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Ungeahnte Abgründe mit tödlichen Perspektiven Der Kleingartenverein ›Erntedank‹ steht vor tiefgreifenden Veränderungen. Ein Flüchtlingsheim muss nebenan integriert werden, auch der Westernverein ›Bonanza‹ mit angeschlossener Kinderfarm trifft auf Vorbehalte. Franziska und Andreas, immer noch nicht verheiratet, müssen den Vereinsvorsitz abgeben. Dann wird Josefine Feuerbach, ein beliebtes Original des Kleingartenvereins, erschlagen aufgefunden. Der kommissarische Vereinsvorsitzende gründet eine Bürgerwehr. Dennoch kommt es zu einer Brandserie im Parzellengebiet, die für zusätzliche Unruhe sorgt. Als ein Mitglied der Bürgerwehr auf dem Findorffer Wochenmarkt stirbt, suchen Kriminalrat Strelitz und sein Team nach den Zusammenhängen. Währenddessen tobt im Kleingartenverein ein Richtungskampf, in den auch Franziskas ehemaliger Lebensgefährte verwickelt ist. Lassen sich alle Knoten dieses Falles lösen, wird der Kriminalrat ›abgesägt‹ – und wer ist der Mörder? Nicht der Gärtner, sondern ...
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Seitenzahl: 338
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Franziska und die Bürgerwehr
Der Kleingartenverein. ›Erntedank‹ steht vor tiefgreifenden
Veränderungen. Ein Flüchtlingsheim muss integriert werden,
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und der Westernverein ›Bonanza‹ mit angeschlossener Kin-
Fran
derfarm trifft ebenfalls auf Vorbehalte.
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Franziska und Andreas, immer noch nicht verheiratet,
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verlieren darüber den Vorsitz im Vorstand.
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Dann wird Josefi ne Feuerbach, ein beliebtes Original des
Kleingartenvereins, erschlagen aufgefunden. Der kommis-
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sarische Vorstandsvorsitzende gründet eine Bürgerwehr.
Dennoch kommt es zu einer Brandserie, die für zusätzliche
Bü
Unruhe sorgt.
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karus
Als ein Mitglied der Bürgerwehr auf dem Findorffer Wo-
chenmarkt ums Leben kommt, suchen Kriminalrat Strelitz
und sein Team nach den großen Zusammenhängen.
Währenddessen gibt es im Kleingartenverein einen Rich-
r Fall I
tungskampf, in den auch Franziskas früherer Lebensgefährte
verwickelt ist.
Lassen sich alle Knoten dieses Falles lösen, bevor Andreas
und de
und Franziska ihre Hochzeitsreise antreten? Und heiraten die
a
beiden überhaupt?
BremenKrimi
Franzisk
Hans-Peter Mester war von 1985 bis 2000
BremenKrimi
stellvertretender Leiter des Ortsamtes Bremen-West.
Von 2000 bis 2012 stand er an der Spitze dieses
Amtes und begann anschließend, spannende
Krimis mit ungewöhnlichem Umfeld zu schreiben.
Kellner Verlag
Kellner
Kellner Verlag
Bremen-Krimi
978-3-95651-122-6
B r e m e n B o s t o n
B r e m e n B o s t o n
Verlag
Band 7
Hans-Peter Mester
Franziska
und die Bürgerwehr
Findorff-Krimi
Band 7
Dieses Buch ist bei der Deutschen Nationalbibliothek
registriert. Die bibliografischen Daten können online
angesehen werden:
http://dnb.d-nb.de
Der Autor:
Hans-Peter Mester, Jahrgang 1954, in
Bremen geboren und aufgewachsen, hat
große Teile seiner Kindheit »auf Parzelle«
verbringen dürfen. Für den langjährigen
Leiter des Ortsamtes Bremen-West ge-
hörte der lokale Blick auf die Stärken und
die Abgründe des Stadtteillebens fast drei
Foto: Walter Gerbracht
Jahrzehnte zu seinem Berufsalltag. Von
1985 bis 2000 war er stellvertretender Leiter, von 2000 bis 2012
Chef des Bremer Ortsamtes West.
Er quittierte den Dienst wegen seiner Parkinson-Erkrankung, die
ihm anschließend die Gelegenheit bot, zu Hause über kuriose
und alltägliche Besonderheiten zu schreiben. Zahlreiche Notizen
bildeten die Grundlage für die raffinierten Kriminalromane rund
um Stadtplanerin Franziska.
Ein besonderer, sozial engagierter Mensch ist nun nicht mehr mit
uns. Er starb am 8. April 2016 im 63. Lebensjahr. Er wusste um
seine radikal begrenzte Lebenszeit und schrieb die zehnbändige
Krimi-Reihe »Franziska und ...«. Diesem siebten Band werden
noch drei Ausgaben bis Ende 2018 folgen.
Verstorbene leben in den Gedanken der anderen Menschen
weiter, Hans-Peter Mester wird zusätzlich durch seine Bücher
präsent und noch sehr lange in Erinnerung bleiben.
Impressum
© 2017 KellnerVerlag, Bremen • Boston
St.-Pauli-Deich 3 • 28199 Bremen
Tel. 04 21 - 77 8 66 • Fax 04 21 - 70 40 58
[email protected] • www.kellnerverlag.de
Lektorat: Klaus Kellner, Madita Krügler, Manuel Dotzauer
Satz: Bernd Raatz
Umschlag: Designbüro Möhlenkamp & Schuldt, Bremen
ISBN 978-3-95651-138-7
2
Die Akteure
Im Kleingartenmilieu
Franziska Morgenstern
Stadtplanerin, Kleingärtnerin, ehemals Zweite Vorsitzende des
Kleingartenvereins ›Erntedank‹ und demnächst Ehefrau von
Andreas Klapphorn. Oder?
Andreas Klapphorn
Musikpädagoge, stellvertretender Schulleiter in Findorff, ehemals
Erster Vorsitzender des Kleingartenvereins und zukünftiger
Ehemann von Franziska, wenn nichts dazwischenkommt.
Julia und Johannes
Andreas’ Kinder aus erster Ehe, halten sich für erwachsen,
sind aber erst 14 und 16 Jahre alt.
Johanna
Schwester von Franziska, sehr geschwätzig, doch mit einem
Herz aus Gold.
Rudi Klingebiel
Wirt des Landheims, eine Seele von Mensch, mit ausgeprägtem
Gerechtigkeitssinn.
Maria Klingebiel
Rudis Ehefrau, Fels in der Brandung.
Tatjana Knispel-Klingebiel
Tochter des Landheim-Wirtes, neuerdings verheiratet mit
Olaf Knispel.
Hermann Schilling mit Dackel Friedhelm
Rechter Nachbar von Franziska, Urgestein und ältester Kleingärtner
im Verein. Von seinem neurotischen Dackel kaum zu trennen.
Bernhard und Gundi Markgraf
Linke Nachbarn von Franziska, haben vier Kinder und leben
in Dauerfehde mit Hermann Schilling und seinem Dackel.
3
Thomas Büssenschütt
Neuer Erster Vorsitzender, Gründer einer Bürgerwehr,
wertekonservativer Populist, Leiter einer Versicherungsagentur.
Müsste dringend in seinem Kopf aufräumen.
Werner Obermeyer
Mag keinen Lärm, ist in der Bürgerwehr aktiv.
Edgar »Eddie« Nesselkamp
Mag ebenfalls keinen Lärm und ist auch in der Bürgerwehr aktiv.
Reinhold Papendieck
Mag überhaupt keinen Lärm und ist in der Bürgerwehr aktiv.
Karl »Kalli« Schönfeld
Wird pensioniert und hat damit seine Schwierigkeiten.
Dr. Torsten Bollhagen
Neu im Kleingartenverein, neu im Vorstand, aber altbekannt für
Franziska.
Josefine Feuerbach
Ein Original des Kleingartenvereins. Ihr Ableben ist klärungs-
bedürftig.
Annabell Feuerbach
Die Tochter der Verstorbenen.
Von der Polizei
Kriminalrat Strelitz
Väterlicher Chefermittler. Neuerdings Großvater, manchmal
depressiv.
Oberkommissarin Konstanze Kannengießer
Karriere- und teamorientiert, neuerdings mit Kriminalrat
Schwalbach liiert.
Kommissar Olaf Knispel
Jüngster Mitarbeiter im Ermittlungstrio, inzwischen gefestigt,
aber immer noch für einen Ausrutscher zu haben.
4
Kriminalrat Christian Schwalbach
Multifunktional unterwegs: Leiter des Drogen-Dezernats,
Lebensgefährte von Konstanze Kannengießer, Vorsitzender
des Westernvereins ›Bonanza‹, einschließlich Kinderfarm.
… und außerdem
Sebastian Olmütz
Freier Reporter, gut für Enthüllungsreportagen, schlecht für den
Blutdruck von Strelitz.
Dr. Klaus Klüngel
Unternehmensberater, soll Polizeistrukturen verschlanken.
Belastet ebenfalls das Nervenkostüm von Strelitz.
Brunhilde Stumpe
Leiterin des Flüchtlingslagers, kernige Führungspersönlichkeit mit
Courage und sozialem Engagement. Geht für »ihre Leute« durchs
Feuer.
5
Prolog 1
»So, Josefine, jetzt bist du wieder eine Stufe tiefer ge-
rutscht!« Frau Feuerbach hielt in ihrer Wohnung, die
zur Räumung anstand, Selbstgespräche. »Arbeitslos, woh-
nungslos. Ganz großes Kino. Jetzt bleibt nur noch die Par-
zelle.« Sie packte einen Umzugskarton. »Einen Vorteil hat
das Ganze – bei jedem Umzug habe ich weniger mitzuneh-
men.«
Sie räumte einen alten Bücherschrank aus. Ein paar Bü-
cher fielen um und gaben den Blick auf ein Päckchen frei,
das hinter einige Werke von Brecht, Heine und Tucholsky
gerutscht war. Sie nahm es heraus und hielt es gegen das
Licht, als sei es durchsichtig. »Dich habe ich eigentlich nie
öffnen wollen«, murmelte sie. »Aber vielleicht ist es jetzt an
der Zeit.«
6
Prolog 2
Seitdem Franziska Morgenstern entschieden hat, sich dem
»Leben auf Parzelle« zu verschreiben, hat sich viel getan.
Der Mikrokosmos des Kleingartenvereins »Erntedank« wird
regelmäßig durch kleine und große Verwerfungen erschüt-
tert. Morde, Brandstiftungen, Entführungen und Betrug ha-
ben die Kripo zum regelmäßigen Gast in den Schrebergärten
und im Landheim werden lassen. Motive und Tatverdächtige
gibt es im Überfluss.
Die jüngsten Ereignisse führten dazu, dass Franziska und
ihr Lebensgefährte Andreas Betrügern auf den Leim gin-
gen. Das Betrügerduo ist flüchtig, aber dem Verein entstand
kein Schaden. Dennoch wollen Andreas und Franziska im
Vorstand die Vertrauensfrage stellen. Die steht nun in einer
Sondersitzung auf der Tagesordnung.
7
Kapitel 1
Liebe Gartenfreunde, ich eröffne die Sondersitzung des
Vorstandes für … von … also, ihr wisst schon, vom
Kleingartenverein ›Erntedank e. V.!‹« Andreas, Erster Vor-
sitzender, hauptberuflich Musikpädagoge und stellvertre-
tender Leiter einer Findorffer Schule, fühlte sich, wie es
seinen Schülern beim Zensurensingen ergehen musste. Die
Tür schwang auf. Rudi Klingebiel, Wirt des Landheims
»Erntedank«, kam herein, um Bestellungen entgegenzuneh-
men – er meinte, dass seine Zapfhähne dringend Bewegung
brauchten. Ein denkbar schlechter Moment.
»Jetzt nicht!«, herrschte ihn einer der Beisitzer an. Rudi
zog erschrocken den Kopf zurück und schloss die Tür. Nor-
malerweise war er selten um ein Wort verlegen, insbeson-
dere, wenn sich die Gelegenheit bot, einen kernigen Spruch
anzubringen, aber hier schien ihm ein Rückzug das Klügste
zu sein. Zumindest für die nächste Viertelstunde. Er posi-
tionierte sich wieder hinter seiner Theke und versorgte die
beiden dort sitzenden Gäste mit zwei frischen Bieren.
Im Hinterzimmer hatte Andreas weiterhin Mühe, seine
Gedanken zu ordnen. Verdammt, was machst du gerade?
Wieso lässt du die Dinge so dicht an dich heran?‚ schalt er
sich. Sollen die anderen sich doch einen neuen Ersten Vor-
sitzenden suchen. Laut sagte er: »Thomas Büssenschütt, es
besteht kein Anlass, unseren Wirt derart oberlehrerhaft an-
zuherrschen. Außerdem würde ich gern wissen, was dich
in unsere Mitte treibt. Soweit ich mich erinnere, bist du im
Rahmen unseres letzten Beisammenseins aus dem Vorstand
ausgeschieden. Und die Vereinsvollversammlung hast du
auch vorzeitig verlassen. Weißt du noch? Wenig später hat
übrigens jemand eine Scheibe dieser Gaststube eingewor-
fen!«
8
Thomas Büssenschütt sprang auf. »Willst du etwa be-
haupten, ich hätte etwas damit zu tun?«
»Nicht doch.« Andreas lächelte freundlich. Er merkte,
wie er langsam ruhiger wurde. »Ich wollte dich nur auf dem
Laufenden halten. Schließlich warst du ja nicht mehr im
Raum, als der Stein durch die Fensterscheibe flog.«
Büssenschütt winkte ab. »Was meine Mitarbeit im Vor-
stand angeht, bedauere ich, wenn möglicherweise der Ein-
druck entstanden ist, dass ich diesem Gremium den Rücken
kehren wollte. Zugegeben, ich befand mich in einem ... emo-
tionalen Ausnahmezustand, weil ich provoziert worden war.
Daraufhin habe ich diesen Raum verlassen, um die Situati-
on nicht weiter eskalieren zu lassen. Ich habe aber zu kei-
nem Zeitpunkt beabsichtigt, mich von der Vorstandsarbeit
zurückzuziehen.« Büssenschütt breitete generös die Arme
aus, als wolle er alle Anwesenden gleichzeitig segnen. »Mit
anderen Worten, ich stehe dem Vorstand selbstverständlich
weiterhin zur Verfügung.«
»Na, da haben wir ja Glück gehabt«, stellte Franziska
Morgenstern fest. Sie war nicht nur die Zweite Vorsitzen-
de, sondern auch die Lebensgefährtin von Andreas. In dieser
Funktion hatte sie jetzt seine rechte Hand ergriffen und sie
bestärkend gedrückt.
Büssenschütt war diese kleine Geste der Solidarität nicht
entgangen.
»Bevor es noch zum Austausch von Zärtlichkeiten
kommt, sollten wir mit der Tagesordnung fortfahren«, ätzte
er. »Und das Protokoll der letzten Sitzung bitte ich hinsicht-
lich meines irrtümlich dokumentierten Ausscheidens aus
dem Vorstand zu korrigieren. Der Schriftführerin ist da eine
Fehldeutung unterlaufen.«
Franziska dämmerte, worauf Büssenschütts Auftritt hi-
nauslaufen sollte. Wenn sie nicht alles täuschte, befand sich
hier eine feindliche Übernahme in Vorbereitung, ein Putsch
auf Kleingartenvorstandsebene. Mit einem Seitenblick auf
9
Andreas stellte sie fest, dass er das drohende Szenario eben-
falls erkannt hatte. Beiden war klar, dass eine solche Wach-
ablösung fatal sein konnte. Büssenschütt hatte sich bei sei-
nen letzten Auftritten als Demagoge erwiesen, der massiv ge-
gen jeden Integrationsversuch zugewanderter Ethnien Front
bezog.
Statt differenzierter Auseinandersetzung hatte er polemi-
siert. Konkret war es um die Einrichtung eines Flüchtlings-
wohnheims im Randbereich des Kleingartenvereins gegangen.
In Anwesenheit der Sozialsenatorin hatte er derbe Sprüche ge-
klopft – immerhin ohne großen Erfolg. Die überwältigende
Mehrheit der Vereinsmitglieder hatte dem Anliegen der Sena-
torin zugestimmt. Dieses Votum war mit der Forderung ein-
hergegangen, dass es für die Betreuung der Flüchtlinge einen
angemessenen Personalschlüssel geben müsse.
Büssenschütt war daraufhin verbal entgleist, hatte von
»Endlösungen« gesprochen und war von Andreas und der
Senatorin deutlich zurechtgewiesen worden. Büssenschütt
hatte anschließend bei knallender Tür den Saal verlassen.
Später am Abend flog ein Wurfgeschoss durch eines der
Landheimfenster. Ein Stein, eingewickelt in einem DIN
A4-Bogen, auf dem zu lesen stand, dass man »die Kanaken«
hier nicht haben wolle. Es lag nahe, diesen Vorfall Thomas
Büssenschütt anzulasten. Nachweisen konnte man ihm diese
hässliche Tat jedoch nicht.
Und nun, nachdem Andreas und Franziska schon auf sein
Ausscheiden aus dem Vorstand angestoßen hatten, kam er
wie ein Phönix aus der Asche zurück.
Andreas schaute in die Runde, aber es regte sich kein Wi-
derspruch. Niemand monierte die zweifellos satzungswid-
rige Rückkehr nach seinem Ausscheiden aus dem Vorstand.
Büssenschütt musste gut vorgearbeitet haben.
»Also weiter im Text«, seufzte er und nahm die Ver-
sammlungsleitung wieder auf. »Ich habe euch eingeladen,
um ein offenes Wort über die sogenannte Bildungsoffensive
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2025 zu reden. Ich war der irrigen Auffassung gewesen, dass
wir für dieses Landheim und den Verein insgesamt eine inte-
ressante Perspektive gehabt hätten.«
Franziska unterbrach ihn. »Nicht du, sondern wir! Wir
sind beide auf die Betrüger reingefallen!« Und sie schilderte
ausführlich, wie es zu der Fehleinschätzung kommen konn-
te, die mit einer ziemlichen Ernüchterung geendet hatte.
Nach dem Ende des Berichtes herrschte Schweigen im
Hinterzimmer des Landheims. Genau in diesem Moment
ging die Tür auf, Rudi unternahm einen zweiten Anlauf, den
Getränkeumsatz anzukurbeln.
»Jetzt nicht!«, riefen Thomas Büssenschütt und zwei
andere Sitzungsteilnehmer im Chor.
Rudi zog sich brummelnd zurück, und wer ihn kannte,
dem musste klar sein, dass dies die letzte Abfuhr war, die er
widerspruchslos hinnehmen würde.
Büssenschütt lehnte sich zurück und schlug einen gön-
nerhaften Ton an. »Freunde«, ließ er sich vernehmen, »ich
denke, ein solcher Lapsus – ich vermeide jetzt mal einen
stärkeren Ausdruck – kann schon mal passieren. Insbeson-
dere dann, wenn man, so wie ihr, viel Engagement in dieses
Ehrenamt gesteckt hat.«
Andreas und Franziska glaubten, sich zu verhören.
Büssenschütt beugte sich vor, und aus dem verständnis-
vollen Wegbegleiter wurde ein Chefankläger, der es verstand
seinen Tatvorwurf mit schneidender Stimme vorzutragen.
»Was uns interessiert, ist die Tatsache, dass ihr die alte Gärt-
nerei an den Westernverein ›Bonanza‹ verpachtet habt – ei-
nen Verein, der zudem noch eine Kinderfarm im Gepäck hat.
Darüber hinaus habt ihr mit dem Senat eine Verabredung,
dass planungsrechtliche Bedenken zurückgestellt werden,
wenn wir im Gegenzug dem Standort des Flüchtlingsheims
zustimmen! Und das alles ohne Rücksprache mit dem Ge-
samtvorstand, geschweige denn mit der Vollversammlung!
Ist das zutreffend?«
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Büssenschütt sah in die Runde, als wolle er sich verge-
wissern, dass ihn auch jeder verstanden habe.
Andreas sagte trocken: »Ja.«
Büssenschütt geriet kurz ins Schlingern. »Willst du damit
sagen, dass … also … dass ihr geständig seid?«
»Der Terminus ist verfehlt, denn wir sind hier nicht vor Ge-
richt«, bemerkte Franziska mit einem feinen Lächeln. »Und ja,
wir hielten es für richtig, den Westernverein an uns zu binden,
weil er in Kombination mit der Kinderfarm unser kleingärt-
nerisches Gemeinwesen aufwertet. Und da der Westernverein
eine schnelle Lösung benötigte, haben wir keine Zeit verloren.
Natürlich hätten wir darüber berichtet und unsere Entschei-
dung begründet. Wir waren aber davon ausgegangen, ein ent-
sprechendes Maß an Vertrauensvorschuss zu besitzen.«
»Nachdem ihr schon zweimal die falschen Pächter auf
dem Gelände hattet, und nach der Nummer mit der Bil-
dungsoffensive?« Büssenschütts Stimme schnappte jetzt
über. »Wisst ihr, wie viele fremde Personen, Fahrzeugver-
kehr und sonstigen Lärm ihr damit ins Gelände geholt habt?
Dazu jeden Tag Muhen, Mähen und Wiehern?« Büssen-
schütt wurde kurzatmig.
»Auf wie viel Dezibel bringt es denn ein Hahn?«, fragte
Helga, die Schriftführerin.
Die Runde blickte sie verblüfft an. Sie war noch nicht
lange im Vorstand, und dies war bis dahin ihr längster Re-
debeitrag.
»Und darf ich fragen, was ihr jetzt von uns erwartet?«,
erkundigte sich Andreas.
»Na, ich denke, das Mindeste ist doch wohl, dass ihr den
Vorsitz niederlegt«, erklärte Büssenschütt und blickte selbst-
gefällig in die Runde.
»Und dann?«
»Dann bestimmt diese Runde einen kommissarischen
Vorstand, und auf einer außerordentlichen Vorstandssitzung
gibt es schließlich Neuwahlen.«
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Büssenschütt schaute Andreas zufrieden an.
Andreas beugte sich vor, und Franziska hatte einen Mo-
ment die Sorge, dass er gleich über den Tisch flanken wür-
de. »Lass mich raten: Nach langem Zögern bist du dann der
Vereinsmärtyrer, der alle Bedenken beiseite räumt und sich
opfert.«
»Oh.« Büssenschütt machte eine abwehrende Hand-
bewegung. »Nicht doch. Glaub mir, ich reiße mich nicht
darum, Vorsitzender zu werden. Andererseits – wenn sich
kein anderer Kandidat meldet, kann ich mich dieser Aufgabe
sicher nicht entziehen. Man hat ja doch so etwas wie Verant-
wortungsbewusstsein!«
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Kapitel 2
Während im Hinterzimmer die Luft brannte, saßen in
der Gaststube Hermann Schilling samt seinem ewig
schlecht gelaunten Dackel Friedhelm und Karl Schönfeld.
Rudi leistete den beiden Gesellschaft.
Hermann hatte gerade von der Kur erzählt, die er am
nächsten Morgen antreten wollte. »Drei Wochen Bad Fal-
lingbostel«, brummte er. »Um acht Uhr kommt das Taxi.
Vielen Dank nochmal, dass ich meinen Friedhelm so lange
bei dir lassen kann.«
Rudi nickte. »Kein Problem. Das hat ja schon mal ge-
klappt. Freust dich schon auf die Kur?«
»Ich weiß nich, aber egal, ich sitz das auf einer Backe ab.«
»Hermann, das ist doch kein Gefängnis. Du wirst da ver-
wöhnt, brauchst dich um nix zu kümmern und lernst viel-
leicht noch ’ne flotte Dame kennen!«
»Von wegen«, muffelte Hermann. »Von morgens bis
abends Anwendungen, immer mit ’nem Zettel in der Hand
unterwegs, von Termin zu Termin, dann das fettreduzierte
Essen und natürlich kein Bier.«
Er wandte sich seinem Thekennachbarn zu.
»Kalli, du guckst, als hätte deine Erbtante gerade ihr ge-
samtes Vermögen verspielt«, stellte Hermann fest. »Komm,
erzähl, was liegt dir auf der Leber? Musst du auch zur Kur?«
Kalli Schönfeld druckste herum. »Erbtante is nich«,
murmelte er verdrossen. »Und Vermögen auch nich. Aber
ich werd meinen Job los.«
»Deinen Job?« Hermann sah ihn misstrauisch an. »Das
geht doch gar nicht. Du bist doch Schulhausmeister. Oder
hast du silberne Löffel geklaut?«
»Unser Kalli doch nicht!«, mischte sich Rudi ein
und schob den beiden zwei kleine Biere über die Theke.
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»Der würde doch nicht mal Werbe-Kugelschreiber annehmen.
Is doch so, nich, Kalli?«
»Ich werd verrentet«, sagte Kalli leise.
Rudi und Hermann beugten sich beide ein Stück vor.
»Was sachst du?«
»Ich werde verrentet. Feierabend! Schluss, aus!«
»Wieso das denn?« Rudi konnte manchmal begriffsstut-
zig sein.
»Weil ich nächste Woche 65 werde. Ende des Monats
läuft meine Berufszeit ab. Meine Wohnung verliere ich
auch. Ich hatte ja ’ne Dienstwohnung in der Schule. Wegen
der Residenzpflicht.«
»Was für ’ne Präsidenten-Pflicht?« Hermann hantierte an
seinem Hörgerät.
»Residenzpflicht! Wenn du da wohnen musst, wo du ar-
beitest«, erklärte Rudi und war offensichtlich stolz, solche
schwierigen Fremdwörter erklären zu können.
»Also so wie bei dir?«, fragte Hermann.
»Donnerwetter!« Rudi kratzte sich am Hinterkopf. »Da-
rüber hab ich noch gar nicht nachgedacht. Aber stimmt, ich
habe auch eine Residenzpflicht – Maria und ich wohnen ja
da oben!« Er zeigte die Treppe hinauf, die aus einem Winkel
der Gaststube nach oben führte.
»Und deine Tochter und dein Schwiegersohn auch«,
ergänzte Kalli.
»Ja, aber die beiden haben keine Residenzpflicht, und
beide suchen schon nach was Eigenem«, erwiderte Rudi.
»Obwohl – noch ein paar Straftaten in unserem Verein, und
hier entsteht vielleicht ein Polizei-Außenposten.«
Kalli seufzte. »Vielleicht brauchen die dann stundenwei-
se einen Hausmeister.«
Rudi war mit dieser depressiven Grundstimmung nicht ein-
verstanden. »Kalli, ich versteh dich nicht. Ich kenn ’ne Menge
Leute, die gar nicht abwarten können, Rentner zu werden. Was
ist denn so schlimm daran, jeden Tag ausschlafen zu können?«
15
Hermann mischte sich ein. »Ich weiß noch, als es bei mir
so weit war. Das muss jetzt so rund zehn, elf Jahre her sein.«
Hermann war Mitte 70 und der älteste Gartenfreund im »Ern-
tedank« e. V. »Ich bin damals in ein mentales Loch gefallen.
Keine Pflichten mehr, ich wurde nicht mehr gebraucht. Erst
war das wie Urlaub. Aber dieser Urlaub ging nicht zu Ende.
Ich dachte, ich wäre aus einem fahrenden Zug gesprungen.
Die Tage liefen irgendwie anders ab, keiner wollte mehr was
von mir ...« Hermanns Gedanken begannen, sich im Kreis
zu drehen. Er hatte feuchte Augen bekommen. »Jedenfalls
musst du gewaltig aufpassen, dass du nicht plötzlich an der
Flasche hängst!«
Rudi knallte sein Poliertuch entschlossen auf die The-
ke. »Kalli, was du brauchst, ist ein Plan. Du musst wissen,
wie es weitergeht. Erst mal musst du das Wohnungsproblem
wuppen!«
»Hab ich schon«, meinte Kalli. »Ich bin anerkannter Kai-
sen-Hausbewohner. Ich zieh auf meine Parzelle. Die hatte
ich immer als ersten Wohnsitz gemeldet.«
»Schön, dann wäre das schon mal geklärt. Aber was ist
mit Hobbys? Reisen?«
»Nee, ich schlaf abends gern in meinem eigenen Bett
ein.«
»Oder angeln?«, fragte Hermann.
»Warum nicht. Aber was mach ich, wenn einer anbeißt?
Ich kann doch kein Lebewesen töten.«
»Ach, Kalli, du bist aber auch ein schwieriger Mensch!«,
stöhnte Rudi.
»Nur, weil ich nicht verreisen oder Fische totschlagen
will?« Kalli guckte verdrossen auf das Sortiment an Spiritu-
osenflaschen, das hinter Rudis Rücken auf Endverbraucher
wartete. »Und zum Saufen hab ich auch keine Lust.«
Dann präsentierte er seinen Lebenslauf – seit zehn Jah-
ren Witwer. Die beiden Kinder wohnten nicht in Bremen.
Vierzig Jahre Hausmeister, immer an derselben Schule.
16
Da sei er mit jeder Schraube und jeder Glühbirne per du, und
eigentlich gehöre er zum Inventar, sinnierte er.
Rudi füllte schweigend drei Korngläser.
Kalli setzte seinen Gedankengang fort: »Nach einer neu-
en Partnerschaft ist mir auch nicht. Und meine Hobbys? Ich
hatte ja mal ’ne Ausbildung als Grafiker, und in meiner Frei-
zeit habe ich noch lange gemalt. Dann bin ich zur Musik ge-
wechselt. An Wochenenden war ich Gitarrist in einer kleinen
Band. Wir haben sogar Auftritte gehabt. Ist aber auch alles
Vergangenheit. Zwei von uns leben schon nicht mehr. Naja,
handwerklich bin ich auch begabt, das ist ja als Hausmeister
logisch, aber ich will nicht schwarzarbeiten. Mit der Pensi-
onierung ist mein Leben jedenfalls ziemlich sinnentleert.«
Rudi hob das Glas. »Kalli, ich seh bei dir gar nicht so
schwarz. Da geht noch was! Prost auf deine Verrentung!«
Die drei stießen an, philosophierten noch eine Weile über
das Rentnerdasein, rutschten dann in weltpolitische Themen
ab und landeten schließlich bei Werders letztem Heimspiel.
17
Kapitel 3
Im Hinterzimmer der Gaststube von »Erntedank« ging es
derweil deutlich disharmonischer zu. Büssenschütt hatte
gerade ein flammendes Plädoyer für einen Wechsel an der
Spitze des Vereins gehalten – wer immer folgen möge, sei
nicht wichtig, aber die jetzige Besetzung sei nicht mehr trag-
bar. Er unterstrich diese Auffassung mit einem Faustschlag
auf die Tischplatte und bedachte Andreas und Franziska mit
einem vernichtenden Blick.
»Ist das auch eure Ansicht?«, fragte Andreas in die Run-
de der übrigen Vorstandsmitglieder.
Betretenes Schweigen – Büssenschütt hatte offenbar im
Vorfeld intensiv agitiert.
Als es statt Antworten nur verlegene Blicke gab, setzte
Andreas nochmals nach: »Ihr möchtet also alle, dass wir den
Vorsitz niederlegen, deute ich euer Schweigen richtig?«
Anhaltende Stille.
»Wisst ihr was?«, sagte Andreas und stand auf. »Ihr sollt
euren Willen haben! Wir sehen uns dann in der Hauptver-
sammlung!« Franziska folgte ihm auf dem Fuße. In der
Tür kollidierten sie mit Rudi, der gerade zum dritten Mal
den Getränkebedarf abfragen wollte. Der Gastwirt blinzelte
irritiert: »Wo wollt ihr denn hin?«
»Auf jeden Fall raus aus diesem Zimmer. Hier stinkt es
nämlich!«, stellte Franziska fest. Eine für ihre Verhältnisse
hochgradig erzürnte Reaktion.
»Aber ihr könnt doch als Vorstand nicht einfach weglau-
fen!«
»Wir sind nicht mehr der Vorstand. Frag diese Damen
und Herren!« Sie wies mit dem Daumen über ihre Schulter.
Rudi blieb einen Moment wie versteinert stehen. Dann sagte
er mit tragender Stimme: »Ihr seid wohl nicht ganz frisch!«
18
Ob er damit den Ex-Vorstand oder die Versammlung im
Hinterzimmer meinte, blieb dabei offen.
Büssenschütt reagierte jedenfalls sofort. »Pass auf, was
du sagst, Rudi!«, drohte er.
»Ja, pass auf, Rudi. Mit den neuen Machthabern ist nicht
gut Kirschen essen.« Andreas hatte das Gefühl, dass ihm der
Hals zuwuchs. Der Kloß, der sich unverhofft in seiner Kehle
festgesetzt hatte, besaß Bremsklotz-Qualität.
»Wir würden gern bestellen, Rudi«, schnarrte Thomas
Büssenschütt nach Gutsherrenart.
»Und für uns zwei kleine Biere an der Theke«, orderte
Franziska.
Der Abend wurde noch lang. Thomas Büssenschütt ge-
lang es tatsächlich, kommissarischer Vorsitzender zu wer-
den. Diese Wahl trafen die Vorstandsmitglieder weniger aus
innerer Überzeugung als aus Mangel an geeigneten Alterna-
tiven. Entsprechend war auch das Wahlergebnis. Es gab nur
vier Ja-Stimmen und ebenso viele Enthaltungen.
An der Theke formierte sich indes der Widerstand.
»Nein, das eben war keine Kapitulation«, betonte Andreas.
»Es machte in diesem Augenblick und bei der momentanen
Gefechtslage nur keinen Sinn, weiterzumachen. Aber ich wer-
de diesem populistischen Spinner doch nicht das Feld über-
lassen! Wenn die Klügeren nachgeben, führt das nämlich zur
Vorherrschaft der Dummen. Und das werden wir verhindern!«
»So gefällst du mir schon besser.« Rudi strahlte. »Wir
werden ihm das Handwerk legen, das ist schon mal sicher!«
»Täuscht euch nicht, denn Büssenschütt ist alles Mög-
liche, aber dumm ist er nicht«, warnte Franziska. »Ich bin
zum Beispiel sicher, dass er die Wahl bis in den Herbst hi-
nauszögert. Und je länger sich die Gartenfreunde an ihn ge-
wöhnt haben, desto sicherer sitzt er im Sattel.«
»Da könntest du Recht haben.« Andreas machte eine dü-
stere Miene. »Wie ich ihn kenne, wird er auch noch versu-
chen, das Flüchtlingsheim zu torpedieren!«
19
»Ich werde gleich morgen bei der Senatorin anrufen«,
sagte Franziska. »Die sollen sich beeilen!« Sie trank ihr
Bierglas leer. »Komm, wir brechen auf, Andreas. Wenn der
Kerl gleich aus dem Hinterzimmer kommt, will ich nicht
mehr hier sein. Und du, Rudi, bist ab jetzt unser vorgescho-
bener Außenposten. Du machst Stimmung für uns und ver-
folgst, welche Aktionen Büssenschütt anzettelt. Ich denke,
wir müssen uns auf einiges einrichten.«
Sie sollte Recht behalten.
Als Rudi schließlich Feierabend hatte, war es schon kurz
nach Mitternacht. Der Vorstand hatte das Feld in einer ziem-
lich betretenen Stimmung geräumt. Nur Büssenschütt war
blendend aufgelegt. Hermann und Kalli, die bis dahin an
der Theke gesessen hatten, verließen den Ort des Gesche-
hens auf wackeligen Beinen. Hermann hatte sich zuvor noch
von Dackel Friedhelm verabschiedet, was diesem aber nicht
besonders nahe zu gehen schien. Immerhin öffnete er ein
Auge, als Hermann »Tschüs« sagte.
Man hätte nun annehmen dürfen, dass zumindest für den
Rest der Nacht Ruhe ins Kleingartengebiet »Erntedank e. V.«
einkehren würde. In jedem anderen Bremer Parzellengebiet
wäre es vermutlich so verlaufen. Im »Erntedank«-Sektor je-
doch nicht.
20
Kapitel 4
Dr. Torsten Bollhagen, Oberarzt an einer großen Bre-
mer Klinik, hatte Nachtschicht gehabt. Pünktlich um
sechs Uhr verließ er seine Station und trat den Rückzug ins
Privatleben an. Er stieg auf sein Rad und beschloss, zu sei-
ner Parzelle hinauszufahren. Dieser Vereinsvorsitzende mit
dem komischen Namen hatte es ihm verpachtet. Wie hieß
er gleich? Richtig, Klapphorn. Der hatte zu diesem Zeit-
punkt nicht gewusst, dass seine Lebensgefährtin Franziska
Morgenstern zuvor einige Jahre mit ihm, Bollhagen, zusam-
mengelebt hatte. Das war damals so lange gutgegangen, bis
Franziska eines Tages zu früh von einem Bildungsurlaub zu-
rückkehrte und ihn im Bett mit ihrer besten Freundin über-
raschte. Das sofortige Ende ihrer Beziehung war die Folge
gewesen, und seitdem hatten sie nichts mehr voneinander
gesehen oder gehört. Höchste Zeit, zu gucken, ob da viel-
leicht doch noch etwas ging, denn er war mal wieder solo.
Während derlei Gedanken in seinem übernächtigten
Kleinhirn kreisten, hatte er über die Hollerallee den Stadtteil
Findorff erreicht und bog wenig später in das Parzellenge-
biet ein. Es war bereits seit einiger Zeit hell und der Boden
noch nass – es musste in der Nacht einen kräftigen Regen-
guss gegeben haben. Dadurch war der Himmel wieder klar,
die Luft noch etwas kühl, und er, Bollhagen, träumte von ein
oder zwei Stunden Schlaf mit einem anschließenden Früh-
stück. Danach wollte er erste Eindrücke im Parzellenumfeld
sammeln.
Weiter kam er mit seinen Planungen für den heutigen Ta-
gesablauf allerdings nicht. Er fuhr mit sportlichem Schwung
in eine Rechtskurve, die ihn in einen kleinen Querweg
führte. Das war zumindest der Plan. Der Kurvenbereich war
jedoch wegen hoher Hecken nicht einsehbar. So erkannte
21
Dr. Bollhagen das im Abbiegebereich liegende Hindernis zu
spät, was ihm einen formidablen Sturz über den Fahrrad-
lenker bescherte. Wäre ein Punktrichter zur Stelle gewesen,
hätte es zweifellos eine Haltungsnote im oberen Bereich
gegeben – allerdings mit Abzügen in der B-Note, denn Dr.
Bollhagen rief schon während des Fluges laut »Scheiße!«.
Dann schlug er hart auf. Es dauerte einige Zeit, bis er sich
gesammelt hatte und ein erstes Bulletin in eigener Sache
abfassen konnte. Das lautete schließlich: »Es tut alles weh,
aber es ist nichts gebrochen.«
Gleichzeitig erkannte er mit dem geübten Blick eines
Mediziners, dass der Gesundheitszustand seines Unfallgeg-
ners wesentlich ungünstiger ausfiel.
Er griff nach seinem Handy.
22
Kapitel 5
Dieser Morgen hatte auch für Kriminalrat Strelitz früh
begonnen. Er saß missmutig in der Besprechungsecke
seines Büros und hatte bereits Besuch.
Als »Dr. Klüngel«, hatte sich der Gast vorgestellt und an-
schließend mit aufdringlicher Heiterkeit gute Laune verbrei-
tet, die für Strelitz’ Empfinden zu dieser Tageszeit schlicht
unpassend war.
»Schön, dass Sie schon so früh für mich Zeit haben, aber
Sie wissen ja, der frühe Vogel fängt den Wurm, das ist na-
türlich auch eine der Devisen unseres Unternehmens.« Er
machte es sich in der Besucherecke bequem. »Sie dürfen
davon ausgehen, dass ich als Junior-Chef ein besonders aus-
geschlafenes Kerlchen bin«, fügte er ungeniert hinzu und
zeigte seine strahlendweißen Zähne.
Strelitz blickte aus verhängten Augen auf die Visiten-
karte des Mittdreißigers. »Dr. Klaus Klüngel«, las er dort,
»Geschäftsführung der Unternehmensberatung Klüngel &
Partner«.
Nein, dachte Strelitz, das ist absolut noch nicht meine
beste Zeit.
Klüngel warf einen besorgten Blick auf die Kaffeemaschi-
ne, die sich schwer atmend an die Herstellung eines besonders
starken Kaffees gemacht hatte. Genauer gesagt, war sie von
der Sekretärin des Kriminalrates mit Wasser, Filter und Kaf-
feepulver auf diesen Arbeitsgang vorbereitet worden.
»Das ist Rudolf«, stellte Strelitz vor. »Wir haben ihn so
getauft, weil er lärmende Geräusche von sich gibt. Unter an-
derem röhrt er wie ein Rentier. Deswegen Rudolf.«
»Aha«,sagte Dr. Klüngel, betrachtete nachdenklich den
Kaffeeautomaten und danach den Kriminalrat, um sich
schließlich ein paar Notizen zu machen. Dann sah er sich
23
in Strelitz’ Zimmer um. »Gehört das Aquarium Ihnen?«,
fragte er.
»Ja«, kam die geduldige Antwort des Karl-Eberhard
Strelitz.
Dr. Klüngel notierte wieder etwas.
»Hat es auch einen Namen?«
»Nein. Außerdem können Sie notieren, dass ich jeden
Monat eine Strompauschale dafür entrichte.« Der Krimi-
nalrat spürte immer deutlicher, dass ein Dialog mit diesem
Herrn namens Klüngel in aller Herrgottsfrühe für seinen Or-
ganismus unbekömmlich war.
»Sie haben also Fische in Ihrem Zimmer. Halten Ihre
Mitarbeiter auch Tiere am Arbeitsplatz?«
Strelitz musterte seinen Gesprächspartner mit glasigem
Blick. Dann kam seine bissige Antwort.
»Frau Kannengießer teilt sich ihr Zimmer mit zwei Ko-
alabären, und Herr Knispel hat einen Alligator auf der Fen-
sterbank. Das Tier ist allerdings noch nicht ganz ausgewach-
sen. Knispel hat mir versprochen, ihn vorher im Bürgerpark
auszuwildern.«
Dr. Klüngel hielt mit seinen Notizen inne, blickte auf
sein Gegenüber und fragte unsicher: »Sie nehmen mich jetzt
auf die Schippe, oder?«
Rudolfs Gurgel-Töne wurden von einem unregelmä-
ßigen Keuchen abgelöst. Er schien kurz vor dem Kollaps zu
stehen. Klüngel vergrößerte seinen Abstand zu dieser Höl-
lenmaschine, die jetzt auch noch zu fauchen begann.
Strelitz schaute seinen Gast unschuldig an, entschloss
sich dann aber zu einem Geständnis. »Richtig. Woran haben
Sie das bemerkt?«
Dr. Klüngel verlor sich in einem erneuten Heiterkeits-
ausbruch. »Na hören Sie mal«, kicherte er, »Alligatoren und
Koalas! Wir sind hier doch nicht im Tierpark!«
Strelitz beendete mit einem Druck auf Rudolfs Knopf
dessen Betriebsgetöse und goss Klüngels Kaffeebecher voll.
24
»Nun erzählen Sie mal was über Ihren Auftrag. Ich hab
zwar von der Behördenspitze gehört, dass die Innendepu-
tation unsere Betriebsabläufe auf Möglichkeiten der Ver-
schlankung und Optimierung durchleuchten und dazu die
professionelle, externe Hilfe eines Unternehmensbera-
ters in Anspruch nehmen will, aber vielleicht geht’s etwas
präziser.«
»Na, eigentlich kann ich es gar nicht treffender formu-
lieren, als Sie es gerade getan haben. Wir wollen im Bereich
der Sachausgaben wie auch der Manpower Vorschläge zur
Rationalisierung entwickeln.«
»Und was kann ich dazu beitragen?«
»Wir, also ich, begleite Sie und Ihre Mitarbeiter im Ta-
gesgeschäft. Ich stelle Fragen und erhalte somit einen kom-
plexen Eindruck von den Rahmenbedingungen Ihrer Tätig-
keit. Daraus leite ich dann meine Vorschläge ab.«
Konstanze Kannengießer war eingetreten. Strelitz stellte
seine Oberkommissarin kurz vor. Dann fasste er seinen Gast
ins Auge.
»Herr Klüngel, ich bin immer für ein offenes Wort und
einen ehrlichen Umgang miteinander. Sie sind uns so wenig
willkommen wie ein grippaler Virus zu den Weihnachtsfei-
ertagen. Aber es ist Ihr Job, und es ist eine Idee unserer Po-
litiker, Ihre Dienste in Anspruch zu nehmen. Lassen Sie uns
also sachlich mit unseren unterschiedlichen Rollen umgehen
und Konflikte so austragen, dass wir anschließend noch ei-
nen gemeinsamen Kaffee trinken können.«
Er spendierte seiner Kollegin Kannengießer ebenfalls ei-
nen Becher, gefüllt mit bestem Büro-Kaffee.
Dr. Klüngel schluckte und wirkte jetzt deutlich reser-
vierter. »Wenn Sie es sagen«, meinte er in unterkühltem
Tonfall. Dann wurde er dienstlich. »Das ist also Frau Kan-
nengießer«, notierte er in seinem Block. »Sie sprachen aber
eben noch von einem zweiten Mitarbeiter. Dem mit dem
Alligator, Sie erinnern sich?«
25
Konstanze machte große Augen. »Olaf hat einen
Alligator?«
»Ja«, bestätigte Dr. Klüngel. »Zumindest behauptet das
Ihr Chef. Und Sie haben, wie ich höre, zwei Koalas. Die
würde ich mir übrigens gleich gern einmal anschauen.«
Konstanze Kannengießer schaute ratlos zu ihrem Chef.
»Ein Scherz, Konstanze«, beruhigte der seine Mitarbeite-
rin. »Ich habe lediglich versucht, unseren Dialog zu entspan-
nen. Es ist einfach noch zu früh für ein ernstzunehmendes
Gespräch.«
Zu Dr. Klüngel gewandt, erklärte er: »Herr Knispel kommt
morgens etwas später. Er wohnt nämlich in einem Kleingar-
tengebiet mit einem hohen Aufkommen an Straftaten. Daher
observiert er zum Dienstbeginn immer eine Stunde lang die
Parzellenwege und schaut, ob es in den letzten 24 Stunden
irgendwelche relevante Verluste gegeben hat.«
Bevor Dr. Klüngel Strelitz’ Ausführungen in Zweifel zie-
hen konnte, klingelte dessen Diensttelefon.
Am anderen Ende meldete sich ein Dr. Bollhagen.
26
Kapitel 6
Strelitz bemühte sich, trotz der Tageszeit aufgeräumt und
einsatzfreudig zu wirken. »Strelitz ist mein Name, Kri-
minalrat der Kripo Bremen. Was kann ich für Sie tun, Herr
Bollhagen?«
Aus den Augenwinkeln sah er, dass Dr. Klüngel schon
wieder etwas aufschrieb.
Er hörte eine Weile zu.und sagte dann: »Ist in Ordnung,
Herr Bollhagen, wir kommen umgehend. Und Sie sind si-
cher, dass wir keinen Rettungswagen oder Notarzt benöti-
gen, sondern die Gerichtsmedizin?«
Die Antwort kam so prompt und laut, dass Strelitz den
Hörer erschrocken eine Armlänge von seinem Ohr fernhielt.
Dann wiederholte er seine Zusage, sofort zu kommen, und
legte auf.
»Auf geht’s, Konstanze, Abflug zum Holunderbeerweg
im Kleingartenverein »Erntedank«!«
Die Sekretärin bekam die Order, Olaf Knispel anzurufen.
»Er soll sich gleich vor Ort einfinden.«
Dem Unternehmensberater bedeutete er, sich anzuschlie-
ßen. »Sie kommen mit, Klüngel.«
»Dr. Klüngel, bitte. So viel Zeit muss sein!« Der Gute
hatte seinen Vorrat an Humor für den heutigen Tag offenbar
frühzeitig aufgebraucht.
Das Bild, das sich nach dem Eintreffen im Holunder-
beerweg bot, ließ allerdings wenig Spielraum für Frohsinn.
Ein deutlich vom Sturz gekennzeichneter Dr. Bollhagen
erwartete zusammen mit seinem verbogenen Sportrad die
Ermittler. Er schüttelte Strelitz die Hand, ließ Konstanze
Kannengießer, Dr. Klüngel und Olaf Knispel, der zeit-
gleich eintraf, unbeachtet und zeigte auf den Grund seines
Sturzes.
27
Vor ihnen lag ein zweites Fahrrad, daneben eine unge-
wöhnlich große, korpulente Frau. Ihr Kopf befand sich in
einer großen Blutlache. Dr. Klüngel wurde kalkweiß, zog
sich eilig in den Nachbarweg zurück und übergab sich dort.
Der deutlich angeschlagene Dr. Bollhagen erstattete Be-
richt. »Ich kann nicht viel sagen«, erklärte er. »Ich hatte Nacht-
schicht, wollte nach Dienstende mit meinem Rad von der Kli-
nik zu meiner Parzelle und biegte hier ab. Gucken Sie sich
die hohen Hecken an. Ich hatte keine Chance, die Frau vorher
wahrzunehmen, und bin direkt in sie reingerauscht. Das hat ihr
aber nicht mehr geschadet, denn sie war bereits tot.«
»Wir ruinieren gerade die Tatortspuren, Chef!«, meldete
sich Konstanze zu Wort.
»Das hat der Regen schon getan«, schüttelte Strelitz den
Kopf. »Der Guss heute Morgen kurz nach fünf Uhr hat den
Untergrund aufgeweicht und eine Menge Spuren vernich-
tet. Die SpuSi soll natürlich trotzdem weiträumig absperren,
und wir gehen hier mal aus dem Gedränge.«
Der Gerichtsmediziner traf ein, legte den Todeszeitpunkt
auf ungefähr fünf Uhr morgens fest, hielt eine Gewaltein-
wirkung auf den Kopf mit einem schweren Gegenstand für
wahrscheinlich todesursächlich und erklärte, dass er erst
nach der Obduktion Verbindliches sagen könne. »Ich werde
das so schnell wie möglich erledigen«, versprach er.
»He, das ist normalerweise mein Text!«, beschwerte
sich Strelitz. »Erinnern Sie sich noch? Ich will jedes Mal
eine schnelle Obduktion, und Sie bewahren Ruhe und sa-
gen: ›Mal sehen, was sich machen lässt.‹ Wieso weichen Sie
plötzlich von Ihrem Text ab?«
»Um Sie ins Trudeln zu bringen«, antwortete der Medi-
ziner und biss herzhaft in ein Käsebrötchen, das er in einer
Plastikbox mitgebracht hatte.
Dr. Klüngel ging erneut rasch in den Nachbarweg.
»Jetzt brauchen wir den Vorstand. Frau Morgenstern
und Herr Klapphorn kennen die Verstorbene sicher gut. Die
28
soziale Kontrolle innerhalb des Vereins ist relativ stabil, örtlich sogar ausgesprochen stark«, überlegte der Kriminalrat.
»Das könnte die Zeitungsausträgerin gewesen sein«,
überlegte seine Oberkommissarin.
»Die Annahme ist zutreffend«, bestätigte Olaf, der bis-
lang vergeblich darauf gewartet hatte, etwas sagen zu kön-
nen. »Josefine Feuerbach heißt die Dame, und ich weiß jetzt,
warum wir heute Morgen keine Zeitung bekommen haben.
Einen Morgen ohne Sudoku – Chef, das müssen Sie sich mal
vorstellen!«
Olaf hatte eine gewisse Fertigkeit in der Bearbeitung die-
ser kleinen Zahlenrätsel entwickelt und löste jeden Tag min-
destens eines vom schwierigsten Level.
Strelitz murmelte Worte der Anteilnahme.
»Außerdem noch eine Neuigkeit: Frau Morgenstern und
Herr Klapphorn sind nicht mehr Vorsitzende des Kleingar-
tenvereins«, verkündete Olaf und genoss einen Moment sei-
nen Wissensvorsprung.
»Was?«, riefen Strelitz und seine Oberkommissarin. In
der nahen Ferne hörte man Dr. Klüngel röhren. Viel Es-
sensreste hatte er wohl nicht mehr im Magen.
Olaf erzählte, was ihm sein Schwiegervater und Gastwirt
über den Vorabend berichtet hatte.
»Du meine Güte, was wollen die denn mit dem Büssen-
schütt an der Spitze!« Strelitz schüttelte den Kopf.
Dr. Bollhagen verfolgte den Dialog mit wachsendem In-
teresse. Das sind ja interessante Entwicklungen, dachte er
und beschloss, mit Büssenschütt Kontakt aufzunehmen.
Strelitz musterte den angeschlagenen Mediziner. »Glau-
ben Sie, wir können zum Landheim gehen und dort ein biss-
chen über diesen Fall reden? Oder benötigen Sie eine Erst-
versorgung durch Ihre Kollegen?«
»Nein, ich denke, es geht. Ich werde mein Rad schieben.«
Strelitz gab das Zeichen zum Aufbruch und bat Olaf Knis-
pel, Dr. Klüngel einzusammeln. »Der steht im Nachbarweg
29
und macht geräuschtechnisch unserer Kaffeemaschine Kon-
kurrenz. Schauen Sie mal nach ihm.«
Wenig später trafen sie im Landheim ein. Rudi stand be-
reits in der Tür. Sein Schwiegersohn hatte ihm bei seinem
Aufbruch kurz zugerufen, dass er zu einem Todesfall in den
Holunderbeerweg müsse. Nun hungerte Rudi nach Neuig-
keiten; er hatte es sich zudem nicht nehmen lassen, bei Fran-
ziska anzurufen, um ihr von den neuesten Entwicklungen zu
berichten. Sie war merklich erschrocken gewesen und hatte
gebeten, auf dem Laufenden gehalten zu werden.
Maria zauberte eine Runde Kaffee auf den Tisch – für
Dr. Klüngel einen Kamillentee –, und Rudi musste über den
gestrigen Abend berichten. Er ließ nochmals das gesamte
Szenario Revue passieren – die Ablösung der beiden tief
frustrierten Vorsitzenden, die betretene Stimmungslage im
restlichen Vorstand und die gute Laune von Büssenschütt.
»Es war kurz nach Mitternacht, als ich den Laden dicht
gemacht habe«, berichtete Rudi. »Wenn Sie mich fragen,
kommen ganz schwere Zeiten auf uns zu. Dieser Büssen-
schütt ist doch nicht ganz dicht! Und wenn der jetzt noch
von dem Todesfall hört …«
»Tja, Herr Klingebiel, ›Todesfall‹ ist in diesem Zusam-
menhang noch ein zurückhaltender Terminus. Nach der er-
sten Einschätzung unseres Gerichtsmediziners ist Frau Feu-
erbach erschlagen worden.«
Rudi war tief betroffen. »Das kann einfach nicht stim-
men. Josefine Feuerbach war ein Original, schon wegen ih-
rer auffälligen Körpermaße. Wir haben sie alle nur Josy ge-
nannt. Sie hat hier seit vielen Jahren Zeitungen ausgetragen.
So groß und kräftig, wie sie ist oder war, hatte sie auch im
Dunkeln keine Angst. Meistens war sie mit ihrem Schäfer-
hund unterwegs. Der ist aber vor zwei Wochen gestorben.«
»Das ist ja doppelt tragisch«, sagte Konstanze.
»Wir müssen den gesamten Vorstand zusammenholen.
Auch die beiden bisherigen Vorsitzenden«, entschied Strelitz.
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»Die sind aber alle berufstätig«, gab Rudi Klingebiel zu
bedenken.
»Um 18 Uhr hier im Hinterzimmer – kriegen wir das hin,
Olaf?«
»Keine Frage«, kam es selbstbewusst von dem jungen
Kommissar, der die Steilvorlage des Kriminalrates dankbar
nutzte, um vor seinem Schwiegervater Rudi zu glänzen.
»Herr Dr. Bollhagen, können Sie auch anwesend sein?«,
fragte Strelitz.
Der nickte. »Ich habe erst morgen Abend wieder Dienst.«
»Fein. Und Sie, Herr Dr. Klüngel, sind dann bitte auch
dabei.«
Der Unternehmensberater hatte gerade mit brüchiger
Stimme einen zweiten Kamillentee bestellt. »Also, ich weiß
nicht …«
»Ja, was? Wie wollen Sie für Ihre Arbeit eine belastbare
Beurteilungsgrundlage bekommen, wenn Sie nur von Mo-
mentaufnahmen leben? Sie bekommen von mir das volle
Programm. Das gestatte ich nur wenigen Externen, seien Sie
also froh.«
Zur gleichen Zeit saß Franziska in ihrem Dienstzimmer
und versuchte, einen Kontakt zur Sozialsenatorin herzu-
stellen. Ein nicht ganz einfaches Unterfangen, wie sie fest-
stellen musste. Schließlich landete sie beim zuständigen Ab-
teilungsleiter, der damals die Vollversammlung des Vereins
begleitet hatte, aber dank einer gut aufgelegten Senatorin
nicht eingreifen musste.
Franziska entschuldigte sich für die Störung und trug ihr
Anliegen vor.
Der Abteilungsleiter blieb gelassen. »Wir haben in einem
Schreiben mit dem Kopfbogen des Kleingartenvereins Ihre
Zustimmung zur Errichtung der Flüchtlingscontainer mit-
geteilt bekommen. Nachdem auch der Landesverband der
Kleingartenfreunde vor etlichen Tagen grünes Licht gab, ha-
31
ben wir begonnen, die Geländegründung herzustellen. Da-
mit sind wir gestern fertig geworden. Im Laufe des heutigen
Tages werden die Container aufgestellt und an die Versor-
gungsleitungen angeschlossen. Morgen werden die ersten
Flüchtlinge einziehen – wir haben enormen Druck. Deswe-
gen wird das alles mit der heißen Nadel realisiert. Aber vie-
len Dank für Ihren Hinweis – der Wechsel im Vorstandsvor-
sitz ist natürlich fatal. Erwägen Sie eine Gegenkandidatur,
oder werden Sie das Handtuch werfen?«
Franziska versicherte, dass sie Widerstand leisten würden,
worauf ihr der Abteilungsleiter gutes Gelingen wünschte.
Den restlichen Arbeitstag verbrachte Franziska unkon-
zentriert. Am gestrigen Abend hatte das »Bettkantenge-
spräch« mit Andreas lange gedauert. Es war zwischen ihr
und Andreas zum Ritual geworden, dass am Ende des Ta-
ges – eben auf der Bettkante – noch einmal überlegt wurde,
ob irgendetwas ungesagt geblieben war. Das dauerte in der
Regel nicht allzu lange, denn der zwischenmenschliche In-
tensivkontakt sollte schließlich nicht vernachlässigt werden
und überlagerte an den meisten Abenden zügig den Schnack
auf der Bettkante.
Gestern standen beide unter dem Eindruck der drama-
tischen Vorstandssitzung, und sie hatten das Erlebte ausführ-
lich erörtert. Tiefe Frustration herrschte darüber, wie die üb-
rigen Vorstandsmitglieder mit ihnen umgegangen waren. Von
Büssenschütt hätten sie nichts anderes erwartet – aber alle
anderen hatten sich widerstandslos instrumentalisieren las-