Französisch von unten - Wolfgang A. Gogolin - E-Book

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Wolfgang A. Gogolin

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Beschreibung

Fünf Tage in der Normandie. Juste Simons Leben als penibler Buchhalter im Rathaus von Arnaud, einer französischen Kleinstadt, liegt in Scherben: Seine Frau Marguerite hat sich vor zwei Jahren von ihm scheiden lassen; er trauert immer noch dem Eheleben hinterher. Dem harmonischen Gefüge der Kleinstadt droht das Aus, denn der korrupte Bürgermeister Laval betreibt die Schließung von Kindergarten und maroder Kirche zugunsten der Errichtung eines Bordells. Juste Simon, die Anständigkeit in Person, betrachtet dies als weiteren Angriff auf sein moralisches Lebensgerüst. Nach einem Autounfall zweifelt er an seinem Verstand, als plötzlich blaue Zahlen auf der Stirn von einigen Menschen und Tieren erscheinen. Nach mehreren Todesfällen ist Juste sicher: Die blauen Zahlen zeigen das Todesdatum ihres Trägers an. Auch der streunende Kater, der zusammen mit Juste Simon jenen Unfall erleidet, erfährt das Wunder der Veränderung. Während dieser fünf Tage durchlebt der herrenlose Kater Merlin die sprichwörtlichen sieben Leben einer Katze ...

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Wolfgang A. Gogolin

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Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages, Herausgebers und Autors unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Impressum:

© Karina-Verlag, Wien

www.karinaverlag.at

Text: Wolfgang A. Gogolin

Lektorat: Karina Moebius

Layout: Bruno Moebius

Coverdesign: Karina Moebius

Titelbilder: Pixabay

ISBN: 978-3-96610-571-2

© 2019, Karina Verlag, Vienna, Austria

Kapitel 1

Es war einer jener Julitage, die schon in den frühen Morgenstunden versprachen, sonnig und duftig zu werden. Die schwindende Nachtluft wirkte belebend auf die ersten Geschäftigen von Arnaud, sie bekamen eine Ahnung von frischem Lavendel, von ein wenig Zitronengras und einer Spur Minze. Das Straßenflickwerk aus alten Pflastersteinen mit ungleichmäßig eingearbeiteten Asphaltabschnitten schlängelte sich durch die kleine Stadt in der Normandie. Arnaud erwachte langsam.

Merlin ging bedächtig seinen Weg zum Hafen, dicht drückte er sich an die Häuserfassaden.

»Bonjour, Merlin!« Madame Galabru fegte mit einem Reisigbesen die Stufen vor ihrem Delikatessenladen. Staub wirbelte hoch. Die mehrfach übermalten, inzwischen aber wieder rissigen und schäbigen Holzfenster des Ladens boten einen verführerischen Ausblick auf feine Lebensmittelkonserven in Dosen und Gläsern, auf zart frisches Gemüse und eine kleine Fischtheke, die sich im hinteren Teil des Geschäfts befand. Ein buntes Allerlei an Köstlichkeiten. Nur kurz schaute Madame Galabru hoch, dann wogten ihre breit angelegten Hüften im Rhythmus einer unbekannten Melodie, die sie vor sich hin summte. Merlin blieb stehen und schaute die Putzende an. Als könnte er seinen derzeit dringlichsten Wunsch nur mit den Augen erfüllt bekommen, nahm er sie ins Visier.

Madame Galabru fegte weiter. Nichts geschah. Keine Unterbrechung der Arbeit. Kein Hinweis darauf, dass die Delikatessenhändlerin verstand. Merlin starrte. Wünsche waren Wollust ohne Substanz, doch Substanz ließ sich manchmal mit einem Augenaufschlag herbeizaubern. Der Augenaufschlag erfolgte. Merlin schmachtete. Das ratschende Geräusch des Besens, der über die Straßensteine stob, mischte sich mit einem aufgeregten Warnruf einer Blaumeise. Was für ein unerträglicher Stillstand des Augenblicks.

Merlin ließ die Erstbegegnung des Tages einen Moment lang rückwärts laufen und suchte nach Fehlern. Zunächst empfand er Madame Galabrus Begrüßung nur als kurz, dann als zu kurz. Und da sich auch noch Desinteresse hinzugesellte, kam er zum Resümee, dass eine ungewohnte Unachtsamkeit im Allgemeinen und Unverschämtheit im Speziellen sich in ihr Treffen eingeschlichen hatte. Warum beachtete sie ihn kaum? War kurz angebunden? Es war doch alles genau wie gestern und wie vorgestern. Der viel zu enge graublaue Kittel, ihre fleischigen Oberarme, die mit Haarspray zubetonierte Frisur und sogar der Besen mit dem rot lackierten Holzstab, der schon bessere Zeiten gesehen hatte und mit der Farbe des abblätternden Nagellacks seiner Herrin übereinstimmte. Alles wie immer. Wo also lag der Fehler? Hatte er etwas falsch gemacht? Merlin brachte sich in Position. Er umrundete Madame Galabru, blieb vor dem geschäftigen Besen stehen und erkämpfte Aufmerksamkeit. Der aufgewirbelte Straßenstaub biss in seiner Lunge, nahm ihm fast dem Atem.

»Oh, nein! Heute nicht! Sieh dich an, du bist viel zu fett!« Madame Galabru bürstete intensiv mit dem Besen weiter, als wollte sie damit ihre Aussage unterstreichen. Merlin schluckte. Der Staub brannte nun auch in den Augen. Er schüttelte seinen Kopf und die langen Barthaare vibrierten. Hatte er richtig gehört? Zu fett? Was meinte sie damit? Wen meinte sie damit? Er schüttelte den Kopf.

»Oh! Ja! Du bist gemeint. Sieh deinen dicken Bauch an. Du brauchst gar nicht so den Kopf zu schütteln. Du bist zu fett, mein Lieber, und Männer sollten nicht fett sein! Heute gibt es keine Sardinen für dich!«

Merlin betrachtete die dicke Madame Galabru durch seine intensiv grünen Augen, die langwimprig gesäumt und inzwischen mit einem grauflockigen Staubbelag bepudert waren. Dann nieste der schwarz-weiß gefleckte Kater. Es war ein Niesen, das die Welt noch nicht gehört hatte, und Rotz gesellte sich dazu.

»Merlin!« Der graublaue Kittel kam in Wallung.

Mon dieu! Der Kater wankte, absolut erstaunt über das, was seine Nase herausbellen konnte. Rein instinktiv benahm er sich völlig unauffällig, als ob ein anderer Kater diesen peinlichen Lärm und Schleim abgesondert hätte und es besser wäre, sich über dieses impertinente Geschöpf zu empören.

»Das ist unverschämt! So etwas macht ein anständiger Kater nicht!« Wütend fegte der Besen weiter. Merlin hatte bisher angenommen, dass Niesen nicht unverschämt sein konnte, denn es absorbierte sämtliche Funktionen der Seele und ließ als wieder einsetzendes Erstgefühl lediglich Befriedigung zu.

Der Kater blickte erst den Besen an, dann die Besenschwingerin, dann die Fischtheke. Ein ungutes Gefühl schloss sich an und bohrte sich in seinen Leib. Das, was er kommen sah, war ein leerer, tiefer, quälender Abgrund ohne saftpralle Sardinen. Hunger am frühen Morgen.

»Heute nicht. Geh weiter, du Rotznase.« Dann wurde er weggefegt. Merlin jaulte auf. Der Reisigbesen war hart und roch nach trockenem Essigreiniger. Merlins Körper rollte sich ein, machte einen Satz und ohne die Wegstrecke wahrzunehmen, die er gerade zurückgelegt hatte, stand er an der nächsten Straßenecke.

Entnervt, staubig und hungrig, und kein Sardinenfrühstück. Es war zum Heulen. Ein Verzicht auf die zarten, frischen Sardinen, die allmorgendlich sein Herz erfreuten, die ihn hinschmelzen ließen und für die er fast alles machen würde, sogar Madame Galabru anschmachten. Unglaublich! Erniedrigend! Durfte man so mit einem Kater umgehen? Selbst wenn er nur ein Streuner war ohne Herrchen oder Frauchen? Nein! Mit eingezogenem Kopf sammelte sich Merlin. Der Magen röhrte. Sollte er es noch einmal versuchen? Sie musste doch verstehen, dass er Hunger hatte!

Merlin suchte nach einer Lösung. Nochmals die Bitte vortragen? Er warf einen Blick zurück, sah eine kräftige Staubwolke und entschied, es bleiben zu lassen. Madame Galabru verfügte heute Morgen einfach über ein bemerkenswert ausgeprägtes Repertoire an Dummschwätzerei. Unter diesen Umständen war es für einen klugen Kater von Vorteil, dieser klimakterisch akzentuierten Furie aus dem Weg zu gehen. Vielleicht sollte er besser mit einem Mann über seinen Hunger verhandeln. Mit Lucien Forest, dem Fischer.

***

Juste Simon zog die große Eingangstür zum Innenhof an sich heran. Hatte er noch etwas vergessen? Er machte einen Schritt in das Atrium, als könnte ihm die andere Perspektive verraten, was er vergessen hatte. Viele kleine und große Terrakottatöpfe standen hinter dem Torbogen. Lavendel, Mohn und Kamille blühten. Nichts verriet ihm das Fehlende. Wie sollte es auch? Möglicherweise irrte er sich, denn ihn beschlich jedes Mal das Gefühl, sobald er die Wohnung verließ, dass er irgendetwas vergessen hatte. Es waren andere Zeiten gewesen, als er noch verheiratet war. Marguerite hatte immer auf ihn aufgepasst, auch wenn sie ihm manchmal auf die Nerven fiel. Hast du dein Pausenbrot eingepackt? Denk an die Thermoskanne! Ihre Stimme hallte in seinem Kopf nach, doch die Zeit hatte alles verändert. Er war kein Ehemann mehr. Er war jetzt ein Geschiedener und Geschiedene mussten lernen, selbst auf sich zu achten, auch wenn sie Anfang fünfzig waren und eigentlich nicht geschieden sein wollten. Grübelnd verschloss er die Eingangstür. Irgendetwas huschte in seinen Augenwinkeln vorbei. Juste drehte sich um und entdeckte den kleinen schwarz-weißen Kater.

»Bonjour Merlin!« Juste Simons dunkelbraune Augen folgten dem Lauf des Katers, der heute etwas derangiert aussah, sich aber mit festem Schritt bewegte. Nur für einen kurzen Moment sah der Kater ihn an, maunzte und lief unbeirrt davon, ohne weiter auf den Anzugträger zu achten. War das etwa eine angemessen formelle Begrüßung? Juste war gewohnt, dass er wenigstens einen neugierigen Blick und ein kurzes Stehenbleiben erntete. Doch der Kater trabte schnurstracks weiter, das Maunzen setzte sich intervallartig fort, wurde streckenweise sogar lauter. Juste lächelte und sein graumelierter Schnauzer wackelte. Wirkte es doch putzigerweise so, als würde das Katzenwesen geradewegs vor sich hinschimpfen. Ist auch nur ein Mensch, dachte der große Anzugträger mit dem akkuraten Haarschnitt und vergaß darüber, dass er vermutlich etwas vergessen hatte.

Juste ging dem schimpfenden Kater hinterher in Richtung Hafen, der Abstand zwischen ihnen vergrößerte sich. Am Hafen angelangt, bog Juste samt Aktentasche links ein, schaute hoch und sondierte das maritime Panorama. Die Stimmung im rechteckigen Hafenbecken war ausnehmend heiter, unzählige Schiffe lagen ruhig an der Mole. Das dominante Schneeweiß der Bootsrümpfe wurde beschienen von der Sonne, die sich gerade für den Tag aufstellte und das Meer zum Glitzern brachte. Viele kleine Wellen bewegten das Wasser und alles, was darin schwamm. Zwei Möwen kreischten und stritten sich um etwas, das er nicht ausmachen konnte und das wohl ohnehin nicht vorhanden war.

Wie an jedem Morgen seit seiner Scheidung besuchte Juste das Bistro ›Le Ciel‹, bestellte mit buchhalterischer Sicherheit ein Croissant und einen Kaffee, Grand noir. Blanche Martin, die Wirtin, wienerte gerade die Mahagonitheke, die sich seitlich des Eingangs bis zum Ende des Raums erstreckte, wo sie in einer schwachen L-Form endete. Das Bistro war lang und schmal; gegenüber der Theke standen sechs kleine quadratische Tische dicht gedrängt aneinander, nur von einer Säule in zwei Dreiergruppen aufgeteilt. Sorgfältig mit weißen Baumwolldecken betucht, strahlten die Tische den ersten Gast des Tages an.

»Bonjour, Blanche!«

»Bonjour!« Unzählige dünne Haarsträhnen hingen aus der Hochsteckfrisur der Wirtin heraus. Das zu einem Bienenkorb der sechziger Jahre aufgetürmte grau-brünette Haar strahlte old-fashioned Charme aus, ohne altmodisch zu wirken. Gemächlich schlurfte sie zur Kaffeemaschine im vorderen Teil des Bistros und wurde von mehreren Sonnenstrahlen ungünstig erwischt. Pailletten ihres vom gestrigen Abend übrig gebliebenen Shirts reflektierten mannigfaltig. Wie eine leuchtende Discokugel betätigte sie den Kaffeeautomaten.

»Einen Grand und ein Croissant?«

Juste nickte.

»Was ist los, mein Guter? Hast du einen Geist gesehen?« Blanche hantierte weiter am Automaten und wischte ein paar heraus gesprötzte Kaffeespritzer ab.

»Heute ist die Ratssitzung.« Juste setzte sich umständlich auf den Barhocker, der Stuhl scharrte auf dem Boden.

»Oh!«

»Ja, das würde ich auch sagen. Ich habe kein gutes Gefühl.«

»Ach Juste, ich denke, es wird schon gut gehen. Laval hat auch Kinder gehabt, er wird so etwas nicht machen. Das kann er nicht. Keiner will das und er ist unser Bürgermeister, also wird er es auch nicht tun.«

»Deine Vermutung in Ehren, Blanche. Aber Laval hat nur noch zwei Jahre Amtszeit vor sich, danach geht er in Rente. Er will kurzfristig taktieren, den stinkenden Haushalt ausgleichen und Kinder sind ihm egal, seine sind ja erwachsen. Ihn stört es am allerwenigsten, wenn die jungen Eltern in den Nachbarort fahren müssen.«

Die Wirtin schüttelte den Kopf, reichte einen Teller mit einem knusprigen Schokoladencroissant über die Theke. Es duftete herrlich nach dem frischen Backwerk. Der Schokoladenanteil im Odeur verursachte ein verlangendes Knurren in Juste Simons Magen.

»Juste, das glaube ich nicht. Das kann er einfach nicht.«

»Du wirst schon sehen, was Laval alles kann. Am liebsten würde ich ihn als einen gemeinen Paarhufer bezeichnen, aber es wäre unwürdig.«

Die schwarze Halbbrille auf der Nase der Wirtin, die von einer dicken Kordel um den Hals gehalten wurde, rutschte ein Stück tiefer.

»Ein Paarhufer? Laval ist ein Paarhufer?«

»Sus scrofa domestica!«

»Was?« Blanches Stimme färbte sich verständnislos.

»Das, was du manchmal auf die Baguettescheiben legst.«

»Butter?«

»Blanche! Was in deinen Rillettes enthalten ist!«

»Gänsefleisch?«

»Oh, mein Gott, Blanche. Das darf doch nicht wahr sein!«

»Sag doch, was du meinst, zum Teufel!«

»Geht nicht. Es handelt sich um eine Beschimpfung, die aus dem Munde eines Stadtbuchhalters nicht rechtens wäre.«

Blanche holte Luft.

»Du sagst mir jetzt sofort, was ich Elendes in meinen Rillettes verwende, oder ich versalze dir den nächsten Kaffee!«

»Schwein! Ich möchte bemerken, dass ich damit nicht Laval beschimpft habe, ich habe dir nur gesagt, woraus deine Rillettes bestehen.«

Blanche pustete.

»Juste! Du bist manchmal … manchmal bist du …« Blanche holte Luft für die nächste Etappe. »Du bist … Egal! Meinst du wirklich, dass Laval ein Rille… Ich meine … ein Schwei… Herrgottnochmal!« Die Wirtin steckte im Knäuel der Wortfindungsfalle fest. Juste unterbrach das Gestammel, streckte den Zeigefinger zur Beachtung in die Höhe.

»Blanche, du kennst ihn nicht so gut wie ich. Ich könnte dir Dinge erzählen, wenn ich nur könnte, aber sie unterliegen der dienstlichen Schweigepflicht; dann wüsstest du ganz genau, was er ist!« Juste ließ den Zeigefinger schüttelnd oben. »Dennoch – stetes Pflichtbewusstsein ist die Krone des Charakters!«

Juste Simon versiegelte seine Lippen mit gekreuzten Fingern.

Die Wirtin richtete ihre Augen nach oben und ließ sie rollen. »Krone des Charakters?! Juste, du bist manchmal wirklich schwierig. Wenn Mémé nur schon da wäre. Dann könnte sie uns sagen, wie es ausgeht.« Die Wirtin seufzte.

»Mémé? Du meinst, Mémé kann uns helfen? Blanche, ich bitte dich! Das alte Mädchen würde nur wieder orakeln und keiner würde sie verstehen.« Justes Finger deuteten das nächste Melodram an, sie spreizten sich langsam, legten sich vorsichtig um eine imaginäre Kristallkugel.

»Ich sehe …«, sagte er in düsterem Tonfall, »ich sehe … ja, genau! Ich sehe es jetzt ganz deutlich: ein gelbes Pferd auf lila Wiese.« Juste schloss die Augen und summte »Ommmmm.« Ruckartig riss er die Augen wieder auf. »Das würde Mémé sagen und ich könnte den ganzen Tag darauf verwenden, diesen Unfug zu enträtseln. Gelbes Pferd, lila Wiese, sage ich nur, jedes Mal falle ich darauf herein, ich sage dir: Mémé weiß nichts. Absolut nichts.«

»Das sehe ich anders. Mémé würde uns schon mitteilen, wenn etwas wichtig wäre. Man muss mehr fühlen, was sie sagt, dann versteht man es auch.« Blanche Martin wienerte weiter das Mahagoni und Juste blieb nichts anderes übrig, als sich dem Croissant und dem Grand zu widmen.

Er grübelte, während er den Leckerbissen zerkaute, über Pferde mit der falschen Farbe, schob einen Schluck Kaffee nach, beobachtete unwillkürlich die Wirtin. Ihr Busen wogte, das Pailletteninferno glitzerte. Blanches Dekolleté war ein deutlicher Pluspunkt, er mochte es, ihr beim Wischen der Theke zuzusehen. Die feurige Wirtin war zwar ein paar Jährchen älter als er, aber nach seinem Eindruck noch verdammt gut in Schuss und manchmal fragte er sich, ob ihm der Anblick ihres immerwährend tiefen Ausschnitts oder der Geschmack des Croissants besser gefiel.

Nachdenklich wischte der Frühstücksesser einige verfangene Krümel aus dem dunklen Schnauzbart und kam zum Schluss, derlei Denken als unredlich und frauenfeindlich zu betrachten, obwohl es eigentlich eher frauenfreundlich gemeint war; dieses aber im Sinne des herrschenden Moralkodexes als Chauvinismus zu bezeichnen und somit verwerflich sei. Juste Simon schnaubte. Die morgendliche Anstrengung dieser Geistesleistung schaffte ganz schön und wurde zur Erholung mit einem kräftigen Schluck Grand belohnt. Und dennoch, Justes Augen blitzen; das Dekolleté war wirklich sensationell.

***

Merlin stellte sich auf. Gerade, stramm, nur die Augen bewegten sich. Er hätte eine gute Sphinx abgegeben, das Giftgrün rollte den Bewegungen des Menschen hinterher, der die nächste Aussicht auf ein Frühstück bot. Lucien Forest, der Engländer. Er hatte den besten Beruf auf Erden: Fischer. Wie konnte ein Mensch nur über so viel Glück verfügen, gleich ein ganzes Schiff voller Leckereien zu besitzen. Hauptsächlich fischte er große Fische. Wolfsbarsch, Seelachs, Meerforelle. Aber auch viel Beifang. Garnelen, ein paar Austern und Sardinen. Merlin leckte sich das weiße Schnäuzchen und der schwarze Fleck an seinem Kinn, der ihm den Namen des Zauberers Merlin eingebracht hatte, bebte. Die Gummistiefel des Engländers fest im Blick, maunzte der Kater kurz auf. Die Stiefel blieben stehen.

»Salut, Kater!«

Merlin freute sich. Die Begrüßung war nett, wenngleich auch ein bisschen unpersönlich und eher kumpelhaft. Egal, für ein anständiges Frühstück würde er sich auch herunterziehen lassen, denn beim Engländer gab es immer eine Überraschung; so mancher Beifang entpuppte sich als Gaumenfreude.

»Heute nicht, mein kleiner Dieb. Ich habe schon alles verstaut.« Der Engländer ging in die Knie und schaute Merlin tief in die Augen. Die halblangen schwarzen Haare des Seemanns wehten, vom leichten Wind gestreichelt, umher.

»Alles schon weg. Ich habe nichts mehr für dich. Leider!« Er zeigte die leeren Hände und streichelte anschließend ausgiebig den Kopf der zusammengekrachten Sphinx.

Keine Fische?! Merlin duckte sich tiefer. Wirklich keine Fische? Warum in Gottes Namen waren alle heute in so einer unsäglich geizigen Stimmung?

»Morgen denke ich an dich. Bestimmt.«

Die Augen des Katers wurden waidwund. Morgen? Morgen war er vielleicht schon verhungert. Verendet in einer schäbigen Ecke! Vermutlich in einem Winkel, der hungriger Höllenschlund hieß. Von allen vergessen! Irgendetwas in seinen Gedärmen schrie, es war wahrscheinlich der frühe Tod. Merlin wimmerte.

»Oh je. Du wirst schon etwas finden, bei deinem Charme.« Der Engländer lächelte, die groben Hände streichelte Merlins Bauch. »Und bei dem Bäuchlein wirst du vorerst nicht verhungern!.«

Bäuchlein? Ganz langsam hob Merlin den Kopf, die Augen verengten sich zu Sehschlitzen. Was hatten heute alle nur mit seinem Bauch! Er hatte doch richtig gehört?

»Du bist aber wirklich ein gut ernährter Kater.« Der Engländer bekuschelte intensiv die leibliche Rundung, in der Leere tobte. Merlin wurde schlecht, dann fuhr er die Krallen aus, fackelte nicht lange. Mit einem schnellen Tatzenhieb verpasste er diesem unverschämten Kerl eine Strieme direkt auf den Unterarm. Genug war genug! Etwas für zu dick befinden und dann noch darauf herumdrücken! Irgendwann musste man ein Signal setzen. Merlin fauchte.

***

»Blanche! Hast du Alkohol im Haus?«

Die Wirtin sah den hereinstürmenden Engländer verwundert an, mit dem Daumen zeigte sie auf die Wand hinter sich, die angefüllt mit Spirituosen war.

»Such dir etwas aus, Seemann!« Lucien Forest schaute von seinem Arm hoch, die violetten Augen funkelten.

»Nicht zum Trinken. Hierfür!« Er zeigte auf den blutigen Unterarm. »Dieser kleine lausige Kater hat mich gekratzt.«

Blanche griff unter die Theke, zauberte ein braunes Fläschchen hervor.

»Komm her, Lucien. Ich bin eine gute Krankenschwester.« Gezielt schüttete sie einen Schwall Alkohol auf die Striemen, der Engländer jaulte auf.

Juste Simon hatte zugesehen, trank den letzten Schluck des bitteren Grand und grinste.

»Seemänner sind doch echte Helden.« Genüsslich streichelte er seinen Schnurrbart.

»Sei bloß still, du Bleistifthalter!«

»Na, na, na. Wer ist denn früh am Tag schon so unfreundlich. Hat unser Sardinenversteher heute nichts am Haken gehabt?«

»Jungs, wollt ihr wohl aufhören, sonst werde ich böse!«

Der Engländer bedeckte seinen Arm mit Servietten und hielt das Papier krampfhaft fest. Die violetten Augen des Seemannes bildeten eine Einheit mit dem blau-weiß geringelten Shirt, das am Halsausschnitt schon mehrfach eingerissen war. Der Mann, der zwar gebürtiger Franzose war, aber von allen als ›Engländer‹ bezeichnet wurde, weil sein Urgroßvater mütterlicherseits aus Kent stammte, hatte eine ungewöhnliche Ausstrahlung. Mit einundvierzig Jahren, wind- und wettergegerbt, bestand die Raffinesse seiner Persönlichkeit aus einer seltsamen Mischung von Härte im Körper und Sanftheit im Gemüt. Aus dieser reizvollen Synthese ergab sich, dass die Zahl der romantisch verklärten Verehrerinnen das Hafenbecken umspannen könnte, würde er es wollen. Doch er wollte nicht, mehr oder minder charmant wies er sämtliche Bewunderinnen ab, was ihn nur noch reizvoller und geheimnisvoller für die Damenwelt machte.

»Ist irgendetwas, Juste? Du bist so still.« Der Engländer hatte Frieden mit seiner Verwundung gemacht. Juste holte tief Luft, doch die Wirtin kam ihm zuvor und zischte wütend.

»Laval will die Ecole maternelle schließen!«

Eine kurze Stille setzte ein. Lucien Forest pfiff.

»Ach, das ist ja ein Ding! Blanche! Mach mir ein Bier fertig«, sagte er ruhig und setzte sich. »Den Kindergarten schließen!? Das kann Laval doch gar nicht tun!«

Blanche schnaubte.

»Oh, doch. Das kann er! Das Rillettes-Schwein will nämlich seinen stinkenden Haushalt sanieren!«

Die Stirn des Engländers zog sich zusammen.

»Ich mag Laval auch nicht. Aber wieso nennst du ihn Rillettes-Schwein?«

»Mein Gott! Weil Schwein immer Bestandteil meiner Brotaufstriche ist!« Entnervter konnten Worte nicht hingeworfen werden.

»Ach so!«, sagte Lucien Forest nachdenklich. »Und ich dachte immer, da wäre nur Gänsefleisch drin.«

***

Merlins letzter Versuch war das ›Le Ciel‹. Die Wirtin hatte ein freundliches Wesen, doch es gab meist nur Dosenfutter. Fische waren Fische, sie schwammen im Wasser, wurden gefangen und manchmal sperrte man sie in eine Dose ein. Wo sollte da ein Unterschied sein? Merlin redete sich die Notwendigkeit schön, sein leerer Magen befand sogar, dass Fische als Konserven durchaus bekömmlich sein könnten, und knurrte bejahend. Der Lauf des kleinen Katers wurde schneller.

Vor dem Bistro blieb Merlin stehen. Abwartend beäugte er die Menschen darin, das Herz sackte tiefer, als er ausgerechnet den Engländer erblickte. Urplötzlich rauschte die Chance auf ein Frühstück in den Keller und Merlin sah sich nun deutlich am Straßenrand liegen, abgemagert bis auf die Knochen, mit einem starren Blick, der erahnen ließ, dass er sich gerade vor seiner Katzengöttin rechtfertigen musste. Der Kater schüttelte den Kopf, um dieses grausame Bild verschwinden zu lassen.

»Bonjour, Merlin!« Der Anzugträger hatte ihn tatsächlich bemerkt, auch Lucien Forest, der den ersten Schluck eines knallkalten Bieres schlürfte, schaute sich um.

»Oh, nein. Nicht diese Bestie! Verschwinde, du blutrünstige Raubkatze!«

»Lass ihn. Er hat bestimmt nur Hunger.« Juste winkte den Kater herein.

»Komm schon, Merlin. Wir reden hier über zu viel Schlimmes. Komm nur herein, Blanche hat ganz gewiss was Feines für dich.« Merlin setzte vorsichtig eine Pfote in das Bistro.

»Nur zu. Der böse Seemann tut dir nichts.« Die zweite Pfote folgte.

»Sag ihm, dass es heute gegrilltes Katzenfleisch zum Abendessen bei mir gibt!«

»Komm herein. Hör nicht auf den Engländer. Der erzählt nur dummes Zeug.«

»Engländer? Kannst du mal aufhören, mich als ›Engländer‹ zu bezeichnen? Mein Vater war Franzose, meine Mutter ebenfalls, auch meine Großeltern waren Franzosen. Also bin ich Franzose! Nur mein Urgroßvater kam aus Kent.«

Juste hielte inne. Er kannte den wunden Punkt.

»Weißt du«, sagte er grinsend, »keiner kann etwas für seine lausige Vergangenheit.«

»Waaas?« Der Engländer bäumte sich auf.

»Ist jetzt Schluss!« Die Wirtin klopfte vernehmlich mit dem gekrümmten Mittelfinger auf das Mahagoni, bevor eine Endlosschleife an Wortwechseln ihr die innere Ruhe nehmen konnte.

Merlin zuckte zusammen. Er betrachtete die beiden Männer und das klopfende Weibwesen. Die Augen blinzelten abwechselnd, das mimische Wechselspiel brachte das Gesicht zum Tanzen. Die Wimpern zuckten. Ein Sinnbild der Unentschlossenheit und der Pein zwischen Gier und Angst. Der Dialog zwischen den Menschen brach abrupt ab und Merlins Magen gewann. Blitzschnell lief er ins Bistro, umrundete den Engländer in einem großen Bogen und umschmeichelte dann seinen Wohltäter. Juste lachte, als der Kater ihm in einer Achterschleife um die Beine strich und an seinen Füßen schnupperte. Durch die Socken hindurch spürte er die sanften Stupser und die kuscheligen Barthaare.

»Merlin, nicht. Das sind Füße!«

»Also, ich würde die stinkenden Socken auch nicht beschnuppern, es sei denn, ich wäre blöd im Kopf. Da kannst du mal sehen, wie gestört der Minitiger ist.« Der Engländer trank einen ordentlichen Schluck vom frisch Gezapften.

»Lass ihn reden, Merlin. Wir kümmern uns nicht drum.« Als würde der Kater verstehen, ließ er Justes Füße in Ruhe, schaute zu ihm hoch in der festen Erwartung, dass endlich Fisch folgte. Juste lächelte.

»Blanche, mach doch mal eine Dose für meinen Freund auf.« Für Notfälle bewahrte Blanche unter der Theke immer einen Vorrat für hungrige kätzische Gäste auf.

Merlin hatte das Gefühl, gleich in Ohnmacht zu fallen. Er wankte. Endlich wurde er erhört! Die Wirtin öffnete tatsächlich eine silbrige Dose. Es zischte leicht. Thunfisch! Er roch ihn schon. Eine Vorahnung des Genusses, der Gastraum füllte sich mit dem Duft des süßen Versprechens, dass man hier Nahrung bekäme. Merlins nasse Zunge fuhr über die Lippen, er schnurrte. Mit einer kleinen Gabel verfrachtete die Wirtin den Inhalt der Dose auf einen weißen Unterteller, reichte ihn Juste. Der unerträgliche Reiz der Langsamkeit wühlte in Merlin, aufgeregt tippelte er hin und her, dann endlich stellte sein Lebensretter den Teller direkt vor den Pfoten ab.

»Eins noch, mon Ami!« Juste erhob den Zeigefinger. »Ich will kein Rülpsen hören und auch nichts anderes, was laut sein könnte und stinkt. Ordnung muss schließlich sein!« Juste drehte den Teller sorgfältig in Position, die dicke Seite des Thunfisches so nach hinten, dass der leicht zu erreichende flache Fischteil im Vordergrund stand. Merlin starrte paralysiert den Teller an. Unglaublich! Frühstück!

In Sekundenbruchteilen war sein Kopf im Fisch versunken. Zeit und Raum verloren sich. Wie war eigentlich sein Name? Und was genau mochte mit ›Ordnung‹ gemeint sein? Lautes, gieriges, von Wollust durchtränktes Schmatzen bemächtigte sich des Raumes.

Endlich Futter!

***

Das Portal der Église Sainte-Catherine stand zur morgendlichen Zeit sonnig; das Backsteingebäude glühte in imposant roter Farbe. Dieses Lichtspiel war das einzig Herausragende an der schmächtigen Kirche, die sich gedrückt zwischen zwei Wohnhäuser presste. Die sehr geringe Anzahl spätgotischer Zierelemente verriet, dass es sich um eine Kirche handelte, die für ihre einstigen Bauherren eher pragmatisch als denkwürdig sein sollte, und dass damals vor allem nicht vorhandenes Geld die entscheidende Rolle gespielt hatte. Nebst dem Farbspiel des Backsteins hatte das Rosenfenster, das über der eichenen Haupttür prangte, zwar keine große künstlerische Bedeutung, dennoch ging von dem Radfenster eine suggestive, stark meditative Wirkung aus. Sollte das Rad die Wechselhaftigkeit des irdischen Glücks symbolisieren? Oder waren die durchscheinenden Grundfarben angeordnet ohne jedweden Sinn? Ein hypnotisches Kaleidoskop? Betrachter der Kirche entdeckten es auf jeden Fall als Erstes, die Köpfe gingen in die Höhe, verweilten eine Zeit lang dort und nahmen etwas von der Vollkommenheit des strahlenden Kreises mit.

Abbé Noël umrundete die Kirche, ging den schmalen Pfad zwischen den Häusern zur rechten Seite und anschließend den etwas breiteren zur Linken. Er achtete darauf, dass der schwarze Anzug nicht an die Wände des Gotteshauses geriet, gelegentlich betrachteten seine wachen Augen das Dach. In der Nacht hatte leichter Wind geweht und der Abbé schaute nach, ob das marode Haupt der Kirche, das ihm Kummer bereitete, ein paar Ziegel fallen gelassen hatte. Meistens schlitterten die angeschlagenen Ziegel in ein eigens dafür befestigtes Fangnetz. Heute aber schien alles in Ordnung zu sein. Keine Ziegel. Kein neues Loch.

Abbé Noël stellte sich vor das Portal auf den kleinen Platz, sah auf die Front der Kirche und lächelte. Sein altes Mädchen, wie er die Église Sainte-Catherine nannte, strahlte ihn an. Es war nicht schön, aber es bot ausreichend Platz, der aber kaum genutzt wurde, denn die Zahl der Kirchgänger nahm stetig ab. Es gehörte zum Kreuz, das er zu tragen hatte, dass die alten Frommen starben, und junge Schäflein sich uninteressiert an Gott und Gebeten zeigten. Gott war wie immer, nur die Zeiten hatten sich geändert. So sprach er die täglichen Abendandachten überwiegend vor einer kleinen Schar, die aus Senioren, Gebrechlichen und an einer Hand abzählbaren Überzeugungstätern bestand. Nur Taufen, Hochzeiten, Kommunionen belebten die Kirche. Punktuelle Frömmigkeit für eine gelungene Feier.

»Mein Mädchen, wir kriegen dich schon wieder flott«, flüsterte der Gottesmann zum schwarzen Haupt der Sainte-Catherine. »Irgendwann bekommen wir das Geld zusammen und dann kaufen wir dir ein schickes neues Dach.«

Heute strahlten die Farben des Radfensters besonders intensiv. Vielleicht, weil das Kaleidoskop wusste, dass der in den Wind gesprochene Wunsch mehr Hoffnung als Aussicht beinhaltete, denn die Kollekten fielen dürftig aus und die Zuwendungen, die über den alljährlichen Zehnten zusammenkamen, deckten gerade eben die laufenden Kosten.

Der Abbé lächelte noch immer. Weißes Haar verlieh ihm jene Alterswürde, die zwischen Demut und Bescheidenheit pendelte und die im Einklang mit dem gestärkten weißen Stehkragen, dem Kollar, stand, der sich von der Schwärze des Anzuges abhob.

»Abbé!«, gellte es über den Marktplatz. Ein paar Tauben flogen auf. »Abbé Noël!«

Der Seelenhirte drehte sich um. Madame Galabru rannte über die schmale Kopfsteinpflasterstraße auf den Platz zu, mit ihren wuchtigen Armen winkte sie aufgeregt. Den graublauen Kittel, der an eine Wurstpelle erinnerte, hatte sie mit einer ebenso engen graublauen Strickjacke bedeckt.

»Abbé!« Schwer keuchend stand die Händlerin vor ihm, eine Hand auf die Brust gepresst, als würde das Platzen ihrer Hauptschlagader unmittelbar bevorstehen. Das gebräunte Gesicht des Gottesmannes verströmte Güte und Weisheit.

»Madame Galabru, was ist denn nur?«

»Haben Sie es schon gehört?« Madame Galabru war zwar keine zuverlässige Sardinenschenkerin, aber was die Gerüchteküche des Ortes anging, so kochte sie ordentlich mit.

»Was genau meinen Sie?«

»Laval …!«

»Meine Gute, holen Sie doch erst einmal Luft!« Der Abbé beklopfte das Rückenteil der graublauen Strickjacke. Staub wirbelte auf und tanzte im Sonnenlicht.

»Laval will heute den Kindergarten schließen!«

Die Augenlider des Abbés kräuselten sich.

»Madame Galabru, das kann ich mir nun beim besten Willen nicht vorstellen.« Sein Kopf schüttelte sich, die weißen Haare gerieten in Bewegung.

»Es kommt noch viel schlimmer!« Die Delikatessenhändlerin hechelte weiter und pfiff bronchial. Ob zufälliger Zuhörer oder bewusster, niemand hätte einen Zweifel daran gehabt, dass es sich bei diesen Tönen um einen in flagranti ertappten Multiorgasmus handelte. Der Abbé schaute indigniert.

»Madame, ganz ruhig! Wir wollen doch kein Aufsehen erregen!«

»Er will die Sainte-Catherine für baufällig erklären!«, presste sie heraus.

Die Augenbrauen des Abbés schnellten in die Höhe.

»Was!?«

Madame Galabru versuchte, sich zu beruhigen, beugte sich nach vorn, stemmte die Hände auf die Knie, atmete kontrollierter. Der Abbé wandte den Kopf zu ihr hinunter.

»Was meinen Sie damit?«

Die Augen der Händlerin, die in sportiver Haltung verharrte, knallten ins Antlitz des Geistlichen.

»Was kann ich schon damit meinen? Sainte-Catherine wird geschlossen! Der Bürgermeister wird es heute in der Ratssitzung verkünden!«

Der Mund des Geistlichen öffnete sich und es hatte den Anschein, als würde er sich niemals wieder schließen.

»Woher haben Sie das?«

Madame Galabrus krummer Rücken wurde wieder gerade, aufrecht verkündete sie die Apokalypse, ohne auf die gestellte Frage einzugehen.

»Es kommt noch besser. Laval will die Genehmigung für ein Etablissement mit charmanter Unterhaltung an Pool und Bar schnell vorantreiben. Ich hoffe, Sie verstehen, was ich damit meine. Charmante Unterhaltung! Dass ich nicht lache! Direkt dort!« Madame zeigte auf das gegenüberliegende Gebäude, einen unscheinbaren, dreistöckigen Fachwerkbau, der schon ein paar Jahre lang leer stand. Er wirkte harmlos, freundlich und unschuldig. Widerstrebend blickte der Abbé auf das Haus. Maß den Abstand zu seinem alten Mädchen.

»Ein Bordell! Hier? Das kann er doch nicht machen.«

»Das macht er! Nur nennen wird er es so nicht und trotzdem ist es nichts anderes. Störende Kirche geschlossen, Etablissement geöffnet, ergibt wenig Ärger und viel Geld für die Stadtkasse. Und der Kindergarten ist eine zusätzliche Maßnahme, um Ausgaben zu vermeiden. Was schert es ihn, wenn die Eltern weite Strecken fahren müssen, um ihre Kinder in den nächstgelegenen Kindergarten zu bringen? Das nennt man kostengünstige Zusammenlegung. Übrigens, das Kindergartengebäude würde sich auch gut für ein Etablissement eignen. Irgendwann sind wir hier ein einziges Bordell!«

»Madame! Genug! Das wäre ungeheuerlich!«

Die Delikatessenhändlerin hatte ihre Figur gestrafft, ihren Atem unter Kontrolle gebracht.

»Abbé Noël, genauso ist es. Bürgermeister Laval ist ein Ungeheuer!« Madame Galabru zog ihre Strickjacke mit Grandezza glatt, verkniff energisch den Mund und stürmte weiter, um die böse Kunde zu verbreiten.

Nur der Abbé stand noch verstört auf dem Platz. Tauben umflogen ihn. Alles drehte sich. Geräusche zerstoben, wurden zu einem Einheitsbrei und verschwanden in einem tiefen Hintergrund. Sainte-Catherine baufällig? Sicherlich, das Dach war nicht mehr ganz in Ordnung und der Innenraum brauchte Farbe, die geschickten Hände eines Maurers wären auch von Nöten und eine neue Kanzel nicht schlecht, aber ›marode‹ war dafür ein unschönes Wort. Renovierungsstau, das wäre ein besserer Ausdruck; oder auch pekuniär bedingte Erneuerungsverzögerung. Aber ›marode‹? Das Rosenfenster funkelte. Sah es die Dinge genau so? Um den Abbé herum ließen sich Tauben nieder, weitere kamen im gestreckten Flug an, bremsten ab und liefen in einer konfusen Suche nach Nahrung um den Nachdenklichen herum. Der Platz wirkte romantisch, duftete angenehm frisch geputzt. Sauber, blitzblank und rein, eine Mischung aus grüner Seife und verdunstendem Wasser kräuselte sich in der Nase. Diametral dazu stieg das Odeur auf von soeben produziertem Taubenkot.

***

Das Haus, in dem am heutigen Tage über die Zukunft von Arnaud entschieden werden sollte, war das Rathaus. Noch ruhte es. Die erleuchteten Fenster wirkten heimelig, der helle Bau trug zwischen den Fenstern der obersten Reihe eine im zarten Wind leicht flatternde Tricolore. Vögel zwitscherten und ließen sich auf den sorgfältig geschnittenen Buchsbäumchen nieder, die in den beiden großen Blumenkübeln vor dem Eingang standen. Ein Ort, an dem Napoleon zur friedlichen Ruhe hätte finden können oder an dem Robespierre zur Erholung von den Schrecken der Revolution gefahren wäre; sofern das romantische Trugbild lange genug standgehalten hätte.

Das Zimmer des Bürgermeisters befand sich im hinteren Teil des Erdgeschosses, direkt am begrünten Innenhof. Gediegene dunkle Teakmöbel dominierten den Raum, der gewaltige Schreibtisch bildete den markantesten Punkt. Madame Pascal, die rothaarige Sekretärin des Bürgermeisters, öffnete beide Flügel des Bodenfensters und der Blick auf die Terrasse wurde frei. Frische Luft für den ersten Mann der Stadt. Das fröhliche Vogelgezwitscher drang ein. In der Hecke, die die Terrasse umsäumte, hatte ein Zaunkönig sein Nest gebaut. Ordnungsliebend rückte die junge Vorzimmerdame beide Gardinenschals zurecht und verließ eilfertig den Raum. Bettelrufe der Jungvögel im Nest ertönten. Fünf Stimmchen, die um Nahrung riefen.

Ein schabendes Geräusch mischte sich zu den Stimmchen, die oberste Schublade des Teakschreibtisches wurde geöffnet. Rollender, menschlicher Husten, aus unzähligen Zigaretteninhalationen hervorgebracht, schloss sich an. Die kleine, grazile Zaunkönigmutter tippelte aufgeregt auf dem Terrassenfußboden hin und her, verschreckt hörte sie den bellenden Lärm. War alles gut? Lauerte Gefahr? Nach einem kurzen Moment entspannte sie sich, Gelassenheit kehrte ein, alles ruhte. Wusste das Vögelchen nicht, dass Ruhe ein Alarmsignal sein konnte? Neugierig wechselte das Vogelköpfchen die Position, sondierte erneut. Ihr Vogellied, der Stimmfühlungsruf, erklang. Alles gut, das begriffen jetzt auch die Jungen im Nest.

Aus der Schublade wurde langsam ein Holzgerät entnommen. Sachte Bewegungen. Die Hand, in der es lag, agierte unmerklich. Zwei Schritte vor, Mutter Zaunkönig war wissensdurstig und hungrig. Gab es Nahrung in der Dunkelheit des Raums? Ewig schreiende Brut, permanente Nahrungsbeschaffung. Das Holzgerät wurde gespannt, es knarrte leise. War wirklich alles in Ordnung in dem Zimmer? Das rotbraune Gefieder, das am Bauch heller wurde, zitterte. Was würde obsiegen? Neugier oder Angst? Hunger oder Klugheit?

Sekundenschnell in den Tod, das Erstaunen darüber erzeugte groteske Vogelmutteraugen, deren nussbraune Iris aufloderte. Als das zischende Geräusch in die Wahrnehmung der Zaunkönigin eindrang, war ihr Kopf bereits abgerissen, eine spärliche Blutlache sickerte auf den steinernen Fußboden. Ein roter Rohrschachkleks in Miniatur. Was sollte er aussagen?

Zerschossenes Gefieder und hauptloser Torso zeigten eine Collage des Grauens.

Ein beantwortetes ›Warum‹ macht klug, eines ohne Antwort ratlos.

Langsam legte die Hand des Schützens die Zwille in die Schublade zurück. Bald würde Stille einkehren, der Ruf der hungrigen Jungen ersterben. Bellender Husten setzte ein und endete in einer gewaltigen Lachsalve.

***

Abbé Noël saß auf der hintersten Bank von Sainte-Catherine, er war zurückgewankt in die Arme seiner Kirche. Marode. Baufällig. Schließen. Worte, die einen immensen Strudel verursachten, der das Denken des Geistlichen herumwirbelte, es abwärts zog und hoffnungslos in ohnmächtiger Schwärze zurückließ.

»Noch eine Prüfung, Herr?« Abbé Noël faltete seine ungewöhnlich zarten Hände. Sie zeugten von wenig körperlicher Arbeit und zeigten ein Ebenmaß, das nur selten an einer Männerhand zu finden war. Die Knöchel der Finger wurden weiß, der Druck auf die innig gefalteten Hände stärker. »Warum? Hast du mich nicht schon oft genug mit Prüfungen beschenkt?«

Die Hände zitterten, auch dieses ›Warum‹ würde mit keiner Antwort belohnt werden. »Mein Mädchen ist nicht alt! Es ist nur nicht mehr ganz jung.« Das Licht des Rosenfensters streichelte den Abbé im Rücken, rosarote Helle liebkoste seinen Kopf.

»Es ist doch nur Geld, um das es sich dreht. Mehr nicht! Elendes Geld!«

Die Sonneneinstrahlung wechselte, das Farbspiel wurde violett. Die Farbe des Vergehens.

»Sainte-Catherine darf nicht geschlossen werden. Wir sind zwar nur eine kleine Gemeinde und nicht mit Prominenz beschenkt, aber wir sind auch jemand!« Hatte Gott ihm gerade zugeraunt, dass seine Gemeinde unwürdig wäre? Mitnichten. Gott schwieg. »Die jungen Leute fehlen in der Kirche, ich weiß das. Es gibt nur wenige, die zu dir finden, die Zeiten sind anders geworden, es ist eine Welt voller Arbeit, Geld, Computer, Handys und Fernsehen, da bleibt keine Zeit für innere Einkehr. Alles andere ist wichtiger und interessanter, auch wenn es die Menschen am Ende leer zurücklässt.«

War noch Blut in seinen Fingern? Die Knöchel knackten. »Wir leisten eine achtbare Arbeit, Herr. Wir kümmern uns um die Alten und Gebrechlichen und die Kirche ist gut besucht an Feiertagen. Weihnachten ist es dermaßen voll, dass wir keine Sitzplätze mehr haben und zu Ostern erfreut es mein Herz, wenn ich den Andrang sehe. Es sind sehr viele, nur im Alltag vergessen sie dich, Herr. Die Menschen sind nicht bei sich und nicht bei dir. Es ist halt so.«

Der Abbé senkte das Haupt auf die Hände, sein Körper zeugte von stiller Demut, doch noch etwas lag in ihm. Es war ein winziger Kern. Gezähmt und eingezäunt. Für niemanden sichtbar, ummantelt von einer dicken Schicht aus Frieden, Freundlichkeit und Philanthropie. Doch was geschieht, wenn ein bedeckter Kern erschüttert wird? Wenn ihm Unrecht widerfährt oder gar Böses? Hält der Deckmantel? Oder bekommt er Risse?

Grüne Augen erhoben sich und sahen in den Raum, nüchtern betrachtete der Abbé die Sainte-Catherine, nüchterner noch, als ihm lieb war. Die Malereien aus der Gründerzeit der Kirche verblassten und blätterten ab. Wie sah die Jungfrau Maria aus? Hatte sie volle Lippen und wasserfarbene Augen? Dort, wo das Gesicht sein sollte, hatte aschgrauer Putz der Jungfer ihr Antlitz gestohlen, eine Tragödie, die sich täglich ausweitete. Sie zerfraß, was einst geschaffen wurde, um Freude über die Geburt Jesu zu verkünden. Eine Trilogie der Werdung, Ankunft und des Wirkens, doch schon die Werdung war nur noch unvollständig zu erkennen. Ein schwangerer Leib, beschützt von einer nicht mehr vorhandenen Hand. Sah das gut aus? Nur ein Kopf in der Krippe. Wo war der Körper des Säuglings geblieben? Der Sohn Gottes ohne Mund. Bedeutete das Blasphemie?

Und die Kanzel? Das Herzstück des Mädchens. Hoch erhoben, von den Zimmerleuten des Ortes errichtet, besaß sie die Macht, demjenigen die Kraft der Überzeugung zu geben, der in ihr die Messe las. Nur, wie lange würde das noch möglich sein? Die Kanzel knarrte bei jedem Schritt und es gehörte eine Menge Gottvertrauen dazu, ohne Angst zu predigen. Wie tief würde er fallen? Vermutlich würde der Abbé sogleich vor seinem Richter stehen und müsste als Erstes Rechenschaft darüber ablegen, warum er kein guter Beschützer des Gotteshauses gewesen war. Keine schöne Vorstellung, die erste Begegnung mit einem ›Entschuldigung!‹ zu beginnen.

Dann schaute der Geistliche empor, seitlich im Dach klafften Löcher, der ausgefranste Himmel darin zeigte sich in eisblauer Farbe. Kälte kroch in Abbé Noël hoch und wand sich in seinem Herzen, voller Schmerz gab er zu, dass das Dach bereits so undicht war, dass es hineinregnete. Nur notdürftig konnten immer wieder Ziegel ersetzt werden, ein mühevolles Flickwerk gegen die Zeit.

Die intensiv grünen Augen des Abbé stachen in die Leere. Kleine braune Einsprenkelungen im leuchtenden Grün zogen sich von der Pupille bis zum Rand der Iris. Ein Feuerwerk von Erdfarben, das verkündete, wie schwer die Last der Verantwortung zu tragen war.

»Gott!«, rief Abbé Noël, tief einatmend. »Schick mir Geld!«

Doch schon in dem Augenblick, in dem er den Wunsch ausgesprochen hatte, stockte er.

Durfte ein Pfarrer um Geld bitten? Er kannte die Antwort: bitten um das Goldene Kalb. Tanzte auch er jetzt um das Tier? Ihm war bewusst, wie eigennützig und falsch er handelte, aber die Not war auch real, denn ein Wunder würde es nicht geben und allein Geld konnte noch helfen.

»Vergiss die Bitte.« Er schüttelte den Kopf. »Es war nicht richtig, um Geld zu bitten! Vergiss es! Es reicht, wenn du bei uns bist!« Enttäuschung war vorprogrammiert. In beiden Fällen.

Verzweifelt legte er den Kopf wieder auf den Handrücken. Es schien, dass alles am Ende war. Ein Pfarrer ohne Kirche. Wie viel Druck hielt der kleine Kern aus? Ein bisschen Druck war erträglich, etwas mehr noch möglich, doch der Abbé sah vor seinem inneren Auge ein Schild an der Kirchentür, darauf stand: »Bis auf Weiteres geschlossen!«