Prolog
Mit unsagbarem Stolz nahm der athletisch gebaute junge Mann vor der Prüfungskommission sein hervorragendes Ergebnis des psychologischen Tests entgegen. Dies war die zweite und damit letzte Stufe, um in der Armee zu den Jungfüchsen zu stoßen, also Teil der Elitetruppe zu werden. Nach seiner dreimonatigen Grundausbildung war die Wahl zunächst deshalb auf ihn gefallen, weil seine auffällige Physis ihn von der Masse der übrigen Soldaten unterschied. Mit dem Abschluss des Tests war er von nun an Teil dieser schnellbeweglichen Kräfte, für die er sich freiwillig zur Truppe gemeldet hatte. Dass er über einen heimlichen Verbündeten verfügte, dessen Hilfe den sicheren Erfolg versprach, hatte er der Kommission selbstverständlich verschwiegen. Denn diese verborgene Stimme, die nur er hörte, und dieses versteckte Gesicht, das nur er sah, waren die Garanten seines Erfolgs gewesen. Selbst die hochkarätigen Psychologen hatten nichts durchschaut.
Riesig würde sich sein kauziger Vater im Sauerland freuen, wenn er ihm seinen militärischen Karrieresprung mitteilen würde. Der alte Herr, der sein Arbeitszimmer voller Säbel und Schusswaffen hängen hatte und sich nur für Kriegsthemen erwärmen konnte. Selbst als er ihm sein herausragendes Abiturzeugnis gezeigt hatte, war dem wortkargen Alten nicht mehr als ein „Akzeptiert“ zu entlocken gewesen.
Vor einem Besuch bei seinem Vater musste er zu einer erneuten dreimonatigen militärischen Ausbildung nach Altenstadt. Seine Einheit war dreigeteilt. Allen voran das sogenannte Grüngemüse, also das Kanonenfutter, dann die Offiziersanwärter, zu denen er gehörte und schließlich ab dem Zugführer die Offiziere. Schießen, Sprengen, Gruppen führen und Fallschirmspringen standen auf der Tagesordnung. Alles nur im Laufen, niemals im normalen Schritttempo.
Die Gehirnwäsche begann mit einer Zwiebacktüte. Sein Ausbilder nagelte sie in einiger Entfernung an einen Baum. In der Mitte der Tüte war ein süßes lächelndes Mädchen abgebildet. Mitten in die Stirn sollte er schießen. Ohne Zögern, ohne erkennbare Gefühlsregung legte er an. Und traf.
Er absolvierte alles bravourös. Selbst die Liegestütze über geöffneten Klappmessern schreckten ihn nicht. Warum auch? Dass es Schinder unter den Ausbildern gab, stimmte ihn nicht nachdenklich. Zynisch in Worten, sadistisch in ihrem Handeln. Und selbstverständlich kam es abends auch zu organisierten Alkoholexzessen. Er ließ alles über sich ergehen, machte mit und war damit Teil des Apparats. Niemand konnte ihm etwas anhaben. Er ruhte in sich.
Am Ende dieses Ausbildungsteils gab es endlich das ersehnte Barrett. Mit der Abkürzung AMF für Allied Mobile Forces. Als Träger dieses Barretts war er nicht mehr verpflichtet, die Offiziere anderer Einheiten zu grüßen, nur noch die eigenen. Das machte ihn stark. Rangabzeichen waren verpönt. Je höher der Dienstgrad, umso größer die Gefahr, vom Feind zuerst getötet zu werden.
Drei weitere Monate Vollausbildung schlossen sich also an. In einem Bataillon mit sechs Kompanien. Darunter ein Jagdkampfzug, dem er mit etwa 20 Kameraden angehörte. Hier herrschte ausschließlich das Gesetz der Faust. Inhalt der Ausbildung war, fürs Vaterland möglichst effektiv zu töten. „Wir machen keine Gefangenen“, prägte der Ausbilder ihnen ständig ein.
Training nachts, tagsüber Schlaf. Hubschrauber setzten ihn irgendwo in den Wäldern ab. Er machte Orientierungsmärsche von 30 bis 40 Kilometern mit, übte Nahkampf und Überleben. Manchmal gab es in den Pausen Erbsen und Weißbrot, manchmal nichts. Dann wurde ihm das Messer abgenommen, Bajonette gab es eh nicht.
In der Phase größten Hungers fing der Ausbilder ein Huhn und forderte ihn auf, es küchenfertig zu machen. Ohne große Worte und langes Nachdenken riss er dem Vorgesetzten das Huhn aus den Händen und biss dem lebenden Tier den Kopf ab. Das trug ihm die Hochachtung seiner Mitstreiter ein. „Das Opfer muss in spätestens 15 Sekunden tot sein“, hieß es anschließend wieder vom Trainer.
Eine Art chirurgische Ausbildung folgte. Töten mit Messern, Stöcken, Steinen, mit dem Doppel-Nelson-Griff oder mit dem Klappspaten, alles war nicht nur erlaubt, sondern erwünscht. Hauptsache Töten. Lautlos. Und schnell.
Mit dem Messer erreichte er absolute Perfektion. Am Anfang übten sie mit einem Gummimesser. Er hatte innerlich darüber gelacht. Als sie das erste Mal mit dem echten Messer probten, konnte er nur noch in letzter Sekunde davon abgehalten werden, seinen Trainingspartner zu erstechen. Die Eigenkontrolle hatte nicht mehr funktioniert.
Nach dieser Zeit ging es für vier Wochen in die Kampftruppenschule nach Hammelburg, die Fabrik der Offiziere. Gastdozenten aus aller Welt kümmerten sich in einem umfassend angelegten Lehrgang um die Einzelkämpfer aller Truppen, vor allem um Gebirgsjäger, Jäger und Fallschirmspringer. Später verließen viele von ihnen die Einheit. Sie schlossen sich Aufständischen in der Dritten Welt oder der Fremdenlegion an.
Die Lehrer vermittelten ihm auch Kenntnisse über Gifte, biologische und chemische Kampfstoffe. Dabei lernte er, giftige Substanzen in Gas zu verflüchtigen, Aerosole herzustellen.
Ansonsten bewegte er sich nur im Wald und führte auf sich gestellte Gruppen. Das Ziel war, hinter feindlichen Linien abgesetzt zu werden und loszulegen. Mit einem kleinen Kern sollte aus dem Stehgreif eine Kampftruppe gebildet werden, die einen verschleierten Einsatz im Stil der Partisanen bewältigte.
„Wenn ich mit Ihnen fertig bin, werden Sie nie mehr mit Ihrer Freundin in den Wald gehen, ohne im Geist Ihre Kampftruppe zusammenzurufen“, hatte der erfahrene Ausbilder visionär zu ihm gesagt. „Am Schluss sind Sie zu allem fähig.“
Sein Ausbilder sollte recht behalten. Nach dieser Zeit war er eine Kampfmaschine, nicht mehr in die Gesellschaft integrierbar. Nichts war mehr wie früher. Er war ein Pulverfass, das irgendwann explodieren musste. Das ständige Führen falscher Namen, Töten und Überleben als Lebensinhalt laugten ihn aus, ließen ihn nur noch so vor sich hin leben. Alles, was er während seiner Kindheit und Jugend an Anstand, Moral, Nächstenliebe und Zivilisation mitbekommen hatte, war wie weggeblasen.
Übrig blieb ein verrohter, gleichgültiger, gefühlloser Mensch. Was man so Mensch nannte. Mit ihm schlich sich unbemerkt ein gewaltsam verändertes Wesen in die Gesellschaft. Das exzellent gelernt hatte, sich zu verstellen.
Von höchster Gefährlichkeit und Perfektion.
1
Als am Gründonnerstag die abendliche Dunkelheit hereinbrach, schlich sich ein Mann vom Mainkai aus die Treppe zur Untermainbrücke herunter. Seine Haare waren ungewaschen, seine Kleidung zerschlissen und schmutzig, sein Gang schleppend. Der typische Gang eines stark angetrunkenen Menschen.
Mit einer Hand hielt er sich am Brückengeländer fest. Er hatte Schwierigkeiten, das Gleichgewicht zu halten. Auf seinem Rücken wackelte ein schweres Gitarrenetui hin und her. Aufpassen musste er auch deshalb, weil seine ausgetretenen Schuhe eingerissen waren. Neue konnte er sich nicht leisten. Außerdem umschlang sein anderer Arm eine noch volle Zweiliterflasche Rotwein. Er presste sie fest gegen seinen Körper. Ein Glücksgefühl durchströmte ihn dabei. Der harte Winter war vorüber. Ein Winter, der ihn zwei Zehen gekostet hatte. Sie waren erfroren, als er sich am Main schlafend im Traum aus seinem Schlafsack gewickelt hatte und über längere Zeit der nächtlichen Kälte ausgesetzt war. Wären die Malteser nicht gekommen und hätten ihn in das Krankenhaus in der Schifferstraße gefahren, wer weiß, wie die Sache ausgegangen wäre. Noch immer sah er das verständnislose Lächeln des sympathischen Arztes mit dem dunklen Haarkranz vor sich, der ihm anscheinend den Rest seiner Füße gerettet hatte. Was hätte sonst aus einem Tippelbruder werden sollen, der nicht mehr tippeln konnte?
Aber nun war erst einmal Frühjahr. Die Sorgen mit dem Wetter waren vertrieben. Das hatte bis zum nächsten Herbst Zeit.
Trotzdem! Den Rotwein konnte er gut gebrauchen. Immer! Auch jetzt, wo es wärmer geworden war. Tagsüber jedenfalls. In den Nächten war es immer noch frisch. Außerdem liebte er Rotwein. Der wärmte so schön im Bauch, und er brauchte ihn dringend, um über den Tag und durch die Nächte zu kommen. Und um diese Gedanken zu verscheuchen, die ihm die alten Erinnerungen zurückholen wollten. An sein früheres bürgerliches Leben, als er noch eine Familie, Arbeit und Wohnung hatte.
Dann der Zusammenbruch der Idylle. Unaufhaltsam und vor allem unabänderlich. Die alte Welt war unwiederbringlich verloren. Erst war er sich wie der Hauptmann von Köpenick vorgekommen und hatte dagegen angekämpft. Erfolglos! Und dann hatte er zu trinken begonnen. Am Anfang noch mäßig, dann von morgens bis abends. Das war besser, denn die Gedanken nahmen ab, verschwammen, kamen immer seltener und blieben schließlich ganz aus.
Er hatte die steile Treppe hinter sich gebracht. Dankbar lachend drückte er seine Lippen auf das Etikett der Weinflasche. Valpolicella stand dort. Wann hatte er sich den zuletzt leisten können? Ein Hauch von Luxus.
Heute war ein Glückstag für ihn gewesen. Seinen Platz hatte er am David- und Goliath-Brunnen an der Hauptwache genommen. Immer seine abgetakelte Gitarre im Arm. Vor sich den Bettelteller und ein Pappschild. Handschriftlich hatte er mit einem weggeworfenen Edding-Stift, den er beim Durchforsten der Papierkörbe und Abfalleimer nach leeren Pfandflaschen gefunden hatte, auf die Pappe geschrieben, dass er auch Schweigegeld nehme. Irgendeinem alten Typen hatte das heute so imponiert, dass er ihm einen Fünf-Euro-Schein in den Teller legte. „Für Ihre Ehrlichkeit“, hatte der Spender gesagt, „und weil Sie nicht vorlügen, Hunger zu haben, sondern es wahrscheinlich lieber versaufen wollen.“
Im Getränkeshop waren die fünf Euro für die Zweiliterflasche Valpolicella ausreichend. Damit würde es ein angenehmer Abend werden. Sorgenfrei!
Mit gebücktem Körper wackelte er unter den Teil des Brückenbogens, der zur Uferstraße hin geneigt war. Dort lagen zerlumpte Decken, Plastiktüten, leere Flaschen und andere Überbleibsel der Bettler herum, die hier mehr oder weniger regelmäßig übernachteten. Er stupste da und dort mit dem Fuß dagegen, aber es war noch keiner der Kumpels in eine der Zudecken eingewickelt. Möglich, dass er einen übersehen hatte, der schon schlief. Die Lichtverhältnisse unter dem Brückenbogen waren zu dieser Zeit so diffus, dass man auch bei sternenklarer Nacht nur undeutliche Umrisse erkennen konnte. Ihm war es auch gleichgültig. Dann machte ihm niemand den Rotwein streitig. Irgendwann würden sie schon alle kommen. Später, viel später. Bis dahin wäre die Flasche leer. Und keiner würde ihm mehr vorwerfen können, geizig zu sein.
Er ließ sich auf ein paar ausgerollten Pappkartons nieder und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Ausläufer der Brücke. Dann trank er. Zügig und viel. Gelegentlich musste er aufstoßen. Er lachte laut auf und trank weiter. Allmählich fühlte er mit einem süßen Schauer, wie ihn der Alkohol immer mehr umnebelte und seinen Körper schwer machte. Zwischendurch rauchte er noch eine selbstgedrehte Zigarette. Irgendwann war er aber zu betrunken, um noch selbst drehen zu können. Und einen Vorrat hatte er nicht angelegt.
Langsam rutschte er in die Horizontale. Sein Kopf war schwer wie Blei. Er wollte nur schlafen. Oder sollte er noch schnell bei den Bäumen im Park nebenan, dem Nizza, austreten? Sonst konnte ihn der andauernde Druck der Blase beim Schlafen stören.
Er straffte seinen Oberkörper und zwang sich, die Augen offenzuhalten. Mühsam sah er sich um. Der Blasendruck nahm weiter zu. Er wollte aufstehen.
Da! Seitlich des Stützbogens der Brücke, auf seiner Mainseite, tauchte der Schatten eines Menschen auf. Er sah ihn immerhin verschwommen, zumal er zugleich eine graduelle Ernüchterung spürte. Den Bewegungen nach war es ein junger Mann. Er lief auf und ab, als warte er auf jemand. Dann trat dort aus dem Dunkel eine weitere Person. Der Größe nach konnte es noch ein Kind sein. Klein und zierlich. Die beiden Leute gingen aufeinander zu und blieben eine Weile beieinander stehen. Den Gesten nach besprachen sie etwas. Sie gestikulierten, kamen sich näher und rückten wieder voneinander ab. Einmal schlang der junge Mann die Arme um die kleine Person, küsste sie vielleicht. Doch es dauerte nicht lange, bis sie sich wieder lösten.
Der Bettler rieb sich die Augen. Im Grunde konnte es ihm gleichgültig sein, ob es sich vielleicht um Vater und Kind oder um ein streitendes schwules Paar handelte, das aus Angst, gesehen zu werden, hierher gegangen war. Bei diesem Licht und seinem Alkoholquantum erkannte er sowieso nicht genau, was dort drüben vor sich ging. Ihn erfüllte nur noch ein Interesse. Er wollte nur möglichst unbemerkt urinieren, um anschließend in Ruhe zu schlafen.
Als er sich erhob, stürzte der junge Mann gegenüber gerade auf die kleine Person los. Das sah nach Gewalt aus. Der Bettler meinte sogar, ein paar aggressive Wortlaute zu hören.
Auf einmal überstürzten sich dort drüben die Ereignisse. Eine dritte Person tauchte wie aus dem Nichts auf. Den Umrissen nach war es ein Mann. Von großer Statur und stark gebaut. Oder waren es sogar zwei Menschen, die hinzu eilten? Sah er jetzt schon doppelt? Gaukelte ihm der übermäßige Alkoholgenuss etwas vor, das es gar nicht gab? Ihm war unklar, was er überhaupt noch wahrnahm. Jedenfalls aufgeregte Bewegungsabläufe, zerrissene Wortfetzen.
Dann holte der kräftige Neuankömmling zu einem mächtigen Schlag aus. Dabei blitzte im fahlen Licht der Sterne irgendetwas in seiner Hand. Der Hieb traf offenbar den jungen Mann, der ohne einen Laut zusammenbrach. Wie angewurzelt stand die kleine Person daneben und schaute zu. Plötzlich war sie verschwunden. Der Schläger kniete nieder und schien nach irgendetwas zu suchen. Alles blieb still.
Der Bettler schüttelte sich und lächelte. Die zwei Liter Valpolicella hatten ihm wahrscheinlich einen bösen Albtraum serviert. Morgen würde er sich an nichts mehr erinnern. So gut kannte er sich. Und selbst wenn: Wen interessierte auf dieser Welt noch, was er erlebte oder glaubte, in seinem hochprozentigen Dauerzustand gesehen zu haben?
Nicht einmal ihn selbst! Ihn interessierte nur noch, dass er urinieren wollte. Und dann einschlafen, um das, was sich Leben nannte, zu vergessen.
2
An ihren Haaren habe ich sie gezerrt. So, dass sie mich ansehen musste. Dann habe ich ihr ins Gesicht geschrien: Karina, du vom Teufel besessenes Tier. Meinen Sohn hast du verhext. Dafür wirst du büßen. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte er dich niemals geheiratet.“ Josef Weiss, breit gebaut, über einsachtzig groß, schob seine Goldrandbrille von der Nasenspitze nach oben und sah seine beiden Gesprächspartner erwartungsvoll an. In seinem Blick lag ein Hauch von Triumph, der mit einer unterdrückten Angst kämpfte. Begierig suchten seine Augen den Kontakt mit den beiden Gesprächspartnern, während er mit den klobigen Fingern seiner abgearbeiteten Hände das dünne, weißblonde Haar glättete. „Ihr kennt ja die Vorgeschichte, oder?“
Johannes und Mario Beckstein schauten sich an. Der ältere der zwei Brüder, Johannes, zuckte resignativ mit den Schultern und druckste etwas Unverständliches vor sich hin. Er wandte sich ab und begann, mit den Fingern an den Nähten seiner Anzughose zu spielen, deren Bund sich wegen des übermäßigen Bauchumfangs nach außen geklappt hatte.
Für Mario schien die Reaktion seines Bruders das verabredete Zeichen zu sein, die Gesprächsinitiative zu übernehmen. Er lächelte Weiss verhalten an. Mit den verschmitzten Augen, seinen vollen schwarzen Locken und dem feinen Oberlippenbart sah er aus wie das Idealbild eines verführerischen Liebhabers. „Wie hat Karina darauf reagiert?“
Weiss errötete. „Ganz unverschämt! Sie hat mich ausgelacht. Ich sei wohl irre, einfach nicht von dieser Welt.“
Mario Beckstein nickte nur. Ihm war anzusehen, dass er sich noch keine feste Meinung gebildet hatte und das Gespräch mit Weiss nicht vertiefen wollte. „Wir müssen auf Harro warten. Mit ihm besprechen wir, wie es weitergehen soll. Er regelt das auf seine Weise. Das ist seine Aufgabe. Dafür haben wir ihn in den Vorstand gewählt.“
Johannes trat wieder hinzu. Er schlug seinen Mantelkragen hoch. Ein leichter Wind kam vom Main herüber und ließ die grauen Haarlocken um seinen Kopf tanzen. Er ging ein paar Schritte die Uferpromenade entlang auf die Alte Brücke zu. Mit beiden Händen zeigte er zum Neubau der Europäischen Zentralbank. „Dort ist das eigentliche Problem. Das goldene Kalb unserer Zeit. Nur das Geld zählt noch. Der Mensch ist verloren gegangen.“
Sein Bruder winkte ab. „Hör auf damit. Das ist jetzt nicht der richtige Ort. Schau, da kommt Harro. Und mit ihm der größte Teil unserer Gemeinde.“
Ein hoch aufgeschossener, schmaler Mittfünfziger näherte sich samt einer Gruppe von etwa 40 Frauen und Männern in bürgerlich-konservativer Bekleidung. Alle Frauen trugen lange Röcke. Als er die Beckstein-Brüder und Weiss erreicht hatte, zeigte er mit einer halbkreisförmigen Bewegung hinter sich. „Wir sind vollzählig.“ Sein Gesichtsausdruck war äußerst ernst und düster, der lange dunkle Mantel gab ihm ein fast finsteres Aussehen. Seine Stimme glich einem tiefen Bass. „Die Vorstandsmitglieder bitte nach vorn zu mir.“
Die Becksteins und Weiss gingen auf ihn zu und nickten zur Begrüßung. Harro Spangenberg schien es nicht zu registrieren. Seine wasserblauen Augen verloren sich im Nirgendwo. Gleichwohl machte er klar, die volle Kontrolle zu haben. „Peter Felbrich fehlt. Wo ist unser fünfter Mann?“
Aus der Gruppe löste sich ein dunkelhaariger, gut aussehender Abenteurertyp. Grußlos forderte Spangenberg ihn mit einer Handbewegung auf, sich neben ihm zu postieren. „Wir ziehen sofort los. Bitte die Devotionalien zu mir.“
Zwei Frauen und zwei Männer traten aus dem Kreis der Gemeindemitglieder heraus. Sie trugen ein helles, meterhohes Holzkreuz und eine ebenso große dicke weiße Kerze mit dem aufgedruckten Abbild eines stilisierten Fischs, dem Ichtios, Erkennungszeichen der Urchristengemeinde. Außerdem eine gläserne Laterne und eine weiße Fahne mit purpurner Aufschrift: Freie Christengemeinde Golgatha/Bergen-Enkheim. Spangenberg ließ die Sachen mit knappen Anweisungen auf die Vorstandsmitglieder verteilen. Josef Weiss bekam die weiße Fahne zugewiesen, Peter Felbrich die Kerze, Johannes und Mario Beckstein die Laterne. Er selbst bemächtigte sich des Kreuzes und übernahm die Spitze der Gruppe. Als er den Arm in die Luft streckte, formierten sich zunächst die Vorstandsmitglieder und hinter ihnen die übrigen Teilnehmer in Zweierreihen. Sie hielten sich bei den Händen. Dann bewegte sich die Prozession in gemessenen Schritten Richtung Untermainbrücke.
Die verbissenen, teils versteinerten Gesichter der Prozessionsteilnehmer waren auf den Asphalt der Uferpromenade gerichtet. Ihre Füße traten gleichförmig auf, die gefalteten Hände ruhten bewegungslos in Höhe der Brust. Über allem lag ein seltsamer Hauch von Kampfer, so als seien in die Säume der Kleider Mottenkugeln eingenäht. Die Monotonie hätte nur noch durch die Musik von Popol Vuh gesteigert werden können. Den oberhalb am Mainkai abgestellten Streifenwagen der Polizei schien die Gruppe trotz eingeschalteten Blaulichts nicht zu bemerken. Sie gingen an dem restaurierten Altstadtviertel Frankfurts vorbei, ohne Kaiserdom, Nicolaikirche und Römer eines Blickes zu würdigen. Auch das gegenüber liegende Herzstück der Stadt, das Ebbelwoi-Viertel in Sachsenhausen, streiften sie nicht einmal aus den Augenwinkeln.
Tatsächlich ereignete sich wenig, was die Kolonne von ihrer inneren Konzentration hätte ablenken können. Karfreitag. Nur wenige Menschen waren auf den größtenteils höher gelegenen Straßen nördlich und südlich des Mains unterwegs. Einige Neugierige schauten dem Aufzug kurz zu, gingen dann aber ihres Weges. Da und dort bellte ein Hund. Und gelegentlich strich ein Radfahrer an der Gruppe vorbei. Das war schon alles.
Wie auf ein unsichtbar erteiltes Kommando blieb die Prozession stehen. Alle Teilnehmer scharten sich im Halbkreis um einen Baum. Daran war eine gerahmte Tafel befestigt, die mit einer durchsichtigen Plastikhülle überzogen war. Spangenberg stellte sich seitlich neben der Tafel auf, je zwei der übrigen Vorstandsmitglieder an seiner Seite. „Hier beginnt unsere nachgestellte Via Dolorosa, der Kreuzigungsweg unseres Herrn. Wir sind jetzt an der ersten Station angekommen.“ Er senkte die Stimme, schloss halb die Augen. Seine Miene verfinsterte sich noch über das angeborene Maß hinaus. Er zeigte auf die Tafel. „Hier sind die Bibelstellen aufgeschrieben, die in den vier Evangelien die erste Station des Leidenswegs Christi bezeugen. Das war der Ort, wo er zum Tode verurteilt wurde. Ich zitiere jetzt aus dem Markusevangelium.“ Spangenberg las vor. Die Gemeinde verhielt sich andächtig still. Als er fertig war, zeigte er auf den Fisch. „Ich bitte euch, Brüder und Schwestern: Lobet den Herrn!“
Alle Gemeindemitglieder nahmen sich bei der Hand und stimmten ein Lied an. Sie sangen eine Strophe. Anschließend formierten sie sich wieder wie zuvor und schritten weiter auf der Uferpromenade. An jeder folgenden Station vollzog sich dasselbe Ritual. Kurz hinter dem Eisernen Steg, der Brücke, an deren Eisengeländer tausende Pärchen durch das Anbringen von Sicherheitsschlössern die Ewigkeit ihrer Beziehung beschwören wollten, erreichten sie ihre elfte Station. Den Evangelien nach sollte hier Jesus ans Kreuz geschlagen worden sein. Bevor Spangenberg die Tafel erläutern und mit dem Vorlesen beginnen konnte, stürzte Josef Weiss auf ihn zu, griff nach seinem Arm und zeigte auf die Inschrift. Mit einer schrägen Falsettstimme schrie er auf. „Da schau! Es hängt ein Foto daneben. Wer hat das hier angebracht? Das ist dieses Teufelsweib, das meinen Sohn um den Verstand gebracht hat. Karina Weiss.“ Den gemeinsamen Nachnamen betonte er abfällig und spuckte aus. „Sie verhöhnt uns schon damit, dass sie noch meinen und den Namen meines Sohnes tragen darf. Runter mit dem Bild, zerreißt oder verbrennt es.“
Johannes und Mario hängten sich rechts und links bei ihm ein und beruhigten ihn. Auch Felbrich kam hinzu und beschwichtigte. „Das war ich. Als wir den Prozessionsablauf organisiert haben, hat Harro als unser oberster gewählter Glaubenswächter es so vorgeschlagen.“
Irritiert schaute Josef Weiss Spangenberg an. „Warum hast du das getan?“
Spangenberg setzte ein entrücktes, gefährliches Lächeln auf. „Da, wo sich die Hölle für unseren Herrn auftat, nämlich an der elften Station des Kreuzigungswegs, hängt nun das Bildnis der größten Feindin des Glaubens.“
Weiss schüttelte sich. Er schaute verständnislos in die Runde der Vorstandsmitglieder. „Wie soll ich das begreifen? Als Ehrenplatz neben der Leidensgeschichte unseres Erlösers?“
Mario erhob die Arme, als wolle er Weiss segnen. „Denk nach. Das bedeutet, dass sie statt unseres Herrn ans Kreuz gehört. Sie hat sich durch ihren Lebenswandel versündigt und der Gotteslästerung schuldig gemacht. Schlimmer geht es nicht. Jetzt ist sie eine vom Glauben Abgefallene. Dieses Foto soll uns eine Mahnung sein und an eine überlebenswichtige Verpflichtung der Gemeinde erinnern. Entweder es gelingt uns, diese Sünderin zu befreien und zurückzuführen. Oder aber wir überantworten sie unserem Glaubenswächter, unserem Großinquisitor. Er weiß, mit solchen Problemfällen umzugehen. Wie wir alle wissen, gab es schon einmal einen Glaubensverräter in unseren Reihen. Damals haben wir es für ausreichend angesehen, ihn zu exkommunizieren. Wird Karina nicht wieder einsichtig, mag sie in den Klauen des Teufels zugrunde gehen.“
Weiss befreite sich und fixierte Spangenberg. „Ich erinnere mich gut an den Fall, den du ansprichst. Das war die Geschichte mit Lucius. Dabei ging es um etwas ganz anderes. Weniger schlimm. Er hat schließlich niemanden mit sich in den Abgrund gerissen. Niemanden verführt. Karina muss bestraft werden, damit sie nie mehr so etwas anrichten kann. Sie muss endgültig ausgeschaltet werden. Die Methoden überlasse ich dir. Ich vertraue dir blindlings. Das weißt du. Mach etwas, aber schnell! Es fällt ein langer Schatten auf unsere Gemeinde.“
„Du sorgst dich ohne Grund. Entweder kümmere ich mich unmittelbar nach Ostern selbst darum. Oder ich übertrage es einem verlässlichen Glaubensbruder aus dem Vorstand. Vielleicht wäre auch Mario der geeignete Mann. Wie wir wissen, kann er mit seinem ausgeprägten Einfühlungsvermögen eine Vertrauensgrundlage schaffen. Insbesondere bei Frauen.“ Spangenberg warf Mario einen verschwörerischen Blick zu. „Wir wollen das morgen besprechen.“ Er wandte sich allen Gemeindemitgliedern zu. „Lasst uns jetzt weiter den Weg unseres Herrn gehen.“
Der Himmel spielte mit und schenkte der versunken westwärts schleichenden Kolonne einen erträglichen trockenen Frühlingstag. Einige milde Sonnenstrahlen drückten sich durch ein weißes Wolkenband und spiegelten sich in den zahllosen Fensterscheiben der Frankfurter Bankentürme. Die Ansammlung dieser Hochhauspaläste hatte der Stadt den Zweitnamen Mainhattan eingetragen. Wie mahnende Finger ragten sie bis zu den Wolken. Die feiertägliche Menschenleere verlieh ihnen einen bedrohlichen Charakter, vermittelte eine gespannte Atmosphäre und schuf eine Art Angstraum.
Die Prozession näherte sich der Station 14 kurz vor der Untermainbrücke und damit dem Endpunkt des Umzugs. Die Tafel am Baum zeigte ein Foto der Grabeskirche in Jerusalem, den Platz, wo nach althergebrachter Tradition der Leib Jesu ins Grab gelegt wurde. Wieder las Spangenberg vor und die Gemeinde sang. Zum Schluss beteten sie das Vaterunser. Als alle etwas unschlüssig herumstanden, ergriff Johannes Beckstein das Wort. Er deutete auf die Bögen der Untermainbrücke. „Wir gehen zusammen dort hindurch. Dahinter, in der Gaststätte im Nizza haben wir einen kleinen Saal reserviert. Dort können wir etwas essen und trinken.“
Das Nizza, ein kleines Stück des Mainufers, versprach mit seinen subtropischen Anpflanzungen ein bisschen Entspannung in mediterraner Umgebung. Die Gemeindemitglieder hatten den Brückenbogen fast durchschritten, als der Blick von Josef Weiss zu den Obdachlosen wanderte. Sie lagen in der rechten Ecke, eingehüllt in dicke Decken oder Schlafsäcke, umgeben von leeren Flaschen und Plastiktüten mit verborgenen Habseligkeiten. Einige hatten sogar ein paar minderwertige Möbel aufgestellt, darunter eine Couch, die mit zerschlissenem dunkelroten Velours bezogen war. Als Sichtschutz waren ein paar Kunststoffzäune in den Boden gerammt, die üblicherweise von Touristen an Meeresstränden benutzt werden. Eine totale Stille lag über der Szene.
Dann schaute Josef gebannt zu der dem Main zugewandten Ecke des Brückenbogens. Dort drang das Licht nur am späten Abend hin, wenn die Sonne im äußersten Westen stand. Weiss kniff die Augen zu Schlitzen zusammen, um in dem diffusen Licht etwas sehen zu können. Mit einem Mal schüttelte er den Kopf und hielt Peter Felbrich am Arm fest. Er deutete in die finstere Ecke. Sein Gesicht drückte Verwunderung aus, seine Stimme vibrierte. „Schau doch mal genau dort hin. Das sieht aus wie ein Kreuz, das im Boden vertieft ist. Und obendrauf scheint ein Mensch zu liegen. Seltsam. Hat der Herr uns ein Zeichen gegeben?“
Felbrich machte die übrigen Vorstandsmitglieder auf das ungewöhnliche Szenario aufmerksam. Spangenberg bedeutete der Gemeinde, zu warten. Dann forderte er Weiss, die beiden Becksteins und Felbrich auf, ihn zu dem mutmaßlichen Büßer zu begleiten. „Falls hier ein Mensch in Gewissensnot ist, müssen wir beistehen.“ Er zögerte einen Augenblick. „Ich halte es allerdings auch für möglich, dass unser exkommuniziertes Gemeindemitglied Lucius Tillich sich eine besondere Art der Provokation für uns ausgedacht hat. Es wäre nicht das erste Mal.“
Sie hatten die Stelle noch nicht erreicht, als Weiss laut aufschrie und schneller zu laufen begann. „Benedikt“, rief er, als er dessen Gesicht erkannte. „Wir müssen ihm helfen. Er ist gefesselt.“
Als die fünf Männer das Ende des linken Brückenbogens erreichten, bot sich ihnen ein Bild, das den Anlass des Feiertags auf ebenso makabre wie entsetzliche Weise entweihte. Auf dem Boden lag leblos ein junger Mann. Seine ausgebreiteten Arme steckten in Lederschlingen, ebenso seine Füße. Die Lederschnüre waren durch Heringe gezogen und damit fest in der Erde verankert. Die herausfordernd inszenierte Präsentation des Toten sollte zweifellos den Eindruck einer symbolischen Kreuzigung erwecken.
Der Mann war unauffällig bekleidet. Um den Hals und über die Schultern hatte er einen roten Wollschal gewickelt, der einer spanischen Mantilla glich, wie sie eher von Frauen getragen wurde. Außerdem trug er einen grauen Trainingsanzug. Am linken Oberschenkel hatte die rundum verschmutzte Trainingshose einen kleinen Winkelriss.
Das Gesicht war leicht zum Inneren des Brückenbogens geneigt. Die dunkelblonden Haare klebten wirr am Kopf. Ein Augenlid war geschlossen, das andere Auge halb geöffnet. Die Pupille war trüb und glanzlos, der Blick gebrochen. Der Gesichtsausdruck war friedlich. Er drückte weder Angst noch Schmerz aus, schon eher Überraschung. Unverkennbar war der Mann tot.
Aus dem zur Brust hin aufgeklappten Unterkiefer ragte ein kleines Stück die Zunge hervor. Irgendwelche äußeren Verletzungen waren nicht zu sehen.
Josef Weiss stierte fassungslos vor sich hin. „Und wir haben ihm noch erlaubt, ausnahmsweise bei der Prozession zu fehlen. Er hatte uns doch davon überzeugt, ein paar dringliche Gespräche wegen seiner Scheidung führen zu müssen. Jetzt weiß ich nicht einmal, mit wem er zuletzt gesprochen hat.“ Sichtlich bewegt trat er ganz nahe an seinen toten Sohn heran. Er beugte sich zu ihm und wollte eine Haarlocke aus der Stirn streichen. Spangenberg war sofort bei ihm und fiel ihm in den Arm. „Nicht anfassen! Du vernichtest vielleicht wichtige Spuren. Das sieht so aus, als wäre Ben Opfer eines Gewaltverbrechens geworden.“
Nervös betupfte Mario Beckstein seinen Schnurrbart. „Wie soll das passiert sein? Man sieht doch nichts.“
„Das muss man auch nicht.“ Felbrich richtete sich zur vollen Größe auf. „Er kann Verletzungen unter den Kleidern haben. Vielleicht hat er eine Giftspritze bekommen.“
Josef schaute bleich, hilflos und verloren in die Runde. Tränen liefen über seine Wangen. Jetzt meldete sich auch Johannes Beckstein zu Wort. „Das ist zwar sehr unwahrscheinlich. Aber kann es nicht auch Selbstmord gewesen sein? Aus einer Depression heraus, weil er unglücklich war? Die ganzen Utensilien um ihn herum könnte er ja vorher arrangiert haben.“
Inzwischen war die gesamte Gruppe der Prozessionsteilnehmer hinzugekommen und hatte einen Halbkreis um die Vorstandsmitglieder und den Toten gebildet. Viele stellten sich auf die Zehenspitzen, um die fürchterliche Inszenierung des Toten besser sehen zu können. Erst hörte man nur ein unheimliches Raunen, dann erschrockenes Gemurmel und schließlich zischendes Geflüster.
Josefs Gesicht lief plötzlich puterrot an. Er stürzte auf Harro Spangenberg zu. „Das ist doch alles gleichgültig. Falls er wirklich Hand an sich gelegt haben sollte, hat er das aus Scham getan. Dann hat Karina ihn mit ihrem gotteslästerlichen Lebenswandel dazu getrieben. Und er hat die Verantwortung dafür übernommen.“ Er schluchzte. „Dein Handlungsspielraum ist jetzt hauteng geworden. Praktisch gleich null. Ich will damit sagen, dass es nur noch eine richtige Antwort gibt, diesem Teufelsweib das Handwerk zu legen. Und zwar die Antwort aus dem Alten Testament. Auge um Auge!“
Spangenberg blieb erstaunlich ruhig. Er legte den Arm um Josef. „Das will alles sorgfältig bedacht sein. Erst einmal müssen wir wissen, was genau geschehen ist. Egal wie wir anschließend reagieren. Alles muss gründlich vorbereitet sein.“
Weiss stieß Spangenbergs Arm von seiner Schulter. „Soll das heißen, du willst die Sache aussitzen? Soll diese Verbrecherin ungeschoren davonkommen?“
Spangenbergs Stimme blieb sachlich. „Nein. Aber eine richtige Lösung gibt es immer nur, wenn man das Rätsel kennt.“ Er forderte mit ein paar Fingerzeigen alle Gemeindemitglieder auf, respektvoll einige Schritte von dem Toten zurückzutreten. Dann wandte er sich an Mario. „Gehe bitte ins Nizza und erkläre dem Wirt, warum wir nicht kommen können. Biete ihm an, dass wir seine Auslagen erstatten.“ Im Anschluss wollte er Felbrich ansprechen.
Er kam nicht dazu. Johannes Beckstein war inzwischen noch einmal ganz nahe an den Toten herangetreten und hatte sich über dessen Gesicht gebeugt. Mit einem Mal winkte er heftig. Seine Stimme überschlug sich. „Kommt doch einmal her. Ein Selbstmord kann das jedenfalls nicht gewesen sein. An dem roten Schal sind lauter Verkrustungen, die wie getrocknetes Blut aussehen. Genau kann ich das nicht sehen, will aber auch diesen Umhang nicht anfassen. Und seht mal, Ben hat den Mund voller Goldfäden.“
Allen voran Weiss und Felbrich stürzten jetzt sämtliche Gemeindemitglieder herbei, um den Toten näher zu betrachten. Mario Beckstein, der schon Richtung Nizza abgedreht war, lief ebenfalls hinzu. Nur Spangenberg blieb ruhig an seinem Platz. Etwas wie Ungewissheit, ja sogar Misstrauen spiegelte sich in seinen Augen, als er die Vorstandskollegen musterte. „Zeigt doch im Angesicht des Todes etwas mehr Würde. Und benutzt euren Verstand, bevor ihr irgendwelche Panikparolen ausstreut. Selbstverständlich kann es ein Freitod sein. Jemand kann Ben im Nachhinein dieses Zeug in den Mund geschoben haben.“
Johannes Beckstein signalisierte Unglauben. „Das halte ich nicht für wahrscheinlich. Es sieht aus wie metallenes Garn oder wie ganz feine Metallfäden. Von solchen Sachen trennt sich niemand, um damit solchen Frevel zu begehen.“
Mit einer energischen Handbewegung wischte Spangenberg Johannes‘ Hinweise weg. Sein Versuch zu sprechen wurde von einem langen Pfiff der historischen Dampflok übertönt, die gerade am Eisernen Steg angehalten hatte, um ein paar Ausflügler aufzunehmen. Mächtige, tiefschwarze Rauchwolken breiteten sich aus. Es roch intensiv nach verbrannter Kohle. Spangenberg wartete das Ende des Pfiffs ab und erhob dann seine Stimme. „Dahinter könnte ja auch eine Symbolik stecken. Im griechischen Kulturkreis hat man vor Jahrhunderten den Toten eine Goldmünze in den Mund gelegt. Sie sollte der Lohn für den Fährmann sein, der den Verstorbenen über den Fluss ohne Wiederkehr rudern musste.“ Seine Miene verhärtete sich. „Schluss damit. Das führt nicht zur Erkenntnis.“
Er setzte sich einige Schritte von der Gemeinde ab. Die halb geschlossenen Augenlider gaben seinem Gesicht einen rätselhaften verschwörerischen Ausdruck. Mit einer lässigen Geste und beiläufigem Tonfall wandte er sich an die Gruppe. „Bitte nur die Vorstandsmitglieder zu mir. Wir müssen uns beraten, wie wir weitermachen.“
Felbrich, Johannes und Mario Beckstein traten zu ihm. Auf den zögernden, leichenblassen Weiss ging Spangenberg kurz entschlossen zu und zog ihn mit sich. Als alle in ausreichendem Abstand von den übrigen Gemeindemitgliedern um ihn versammelt waren, verlegte sich Spangenberg auf ein Flüstern. „Hört mir bitte zu! Bei aller Tragik der Situation kann es sich bei den Goldfäden in Benedikts Mund auch um eine Anspielung handeln, mit der uns gedroht werden soll. Ihr wisst, was es mit diesem goldenen Garn auf sich hat. Die Enthüllung des Hintergrunds kann unserer Gemeinde die Existenz kosten. Wir kommen hier ohne Polizei nicht aus. Ich hoffe, dass ihr euch der schwierigen Lage bewusst seid, in der wir uns befinden. Wenn die Polizei uns fragt, ob wir uns auf die merkwürdigen Fäden einen Reim machen können, gibt es nur eine Antwort: Schweigen! Sind wir uns da einig?“
Die Becksteins und Felbrich nickten. Nur Weiss reagierte aufgeregt. „Ja, aber, wer kann denn noch die Bedeutung der Goldfäden kennen?“
Spangenberg hob energisch den Arm. „Das tut jetzt nichts zur Sache. Wir klären das unter uns. Eventuell müssen wir dann mit jemandem ein sehr ernstes Wort reden.“
Mit einem charmanten Lächeln, das zwar aufgesetzt wirkte, ihm aber gleichwohl etwas Unwiderstehliches verlieh, meldete sich Mario zu Wort. „Könnten wir das Zeug nicht einfach wegnehmen und unauffindbar entsorgen? Dann wäre ja wohl das Problem gelöst.“
Felbrich sah ihn verschmitzt an und klopfte ihm sacht auf die Schulter. „Ich habe immer geglaubt, für die Rolle des Draufgängers sei ich zuständig. Meine Anerkennung. Gut gebrüllt, Löwe.“
Spangenbergs Gesicht drückte Unmut aus, zeigte aber auch eine Spur von Überheblichkeit. „Das klingt wenig durchdacht. Woher wollen wir wissen, wer hier nicht schon vorbeigegangen ist und die Fäden gesehen hat.“ Er zeigte zunächst auf die übrigen Gemeindemitglieder, richtete dann aber schnell seinen Finger auf die Obdachlosen unter der gegenüberliegenden Seite des Brückenbogens. „Ein einziger Zeuge genügt, der die Polizei informiert. Dann können uns unangenehme Fragen gestellt werden. Das sollten wir uns ersparen.“ Er stöhnte gequält auf. „Wir müssen, soweit es geht, bei der Wahrheit bleiben. Sonst verstricken wir uns immer mehr. Das halten wir nicht durch.“ Laut richtete er das Wort an Peter Felbrich. „Sei so gut und ruf die Polizei an. Und sag ihnen, dass wir hier auf sie warten.“
Dann versammelte Spangenberg die Gruppe um das Lager des Toten, faltete die Hände und begann zu singen: „Großer Gott, wir loben dich!“
Währenddessen hatte Peter die bessere Idee, hinüber zum Mainkai zu laufen und die Beamten in dem Streifenwagen anzusprechen, der ihnen die ganze Zeit gefolgt war.
Nach wenigen Minuten glich die Umgebung einem Tollhaus. Eine Vielzahl von uniformierten und zivilen Polizisten sowie ein Trupp der Spurensicherung, deren weiße Overalls dem Outfit von Astronauten nachempfunden schienen, bevölkerten die Gegend um das Nizza und vermittelten das Bild eines geordneten Ameisenhaufens. Bis auf eine Handvoll Reporter, die aufgeregt hin und her schwärmten und noch nicht die richtigen Ansprechpartner für inhaltsreiche Interviews gefunden hatten.
Die Polizisten hörten kurz die Vorstandsmitglieder der Kirchengemeinde an und nahmen ihre Personalien auf. Zeitgleich weckten andere Beamte die Obdachlosen und stellten die Identitäten fest. Zeitgleich untersuchte die Spurensicherung die Leiche und den Fundort.
Nach dem Eintreffen der Gerichtsmedizinerin, einer kleinen rothaarigen Dame, und des Staatsanwalts, eines mittelgroßen, ein wenig korpulenten, dynamischen Mannes, lupfte ein Beamter der Spurensicherung in Abstimmung mit den Anordnungen eines vollbärtigen, pockennarbigen Kriminalbeamten den roten Wollschal, der um den Hals und die Schultern der Leiche geschlungen war.
Der Kopf der Gerichtsmedizinerin schnellte nach vorn. Eine längliche mit schwarzrotem Blut verkrustete Wunde am Hals des Opfers machte die Annahme eines Selbstmordes zunichte.
Benedikt Weiss war zweifellos Opfer eines Verbrechens geworden.