen, daß ich nachsann. Meine Vorstellungskraft hatte sich meiner bemächtigt, leitete mich unaufgefordert und verlieh den aufeinanderfolgenden Bildern, die in meinem Geist erschienen, eine Lebendigkeit, die weit über die üblichen Grenzen der Träumerei hinausging. Ich sah – mit geschlossenen Augen, aber mit geschärftem geistigem Blick – den blassen Adepten unheiliger Künste neben dem Ding knien, das er zusammengesetzt hatte. Ich sah das gräßliche Zerrbild eines ausgestreckt daliegenden Mannes, der dann, durch das Wirken irgendeiner mächtigen Maschine, Lebenszeichen von sich gab und sich mit ungelenker, halb lebendiger Bewegung regte. Schrecklich mußte es sein; denn höchst schrecklich wäre die Wirkung jedes menschlichen Bestrebens, den erstaunlichen Mechanismus des Schöpfers der Welt nachzuahmen. Sein Erfolg würde den Künstler in Angst und Schrecken versetzen; er würde entsetzt vor seinem abscheulichen Machwerk davonstürzen. Er würde hoffen, daß, sich selbst überlassen, der kümmerliche Lebensfunke, den er übermittelt hatte, verglimmen würde; daß jenes Ding, das eine so unvollkommene Belebung erhalten hatte, in tote Materie zurücksinken würde; und er könnte in dem Glauben einschlafen, daß die Stille des Grabes für immer die vergängliche Existenz des abscheulichen Leichnams auslöschen würde, den er als die Wiege des Lebens betrachtet hatte. Er schläft; doch er wird geweckt; er öffnet die Augen; siehe da! Das gräßliche Ding steht an seinem Bett, öffnet seine Vorhänge und sieht ihn mit gelben, wäßrigen, jedoch forschenden Augen an.

Ich öffnete die meinen voller Schrecken. Die Vorstellung hatte so sehr von meinem Geist Besitz ergriffen, daß mich ein angstvoller Schauder durchlief und ich das grausige Bild meiner Phantasie gegen die mich umgebende Wirklichkeit einzutauschen wünschte. Ich sehe es noch vor mir: jenes Zimmer, das dunkle parquet, die geschlossenen Fensterläden, durch die sich das Mondlicht hindurchkämpfte, und wie ich fühlte, daß der klare See und die weißen Hochalpen dahinterlagen. Ich konnte mein abscheuliches Phantom nicht so leicht vertreiben; noch immer verfolgte es mich. Ich mußte versuchen, an etwas anderes zu denken. Ich kehrte zu meiner Gespenstergeschichte zurück, meiner lästigen, unglückseligen Gespenstergeschichte! Oh, wenn ich nur eine erfinden könnte, die meinen Leser so erschrecken würde, wie ich selbst in jener Nacht erschreckt worden war!

So schnell wie das Licht und ebenso beglückend war der Gedanke, der mich überkam. „Ich habe sie gefunden! Was mich erschreckt hat, wird auch andere erschrecken; und ich brauche nur das Gespenst zu beschreiben, das mein mitternächtliches Kissen heimgesucht hat.“ Am nächsten Morgen verkündete ich, daß ich mir eine Geschichte ausgedacht habe. Ich begann an jenem Tag mit den Worten: „Es war in einer trüben Novembernacht“, indem ich lediglich die schaurigen Schrecken meines Wachtraums niederschrieb.

Zuerst dachte ich nur an ein paar Seiten einer kurzen Erzählung; aber Shelley drängte mich, die Idee weiter auszuarbeiten. Gewiß verdanke ich meinem Gatten keine einzige Anregung zu einer Begebenheit und kaum einer Gefühlsbeschreibung24, und doch hätte sie ohne seinen Ansporn niemals die Form angenommen, in der sie vorgelegt wurde. Von dieser Erklärung muß ich die Vorrede ausnehmen. Soweit ich mich erinnern kann, wurde diese vollständig von ihm geschrieben.

Und nun, einmal mehr, gebiete ich meinem abscheulichen Abkömmling, hinauszugehen und zu gedeihen. Ich verspüre eine Zuneigung zu ihm, denn er war der Sprößling glücklicher Tage, als Tod und Trauer bloße Worte waren, die keinen wahren Widerhall in meinem Herzen fanden. Seine vielen Seiten erzählen von manchem Spaziergang, mancher Fahrt und manchem Gespräch, bei denen ich nicht allein war; und mein Gefährte war jemand, den ich in dieser Welt nicht wiedersehen werde. Aber das betrifft nur mich; meine Leser haben mit diesen Assoziationen nichts zu tun.25

Ich will nur noch ein Wort zu den Änderungen hinzufügen, die ich vorgenommen habe. Es sind vor allem stilistische.26 Ich habe keinen Teil der Geschichte geändert und auch keine neuen Ideen oder Umstände eingeführt. Ich habe die Sprache dort verbessert, wo sie so dürftig war, daß sie die Spannung der Geschichte beeinträchtigte; und diese Änderungen befinden sich fast ausschließlich am Anfang des ersten Bandes. Im weiteren Verlauf beschränken sie sich vollständig auf die Teile, die bloße Anhängsel der Geschichte sind, und lassen den Kern und die Substanz unangetastet.

M.W.S.

London, 15. Oktober 1831.

Vorrede.

DIE Begebenheit, auf der dieser Roman beruht, ist von Dr.

Darwin und einigen deutschen Naturwissenschaftlern als eine nicht unmögliche angenommen worden. Man wird mir jedoch nicht unterstellen, daß ich einer solchen Vorstellung auch nur im Entferntesten ernsthaft Glauben schenke; dennoch habe ich mich, indem ich sie zur Grundlage eines Werkes der Phantasie machte, nicht als einen bloßen Ersinner27 einer Aneinanderreihung übernatürlicher Schrecknisse betrachtet. Die Begebenheit, der die Geschichte ihre Spannung verdankt, entbehrt der Nachteile einer bloßen Gespenster- oder Zaubergeschichte. Der Reiz der Geschichte liegt in der Neuartigkeit der Situationen, die sie entwickelt; und die, obschon physisch unmöglich, der Phantasie einen Blickwinkel auf die Darstellung der menschlichen Leidenschaften bietet, der reichhaltiger und fesselnder ist als alle, die die üblichen Erzählungen tatsächlicher Ereignisse liefern können.

Ich habe mich also bemüht, die unumstößlichen Grundprinzipien der menschlichen Natur zu bewahren, während ich keine Bedenken trug, Änderungen an ihren Zusammensetzungen vorzunehmen. Die Ilias, die tragische Dichtung Griechenlands28, Shakespeare im Sturm und im Sommernachtstraum und ganz besonders Milton im Verlorenen Paradies29 folgen dieser Regel; und der bescheidenste Romanschreiber, der aus seiner Arbeit Unterhaltung oder Vergnügen zu ziehen sucht, kann ohne Anmaßung eine Ermächtigung oder vielmehr eine Regel aus der erzählenden Prosa ableiten, deren Anwendung so viele vorzügliche Kombinationen menschlicher Gefühle in den erhabensten Werken der Poesie hervorgebracht hat.

Meine Geschichte beruht auf einem in einem zwanglosen Gespräch aufgebrachten Umstand. Sie wurde zum Teil als ein unterhaltsamer Zeitvertreib begonnen, zum Teil als ein Mittel, um unerprobte Bereiche des Geistes zu schulen. Andere Motive wurden im Laufe der Arbeit damit vermengt. Ich bin keineswegs gleichgültig gegenüber der Art und Weise, in der die moralischen Tendenzen in den darin enthaltenen Gefühlen oder Charakteren auf den Leser einwirken könnten; dennoch beschränkte sich mein Hauptanliegen in dieser Hinsicht darauf, die ermüdende Wirkung zeitgenössischer Romane zu vermeiden und die Vorzüge häuslicher Harmonie und die Vortrefflichkeit der allgemeinen Tugend aufzuzeigen. Die Ansichten, die sich natürlicherweise aus dem Charakter und den Lebensumständen des Helden ergeben, sind keineswegs so zu verstehen, als ob sie stets in meiner eigenen Überzeugung existierten; noch ist aus den folgenden Seiten mit Recht ein Schluß zu ziehen, daß sie irgendeine, gleichwie geartete, philosophische Lehre vorantreiben sollen.

Es ist auch ein Gegenstand zusätzlichen Interesses, den Autor betreffend, daß diese Geschichte in der majestätischen Landschaft begonnen wurde, in der die Handlung hauptsächlich spielt, und in einer Gesellschaft, der nachzutrauern man nicht umhin kann. Ich verbrachte den Sommer des Jahres 1816 in der Umgebung von Genf. Die Jahreszeit war kalt und regnerisch, und an den Abenden drängten wir uns um ein loderndes Kaminfeuer und amüsierten uns gelegentlich mit einigen deutschen Gespenstergeschichten, die uns zufällig in die Hände gefallen waren. Diese Geschichten erregten in uns eine spielerische Lust zur Nachahmung. Zwei andere Freunde30 (eine Geschichte aus der Feder eines von ihnen wäre der Öffentlichkeit weitaus willkommener gewesen als alles, was ich jemals zustande bringen könnte) und ich kamen überein, jeder eine Geschichte zu schreiben, die auf irgendeiner übernatürlichen Begebenheit beruht.

Das Wetter heiterte sich jedoch plötzlich auf, und meine beiden Freunde verließen mich für eine Reise durch die Alpen und verloren in der herrlichen Szenerie, die sie bieten, jede Erinnerung an ihre Gespenstervisionen. Die folgende Geschichte ist die einzige, die vollendet worden ist.

Marlow, September, 1817.

Frankenstein

oder,

Der moderne Prometheus

1. Brief.

„An Mrs. Saville, England

St. Petersburg, 11. Dezember 17**

DU wirst Dich freuen zu hören, daß kein Unglück den Anfang eines Unternehmens begleitet hat, auf das Du mit solch unheilvollen Vorahnungen hingesehen hast. Ich bin gestern hier angekommen; und meine erste Pflicht ist es, meine liebe Schwester meines Wohlergehens und meiner wachsenden Zuversicht in den Erfolg meines Vorhabens zu versichern.

Ich bin bereits weit nördlich von London; und während ich durch die Straßen von Petersburg gehe, fühle ich einen kalten Nordwind auf meinen Wangen spielen, der meine Nerven stählt und mich mit Entzücken erfüllt. Kannst Du dieses Gefühl nachempfinden? Diese Brise, die aus den Regionen kommt, auf die ich zusteuere, vermittelt mir einen Vorgeschmack auf jene eisigen Gefilde. Angefacht von diesem verheißungsvollen Wind werden meine Tagträume glühender und lebhafter. Vergeblich suche ich mich davon zu überzeugen, daß der Pol der Sitz von Frost und Ödnis ist; er stellt sich meiner Phantasie seit jeher als die Region der Schönheit und der Wonne dar. Dort, Margaret, ist die Sonne stets sichtbar; ihre große Scheibe streift gerade den Horizont und verbreitet einen immerwährenden Glanz. Dort – denn mit Deiner Erlaubnis, meine Schwester, will ich etwas Vertrauen in frühere Polfahrer setzen – dort sind Schnee und Frost verbannt; und indem wir über eine ruhige See segeln, mögen wir zu einem Land getragen werden, das jede bisher entdeckte Region auf dem bewohnbaren Erdkreis an Wundern und Schönheit übertrifft.31 Seine Erzeugnisse und Eigenschaften könnten beispiellos sein, wie es die Phänomene der Himmelskörper in diesen unentdeckten Einöden zweifellos sind. Was mag man nicht alles erwarten in einem Land des ewigen Lichts? Vielleicht entdecke ich dort die wundersame Kraft, die die Nadel32 anzieht, und kann tausend himmlische Beobachtungen anstellen, die nur dieser Reise bedürfen, um ihre scheinbaren Absonderlichkeiten auf ewig stimmig zu machen. Ich werde meinen brennenden Wissensdurst mit dem Anblick eines bisher unbesuchten Teils der Welt stillen, und womöglich ein Land betreten, auf dem noch kein menschlicher Fuß seinen Abdruck hinterließ. Dies sind meine Verlockungen, und sie reichen aus, um alle Furcht vor der Gefahr oder dem Tod zu überwinden und mich zu veranlassen, diese mühselige Reise mit jener Freude anzutreten, die ein Kind empfindet, wenn es in einem kleinen Boot mit seinen Feriengespielen zu einer Entdeckungsreise auf seinem heimatlichen Strom aufbricht. Doch selbst angenommen, all diese Vermutungen erwiesen sich als falsch, so bliebe doch der unschätzbare Dienst bestehen, den ich allen künftigen Generationen der Menschheit erweisen werde, indem ich nahe dem Pole eine Passage zu jenen Ländern entdecke, für deren Erreichen gegenwärtig so viele Monate erforderlich sind; oder indem ich das Geheimnis des Magneten ergründe, was, wo überhaupt möglich, nur durch ein Unternehmen wie das meine erreicht werden kann.

Diese Überlegungen haben die Unruhe zerstreut, mit der ich meinen Brief begann, und ich fühle, wie mein Herz mit einer Begeisterung glüht, die mich in den Himmel erhebt; denn nichts trägt so sehr zur Beruhigung des Geistes bei wie ein festes Ziel, – ein Punkt, auf den die Seele ihr geistiges Auge richten kann. Diese Expedition ist der Lieblingstraum meiner frühen Jugendjahre gewesen. Ich habe mit Feuereifer die Berichte über die verschiedenen Reisen gelesen, die in der Aussicht unternommen wurden, durch die Meere, die den Pol umgeben, den Nordpazifik zu erreichen. Du erinnerst Dich vielleicht, daß eine Geschichte all jener Reisen, die das Entdecken zum Ziel hatten, die gesamte Bibliothek unseres guten Onkels Thomas ausmachte.33 Meine Erziehung wurde vernachlässigt, doch ich las leidenschaftlich gern. Diese Bände bildeten Tag und Nacht meine Lektüre, und meine Vertrautheit mit ihnen verstärkte jenes Bedauern, das ich als Kind empfunden hatte, als ich erfuhr, daß die letzte Verfügung meines Vaters meinem Onkel verboten hatte, mir ein Leben als Seefahrer zu erlauben.

Diese Luftschlösser verblaßten, als ich zum ersten Mal jene Dichter wahrnahm, deren Ergüsse meine Seele verzückten und sie in den Himmel erhoben. Ich wurde auch ein Dichter und lebte ein Jahr lang in einem Paradies meiner eigenen Schöpfung; ich stellte mir vor, daß auch ich eine Nische in dem Tempel erhalten könnte, in welchem die Namen von Homer und Shakespeare verehrt werden. Du weißt nur zu gut von meinem Scheitern und wie schwer ich unter der Enttäuschung gelitten habe. Aber gerade zu dieser Zeit erbte ich das Vermögen meines Vetters, und meine Gedanken wurden in die Bahn ihrer früheren Neigung gelenkt.

Sechs Jahre sind vergangen, seit ich mich zu meinem gegenwärtigen Unternehmen entschlossen habe. Ich kann mich noch heute an die Stunde erinnern, von der an ich mich diesem großen Vorhaben widmete. Ich begann damit, meinen Körper zu stählen. Ich begleitete die Walfänger auf mehreren Expeditionen ins Nordmeer; ich ertrug aus freien Stücken Kälte, Hunger, Durst und Schlafmangel; ich arbeitete tagsüber oft härter als die gewöhnlichen Matrosen und widmete meine Nächte dem Studium der Mathematik, der Theorie der Medizin und jener Zweige der Naturwissenschaft, aus denen ein seefahrender Abenteurer den größten praktischen Nutzen ziehen mochte. Zweimal heuerte ich tatsächlich als Bootsmann auf einem nach Grönland gehenden Walfänger an und machte mich erstaunlich gut. Ich muß gestehen, daß ich ein wenig stolz war, als mein Kapitän mir den zweiten Rang an Bord anbot und mich mit dem größten Ernst bat, zu bleiben; so wertvoll schätzte er meine Dienste ein.

Und, liebe Margaret, verdiene ich denn nicht auch, etwas Großes zu erreichen? Mein Leben hätte in Leichtigkeit und Luxus verlaufen können; aber ich zog den Ruhm jeder Verlockung vor, die der Reichtum mir in den Weg legte. Oh, wenn doch eine ermutigende Stimme mir bestätigend Antwort geben würde! Mein Mut ist groß und meine Entschlossenheit ungebrochen; aber meine Hoffnungen schwanken, und meine Stimmung ist oft niedergeschlagen. Ich bin im Begriff, eine lange und beschwerliche Reise anzutreten, deren Widrigkeiten all meine Seelenstärke fordern werden: Ich muß nicht nur andere aufmuntern, sondern auch zuweilen meinen eigenen Mut aufrechterhalten, wenn der ihre versagt.

Gegenwärtig haben wir die für das Reisen in Rußland vorteilhafteste Jahreszeit. In ihren Schlitten fliegt man schnell über den Schnee; die Bewegung ist wohltuend und meiner Meinung nach weit angenehmer als die einer englischen Postkutsche. Die Kälte ist nicht übermäßig, wenn man in Pelze gehüllt ist – eine Bekleidung, die ich bereits angenommen habe; denn es ist ein großer Unterschied zwischen dem Gehen an Deck und dem stundenlangen unbeweglichen Sitzen, wenn keine Bewegung verhindert, daß einem das Blut beinahe in den Adern gefriert. Ich beabsichtige nicht, mein Leben auf der Poststraße zwischen St. Petersburg und Archangelsk zu verlieren.

Ich werde in vierzehn Tagen oder drei Wochen in Richtung der letztgenannten Stadt abreisen; und meine Absicht ist, dort ein Schiff zu mieten, was leicht zu bewerkstelligen ist, indem ich dem Eigentümer eine Bürgschaft bezahle, und so viele unter den Matrosen anzuheuern, die im Walfang erfahren sind, wie ich für notwendig erachte. Ich beabsichtige nicht, vor Juni in See zu stechen: und wann werde ich zurückkehren? Ach, liebe Schwester, wie kann ich diese Frage beantworten? Wenn ich Erfolg habe, werden viele, viele Monate, vielleicht Jahre vergehen, ehe wir beide uns wiederbegegnen werden. Wenn ich versage, wirst Du mich bald wiedersehen, oder niemals wieder.

Lebe wohl, meine teure, vorzügliche Margaret. Der Himmel möge Dich mit seinen Segnungen überschütten und mein Leben bewahren, damit ich Dir immer wieder meine Dankbarkeit für all Deine Liebe und Güte bekunden kann.

Dein Dich liebender Bruder,

R. WALTON“

2. Brief.

„An Mrs. Saville, England

Archangelsk, 28. März 17**

WIE langsam doch die Zeit vergeht, hier, wo ich von Frost und Schnee eingeschlossen bin! Dennoch ist ein zweiter Schritt zu meinem Unternehmen getan. Ich habe ein Schiff gemietet und bin damit beschäftigt, meine Mannschaft zusammenzustellen; diejenigen Matrosen, die ich bereits angeworben habe, scheinen Männer zu sein, auf die ich mich verlassen kann, und sind die zweifellos von unerschrockenen Mut erfüllt.

Aber ich habe einen Mangel, den ich noch nie zu befriedigen vermochte; und das Fehlen dieses Gegenstandes ist es, das ich jetzt als ein schweres Übel empfinde. Ich habe keinen Freund, Margaret: wenn ich in der Begeisterung des Erfolges glühe, wird es niemanden geben, der an meiner Freude teilhat; wenn ich von Enttäuschung heimgesucht werde, wird sich niemand bemühen, mich aus meiner Niedergeschlagenheit aufzurichten. Zwar werde ich meine Gedanken dem Papier anvertrauen, aber das ist ein dürftiges Mittel für die Mitteilung von Gefühlen. Ich sehne mich nach der Gesellschaft eines Mannes, der mit mir mitfühlen könnte, der meinen Blick erwidern würde. Du magst mich einen Schwärmer schelten, liebe Schwester, doch ich empfinde das Fehlen eines Freundes als einen bitteren Mangel. Ich habe niemanden in meiner Nähe, der zartfühlend und doch beherzt ist, der einen kultivierten und aufnahmefähigen Verstand besitzt und dessen Geschmack dem meinen gleicht, um meine Pläne zu billigen oder zu verbessern. Wie sehr würde ein solcher Freund die Fehler Deines armen Bruders mildern! Ich bin zu hitzig in der Ausführung und zu ungeduldig bei Schwierigkeiten. Aber ein noch größeres Übel ist für mich, daß ich mir meine Bildung selbst angeeignet habe: die ersten vierzehn Jahre meines Lebens lief ich wild in meiner Heimatgegend umher und las nichts als die Reisebücher unseres Onkels Thomas. In jenem Alter lernte ich die berühmten Dichter unseres Landes kennen; aber erst als es nicht mehr in meiner Macht stand, den größtmöglichen Nutzen aus einem solchen Wissen zu ziehen, erkannte ich die Notwendigkeit, mir mehr Sprachen als die meines Heimatlandes anzueignen. Nun bin ich achtundzwanzig und in Wahrheit ungebildeter als mancher Schuljunge von fünfzehn Jahren. Zwar habe ich mehr nachgedacht, und meine Tagträume sind umfassender und farbenfroher; aber es fehlt ihnen (wie die Maler es nennen) an Ausgewogenheit; und ich bedarf dringend eines Freundes, der einfühlsam genug wäre, mich nicht als einen Schwärmer abzutun, und genug Zuneigung für mich empfände, um sich zu bemühen, meinen Geist zu lenken.

Nun, dies sind eitle Klagen; gewiß werde ich keinen Freund auf dem weiten Ozean finden, noch nicht einmal hier in Archangelsk, unter Kaufleuten und Seemännern. Doch einige Gefühle, die nicht mit dem Unrat der menschlichen Natur verbunden sind, schlagen selbst in diesen rauhen Busen. Mein Erster Offizier zum Beispiel ist ein Mann von wunderbarem Mut und Unternehmungsgeist; er ist schrecklich begierig nach Ruhm: oder vielmehr, um es zutreffender zu formulieren, nach einem Aufstieg in seinem Beruf. Er ist ein Engländer, und ungeachtet aller nationalen und beruflichen Vorurteile, die durch Kultivierung nicht gemildert wurden, bewahrt er einige der edelsten Tugenden der Menschheit. Ich machte seine Bekanntschaft an Bord eines Walfängers: als ich herausfand, daß er in dieser Stadt ohne Anstellung war, stellte ich ihn kurzerhand ein, damit er mir bei meinem Unternehmen helfen könnte.

Der Kapitän ist eine Person mit vorzüglichen Anlagen und zeichnet sich auf dem Schiff durch seine Sanftmut und die Milde seiner Disziplin aus. Dieser Umstand, verbunden mit seiner allseits bekannten Rechtschaffenheit und seinem unerschrockenen Mut, brachten mich zu dem Entschluß, ihn in meine Dienste zu nehmen. Eine in Einsamkeit verbrachte Jugend, von denen ich meine besten Jahre unter Deiner sanften, weiblichen Fürsorge verbrachte, haben die Grundlagen meines Charakters derart verfeinert, daß ich eine äußerste Abneigung gegen die übliche Rohheit an Bord eines Schiffes nicht überwinden kann: Ich habe sie nie für nötig gehalten; und als ich von einem Seemann hörte, der für seine Herzensgüte wie für den Respekt und Gehorsam, den ihm seine Mannschaft entgegenbringt, gleichermaßen bekannt war, schätzte ich mich besonders glücklich, mich seiner Dienste versichern zu können. Ich hörte zum ersten Mal auf eine eher romantische Weise von ihm, und zwar von einer Dame, die ihm das Glück ihres Lebens verdankt.34 Dies ist, in Kürze, seine Geschichte. Vor einigen Jahren liebte er eine junge russische Dame von bescheidenem Vermögen; und nachdem er Prisengelder35 in beträchtlicher Höhe angehäuft hatte, willigte der Vater des Mädchens in die Verbindung ein.

Er sah seine Angebetete einmal vor der vorgesehenen Zeremonie; aber sie war in Tränen gebadet und warf sich ihm zu Füßen, flehte ihn an, sie zu verschonen, und gestand zugleich, daß sie einen anderen liebte, der jedoch arm war, und daß ihr Vater der Verbindung niemals zustimmen würde. Mein großmütiger Freund beruhigte die Flehende, und als er den Namen ihres Liebhabers erfuhr, gab er sofort sein Vorhaben auf. Er hatte bereits ein Gut von seinem Geld gekauft, auf dem er den Rest seines Lebens verbringen wollte; aber er schenkte das Ganze seinem Rivalen, zusammen mit dem Rest seiner Prisengelder, um Vieh zu kaufen, und setzte sich dann bei dem Vater der jungen Frau persönlich dafür ein, daß dieser in die Heirat mit ihrem Geliebten einwilligen sollte. Aber der alte Mann weigerte sich entschieden, da er sich meinem Freund gegenüber in der Ehre verpflichtet fühlte. Als er den Vater unerbittlich fand, verließ er daher sein Land und kehrte nicht eher zurück, als bis er hörte, daß seine frühere Angebetete nach ihren Neigungen verheiratet war. „Was für ein edelmütiger Bursche!“ wirst Du ausrufen. Das ist er auch; aber andererseits ist er völlig ungebildet: er ist so schweigsam wie ein Türke36, und eine Art von nachlässigem Leichtsinn begleitet ihn, was, obschon es sein Betragen noch erstaunlicher macht, das Interesse und die Zuneigung schmälert, die ihm sonst zuteil werden würden.37

Doch glaube nicht, weil ich ein wenig klage, oder weil ich mir einen Trost für meine Mühen ausmalen kann, den ich vielleicht nie erfahren werde, daß ich in meinen Entschlüssen schwankend bin. Diese sind so unveränderlich wie das Schicksal; und meine Reise wird jetzt nur verzögert, bis das Wetter meinem Auslaufen nicht mehr im Wege steht. Der Winter war schrecklich streng; aber der Frühling verheißt Gutes, und man glaubt, daß die warme Jahreszeit bemerkenswert früh beginnen wird, so daß ich vielleicht eher als erwartet in See stechen kann. Ich werde nichts überstürzen; Du kennst mich gut genug, um auf meine Umsicht und Besonnenheit zu vertrauen, wenn die Sicherheit anderer meiner Obhut anvertraut ist.

Ich kann Dir meine Empfindungen angesichts meines bevorstehenden Unternehmens nicht beschreiben. Es ist unmöglich, Dir eine Vorstellung von dem nervösen, halb freudigen und halb ängstlichen Gefühl zu vermitteln, mit dem ich die Vorbereitungen zur Abreise treffe. Ich breche zu unerforschten Gegenden auf, zur „Heimat von Nebel und Schnee“38; aber ich werde keinen Albatros töten, also sei unbesorgt um meine Sicherheit, oder sollte ich etwa, wenn ich zu Dir zurückkommen sollte, so ermattet und gramgebeugt sein wie der „Alte Seemann“39? Du wirst über meine Anspielung lächeln, aber ich will Dir ein Geheimnis verraten: Ich habe meine Anhänglichkeit, meine leidenschaftliche Begeisterung für die gefährlichen Geheimnisse des Ozeans oft auf dieses Werk des phantasievollsten aller modernen Dichter zurückgeführt.40 Da ist etwas in meiner Seele am Werk, das ich nicht verstehe. Ich bin im Grunde arbeitsam – gewissenhaft – ein ausdauernder und bemühter Arbeiter; daneben aber ist da eine Liebe für das Wunderbare, ein Glauben an das Wunderbare, der in alle meine Projekte verwoben ist, der mich aus den ausgetretenen Pfaden der Menschen herausdrängt, bis zum rauhen Meer und den unbesuchten Regionen hin, die zu erforschen ich beabsichtige.

Doch zurück zu erfreulicheren Überlegungen.41 Werde ich Dich wiedersehen, nachdem ich unermeßliche Meere durchquert habe und über das südlichste Kap von Afrika oder Amerika42 zurückgekehrt bin? Ich wage es nicht, einen solchen Erfolg zu erwarten, doch zu gleicher Zeit kann ich es nicht ertragen, die Kehrseite der Medaille zu betrachten. Schreibe mir jedenfalls so oft es Dir möglich ist: Vielleicht erhalte ich Deine Briefe bei einigen Gelegenheiten, wenn ich ihrer am notwendigsten bedarf, um mich aufzumuntern. Ich habe Dich herzlich lieb. Gedenke meiner mit Zuneigung, solltest du nie wieder von mir hören.

Dein Dich liebender Bruder,

ROBERT WALTON“

3. Brief.

„An Mrs. Saville, England

7. Juli 17**

MEINE liebe Schwester,

Ich schreibe Dir in aller Eile ein paar Zeilen, um Dich wissen zu lassen, daß ich wohlauf bin und auf meiner Reise gut vorankomme. Dieser Brief wird England durch ein Handelsschiff erreichen, das sich jetzt auf der Heimreise von Archangelsk befindet; glückreicher als ich, der ich mein Heimatland vielleicht viele Jahre nicht sehen werde. Ich bin jedoch guter Dinge: meine Männer sind kühn und anscheinend fest entschlossen; auch scheinen die schwimmenden Eisschollen, die unaufhörlich an uns vorüberziehen und die Gefahren der Region anzeigen, auf die wir zusteuern, sie nicht zu beirren. Wir haben bereits einen sehr hohen Breitengrad erreicht; aber der Sommer ist auf dem Höhepunkt, und wenn es auch nicht so warm ist wie in England, spenden die Südwinde, die uns schnell jenen Gestaden näherbringen, die ich so sehnlichst zu erreichen wünsche, ein Maß an belebender Wärme, das ich nicht erwartet hätte.

Bislang ist uns nichts widerfahren, was in einem Brief Erwähnung finden müßte. Ein oder zwei steife Brisen und das Auftreten eines Lecks sind Mißgeschicke, die erfahrene Seefahrer kaum der Erwähnung wert finden; und ich will es zufrieden sein, wenn uns während unserer Reise nichts Schlimmeres zustößt.

Adieu, meine liebe Margaret. Sei versichert, daß ich mich um meinet- wie um Deinetwillen nicht unbedacht der Gefahr aussetzen werde. Ich werde kühlen Blutes, beharrlich und besonnen sein.

Aber meine Bemühungen müssen von Erfolg gekrönt sein. Warum auch nicht? Bis hierher bin ich gegangen und habe mir einen sicheren Weg über die unwegsamen Meere gebahnt; selbst die Sterne sind Zeugen und Zeugnisse meines Triumphes. Warum nicht noch weiter über das ungezähmte, doch willige Element gehen? Was könnte dem entschlossenen Herzen und dem standhaften Willen des Menschen widerstehen?

Mein Herz ist zu voll, als daß es nicht überlaufen sollte. Aber ich muß schließen. Der Himmel segne meine geliebte Schwester!43

R. W.“

4. Brief.

„An Mrs. Saville, England

5. August 17**

ES hat sich ein so merkwürdiger Zwischenfall ereignet, daß ich nicht umhin kann, davon zu berichten, obschon es sehr wahrscheinlich ist, daß Du mich sehen wirst, ehe diese Aufzeichnungen in Deinen Besitz gelangen.

Am letzten Montag (31. Juli) waren wir beinahe gänzlich von Eis umgeben, das das Schiff auf allen Seiten einschloß und ihm gerade den Raum im Wasser übrig ließ, in dem es schwamm. Unsere Lage war einigermaßen gefährlich, zumal wir von einem sehr dichten Nebel umgeben waren. Wir drehten also bei und hofften, daß sich die Witterung ändern und die Luft aufklaren würde.

Gegen zwei Uhr lichtete sich der Nebel, und wir erblickten in alle Richtungen ausgedehnte, unregelmäßige Eisflächen, die kein Ende zu haben schienen. Einige meiner Gefährten stöhnten, und auch mich beschlichen ängstliche Gedanken, als plötzlich ein seltsamer Anblick unsere Aufmerksamkeit auf sich zog und unsere Besorgnis von unserer eigenen Lage ablenkte. Wir sahen ein niedriges Gefährt, das auf Schlittenkufen befestigt war und von Hunden gezogen wurde, in einer Entfernung von einer halben Meile in Richtung Norden vorbeifahren: ein Wesen, das die Gestalt eines Menschen hatte, aber offenbar von riesenhafter Statur war, saß auf dem Schlitten und lenkte die Hunde. Mit unseren Fernrohren beobachteten wir die rasche Fahrt des Reisenden, bis er sich in den fernen Unebenheiten des Eises verlor.

Dieser Anblick erregte unsere grenzenlose Verwunderung. Wir waren, wie wir glaubten, viele hundert Meilen von jedem Land entfernt; aber diese Erscheinung schien darauf hinzudeuten, daß es in Wirklichkeit nicht so weit entfernt war, wie wir angenommen hatten. Da wir vom Eis eingeschlossen waren, war es uns jedoch unmöglich, seiner Spur zu folgen, die wir mit der größten Aufmerksamkeit beobachtet hatten.

Ungefähr zwei Stunden nach dieser Begebenheit hörten wir die Grundsee44; und noch vor Einbruch der Nacht brach das Eis und gab unser Schiff frei. Wir blieben jedoch bis zum Morgen vor Anker, da wir befürchteten, in der Dunkelheit gegen die großen losen Massen zu stoßen, die nach dem Aufbrechen des Eises auf dem Wasser umhertrieben. Ich nutzte diese Zeit, um mich für einige Stunden auszuruhen.

Am Morgen jedoch, sobald es hell war, ging ich an Deck und fand die ganze Mannschaft auf einer Seite des Schiffes beschäftigt, anscheinend im Gespräch mit jemandem auf dem Meer. Es war in der Tat ein Schlitten, ähnlich dem, den wir zuvor gesehen hatten, der in der Nacht auf einer großen Eisscholle zu uns herangetrieben war. Nur ein Hund war noch am Leben; doch es befand sich ein menschliches Wesen darin, das die Matrosen aufforderten, an Bord zu kommen. Er war nicht, wie der andere Reisende zu sein schien, ein wilder Bewohner einer unentdeckten Insel, sondern ein Europäer. Als ich an Deck erschien, sagte der Kapitän: „Hier ist unser Schiffsherr, und er wird nicht zulassen, daß Sie auf offener See umkommen.“

Als der Fremde mich wahrnahm, sprach er mich auf Englisch, wenn auch mit einem fremdländischen Akzent, an. „Ehe ich an Bord Ihres Schiffes komme“, sagte er, „würden Sie die Güte haben, mir mitzuteilen, wohin Sie zu fahren gedenken?“

Du kannst Dir mein Erstaunen vorstellen, als ich eine solche Frage von einem Mann hörte, der am Rande des Untergangs stand und von dem man hätte annehmen sollen, daß mein Schiff ein Zufluchtsort gewesen wäre, den er nicht gegen alle Reichtümer der Erde hätte eintauschen wollen. Ich erwiderte jedoch, daß wir uns auf einer Entdeckungsfahrt nach dem Nordpol befänden.

Dies zu hören schien ihn zufriedenzustellen, und er willigte ein, an Bord zu kommen. Großer Gott! Margaret, wenn du den Mann gesehen hättest, der sich auf eine solche Weise zugunsten der Sicherheit ergab, wäre dein Erstaunen grenzenlos gewesen. Seine Glieder waren nahezu erstarrt, und sein Leib war von Erschöpfung und Entbehrung furchtbar ausgezehrt. Nie habe ich einen Menschen in einem so jammervollen Zustand gesehen. Wir versuchten, ihn in die Kabine zu tragen; aber sobald er die frische Luft verlassen hatte, verlor er die Besinnung. Wir brachten ihn daraufhin zurück an Deck und belebten ihn wieder, indem wir ihn mit Branntwein einrieben und ihn zwangen, eine kleine Menge zu schlucken. Sobald er Lebenszeichen von sich gab, hüllten wir ihn in Decken und legten ihn neben dem Schornstein des Küchenherdes nieder. Nach und nach erholte er sich und aß ein wenig Suppe, die ihn wunderbar wiederherstellte.

Zwei Tage vergingen auf diese Weise, ehe er in der Lage war zu sprechen; und ich fürchtete oft, daß seine Entbehrungen ihm um den Verstand gebracht hätten. Als er sich einigermaßen erholt hatte, ließ ich ihn in meine eigene Kabine bringen und pflegte ihn selbst, soweit es sich mit meinen Pflichten vereinbaren ließ. Nie habe ich einen interessanteren Menschen kennengelernt: in seinen Augen liegt meist ein Ausdruck von Wildheit und sogar Wahnsinn; aber es gibt Augenblicke, in denen, wenn jemand eine freundliche Geste ihm gegenüber vollbringt oder ihm den kleinsten Dienst erweist, sein ganzes Antlitz gleichsam mit einem Strahl von Liebenswürdigkeit und Güte erleuchtet wird, wie ich es nie zuvor gesehen habe. Aber im allgemeinen ist er niedergedrückt und verzweifelt; und zuweilen knirscht er mit den Zähnen, als ob er über die Last des Leids, die ihn bedrückt, ungehalten wäre.

Als mein Gast ein wenig genesen war, hatte ich große Mühe, die Männer fernzuhalten, die ihn mit tausenderlei Fragen bestürmen wollten; aber ich mochte nicht zulassen, daß er, in einem Zustand von Körper und Geist, dessen Wiederherstellung offensichtlich nur durch die ungestörteste Ruhe bewirkt werden konnte, von ihrer müßigen Neugier gequält wurde. Einmal jedoch fragte der Erste Offizier, warum er sich in einem so merkwürdigen Gefährt so weit auf das Eis hinausgewagt habe?

Ein Schatten tiefster Betrübnis huschte über sein Gesicht, und er antwortete: „Um jemanden zu suchen, der vor mir geflohen ist.“

„Und reiste der Mann, den Sie verfolgten, auf dieselbe Art und Weise?“

„Ja.“

„Dann schätze ich, daß wir ihn gesehen haben; denn am Tag, bevor wir Sie aufgriffen, sahen wir einige Hunde, die einen Schlitten mit einem Mann darin über das Eis zogen.“

Das erregte die Aufmerksamkeit des Fremden, und er stellte eine Vielzahl von Fragen über die Richtung, die der Dämon, wie er ihn nannte, eingeschlagen habe. Bald darauf, als er mit mir allein war, sagte er: „Ich habe zweifellos Ihre Neugierde erregt, ebenso wie die jener guten Leute; aber Sie sind zu rücksichtsvoll, um in mich zu dringen.“

„Gewiß; es wäre in der Tat sehr unverschämt und unmenschlich von mir, Sie mit irgendwelchen Fragen zu belästigen.“

„Und doch haben Sie mich aus einer ungewöhnlichen und gefahrvollen Lage gerettet; Sie haben mich in Ihrer Güte ins Leben zurückgeholt.“

Bald darauf erkundigte er sich, ob ich glaube, daß das Aufbrechen des Eises den anderen Schlitten zerstört habe? Ich erwiderte, daß ich das nicht mit Gewißheit beantworten könne, denn das Eis sei erst gegen Mitternacht gebrochen, und der Reisende könne schon vorher an einem sicheren Ort angekommen sein; aber darüber könne ich nicht urteilen.

Von dieser Zeit an belebte ein neuer Lebenswille den entkräfteten Körper des Fremden. Er entwickelte den größten Eifer, an Deck zu sein, um nach dem Schlitten Ausschau zu halten, der zuvor aufgetaucht war; doch ich habe ihn dazu überredet, in der Kajüte zu bleiben, denn er ist viel zu schwach, um die rauhe Witterung zu ertragen. Ich habe ihm versprochen, daß jemand für ihn Ausschau halten und daß er sofort benachrichtigt werden würde, sobald irgendein neuer Gegenstand in Sicht kommen sollte.

Soweit mein Bericht über das, was sich bis zum heutigen Tage bezüglich dieser seltsamen Begebenheit ereignet hat. Der Gesundheitszustand des Fremden hat sich allmählich gebessert, aber er ist sehr schweigsam und scheint beunruhigt zu sein, wenn irgend jemand außer mir seine Kabine betritt. Dennoch sind seine Manieren so einnehmend und sanft, daß die Matrosen ihm alle zugetan sind, obwohl sie nur sehr wenig mit ihm zu tun haben. Ich für meinen Teil beginne, ihn wie einen Bruder zu lieben; und sein steter, tiefer Kummer erfüllt mich mit Sympathie und Mitgefühl. Er muß in seinen besseren Tagen ein prächtiger Mensch gewesen sein, da er selbst jetzt in seinem verfallenen Zustand noch so anziehend und liebenswert ist.

Ich sagte in einem meiner Briefe, meine liebe Margaret, daß ich auf dem weiten Ozean keinen Freund finden würde; und doch habe ich einen Mann gefunden, den ich, ehe sein Lebensmut durch das Elend gebrochen wurde, gerne als Herzensbruder besessen hätte.

Ich werde meine Notizen über den Fremden von Zeit zu Zeit fortsetzen, wenn ich neue Begebenheiten zu berichten habe.“

„13. August 17**

MEINE Zuneigung zu meinem Gast nimmt mit jedem Tag zu. Er erregt in einem erstaunlichen Maße meine Bewunderung und mein Mitleid zugleich. Wie kann ich ein so edles Geschöpf durch Gram zerstört sehen, ohne den schneidensten Kummer zu fühlen? Er ist so sanftmütig, und dabei so weise; sein Geist ist so kultiviert; und wenn er spricht, fließen seine Worte, obschon sie mit der erlesensten Kunst ausgewählt werden, doch rasch und mit unvergleichlicher Beredsamkeit.

Er hat sich inzwischen recht gut von seiner Krankheit erholt und hält sich unausgesetzt an Deck auf, offenbar um nach dem Schlitten Ausschau zu halten, der seinem eigenen vorausging. Doch obwohl er unglücklich ist, ist er nicht so sehr in seinem eigenen Elend versunken, daß er sich nicht für die Vorhaben anderer interessierte. Er hat sich oft mit mir über die meinigen unterhalten, die ich ihm rückhaltlos dargelegt habe. Er ging aufmerksam auf alle meine Argumente ein, die für meinen letztendlichen Erfolg sprachen, und auf jedes kleinste Detail der Maßnahmen, die ich ergriffen hatte, um ihn zu sichern. Die Anteilnahme, die er bekundete, verleitete mich leicht dazu, die Sprache meines Herzens zu gebrauchen, der brennenden Glut meiner Seele Ausdruck zu verleihen und mit aller Leidenschaft, die mich entflammte, zu äußern, wie gerne ich mein Vermögen, meine Existenz, meine ganze Hoffnung der Förderung meines Unternehmens opfern würde. Das Leben oder der Tod eines Mannes wäre nur ein kleiner Preis für die Erlangung des Wissens, das ich suchte; für die Herrschaft, die ich über die unserer Rasse feindlich gesonnenen Elemente erringen und an die Nachwelt übertragen wolle. Während ich sprach, breitete sich ein düsterer Schein über das Antlitz meines Zuhörers aus. Ich bemerkte, daß er anfänglich versuchte, seine Bewegung zu meistern; er legte seine Hände vor die Augen; und meine Stimme schwankte und versagte mir, als ich sah, wie Tränen zwischen seinen Fingern hindurch rannen, – ein Stöhnen brach aus seiner bebenden Brust hervor. Ich hielt inne; – und endlich sprach er mit gebrochener Stimme: „Unseliger! Teilen Sie meinen Wahnwitz? Haben auch Sie von dem berauschenden Trank gekostet? Hören Sie mich an, – lassen Sie mich meine Geschichte offenbaren, und Sie werden den Kelch von Ihren Lippen stoßen!“

Du kannst Dir denken, daß diese Worte sehr dazu angetan waren, meine Neugier zu erregen; aber der krampfhafte Kummer, der den Fremden ergriffen hatte, überwand seine geschwächten Kräfte, und es bedurfte vieler Stunden der Ruhe und des ruhigen Gesprächs, um seine Fassung wiederherzustellen.

Nachdem er die Gewalt seiner Gefühle besiegt hatte, schien er sich selbst dafür zu verachten, daß er Sklave seiner Leidenschaft45 gewesen war; und indem er die dunkle Tyrannei der Verzweiflung unterdrückte, lenkte er das Gespräch wieder auf meine Person. Er fragte mich nach meiner Jugend. Die Geschichte war schnell erzählt: aber sie erweckte verschiedene Erinnerungen. Ich sprach von meinem sehnlichen Wunsch, einen Freund zu finden, von meinem Durst nach einer innigeren Vertrautheit mit einer gleichgestimmten Seele, als sie mir jemals zuteil geworden war, und verlieh meiner Überzeugung Ausdruck, daß ein Mensch, der nicht in den Genuß dieses Segens kam, sich wenig glückreich rühmen konnte.46

„Ich stimme Ihnen zu“, erwiderte der Fremde; „wir sind unvollkommene Geschöpfe, nur eine Hälfte eines Ganzen, wenn nicht einer, der weiser, besser, wertvoller ist als wir selbst – ein solcher Freund sollte es sein –, uns hilft, unsere schwachen und fehlerhaften Naturen zu vervollkommnen.47 Ich hatte einst einen Freund, den edelsten aller Menschen, und bin daher befähigt, über Freundschaft zu urteilen. Sie sind noch voller Hoffnung und haben die Welt vor sich und deshalb keinen Grund zu verzweifeln. Aber ich – ich habe alles verloren und kann das Leben nicht von Neuem beginnen.“

Als er dies sagte, drückte seine Miene einen stillen, ergebenen Kummer aus, der mein Herz berührte. Aber er schwieg und zog sich bald in seine Kabine zurück.

Obschon er im Geiste gebrochen ist, kann niemand die Schönheiten der Natur tiefer empfinden als er. Der sternenbesäte Himmel, das Meer und jeder Anblick, den diese erstaunlichen Gegenden bieten, scheinen noch immer die Macht zu haben, seine Seele von der Erde zu erheben. Ein solcher Mann verfügt über eine doppelte Existenz: er mag Elend erleiden und von Enttäuschungen überwältigt werden; doch wenn er sich in sich selbst zurückgezogen hat, wird er wie ein himmlischer Geist sein, den ein Glorienschein umgibt, in dessen Kreis sich weder Kummer noch Torheit wagen.

Wirst du über die Begeisterung lächeln, mit der ich über diesen himmlischen Wanderer spreche? Das würdest Du nicht, wenn Du ihn sehen würdest. Du bist durch Bücher und Zurückgezogenheit von der Welt geschult und verfeinert worden und daher gewissermaßen anspruchsvoll; aber das macht Dich nur um so geeigneter, die außerordentlichen Verdienste dieses großartigen Mannes zu schätzen. Zuweilen habe ich mich bemüht, herauszufinden, welche seiner Eigenschaften es ist, die ihn so unermeßlich hoch über jeden anderen Menschen erhebt, den ich je kannte. Ich glaube, es ist ein natürlicher Scharfsinn; eine rasche, aber nie fehlende Urteilskraft; ein Eindringen in die Ursachen der Dinge, die an Klarheit und Bestimmtheit unerreichbar ist; zu diesem füge noch eine Gewandtheit im Ausdruck hinzu und eine Stimme, deren vielfältige Modulationen eine die Seele fesselnde Musik sind.“48

„19. August 17**

GESTERN sagte der Fremde zu mir: „Sie können leicht erkennen, Kapitän Walton, daß mir unvergleichlich großes Unglück widerfahren ist. Ich hatte schon beschlossen, daß die Erinnerung an diese Übel mit mir sterben sollte; aber Sie haben mich dazu bewegt, meinen Entschluß zu ändern. Sie streben nach Wissen und Weisheit, wie ich es einst tat; und ich hoffe inständig, daß die Befriedigung Ihrer Wünsche nicht wie bei mir eine Schlange sein möge, die Sie sticht. Ich weiß nicht, ob die Schilderung meiner Unglücke Ihnen nützlich sein wird; doch wenn ich bedenke, daß Sie denselben Weg verfolgen und sich denselben Gefahren aussetzen, die mich zu dem gemacht haben, was ich bin, stelle ich mir vor, daß Sie aus meiner Geschichte eine passende Moral ableiten können; eine, die Sie leiten kann, wenn Sie in Ihrem Vorhaben erfolgreich sind, und die Sie trösten kann, wenn Sie scheitern. Machen Sie sich darauf gefaßt, von Begebenheiten zu hören, die man gemeinhin für phantastisch hält. Wären wir in den kultivierteren Zonen der Erde, würde ich befürchten, bei Ihnen auf Unglauben zu stoßen, Sie vielleicht sogar zum Spott zu reizen; aber in diesen wilden und geheimnisvollen Gefilden werden viele Dinge möglich erscheinen, die bei denjenigen Gelächter hervorrufen würden, die mit den mannigfaltigen Kräften der Natur nicht vertraut sind: – und meine Geschichte enthält zweifellos in ihrem Verlauf die Beweise für die Wahrheit der Ereignisse, aus denen sie zusammengesetzt ist.“49

Du kannst Dir leicht vorstellen, wie angetan ich von dem in Aussicht gestellten Gespräch war; dennoch konnte ich es nicht ertragen, daß er seinen Kummer durch eine Wiedergabe seiner Mißgeschicke erneuern sollte. Ich fühlte den größten Eifer, die versprochene Erzählung zu hören, teils aus Neugierde, teils aus dem starken Wunsch heraus, sein Los zu erleichtern, wenn es in meiner Macht stünde. Ich drückte diese Gefühle in meiner Antwort aus.

„Ich danke Ihnen“, erwiderte er, „für Ihre Anteilnahme, aber sie ist unnütz; mein Schicksal ist nahezu erfüllt. Ich warte nur noch auf ein Ereignis, und dann werde ich in Frieden ruhen. Ich verstehe Ihre Gefühle“, fuhr er fort, als er merkte, daß ich ihn unterbrechen wollte; „aber Sie irren sich, mein Freund, wenn ich Sie so nennen darf; nichts kann mein Geschick ändern: hören Sie meine Geschichte, und Sie werden erkennen, wie unabänderlich es bestimmt ist.“

Er sagte mir noch, daß er am nächsten Tage mit seiner Erzählung beginnen wolle, wenn ich Muße haben würde. Dieses Versprechen entlockte mir den wärmsten Dank. Ich habe mir vorgenommen, jeden Abend, wenn ich nicht mit zwingenden Pflichten beschäftigt bin, so getreu wie möglich in seinen eigenen Worten festzuhalten, was er während des Tages erzählt hat. Wenn ich beschäftigt sein sollte, will ich wenigstens Notizen machen. Diese Abschrift wird Dir zweifellos das größte Vergnügen bereiten: ich aber, der ich ihn kenne und alles von seinen eigenen Lippen höre, mit welchem Interesse und welchem Mitgefühl werde ich sie eines zukünftigen Tages lesen!50 Selbst jetzt, während ich meine Aufgabe beginne, klingt seine volltönende Stimme in meinen Ohren; seine glänzenden Augen verweilen auf mir mit all ihrer schwermütigen Liebenswürdigkeit; ich sehe seine schmale Hand, die er in lebhafter Geste erhebt, während die Züge seines Antlitzes von der ihm innewohnenden Seele erleuchtet werden. Seltsam und erschütternd muß seine Geschichte sein; schrecklich der Sturm, der das edle Schiff auf seinem Kurs erfaßte und es – auf solche Weise – zugrunde richtete!“

1. Kapitel.

ICH bin von Geburt ein Genfer51; und meine Familie ist eine der angesehensten jener Republik. Meine Vorfahren waren viele Jahre lang Rechtsgelehrte und Syndici52; und mein Vater hatte verschiedene öffentliche Ämter mit Ehre und Ansehen bekleidet. Er wurde von allen, die ihn kannten, für seine Rechtschaffenheit und unermüdliche Sorge zum Wohl der Öffentlichkeit respektiert. Während seiner jüngeren Tage war er stetig den Angelegenheiten seines Landes verpflichtet; eine Vielzahl von Umständen hatte verhindert, daß er früh heiratete, und erst gegen Ende seines Lebens ergab es sich, daß er Ehemann und Familienvater wurde.53

Da die Umstände seiner Heirat seinen Charakter veranschaulichen, kann ich nicht umhin, sie zu erzählen. Einer seiner engsten Freunde war ein Kaufmann, der durch zahlreiche Mißgeschicke von blühendem Wohlstand in die tiefste Armut fiel. Dieser Mann, dessen Name Beaufort lautete, war von stolzer und unbeugsamer Wesensart und konnte es nicht ertragen, in Armut und Vergessenheit in demselben Land zu leben, in dem er früher für seinen Rang und sein glänzendes Auftreten bekannt gewesen war. Nachdem er daher seine Schulden auf die ehrenvollste Weise beglichen hatte, zog er sich mit seiner Tochter in die Stadt Luzern zurück, wo er unbekannt und in Elend lebte. Mein Vater war Beaufort in aufrichtiger Freundschaft zugetan und tief betrübt über seinen Rückzug unter diesen unglücklichen Umständen. Er beklagte bitterlich den falschen Stolz, der seinen Freund zu einem Verhalten verleitete, das der Zuneigung, die sie verband, so wenig würdig war. Er bemühte sich sogleich, ihn aufzusuchen, in der Hoffnung, daß er ihn überreden könnte, sich durch seinen Verdienst und seine Hilfe wieder in die Gesellschaft zu begeben.54

Beaufort hatte wirksame Maßnahmen getroffen, um sich zu verbergen, und es dauerte zehn Monate, bis mein Vater seinen Aufenthaltsort entdeckte. Überglücklich über diese Entdeckung eilte er zu dem Haus, das in einer ärmlichen Straße, nahe der Reuß, gelegen war. Doch als er eintrat, empfingen ihn nichts als Elend und Verzweiflung. Beaufort hatte nur eine sehr geringe Summe Geldes aus dem Überrest seines Vermögens gerettet; aber sie reichte aus, um ihn für einige Monate zu erhalten, und bis dahin hoffte er, eine respektable Anstellung bei einem Kaufmann zu finden. Die Zwischenzeit verbrachte er, erzwungenermaßen, in Untätigkeit; sein Kummer wurde nur noch tiefer und drängender, da er Muße zum Nachdenken hatte; und schließlich ergriff er sein Gemüt so fest, daß er nach Ablauf von drei Monaten, unfähig zu jeglicher Anstrengung, aufs Krankenlager sank.

Seine Tochter pflegte ihn mit der äußersten Hingabe; aber sie sah voller Verzweiflung, daß ihr kleines Vermögen rasch abnahm und daß es keine andere Aussicht auf Unterstützung gab. Doch Caroline Beaufort besaß einen Verstand von ungewöhnlicher Form; und ihr Mut wuchs, um sie in ihrem Unglück zu unterstützen. Sie versah Näharbeiten; sie flocht Stroh55 und es gelang ihr durch verschiedene Mittel, einen Hungerlohn zu verdienen, der kaum zum Leben reichte.

Einige Monate vergingen in dieser Weise. Ihr Vater wurde immer elender; ihre Zeit wurde immer mehr von seiner Pflege in Anspruch genommen, ihre Mittel zum Lebensunterhalt schwanden, und im zehnten Monat starb ihr Vater in ihren Armen und ließ sie als mittelose Waise zurück. Dieser letzte Schlag war zuviel für sie, und sie kniete neben Beauforts Sarg und weinte bitterlich, als mein Vater das Zimmer betrat. Er erschien dem armen Mädchen, das sich seiner Obhut anvertraute, wie ein rettender Engel, und nach der Beerdigung seines Freundes führte er sie nach Genf und stellte sie unter den Schutz eines Verwandten. Zwei Jahre nach diesem Ereignis wurde Caroline seine Gemahlin.

Es bestand ein beträchtlicher Altersunterschied zwischen meinen Eltern, aber dieser Umstand schien sie nur noch enger in Banden hingebungsvoller Zuneigung vereint zu haben. Es war ein Sinn für Gerechtigkeit im aufrechten Gemüt meines Vaters, der es notwendig machte, daß er hohe Anerkennung empfinden mußte, um wahrhaft lieben zu können. Vielleicht hatte er in früheren Jahren unter der spät entdeckten Unwürdigkeit einer geliebten Person gelitten und war deshalb geneigt, den Wert erprobter Würdigkeit höher einzuschätzen. Es lag ein Ausdruck von Dankbarkeit und Verehrung in seiner Anhänglichkeit an meine Mutter, der sich völlig von der vernarrten Zuneigung des Alters unterschied, denn sie war von Ehrfurcht vor ihren Tugenden und dem Wunsch beseelt, ihr in gewissem Maße die Leiden zu vergelten, die sie erduldet hatte, was seinem Verhalten ihr gegenüber einen unaussprechliche Liebreiz verlieh. Alles war ihren Wünschen und ihrer Bequemlichkeit unterworfen. Er bemühte sich, sie zu beschützen, wie eine schöne exotische Blume vom Gärtner vor jedem rauhen Wind beschützt wird, und sie mit allem zu umgeben, was dazu beitragen konnte, in ihrem sanften und warmherzigen Gemüt angenehme Gefühle zu erregen. Ihre Gesundheit und sogar die Ruhe ihres bis dahin ausgeglichenen Geistes waren durch das, was sie durchgemacht hatte, erschüttert worden. Während der zwei Jahre, die ihrer Heirat vorausgingen, hatte mein Vater allmählich alle seine öffentlichen Ämter aufgegeben; und gleich nach ihrer Verehelichung suchten sie das angenehme Klima Italiens, was durch den Ortswechsel und die Zerstreuung, die eine Reise durch dieses wundervolle Land mit sich brachte, als Stärkungsmittel für ihren geschwächten Körper dienen sollte.

Von Italien aus besuchten sie Deutschland und Frankreich. Ich, ihr ältestes Kind, wurde in Neapel geboren56 und begleitete sie als Kleinkind auf ihren Streifzügen. Mehrere Jahre blieb ich ihr einziges Kind. So sehr sie auch aneinander hingen, schienen sie auch unerschöpfliche Mengen an Zuneigung aus einer Mine der Liebe zu fördern, um sie mir zu schenken. Die zärtlichen Liebkosungen meiner Mutter und das wohlwollende Lächeln meines Vaters, wenn er mich betrachtete, sind meine frühesten Erinnerungen. Ich war ihr Spielzeug und ihr Abgott, und ich war noch etwas Besseres – ihr Kind, das unschuldige und hilflose Geschöpf, das ihnen vom Himmel geschenkt wurde, um es zum Guten zu erziehen, und dessen zukünftiges Los in ihren Händen lag, indem sie es zum Glück oder zum Unglück führen könnten, je nachdem, wie sie ihre Pflichten mir gegenüber erfüllten. Mit diesem tiefen Bewußtsein dessen, was sie dem Wesen, dem sie das Leben geschenkt hatten, schuldeten, verbunden mit dem regen Geist der Zärtlichkeit, der beide beseelte, kann man sich wohl vorstellen, daß ich in jeder Stunde meines jungen Lebens eine Lektion in Geduld, Nächstenliebe und Selbstbeherrschung erhielt, während ich an einem seidenen Band geführt wurde, was mir alles als eine einzige Abfolge von Freuden erscheinen ließ.

Für eine lange Zeit war ich der einzige Gegenstand ihrer Fürsorge. Meine Mutter hatte sehr nach einer Tochter verlangt, aber ich blieb vorerst ihr einziger Sprößling. Als ich etwa fünf Jahre alt war, verbrachten sie während eines Ausflugs über die Grenzen Italiens eine Woche am Gestade des Comer Sees. Ihre wohltätige Gesinnung veranlaßte sie oft, die Hütten der Armen aufzusuchen. Dies war für meine Mutter mehr als eine Pflicht, es war ihr eine Notwendigkeit, eine Leidenschaft – wenn sie daran dachte, was sie erlitten hatte und wie ihr geholfen worden war –, nun ihrerseits der Schutzengel für die Bedrängten zu sein. Bei einem ihrer Gänge fiel ihnen eine ärmliche Hütte in den Vertiefungen eines Tals auf, die besonders elend aussah, und die Zahl der halbbekleideten Kinder, die sich darum versammelt hatten, sprach von Armut in ihrer schlimmsten Form. Eines Tages, als mein Vater allein nach Mailand gegangen war, stattete meine Mutter, von mir begleitet, jener Behausung einen Besuch ab. Sie fand einen Bauern und seine Frau vor, harte Arbeiter, gebeugt von Sorge und Mühen, die ein kärgliches Mahl an fünf hungrige kleine Kinder verteilten. Unter diesen war eines, das meine Mutter weit mehr als alle anderen anzog. Es schien von einer anderen Abstammung zu sein. Die vier anderen waren dunkeläugige, derbe kleine Racker; dieses Kind war zierlich und sehr hübsch. Ihr Haar war das leuchtendste reinste Gold, und trotz der Ärmlichkeit ihrer Kleidung schien es ihr Haupt mit einer Krone der Vornehmheit zu schmücken. Ihre Braue war klar und voll, ihre blauen Augen unbewölkt, und ihre Lippen und die Form ihres Gesichtes drückten so viel Empfindsamkeit und Liebreiz aus, daß niemand sie ansehen konnte, ohne sie als eine besondere Spezies zu betrachten, ein vom Himmel gesandtes Wesen, das in all seinen Zügen ein göttliches Siegel trug.