Frankfurt Myliusstraße - Udo Scheu - E-Book

Frankfurt Myliusstraße E-Book

Udo Scheu

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Beschreibung

Auf einer Abi-Feier wird der angehende Weltklassepianist Toni Assmann bei einer Massenschlägerei an der rechten Hand schwer verletzt. Er findet Trost bei Stella, angehende Absolventin der Musikhochschule. Sie wohnt in der Frankfurter Myliusstraße und hält sich mehr und mehr für die Wiedergeburt Clara Schumanns, der weltberühmten Klaviervirtuosin, die vor eineinhalb Jahrhunderten ebenfalls dort lebte. Jahre später schlägt sich Toni Assmann vor seiner anstehenden Operation zur Geschlechtsangleichung im schrillen Outfit einer Drag-Queen als Aushilfskellner in einer Bar durch, als dort ein Gast während des Frankfurter Fastnachtsumzugs zusammenbricht und später stirbt. Kurz darauf stirbt ein weiterer Mann in einem Straßencafé auf gleiche Weise. Nur langsam gelingt es Staatsanwalt Schultz und Kriminalhauptkommissar Schreiner, Licht in das bizarre Dunkel aus Mädchen-, Waffen- und Drogenhändlern, Transen, Gigolos, verkannten Musikern und Poeten zu bringen. Das 25-jährige Abi-Treffen entlarvt ein Inferno seelischer Abgründe und Abhängigkeiten.

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Seitenzahl: 320

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Udo Scheu
Frankfurt Myliusstraße
Frankfurt-Krimi
Alle Rechte vorbehalten • Societäts-Verlag
© 2017 Frankfurter Societäts-Medien GmbH
Satz: Julia Desch, Societäts-Verlag
Umschlaggestaltung: Julia Desch, Societäts-Verlag
Umschlagsabbildung: © archiwiz – Fotolia.com
E-Book: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
ISBN 978-3-95542-281-3
Alle Akteure und Handlungen sind Ausgeburten der Fantasie des Autors. Sämtliche Übereinstimmungen mit existenten Personen oder tatsächlichen Ereignissen sind rein zufällig.
Für DORIS
„Was ist Clara für ein Wesen! Gewiß sprach sie am geistreichsten von uns allen – Kaum drei Schuh hoch liegt ihr Herz schon in einer Entwicklung, vor der mir bangt. Launen und Laune, Lachen und Weinen, Tod u. Leben, meist in scharfen Gegensätzen wechseln in diesem Mädchen blitzschnell. […] Ja, auch Clara/Zilia konnte im Verhalten wie zweigeteilt sein: Zilia zuweilen sehr kalt, dann plötzlich innig.“(Robert Schumann, Tagebuch, Bericht vom 21. August 1831, der in dieser Zeit das romantische Konzept der Doppelperson, des inneren Doppelgängers, übernahm ).
* * *
„She walked up to me and she asked me to danceI asked her her name and in a dark brown voice she said Lola[…]Well, I’m not the worlds most physical guyBut when she squeezed me tight she nearly broke my spine,oh my Lola, la-la-la-la LolaWell, I’m not dumb but I can’t understandWhy she walked like a woman and talked like a man,oh my Lola la-la-la-la Lolala-la-la-la Lola[…]Girls will be boys and boys will be girlsIt’s a mixed up, muddled up, shook up world, except for Lola,La-la-la-la Lola“(Lola, The Kinks)

PROLOG

Toni Assmann schlenderte von der Hauptwache, dem Herzen Frankfurts, mit tänzerischen Schritten auf den Steinweg zu und Richtung Goetheplatz. Es war Abend und das Stadtzentrum lag weitgehend im Dunkeln. Offenbar hatte es einen teilweisen Stromausfall gegeben. Unschlüssig und ein wenig ängstlich sah der schlaksige junge Mann sich um. Die wenigen funktionierenden Lichtquellen spendeten kaum genug Helligkeit, um sich noch zurechtzufinden. Die Häuser und Wege lagen wie düstere Schatten vor ihm, beklemmend unheimlich und bedrohlich.
Er blieb stehen und schaute auf seine Armbanduhr. Keine Frage, er hatte sich verspätet. Fieberhaft überlegte Toni, ob er nicht lieber umdrehen und wieder nach Hause fahren sollte. Dort drüben in der Steinwegpassage sollte sie liegen, die Disco. Da trafen sich üblicherweise Heterosexuelle. Das war nicht so ohne weiteres sein Ding, denn er war noch auf der Suche, war unsortiert. Tief in seinem Innern forschte er nach einer Positionsbestimmung, wollte wissen, wo er hingehörte. Er blieb dabei mit seiner Identitätssuche und seinen Berührungsängsten außen vor. Dieses Rätsel, diese persönliche Krise, die aus inneren Zweifeln geschürt wurde, musste er ganz alleine lösen. Er wagte einfach nicht, fremde Hilfe in Anspruch zu nehmen, ganz gleich, wie ihm zumute war.
Diese Tanzbar da gegenüber war für nahezu alle anderen in seiner Schulklasse ein echtes Highlight. Außer für Bernie. Bernie Tandler, der weltmännische, abgeklärte und stets elegante Schönling mit der dicken Brieftasche. Von dem er sich seit einiger Zeit beobachtet fühlte.
Vor einem Jahr während der Klassenfahrt nach Salzburg war es ihm zum ersten Mal aufgefallen. Ihr Lehrer hatte sie durch mehrere Konzertsäle geschleppt. In einem der Räume hatte auf offener Bühne ein Flügel gestanden. Allein der Anblick versetzte Toni schon in Entzücken. Klavierspiel – das war sein Leben, seine Zukunft. Spätestens, seit er mit dreizehn Jahren den Bundeswettbewerb Jugend musiziert gewonnen hatte. Und weil alle Mitschülerinnen und Mitschüler wussten, dass Toni ein Ausnahmetalent war, dass er seit Jahren mit der Frühbegabtenförderung ausgebildet wurde, hatten sie ihn zu einer Kostprobe aufgefordert. Toni hatte sich zunächst geziert, sich aber geschmeichelt gefühlt und sich schließlich an den Flügel gesetzt. Virtuos hatte er Variationen von Glenn Millers In the mood gezaubert und dafür Standing Ovations geerntet. Bernie Tandler hatte ihn am selben Abend unter vier Augen angesprochen. „Du bist doch vom anderen Ufer“, hatte er ohne Umschweife gesagt, sich über sein volles schwarzes Haar gestrichen und Toni wissend aus seinem klassisch schönen, gebräunten Gesicht angelächelt.
Vorwurfsvoll hatte Toni protestiert. Was ihm einfiele, und wie er darauf komme. Doch Bernies überlegenes Grinsen hatte ihn damals einknicken lassen und Bernie hatte nachgelegt: „Gib auf! Ich habe dich per Zufall gesehen, als ich am Baseler Platz eine Verabredung hatte. Mein Blick fiel auf dieses Etablissement gegenüber der Straßenbahnhaltestelle, wo sich Männlein und Weiblein inkognito treffen oder vermutlich gegen Geld vom Mann zur Frau und umgekehrt umkleiden können. Weil ich sehr lange auf mein Rendezvous warten musste, habe ich dich nicht nur rein-, sondern auch mit neuem, weiblichem Outfit rausgehen sehen.“
Tonis Miene hatte tiefe Resignation ausgedrückt und er hatte sich geräuspert. „Bitte rede mit niemandem darüber. Ich weiß nicht, wo mein Platz ist. Immerhin wird mein Vorname männlich und weiblich verwendet.“ Trotzig hatte er den Kopf zurückgeworfen. „Und genauso fühle ich mich manchmal.“ Bernie hatte ihm auf die Schultern geklopft und mit sicherer, dunkler Stimme gemeint: „Na bitte! Geht doch! Bist schon okay.“
Zurück in Frankfurt hatte Bernie ihm weiteres Vertrauen entgegengebracht. Er hatte ihn in sein Appartement im Westend, in der Nähe des Palmengartens eingeladen, das Bernie sozusagen inkognito unterhielt, denn offiziell wohnte er noch im Elternhaus im Stadtteil Heddernheim. Das Appartement war sündhaft teuer und zugleich schwülstig eingerichtet. Eine Edelabsteige, die Bernie ihm stolz präsentiert hatte. „Alles mit meiner Hände Arbeit verdient“, hatte er geflachst. „Natürlich waren es nicht immer nur die Hände. Ich nehme nur ausgewählte Kundschaft. Andere können sich mein Preisniveau nicht leisten. Sogar ein Kardinal aus Rom gehört zu meinen Kunden.“
„Und nur Männer?“, hatte Toni gestottert.
Bernie hatte abgehoben gelächelt. „Privat sind auch mal Frauen dabei. Geschäftlich nie.“
„Hast du keine Angst, irgendwann aufzufliegen? Soweit ich weiß wohnt Stella Engholm hier in der Nähe, in der Myliusstraße. Du könntest eines Tages von ihr gesehen werden.“
Bernie hatte es nicht einmal für nötig befunden, darauf zu antworten.
Durch den Kontakt zu Bernie war Toni immerhin mit der Zeit selbstbewusster geworden. Dazu hatte auch eine gemeinsame Parisreise beigetragen, während der Toni ein paar Gleichgesinnte kennengelernt und erfahren hatte, wie sein Freund potenzielle Kunden aufriss.
Mehr und mehr hatte sich Toni damit auseinandergesetzt, wie ein Mann auszusehen, sich jedoch wie eine Frau zu fühlen. So war es gekommen, dass er sich wenig später auch Bernies Nachbarin Stella hinsichtlich seiner ihm selbst noch nicht ganz klaren Neigungen offenbart hatte. Die junge Frau war zart, ätherisch schön, und wollte genau wie er Musik studieren, und für Toni war sie zudem eine vorbehaltlose und vorurteilsfreie Gesprächspartnerin. Sie unterhielt seit einiger Zeit ein Verhältnis mit ihrem gemeinsamen Mitschüler Uli Landau. Eine Beziehung, die so gar nicht zu ihrer Wesensart passte. Ausgerechnet mit Uli, diesem Großmaul und ewigen Fremdgänger, an dem Stella trotz aller negativen Erfahrungen festhielt und zu dem sie nach allen Streitigkeiten immer wieder zurückkehrte. Stella konnte Toni zuhören, wenn er seine männliche Rolle überdachte und sie um Rat fragte, ob er den Schritt einer Geschlechtsanpassung gehen sollte, die man gemeinhin noch immer als Geschlechtsumwandlung bezeichnete. Von Stella wurde er einfach so akzeptiert, wie er war. Noch nie hatte sie sein Vertrauen missbraucht.
Vor der Eingangstür zur Kellerbar blieb Toni noch einmal stehen. Es half nichts. Er würde reingehen müssen. Es gab einfach keine überzeugende Ausrede. Der Abend würde vorübergehen, und er musste ja nicht bis zum Ende bleiben. Toni strich nervös über seine eleganten langen Finger, die seine Mutter seit seiner Kindheit schon als Klavierspielerhände bezeichnet hatte und mit denen er schon etliche Preise gewonnen hatte. Den wichtigsten Wettbewerb, die Krönung des talentiertesten Nachwuchspianisten, hatte er mit dem ersten Platz belegt.
Er betrachtete die schwere Holztür mit dem Rundbogen, atmete tief durch und richtete sich darauf ein, sich ein letztes Mal vor der Klasse verstellen zu müssen. Nahezu alle aus seiner Klasse waren bereits in festen Händen. Außer ihm. Und Bernie, der versprochen hatte, ebenfalls in den sauren Apfel zu beißen und zu kommen. Alle hatten dafür gestimmt, nach bestandenem Abitur den Abschied von der Schule hier zu feiern, Kilometer entfernt von der Ziehen-Schule im Frankfurter Stadtteil Eschersheim, wo sie neun Jahre alle Höhen und Tiefen des schulischen Lebens erfahren hatten und, wenn es nicht zu ertragen war, in das klassische Apfelweinrestaurant vom Scherer geflüchtet waren.
Mit erheblichem Kraftaufwand öffnete Toni die Tür und ging die wuchtige Sandsteintreppe nach unten in den Keller. Schwaden von Parfum und Zigarettenrauch hingen in der Luft, knallige Tanzmusik schlug ihm mit jeder Treppenstufe immer lauter entgegen. Das war nicht seine Musik, nichts Klassisches.
Vor ihm öffnete sich ein riesiger Raum. Entlang der rötlich verputzten Wände reihten sich Zweier- und Vierertische, in der Mitte war die quadratische Tanzfläche, darüber drehte sich eine Discokugel. Von der Decke trommelte eine Lichtorgel ständig variierende bunte Strahlen auf den Tanzboden. Einer der Lichtstrahlen tauchte alle weißen Stoffe in ein romantisches Indigo-blau.
Etwas verloren schritt Toni die Tischreihen ab. Eine Kellnerin drängte sich mit beladenem Tablett murrend an ihm vorbei. Da und dort erkannte er jemand und winkte in die jeweilige Richtung. Doch soweit seine Mitschülerinnen und Mitschüler sich nicht auf der Tanzfläche bewegten, waren sie in Gespräche vertieft oder beim Knutschen. So richtig registrierte offenbar niemand sein Kommen. Und Bernie schien auch noch nicht da zu sein.
Während er noch darüber nachdachte, die Situation auszunutzen und die Bar wieder zu verlassen, sah er, wie unmittelbar vor ihm ein auffällig athletisch gebauter Mann aufstand und seinen Stuhl nach hinten in den Durchgang zu den weiteren Tischen warf. Der Typ wandte sich den drei jungen Männern zu, mit denen er am Tisch gesessen hatte und posaunte mit lauter Stimme: „Der Schauspieler da drüben macht meine Tussi an! Jetzt gibt’s auf die Fresse! Passt mal auf, ob ich euch brauche.“
Daraufhin ging der Athlet einige Schritte auf den Tresen zu. Toni sah, dass dort sein Mitschüler Alex Wohlrabe mit einer zierlichen Blondine flirtete. Sie ließ es sich auch gefallen, bis sie bemerkte, dass der Muskelprotz vor ihr und Alex auftauchte. Alex, der offenbar nicht mit einem Angriff gerechnet hatte, konnte nicht einmal zurückweichen, als ihn der erste Schlag ins Gesicht traf. Bevor er reagieren konnte, landete die Faust des Schlägers ein zweites Mal auf seiner Nase und ein heller Blutstrahl spritzte auf die tief dekolletierte Bluse der Blondine. Alex ging stöhnend zu Boden und riss dabei einen Barhocker mit, der krachend in Stücke ging.
Während die Musik noch weiter dröhnte, zogen sich vor allem die weiblichen Besucher, die am nächsten standen, in den Raum zurück. Einige der Männer stürzten allerdings hinzu. Toni erkannte, dass es Klassenkameraden waren, die Alex zu Hilfe eilen wollten. Im Laufschritt drängten sich auch die drei Kumpels des Athleten durch die Menge, stießen sich dabei an und grölten laut ein paar Kampfparolen. Toni registrierte deren Körperbau und hatte keinen Zweifel, dass eine weiter ausufernde Schlägerei zum Nachteil seiner Mitschüler ausgehen musste.
Sein Blick fiel auf den nunmehr leeren Tisch der vier Proleten. Augenblicklich fasste er den Entschluss, die Situation dazu zu nutzen, sich unter diesem Tisch zu verstecken. Da ihn offensichtlich niemand beobachtete, schien ihm das auch unbemerkt zu gelingen. Rasch legte er sich bäuchlings zwischen die Tischbeine, so konnte er das Geschehen weiter im Auge behalten. Völlig verängstigt und zugleich gefesselt von der Massenschlägerei bemerkte Toni nicht, wie sich ein Paar schwerer Stiefel seinem Versteck näherte. Als sie vor ihm Halt machten und er aufsah, war es bereits zu spät. Er registrierte noch, dass ein Bein auf ihn niedersauste und hörte ein hölzernes Knacken. Ein stechender Schmerz durchfuhr ihn und Tränen schossen ihm in die Augen. Noch glaubte Toni an einen schrecklichen Zufall. Doch als er aus den verschwommenen Augen nach oben blickte, fuhr der Stiefel erneut nach unten. Und wieder traf er seine rechte Hand. Toni krümmte sich vor Schmerz und jaulte wie ein angeschossener Hund. Mit feuchten Augen sah er in das satanisch grinsende Gesicht über ihm. Er zuckte zusammen. Das war nicht einer dieser vier Schläger, sondern ein Mitschüler.
Er ließ den Kopf sinken und schloss vor Schmerzen kurz die Augen, öffnete sie jedoch schnell wieder. Das Stiefelpaar war verschwunden. Hatte er sich geirrt? Das konnte doch nicht sein, dass sein eigener Klassenkamerad ihn zum Krüppel trat. Denn das musste das Ergebnis der Tritte sein, da gab es für ihn keinen Zweifel.
Er betrachtete seine blutunterlaufene anschwellende Hand. Die Finger waren bestimmt gebrochen. Natürlich würde er sofort zum Arzt gehen. Doch er glaubte nicht, dass noch etwas zu machen war. Das konnte, das musste das Ende seiner Karriere sein. Sein Lebenstraum war vernichtet, bevor er richtig begonnen hatte. Sicher, er war Pessimist, aber hier gab es wohl kaum noch Hoffnung. Das war das Aus! Eine zerstörte Zukunft! Hemmungslos begann er zu weinen.
Unterbewusst bekam Toni mit, dass die Musik aufgehört und Ruhe eingetreten war. Aber er wollte keinesfalls gesehen werden. Von niemandem. Nicht in diesem Zustand. Am Ende wäre das noch als berechtigte Strafe für seine Feigheit gewertet worden. Er schlich sich mit zur Wand gedrehtem Kopf auf die Toilette und wusch sich vorsichtig das Blut von der Hand. Als sein Blick in den Spiegel fiel, verkrampfte er sich und heulte weiter, wie ein kleines Kind. Das dezente Make-up, das er abends immer auftrug, hatte krause Rinnen hinterlassen. Sein Gesicht glich einer weinenden Fastnachtsmaske. Lächerlich!
Wer hatte ihm dies nur angetan? War es wirklich der Mitschüler, den er glaubte, gesehen zu haben? Er würde es herausfinden. Mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln.
Tief gedemütigt sog Toni die dünne Luft ein, die stark nach Desinfektionsmittel roch. Seinen Lebensplan würde er ändern müssen. Seine Zukunftsaufgabe hieß Rache!
Ein Vierteljahrhundert später…

1

Die Prostituierte hatte die Ärmel ihrer nachlässig geknöpften, karminroten Strickjacke hochgezogen und lehnte mit verschränkten Armen auf einer Fensterbank im zweiten Stock eines in Frankfurter Kreisen einschlägig bekannten Etablissements in der Breite Gasse. Auf ihren feisten Wangen blitzten silberne Sternchen und das hochtoupierte, graublonde Haar schmückte eine mit Strass besetzte halbrunde Krone. Ein tiefes Dekolleté offenbarte vermutlich ungewollt eine Reihe verräterischer Falten und Runzeln. Trotz des hohen Aufwands, den sie beim Schminken ihres leicht aufgedunsenen Gesichts betrieben hatte, ließ sich auch sonst nicht verbergen, dass sie in die Jahre gekommen war. Ihr bewegtes Leben hatte unauslöschliche Spuren hinterlassen. Allerdings schienen sie diese Umstände im Augenblick nicht zu beschäftigen. Ein ausdrucksloses Lächeln umspielte ihren Mund, während sie mit leicht gesenktem Kopf immer wieder ein kräftiges „Frankfurt Helau!“ in die Straße rief.
Unter ihrem Fenster bewegte sich die Prozession des Frankfurter Fastnachtszugs in schleppendem Tempo entlang. Verhaltene Helau-Rufe der überwiegend nicht verkleideten Zuschauer am Straßenrand übertönten kaum das rhythmische Knattern der Traktoren, deren Dieselmotoren gewohnt zuverlässig die Zugwagen voranbrachten. Nur die zahlreichen Musikkapellen in bunten Kostümen übertrumpften mit ihren Ständchen die Alltagsgeräusche. Da und dort rissen sich vereinzelt maskierte Kinder von ihren meist gelangweilten Eltern los und stürzten auf die Straße, um die von den Wagenbesatzungen ausgeworfenen Bonbons einzusammeln.
Vor dem halb geöffneten Hauseingang des Bordells ging mit Trippelschritten eine zierliche junge Frau vorbei, die ihrem überaus gepflegten Äußeren nach nicht hierher zu gehören schien. Ihr dunkelblondes Haar schaute nur im Ansatz aus einem wollweißen Kaschmirschal heraus, der ihren gesamten Nacken bedeckte. Ein Zug von Überlegenheit, ja sogar Hochmut lag auf ihrem Gesicht, aber auch Verletzlichkeit und Angst. Das stilsichere Make-up und die vornehme Kleidung ließen darauf schließen, dass sie sich üblicherweise in großbürgerlichen Verhältnissen bewegte, zu deren Unterhaltungsrahmen Volksfeste mit reduzierter Hemmschwelle nicht gerade gehörten. Sie schaute sich mehrfach um, als suche sie etwas. Als ein sichtlich angetrunkener Pirat ihr stolpernd um den Hals fallen wollte, versteifte sich ihr Körper und sie wandte sich angeekelt ab und beschleunigte ihre Schritte in entgegengesetzte Richtung.
An der Ecke Breite Gasse/Allerheiligenstraße fiel ihr Blick auf einen unscheinbaren Bau, über dessen Eingang ein Hinweisschild den Zugang zur Stoltze Bar verriet. Soweit das Interieur durch die großflächigen Fensterscheiben sichtbar war, zeigte sich ein blutleeres Ambiente. Die junge Dame verschwand in der brechend vollen Bar, blieb aber nur wenige Minuten dort. Als sie wieder vor die Tür trat, blieb sie einen Moment unschlüssig stehen. Ihre Miene hatte sich aufgehellt, als habe sie einen plötzlichen Entschluss getroffen. Sie kämpfte sich durch ein paar herumstehende maskierte Schaulustige auf die gegenüberliegende Seite der Allerheiligenstraße, stellte sich dort an den Straßenrand und schaute dem Treiben belustigt zu.
Die Frau mochte etwa eine Viertelstunde an ihrem Platz gestanden haben, als die Tür der Stoltze Bar aufflog und ein dunkelblonder Mann mittleren Alters, der sich mit einem nachtschwarzen samtbesetzten Gehrock ein Retro-Outfit zugelegt hatte, nach draußen torkelte. Am Pfahl einer Straßenlaterne suchte er Halt, fuhr sich mit flacher Hand über das Gesicht und schüttelte sich. Der trübe Ausdruck ließ vermuten, dass er einfach zu viel getrunken hatte. Seine Hand strich über den Hals und legte sich anschließend auf die Brust, wobei der Mann sich immer mehr krümmte. Er stieß einen langgezogenen Seufzer aus, der weniger auf seelische als vielmehr auf körperliche Qualen schließen ließ. Plötzlich reckte sich sein Körper kerzengerade in die Höhe. Mit einem ungläubigen Ausdruck riss er die Augen weit auf und starrte hilfesuchend zu der vornehmen Dame gegenüber, die ihn wie versteinert beobachtete. Ob er noch registrierte, dass sie ihre Arme fest an sich presste, eine Kehrtwendung machte und mit eiligen Trippelschritten davonlief, blieb offen.
Dennis Hauschild, Reporter bei der Boulevardzeitung Klartext, hatte widerwillig dem Drängen seiner drei Gören nachgegeben und war mit ihnen in Begleitung seiner Ehefrau Susanne zum Faschingszug gegangen. Das älteste Kind, ein Mädchen, mochte etwa zehn Jahre alt sein. Die beiden kleinen Jungen, offensichtlich Zwillinge, konnten sich noch nicht allzu lange selbstständig auf ihren Füßchen fortbewegen. Sie klammerten sich mit einer Hand an die Jeans der Mutter. Während die Eltern gänzlich unmaskiert waren, hatte sich das Mädchen als Prinzessin verkleidet und die zwei Buben trugen martialische Cowboyhüte und hielten lange bunte Pritschen in ihren Händchen.
Als Dennis Hauschild nach einem bewundernden Blick auf seine Kinder wieder das Geschehen beobachtete, wurde sein Gesicht plötzlich ernst. Er schob seine schwarze Hornbrille auf den Nasenrücken zurück. Hastig strich er sich über seine kurzen, schon etwas schütteren blonden Haare und rannte dann unvermittelt über die Straße. Als er bei dem Mann im schwarzen Gehrock anlangte, war dieser gerade zusammengebrochen und lag rücklings auf dem Pflaster. Er atmete in kurzen Stößen, um seinen Mund hatten sich kleine Bläschen gebildet. Die Augen waren verdreht, der Körper verkrampft. Der Reporter kniete sich neben ihn und brachte ihn unter gehöriger Kraftanstrengung in eine stabile Seitenlage. Aber er wusste nicht, wie er ihm sonst helfen konnte. Vor etwa fünfzehn Jahren hatte er zur Vorbereitung der Führerscheinprüfung an einem Erste-Hilfe-Kurs teilgenommen, darüberhinaus aber keine medizinischen Erfahrungen gesammelt. Trotzdem kam ihm irgendetwas an dem Mann seltsam vor. Dessen Luftknappheit und Hilflosigkeit sprachen nicht nur für übermäßigen Alkoholkonsum. Er schien außerdem panische Angst zu haben.
Dennis Hauschild richtete sich auf und fingerte sein Handy aus der Seitentasche seiner Cordjacke. Er wählte die 1-1-0, schilderte den Vorfall und bat um einen Notarzt. Außerdem fügte er hinzu, dass ihm der Gesamtzustand des Mannes seltsam erscheine und nicht ins Bild eines nur Betrunkenen passe. Der Zusammenbruch könne seinem Eindruck nach andere Ursachen haben, auch wenn es keine Anzeichen für Gewalt gab. Auf Bitten des Polizisten am anderen Ende der Leitung versprach er, bis zum Eintreffen der Sanitäter zu warten. Er konnte kurz mit seiner Frau auf der anderen Straßenseite Blickkontakt aufnehmen und ihr signalisieren, dass er gleich rüberkommen würde. Dann betrat er die Stoltze Bar. Ein infernalischer Lärm schlug ihm entgegen, ein Gemisch aus schriller Musik und lautstarken Unterhaltungen. Die Menschen saßen und standen dicht an dicht, mit alkoholischen Getränken bestens ausgestattet. Hauschild quetschte sich durch die Masse bis zum Tresen. Der Arbeitsbereich wurde von einer Person beherrscht, die perfekt zum Anlass der Ausschweifungen passte: Eine lange dürre Gestalt, auf dem Kopf ein überdimensionaler pinkfarbener Hut mit bunten Blumengestecken und Schleifen, eingehüllt in ein üppig besticktes, langärmeliges Kleid aus Samt und Seide, füllte professionell Glas um Glas aus einer Batterie von Flaschen und Zapfhähnen. Die maßlos aufgetragene Schminke trotzte der Hitze nur unzureichend. Sie begann zu zerlaufen und zu bröckeln, eine künstliche Wimper hing nur noch lose an der Seite. Die Auflösungserscheinungen wie auch die Figur machten deutlich, dass sich hinter der Maskerade einer Southern Belle ein Mann verbarg. Seine Frisur und die zerronnene Schminke verbargen nur unzureichend das von Nikotin und Alkohol ausgemergelte, eher grobe und dennoch teigig-weiche Gesicht.
Mit einem Wink des Zeigefingers forderte Hauschild den Barkeeper auf, sich zu ihm vorzubeugen. „Haben Sie mitbekommen, dass eben draußen vor der Tür ein Mann zusammengebrochen ist? Es war wohl einer Ihrer Gäste. Ist er öfters hier? Kennen Sie ihn? Hat er zu viel getrunken? Oder was kann sonst mit ihm los sein“, überfiel er den Barkeeper mit seinen Fragen.
Die männliche Südstaaten-Lady legte linkisch ihren Hut beiseite und schnickte die dichten Locken ihrer blonden Langhaarperücke locker hinter die Schultern. Dramatisch beugte sich der Barkeeper über den Tresen, deutete auf sein Ohr und zuckte bedauernd mit den Schultern. Mit falsettartiger, weichgespülter Stimme dröhnte er gegen den Radau an. „Ich verstehe dich nicht. Was willst du?“
Hauschild drängte sich kurzerhand hinter die Theke, reckte sich dem Ohr des Barkeepers entgegen und wiederholte seine Fragen. Der Dürre sah ihn unbewegt an.
„Heute sind viele besoffen. Ich kann nicht auf jeden aufpassen. Wie sieht der Typ denn aus?“
„Er trägt einen schwarzen Gehrock und hat lange blonde Haare. Auf viel mehr habe ich nicht geachtet.“
„Das ist Olli. Der ist jeden Tag hier. Er säuft wie ein Kanalschwein. Melancholie oder Depressionen“, nickte der Barkeeper und kicherte in seine halb geöffnete Hand. Dann musterte er Hauschild kritisch. „Was geht dich das eigentlich an? Trink was oder hau ab. Ich habe hier die Hütte voll und keine Zeit, mit dir über deine Blähungen zu quatschen.“
Er drehte ab und ließ Hauschild stehen. Der schaute ihm misstrauisch nach, bevor er sich wieder zum Ausgang durchkämpfte. Irgendetwas störte ihn an dem Auftritt des schlaksigen Kerls. Er fand, dass dieser Typ die Lage allzu oberflächlich abgetan und sich auffällig schnell davongemacht hatte. Für einen Moment ging ihm durch den Kopf, dass sich in diesem Milieu aufgrund des rätselhaften Zustands des kollabierten Gastes und der abwehrenden Reaktion des Barkeepers vielleicht erste Hinweise für eine lohnende Recherche boten.
Kurz darauf trafen Polizei und Sanitäter ein. Hauschild fragte sich, wie die beiden Fahrzeuge es trotz des Faschingstrubels so schnell geschafft hatten, ans Ziel zu kommen. Dann fiel ihm ein, dass das 1. Polizeirevier nur eine Parallelstraße weiter, oben auf der Zeil untergebracht war. Als die beiden Uniformierten, eine junge Frau und ein Mann mittleren Alters, ausgestiegen waren, ging er auf sie zu und offenbarte sich als der Anrufer. Die Polizisten baten ihn um seine Personalien und eine kurze Schilderung der Geschehnisse. Kurz und bündig gab er ihnen einen Bericht und beendete ihn mit dem Gespräch mit dem Barkeeper. Sein daraus gewachsenes Misstrauen verschwieg er allerdings.
Währenddessen hatten zwei weißgekleidete junge Männer den Patienten auf einer Trage in den Krankenwagen geschoben und ein rothaariger Weißkittel war bereits mit Untersuchungen befasst. Als der Notarzt endlich aus dem Fahrzeug kletterte, sprach ihn der männliche Polizeibeamte zuerst an. „Können Sie schon etwas sagen, was für uns von Bedeutung sein könnte?“ Mit einem abfälligen Blick streifte er Hauschild. „Wenn er nur zu viel getrunken hat, fahren wir gleich wieder weiter.“
Der Rothaarige händigte dem Polizisten einige Unterlagen aus. „Ich habe die Papiere an mich genommen. Er heißt Oliver Radermacher und ist neununddreißig Jahre alt. Die übrigen Unterlagen habe ich nur kursorisch angesehen. Herr Radermacher ist wohl Musiker.“ Er legte die Stirn in Falten und zog die Schultern hoch. „Ihre Frage kann ich nicht abschließend beantworten, denn mit den Möglichkeiten, die mir hier zur Verfügung stehen, kann ich keine verlässliche Diagnose stellen. Sein Zustand ist allerdings sehr ernst. Wir müssen sofort los in die Uniklinik. Es ist möglich, dass er diesen Tag nicht überlebt.“ Er stieg wieder in den rückwärtigen Teil des Sanitätswagens und schloss die Tür von innen. Der Fahrer schaltete Blaulicht und Martinshorn ein und fuhr davon und die Polizisten entschlossen sich zu einer kurzen Vernehmung des Barkeepers.
Hauschild rannte zwischen zwei Zügen über die Straße und schaute sich nach seiner Familie um. Sie war verschwunden. Wahrscheinlich war seine Frau wegen seines langen Fernbleibens sauer und würde ihm, wenn er nun nach Hause ging, Stress machen. Diese Art der Problemlösung entsprach, wie er seit Jahren wusste, ihrer Wesensart.
Während sein Blick noch umherschweifte, fiel ihm fast genau an der Stelle, wo er seine Familie verlassen hatte, ein Mann mit Maske vor dem Gesicht auf, der eine Kleidertasche über dem Arm trug und eine Hutschachtel festhielt. Hauschild wollte schon abdrehen und weggehen, aber er stoppte, um sich den Mann noch einmal anzuschauen. Irgendetwas irritierte ihn. Dann fiel es ihm ein: Die Art der Maske passte nicht hierher. Diese Kostümierung war in Frankfurt völlig ungebräuchlich. Die Maske war aus Holz geschnitzt und rot-schwarz angemalt, der Mund zu einem diabolischen Grinsen geformt. Aus den Mundwinkeln ragten zwei mächtige Hauer. Die Kopfhaube bedeckten schwarze gerollte Federn. Das Körpergewand war übersät mit bunten Federn und Stofffetzen. Die Verkleidung erinnerte Hauschild an die Maskerade, die er von einem süddeutschen Karneval, von der alemannischen Fastnacht her kannte, wo Männer und Frauen vielfach die gleichen Larven und Gewänder trugen, ohne erkennbare Unterscheidung.
Spontan ging ihm durch den Kopf, dass es sich bei dem Maskierten um den Barkeeper handeln müsse. Er war groß und spindeldürr und bewegte sich wie der Mann, mit dem er kurz zuvor hinter der Theke gesprochen hatte. Hauschild hatte das Gefühl, dass der Kerl ihn beobachtete. Die Kopfhaltung sprach jedenfalls dafür. Er beschloss, sich den Mann näher anzusehen und ging auf ihn zu. Der schien das sofort zu bemerken, blickte sich kurz nach allen Seiten um und rannte dann in entgegengesetzter Richtung davon.
Hauschild setzte hinterher. Doch wurde er von Menschen, die dem Faschingszug zuschauten, und herumlaufenden Kindern ausgebremst. Durch den Slalomlauf verlor er mehr und mehr den Anschluss. Der davoneilende Narr hatte zwar mit denselben Schwierigkeiten zu kämpfen, schien aber trotz seines Gepäcks besser damit zurechtzukommen. Immerhin konnte Hauschild ihn zunächst im Auge behalten.
Als der Maskierte an der Zeil um die Ecke bog, konnte Hauschild sein Tempo erhöhen, da der Menschenauflauf hier nachgelassen hatte. Er rannte an den Schaufenstern eines Möbelhauses vorbei bis zur Straßenecke. Dort schaute er sich keuchend um und sah gerade noch, wie der Verkleidete in einem Hauseingang verschwand. Hauschild behielt das Haus im Blick, um es ja nicht zu verwechseln. Als er den Eingang erreichte, wurde er enttäuscht. Ein Klingelbrett mit einer unübersehbaren Anzahl von Namensschildern, die auch noch zum Großteil mehrfach mit neuen Namen überklebt waren, beherrschte die Fläche über einem Meer von Briefkästen. Ihm war klar, dass es sinnlos war, aufs Geratewohl irgendwo zu klingeln und zu versuchen, den Namen des Dürren herauszufinden. Er musste sich eine andere Strategie einfallen lassen. Vielleicht war es klüger, erst mal nach Hause zu gehen, seine Frau zu beruhigen und morgen zu recherchieren, was aus dem in die Uniklinik transportierten Mann geworden war.
Hauschild spürte mit seiner ganzen Berufserfahrung, dass er das Kapitel zu einer neuen brandheißen Story aufgeschlagen hatte. Er klopfte sich das Konfetti von seiner Jacke und rückte am Revers den Trauerflor zurecht, den er im Gedenken an den gerade verstorbenen Lemmy Kilmister, Bassist und Gründungsmitglied der von ihm hoch verehrten Heavy-Metall-Band Motörhead trug. Morgen ist auch noch ein Tag, sagte er sich und war sicher, dass dieser Tag aufregend werden würde.
Als er entschlossen den Heimweg einschlug, blickte er einen Moment lang in die leeren Augen einer zierlichen Frau, die ihren Kaschmirschal rasch bis zur Nase hochzog und sich mit einer energischen Körperbewegung abwandte. Mit hastigen Trippelschritten entfernte sie sich.

2

Hanspeter Schultz stand grübelnd in seinem Büro, dem Zimmer 320 der Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main in der Konrad-Adenauer-Straße. In der rechten Hand hielt er einen schweren Hammer, mit Daumen und Zeigefinger der linken Hand presste er einen langen Nagel gegen die Wand neben dem Fenster. Einem heimlichen Beobachter wäre sofort aufgefallen, dass der Staatsanwalt derartige Handwerksarbeit äußerst selten verrichtete. Schultz klopfte mit dem Hammer mehrmals vorsichtig auf den Nagelkopf und registrierte mit Verwunderung, dass der Hammer zwar seine Finger traf, der Nagel aber nicht einen Millimeter in die Betonwand eindrang. Hilflos schaute er zu einem kleinen, ungewöhnlich dicken Bilderrahmen auf seinem Ledersessel, der offenbar den Platz an der Wand einnehmen sollte. Hinter dem Glas war eine mächtige Zigarre eingerahmt, deren Banderole verriet, dass es sich um eine echte kubanische Partagas handelte. Schultz seufzte. Das war immerhin das letzte Exemplar, das ihm übrig geblieben war, nachdem er mit dem Rauchen aufgehört hatte.
Das Telefon klingelte. Schultz nahm ab, meldete sich und hörte kurz zu bevor er erwiderte: „Er kann raufkommen.“ Ein verwundertes Lächeln malte sich auf seinem Gesicht ab. Rasch deponierte er den Bilderrahmen und das Werkzeug ordentlich hinter einem Aktenstoß auf seinem Schreibtisch.
Es dauerte nur wenige Minuten, bis ein Klopfen an der Tür Schultz aus der Verlegenheit befreite, wie er mit seinen handwerklichen Übungen weitermachen sollte. Auf sein „Herein!“ öffnete sich die Tür nur einen Spalt und Dennis Hauschild lugte herein. Schultz forderte ihn erneut zum Eintreten auf und bot ihm einen Platz an. „Guten Tag. Lange nicht mehr gesehen. Was führt Sie zu mir?“
Der Reporter zwängte sich im Sitzen aus seinem hellbeigen Sakko, präsentierte dadurch seine über und über tätowierten kräftigen Arme im T-Shirt und lächelte Schultz bedeutungsvoll an. „Nur eine kleine bescheidene Frage. Aus unserer bisherigen Zusammenarbeit erinnere ich mich, dass Sie auf Zuständigkeiten pfeifen, wenn Sie an einem Fall besonders interessiert sind.“ Hauschild legte eine Kunstpause ein, die Schultz erwartungsvoll dreinblicken ließ. Er konnte kaum verbergen, dass er sich geschmeichelt fühlte. Dann sprach Hauschild in unverändertem Ton weiter: „Weiter habe ich in der Vergangenheit gelernt, dass Ihre Kolleginnen und Kollegen Ihnen keine Steine in den Weg legen, wenn Sie Ihnen Arbeit abnehmen.“ Er rückte seine Hornbrille zurecht. „Meine Nase sagt mir, dass wieder einmal etwas am Kochen ist, was Sie neugierig machen könnte.“
„Wahrscheinlich sind Sie vor der Tür Herrn Kriminalhauptkommissar Schreiner begegnet, der wieder einmal den Mund nicht halten konnte und Ihnen geflüstert hat, dass er in Kürze einen Termin bei mir hat. Und jetzt wollen Sie mich schnell ausquetschen, weil Sie eine lukrative Story für Ihr Blättchen brauchen. Ist es nicht so?“
„Falsch geraten. Dass Schreiner zu Ihnen kommen will, wusste ich nicht, lässt mich aber vermuten, dass es um den Toten vor der Stoltze Bar geht. Stimmt das?“
Schultz blies die Wangen auf, die sich leicht rötlich verfärbt hatten. Sein kunstvoll geschnittener Schnurrbart zog dadurch eine gerade Linie von Ohr zu Ohr. Hektisch fuhr er sich über seine graumelierte Haarbürste. „Nur weil sie mir bei einigen früheren Fällen nützliche Hinweise haben geben können, werfe ich Sie jetzt nicht hinaus. Deshalb hören Sie mir in aller Freundschaft genau zu! Wir treiben hier kein Frage- und Antwortspiel. Jedenfalls sind nicht Sie es, der fragt. Wenn überhaupt, so läuft die Geschichte umgekehrt. Entweder Sie legen jetzt die Karten auf den Tisch und sagen, weshalb Sie hier sind, oder Sie stehlen mir nicht weiter die Zeit. Ist die Botschaft angekommen?“
„Ich war Tatzeuge. Oder ich erzähle es Ihnen besser genauer“, gab sich Hauschild kleinlaut. „Als der Mann auf die Straße taumelte, war ich dabei.“
„Sie sind also Zeuge und haben die Pflicht, vollständig und wahrheitsgemäß auszusagen. Das erwarte ich jetzt umgehend von Ihnen.“
„Deshalb bin ich hier. Aus langjähriger Berufserfahrung weiß ich, wie sich ein Betrunkener benimmt, auch wenn er volltrunken ist. Aber bei diesem Mann hatte ich sofort den Eindruck, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Das war ein anderes Torkeln, ein anderes Erbrechen, ein anderer Gesichtsausdruck. Der sah wie einer aus, der sich seine eigene Lage nicht erklären konnte. Er wirkte einerseits hilflos und ohne Selbstkontrolle, andererseits kämpfte er gegen die Situation an.“ Er zögerte kurz und verlegen mit den Schultern, als suche er nach geeigneten Worten. „Sie dürfen mich bitte nicht für übergeschnappt halten. Ich habe einfach gefühlt, dass dieser Mann sich nicht selbst in diesen Zustand versetzt hatte.“
Schultz blieb kühl. „Nehmen wir einmal an, dass es so war. Kannten Sie den Mann? Und woher wissen Sie eigentlich, dass er tot ist?“
„Er ist mir vorher noch nie über den Weg gelaufen. Aber gerade weil ich sicher bin, dass er Opfer irgendeiner unheimlichen Attacke war, habe ich mich sofort an den Barkeeper gewandt, um ihn auszufragen. Der Bursche reagierte auf meine Fragen äußerst reserviert, so, als habe er Dreck am Stecken. Sein gesamtes Verhalten war seltsam.“
„Also wieder nur ein Gefühl, mit dem Sie nichts beweisen können. Beantworten Sie mir erst einmal meine zweite Frage.“
Hauschild lehnte sich zurück. „Als die Polizeistreife und der Notarzt eintrafen, habe ich den Namen des Opfers mitbekommen. Bei meinen Kontakten war es kein Problem, in der Uni-Klinik herauszubekommen, dass er gestorben ist und die Todesursache Rätsel aufgibt.“
Schultz schob seine Daumen in die Armausschnitte der Anzugsweste und spitzte den Mund. „Was Sie nicht sagen. Und nun wollen Sie in einem Artikel mit einigen hellseherischen Bemerkungen Wind machen, der uns bei der Ermittlungsarbeit ins Gesicht blasen soll. Ist es das?“
Eine tiefe Falte trat auf Hauschilds Stirn. „Natürlich nicht. Sie sollten doch wissen, dass ich eine sorgfältige Recherche bevorzuge. Selbstverständlich haue ich auch mal auf den Putz. Aber doch nur, wenn ich dicht an einem Ergebnis dran bin und Sie wegen Ihrer Vorschriften nicht die selben Möglichkeiten haben wie ich. Wollen Sie den Rest meiner bisherigen Erkenntnisse noch hören?“
Unwillig nickte Schultz. „Machen Sie es kurz. Herr Schreiner wird jeden Augenblick hier sein.“
„Dieser seltsame bunte Vogel aus der Bar stand nach der Versorgung des Opfers in einem auffälligen Fastnachtskostüm am Straßenrand. Als ich ihn zur Rede stellen wollte, lief er weg und ich verfolgte ihn. Er verschwand in einem Mehrfamilienhaus auf der Zeil. Ich habe ein paar Ideen, wie ich mehr über ihn herausbringen könnte.“
„Darf ich Ihre Pläne dazu wissen?“
„Wenn Sie mir, wie schon in früheren Fällen, ein wenig mit Informationen entgegenkommen, überlasse ich Ihnen die Ergebnisse, die ich mit meinen journalistischen Mitteln etwas ungezwungener erreichen kann.“
„Was meinen Sie mit „ungezwungen“? Steht das für ungesetzlich? Dann dürfen Sie gleich Ihren Hut nehmen und gehen.“
Hauschild wehrte lächelnd ab. „Niemals! Das Wörtchen steht dafür, dass wir Reporter manchmal das Glück etwas intensiver bemühen dürfen. Auf eine Weise, bei der Ihre strengen Gesetze leicht knirschen.“
Schultz wischte über seinen Schreibtisch. „Das will ich nicht gehört haben. Erzählen Sie mir lieber endlich, was Sie als nächstes vorhaben.“
Hauschild druckste herum. „Wie ich inzwischen herausgefunden habe, kommt in das Mehrfamilienhaus auf der Zeil einmal in der Woche der Hausmeister.“ Er fing den ratlosen Blick seines Gegenübers auf und fuhr in schulmeisterlichem Ton fort: „Als ich gestern wegen einer Info zum Gericht musste, bin ich auf dem Rückweg an dem Haus vorbeigegangen. Dabei habe ich erfahren, dass heute der Hausmeister kommt, um die Flure und Treppen zu putzen.“ Er stand auf und ging zur Tür. „Dem statte ich jetzt einen Besuch ab. Dieser Hausmeister arbeitet dort, wie man mir gesagt hat, schon sehr lange. Also weiß er vielleicht etwas über die Bewohner und damit vielleicht auch über den Barkeeper. Er soll für ein paar Euros zu sämtlichen Auskünften bereit sein.“
Während Schultz sich den beim Handwerken verletzten Daumen heimlich an seiner Hose rieb, erwiderte er vorgeblich gelangweilt: „Das hätten Sie doch viel einfacher haben können. Warum haben Sie nicht in der Bar nachgefragt?“
„Das habe ich getan. Die Version der Geschehnisse, die man mir dort aufgetischt hat, wich erheblich von der des Barkeepers ab. Vielleicht distanzierten sich die Betreiber der Bar von ihm, weil sie nicht in etwas hineingezogen werden wollten. Sie behaupteten jedenfalls, dass der Dürre lediglich für die Fastnachtszeit als Aushilfskraft eingestellt worden sei. Sein Geld hätte er bar auf die Hand erhalten. Er benötigt es wohl dringend, weil er durch einen Unglücksfall seinen Beruf als Musiker aufgeben musste. Personalien wurden keine festgehalten, aber er ließ sich Toni rufen. Nähere Kontakte zu den übrigen Bediensteten soll es nicht gegeben haben. Von ihnen will auch niemand beobachtet haben, ob Toni mit Oliver Radermacher im Gespräch war, bevor der die Bar verließ. Ich habe allerdings das Gefühl, dass diese Angaben nicht stimmen. Deshalb will ich noch eine andere Spur verfolgen, von der ich mir mehr verspreche. Meine Karten kann ich aber erst später vollständig auf den Tisch legen.“ Sichtlich zufrieden mit der Situation rieb er sich die Hände. „Sobald ich Ihnen mehr Butter bei die Fische geben kann, komme ich wieder. Können Sie sich nun einen Deal zwischen uns vorstellen? Infos gegen Infos? Bei einem Ihrer letzten Fälle waren Sie immerhin bereit, mir als Gegenleistung den einen oder anderen Tipp einen Tag früher als meinen Kollegen zu geben.“
Schultz musterte ihn intensiv. Einen leicht unwirschen Unterton konnte und wollte er nicht unterdrücken, als er ihm antwortete: „Lassen wir es auf uns zukommen. Was man Ihnen in der Bar erzählt hat, muss in der Tat nicht unbedingt stimmen. Aber Sie stützen sich wieder nur auf ein Gefühl. Mehr haben Sie nicht zu bieten, wollen aber Fakten hören. Von mir bekommen Sie weder Infos auf Vorschuss, noch segne ich Ihnen irgendwelche Himmelfahrtkommandos ab. Am Ende erzählen Sie noch irgendwo, im Einverständnis mit der Staatsanwaltschaft zu handeln. Das fehlte noch!“ Er reichte Hauschild die Hand und sah ihn durchdringend an. „Bei Ihrem nächsten Besuch erwarte ich, dass Sie mir alles verraten, was Sie so treiben und dabei erfahren. Ich bestehe darauf, dass Sie mich vollständig unterrichten, ohne Abstriche. Auch über all das, was Sie mir eben verschwiegen haben. Das scheint mir eine ganze Menge zu sein. Ich will mich zu Ihrem besseren Verständnis volkstümlich ausdrücken: Wenn Sie nicht die Hosen komplett runterlassen, kriegen Sie von mir nicht das Schwarze unter meinem Fingernagel. Haben Sie das begriffen?“
Hauschild nickte. Hätte Schultz seinen schlitzohrigen Gesichtsausdruck gesehen, als der Reporter das Gebäude verließ, hätte er ihm nach allen Regeln der Kunst die Daumenschrauben angelegt.

3

Sie sah verführerisch schön aus, auch wenn sie die Vierzig sicher überschritten hatte und die Frisur ein wenig aus der Zeit gefallen schien. Eine überaus gepflegte Frau. Die kunstvoll gescheitelten hellbraunen Haare waren im Nacken zu einem Knoten gebunden, das nur zart aufgetragene Make-up unterstrich ihr zierliches Gesicht mit den leicht eingefallenen Wangen und hätte einem Jahrzehnte zurückliegenden Geschmack standgehalten. Ein Kenner hätte den markanten Duft des schweren Parfums, das sie wie eine Wolke umgab, als Hermes Rouge identifiziert. Ihre Kleidung war nicht weiter auffällig: Zwanglos legeres blaues Jackett, locker fallende weiße Bluse, dunkelblaue Hose. Ihre Augen waren hinter der schwarzen Sonnenbrille halb geschlossen, der Kopf leicht zur einfallenden Sonne aufgerichtet. Dem dürren Mann, der gerade von ihrem Tisch aufgestanden war und sich nur mit einem Kopfnicken verabschiedet hatte, schaute sie nicht einmal nach.