Frau Phönix - Silke Krumbeck - E-Book

Frau Phönix E-Book

Silke Krumbeck

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Beschreibung

Selbstmordversuch und Panikattacken, Depressionen und Essstörungen, Angst, Vaterliebe und wilder Hass auf den Vater, mehrere Beziehungen mit "falschen" Männern - das sind typische Muster, die sich zeigen, wenn Kinder in dysfunktionalen Familienstrukturen aufwachsen mussten. Verstärkt werden solche Muster noch, wenn mindestens ein Elternteil narzisstische Anteile hat. Dieses Lehrstück zeigt exemplarisch und schonungslos die Mechanismen dieser Strukturen auf. Es zeigt aber auch, wie unbeirrt Frau Phönix an ihren Hoffnungen festhält, eine wunderbare Tochter großzieht, sich entwickelt, beruflich erfolgreich wird und ihren Frieden mit der Macht narzisstischer Prägungen schließt. Schmerzhaft zu lesen. Doch auch höchst hilfreich, um solch fatale Muster erkennen zu lernen.

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„Wie ich in der Welt verloren ging und dabei mich selbst fand.“

Inhalt

Vorwort

Zwei wichtige Anmerkungen

Wie alles begann

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Ausblick

DANKE!

Vorwort

„Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich.“

Aus dem Roman „Anna Karenina“ von Leo Tolstoi

Seit etwa dreißig Jahren bin ich beruflich in verschiedenen Familiensystemen unterwegs und der Satz von Leo Tolstoi hat sich aus meiner Sicht bewahrheitet: Jede unglückliche Familie ist auf ihre ganz eigene Weise unglücklich.

Ob nun durch einen Schicksalsschlag, die psychische oder Sucht-Erkrankung eines Familienmitgliedes oder durch ein Trauma, das sich durch die Generationen trägt und sich auf wundersame Weise in den Folgegenerationen wiederfindet. Jede unglückliche Familie folgt einem eigenen Muster, lebt in einem eigenen System, das es in meiner Arbeit behutsam zu erforschen gilt. Und jede dieser Familien hat eine Art Sollbruchstelle, nämlich ein Familienmitglied, das auf die Not und die Vulnerabilität des Systems aufmerksam macht.

Mein Buch hat seinen Weg zu dir gefunden. Darüber freue ich mich sehr und hoffe, dass es dich inspiriert und dich auf deinem Weg unterstützt. Vielleicht bekommst du auch einfach neue Erkenntnisse oder tauchst gern in die Geschichte meiner Protagonistin ein. Ich freue mich über alles!

Ich bin Silke, 50 Jahre alt und arbeite als Paar- und Familientherapeutin im Norden Deutschlands.

Aufgewachsen auf dem Land, bin ich immer Landmensch geblieben und fühle mich in der Nähe von Bremen heimisch. Mein Herz schlägt für das Meer und ein paar Mal im Jahr besuche ich meine Lieblingsinsel Fehmarn in der Ostsee.

Beruflich fühle ich mich im sozialtherapeutischen Bereich zu Hause. Menschen und ihre Geschichten interessieren mich. Und es macht mich sehr glücklich, Menschen in ihren systemischen Zusammenhängen zu verstehen und zu unterstützen. Die systemische Therapie begreift die Familie als ein System, in dem die sozialen Interaktionen zwischen den einzelnen Familienmitgliedern beleuchtet werden.

Wie viele meiner Berufskollegen, bin ich in einer Familie aufgewachsen, die ich aus heutiger Sicht als dysfunktional beschreiben würde.

Dysfunktionalität in einer Familie bedeutet, dass ein Elternteil oder beide Eltern, aus welchen Gründen auch immer, nicht in der Lage sind, ihrem Kind Liebe, Schutz und Unterstützung zu bieten.

Themen in solchen Familien sind stattdessen oft Hilflosigkeit, Erstarrung, Manipulation, Entwertung, Entwürdigung oder Selbsterhöhung durch Abwertung des anderen.

Opfer dieser Dynamik sind ausnahmslos alle Familienmitglieder. Kinder, die in diesen Familien aufwachsen, tragen dieses ungesunde Miteinander dann oft unreflektiert und ungeheilt in die nächste Generation.

In solchen Familien herrscht ein hohes Maß an Misstrauen gegen alle anderen Menschen und ein unverhältnismäßig großes Gefühl von Bedrohung und Störanfälligkeit durch Einflüsse der Außenwelt.

Das Aufwachsen in einem ungesunden Familiensystem hat, abhängig von seinem Ausmaß, Auswirkungen auf die weitere Entwicklung eines Kindes, zum Beispiel auf die Lebensthemen Beziehungsgestaltung, Interaktionsfähigkeit, Selbstwertgefühl, Selbstvertrauen, Vertrauen in das Leben allgemein und auf die individuelle Selbstwirksamkeit.

Als ich vor über zwanzig Jahren schwanger mit meiner Tochter war, bewegte mich am meisten die Frage: Wie kann ich eine gute Mutter sein?

Ich wusste damals sehr genau, wie ich nicht sein wollte. Aber wie konnte ich meiner Tochter etwas liebevoll Mütterliches geben, von dem ich selbst nicht wusste, wie es sich anfühlte?

Ähnliche Unsicherheiten begleiten viele Mütter und Väter, die in einem toxischen, also in einer Art vergiftetem Familiensystem aufgewachsen sind. Diese Unsicherheit zieht sich im Grunde von der Geburt der Kinder über die Pubertät bis zum Eintritt in das Erwachsenenleben. Daher ist das Angebot einer „Nachbeelterung“, also das Nachnähren der elterlichen Liebe durch eine/n nicht bewertende/n, liebevolle/n Ansprechpartner/in aus meiner Sicht von sehr hoher Bedeutung.

Auch bei mir gab es zum Thema Beziehungsgestaltung und Beziehungsinteraktion ein Vakuum mit riesigen Fragezeichen.

Durch all die Erfahrungen meiner „Erziehung“ verknüpfte ich seelisches Leid und seelische Verletzungen mit Liebe. Und so, wie mein Vater keine Grenzen und Bedürfnisse von seiner Familie akzeptierte und über uns herrschte, so hatte ich nicht gelernt, gesunde Grenzen zu setzen.

Ehrlich gesagt, hatte ich Grenzen in Form von gekochten Spaghetti. Jeder konnte sie mühelos überschreiten.

Dysfunktionalität zieht sich meistens durch mehrere Generationen und wird oft ausgelöst durch ein Trauma. Oder mehrere traumatische Erlebnisse. Zum Beispiel das Erleben eines Krieges oder Entwicklungstraumata, wie etwa jahrelange psychische oder körperliche Gewalt oder Misshandlung.

In meiner Generation sind wir die Kinder der Kriegskinder des Zweiten Weltkrieges. Wir haben Zugang zu Therapien und wir arbeiten, stellvertretend für unsere Eltern, die schmerzhafte Vergangenheit auf. In sehr vielen Fällen ist es so, dass bereits die Eltern in einem Familiensystem oder in einer Lebenssituation aufgewachsen sind, die für ihre Entwicklung nicht immer zuträglich war.

Unsere Großeltern haben zwei Weltkriege mit all ihren Schrecken und schlimmen Folgen erlebt. Meine Großeltern waren im Ersten Weltkrieg Kinder und im Zweiten Weltkrieg Eltern.

Meine Eltern waren kleine Kinder, als die Welt das zweite Mal Krieg führte.

Sie sprachen nie über das, was sie erlebt hatten, zu schwer und zu groß waren die seelischen Überforderungen und emotionalen Verletzungen aus dieser Zeit. Sie fanden keine Worte, verpackten ihre Gefühle in eine Kiste und vergruben sie im hintersten Winkel ihrer Seele.

Nach den Kriegen gab es wenig bis keinen Zugang zu psychotherapeutischen Angeboten. Emotionaler Kummer galt als Schwäche und man redete nicht darüber. Nur sehr schwer psychisch erkrankte Menschen erhielten Hilfsangebot, wurden jedoch oft stigmatisiert. Die Medizin steckte in diesem Bereich noch ziemlich in den Kinderschuhen.

Also schleppten sich die Menschen mit ihren seelischen Verwundungen durch ihr Leben und versuchten die Herausforderungen auf ihre Art zu meistern. Keiner dieser Menschen sprach darüber, was geschehen war, sie sind einfach verstummt und machten weiter.

Es ist nur leider so, dass Verdrängung nur bedingt funktioniert. Man kann es sich so ähnlich vorstellen, als würde man sich mit seiner ganzen Kraft über ein Pulverfass legen und die ganze Zeit mit hoher Anstrengung verhindern, dass dieses Fass explodiert.

Viele Menschen greifen aus Angst vor dieser Explosion zu Kompensationsmustern, das heißt, sie versuchen, das, was da aus ihrer Seele hochploppt, zu betäuben oder sozial verträglich zu verbergen, etwa durch übermäßiges Essen, Alkohol, Drogen, Tabletten, exzessives Spielen am PC oder andere Abwehrmechanismen.

Mit meist mäßigem Erfolg. Denn Probleme, die wir verdrängen, holen ihre Freunde zur Verstärkung und machen sich noch heftiger bemerkbar als zuvor. Beispielsweise durch Konflikte, die sich in der Außenwelt zeigen oder durch chronische Erkrankungen.

Letztendlich tragen dann die weiteren Erlebnisse, unsere Persönlichkeit, unsere Erfahrungen und unser Wertesystem dazu bei, wie wir unser Leben entwickeln und gestalten. Auch die weiteren familiären Belastungen, Einflüsse von außen, unsere finanziellen Möglichkeiten und der Zugang zu therapeutischer Unterstützung spielen dabei eine große Rolle. Der ultimative Schlüssel heißt: Resilienz, also seelische Widerstandskraft.

Hin und wieder werden Kinder in Familien geboren, die alle Fähigkeiten besitzen, um ihr Familiensystem zu heilen. Sie zeichnet aus, dass sie irgendwann, wenn auch noch unbewusst, die Destruktivität des Systems bemerken und darauf aufmerksam machen. Sie fühlen sich fremd in ihrer eigenen Familie, weil sie eine ganz andere Entwicklung anstreben und auch eine andere Persönlichkeit mitbringen. Ihre Kompetenzen sind anders als die in ihrer Familie, weshalb die anderen Mitglieder nicht selten mit Hohn und Spott darauf reagieren. Je mehr sie das System verstehen und Widerstand leisten, umso schwieriger wird es für sie in ihrer eigenen Familie.

Für den Rest der Familie sind sie Störenfriede. Denn die Dysfunktionalität in einem gewachsenen Verbund über mehrere Generationen hinweg bietet auch Sicherheit und Orientierung.

Es ist ähnlich wie beim Mobbing: Das Ausstoßen und Verurteilen einer Person schafft einen Zusammenhalt unter den übrigen Mitgliedern der Familie und stärkt die schon bestehenden Strukturen. Denn meistens möchte der Rest der Familie keine Veränderung oder gar Heilung. Derjenige, der das System bedroht, soll sich anpassen, unterwerfen oder verschwinden. Und, das ist auch wie beim Mobbing: schlechtes Verhalten und Gewalt wird gegenseitig legitimiert – man erlaubt es sich.

Dysfunktionale Prägung beginnt also in deinem ersten Beziehungs- und Lebensumfeld: in der Familie. Sie zieht sich aber im späteren Verlauf durch alle Bereiche deines Lebens. Du bekommst es so lange immer wieder in anderer Gestalt serviert, bis du die verletzten Anteile in dir heilst. Das ist schmerzhaft und braucht Zeit.

Wenn wir uns also in die Erlebniswelt eines Kindes hineinversetzen, können wir uns vorstellen, dass das Aufwachsen in einem dysfunktionalen Familiensystem andere Kompetenzen erforderlich macht als bei der Familie aus der Margarine-Werbung, bei der alle Familienmitglieder mit strahlenden Augen am Frühstückstisch sitzen und sich bedingungslos lieben. Zum einen ist eine erhöhte Wachsamkeit erforderlich, mit der man durch das Leben geht, insbesondere im häuslichen Umfeld, denn innerhalb des Bruchteils einer Sekunde kann sich die Stimmung deiner Eltern völlig verändern. Also musst du in der Lage sein, schon beim Betreten des Grundstücks zu scannen, in welcher Stimmung deine Eltern grade sind. Zum anderen ist die Diskrepanz zwischen dem, was gesagt wird und dem, was du spürst, wahnsinnig groß. Während deine Eltern versuchen, freundlich zu sein, weil beispielsweise Gäste da sind, spürst du den unterschwelligen Druck deiner Eltern, weil sie sich grade zusammenreißen müssen.

In solchen Momenten sind sie auch freundlich zu dir und du saugst es auf wie ein Schwamm, weil du einen solch starken Mangel an Zuwendung und positiver Aufmerksamkeit hast. Wenn der Besuch allerdings das Haus verlässt, ist alles so wie vorher: Du wirst angebrüllt, abgewertet und kritisiert, deine Eltern müssen ihren inneren Druck loswerden und regulieren ihn über Dritte. Es trifft meistens die Kinder. Das, was du hörst und das, was du fühlst, stimmt oft nicht überein. Daraus resultiert, dass du deiner eigenen Intuition irgendwann nicht mehr vertraust.

Außerhalb der Familie zu sein, bedeutet also Entspannung für dich. Ich war immer irritiert, wie freundlich und unterstützend in anderen Familien alle miteinander umgingen. Denn ich hielt das, was ich zu Hause erlebte, ja für normal. In Situationen, in denen mein Vater völlig die Kontrolle über sich verlor und uns anschrie und beleidigte, hatte ich große Angst vor ihm. Ich stand dann wie erstarrt und ließ seine Beleidigungen und Aggressionen über mich ergehen. Und trotzdem liebte ich ihn. Das nennt man Trauma-Bindung. Als Kind versuchst du alles zu tun, um wieder die positive Zuwendung deiner Eltern zu bekommen. Und obwohl das elterliche Verhalten im Grunde gar nichts mit dir zu tun hat, fühlst du dich dafür verantwortlich. Es ist also eine unlösbare Aufgabe. In solchen Momenten entstehen Schuld und Scham.

Du erlernst ein schiefes Bild von Liebe und Zuneigung, weil du als Kind voller Liebe denkst, das Verhalten deiner Eltern sei ja das Richtige/das Normale. Du glaubst, das, was du zu Hause erlebst, ist in jeder Familie so.

Das Gefühl von Schuld wird dein ständiger Begleiter:

Schuld, dass ein Elternteil die Kontrolle verloren hat.

Schuld, dass deine Eltern unglücklich/ böse/ enttäuscht/ traurig sind.

Schuld, dass du so verkehrt bist.

Schuld, dass du nicht genug bist und kannst.

Schuld, dass du nicht geliebt wirst.

Schuld, dass du dich nicht genug angestrengt hast.

Es entsteht ein dysfunktionales Muster, das du wie eine Schablone auf alle folgenden Beziehungen und Freundschaften legst.

Du hältst Schmerz, Unsicherheit und schlechte Behandlung für normal und suchst dir auch mit völliger Treffsicherheit solche Partner, mit denen du dich in einem ähnlichen Kreislauf wiederfindest. Du suchst Liebe bei lieblosen Partnern und arbeitest dich daran ab. Du re-inszenierst die Beziehung zu deinen Eltern immer und immer wieder. Bis du eines Tages die Dynamik verstanden hast und das Muster durchbrechen kannst.

Bedauerlicherweise verstehst du das System deiner Familie erst sehr viel später und mit Abstand. Denn Heilung braucht sehr viel Zeit, Verständnis und Liebe für dich selbst.

Wir sind die erste Generation, die therapeutische Unterstützung wahrnimmt und sich mit dem Thema mentale Gesundheit auseinandersetzt. Das wird positive Auswirkungen auf das Leben unserer Kinder und Enkelkinder haben.

Diese Geschichte soll dir Mut machen, dir Zusammenhänge erklären und Hoffnung in dein Leben bringen.

Ich wünsche dir von Herzen alles Gute und viel Liebe für dich!

Zwei wichtige Anmerkungen

Der Inhalt dieses Buches ist eine erfundene Geschichte, inspiriert durch meine tägliche Arbeit als Familientherapeutin. Aus all den Eindrücken und Erlebnissen, die ich in meiner beruflichen Laufbahn gesammelt habe, ist diese Geschichte entstanden.

Daher sehe ich mein Buch wie ein Lehrstück, das die Muster narzisstischer Prägungen aufzeigt. Das ‚Ich‘, das hier erzählt, ist insofern fiktiv, als es viele Aspekte dessen vereint, was ich wahrgenommen, aber nicht unbedingt selbst erlebt habe.

Zusammenhänge oder Ähnlichkeiten mit noch lebenden oder schon verstorbenen Personen sind also rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Da dieses Buch auch Szenen psychischer wie physischer Gewalt enthält, empfiehlt sich das Lesen nicht für Menschen, die noch keine 16 Jahre alt sind.

Wie alles begann

Die Geschichte beginnt in einem Sommer in den 70er-Jahren.

Unsere Eltern waren zu dieser Zeit Anfang und Mitte dreißig. Vor acht Jahren hatten sie bereits eine Tochter bekommen, sie hieß Petra. Vier Jahre vor meiner älteren Schwester hatten sie ein Kind verloren. Da sie immer nur zwei Kinder haben wollten, weil das zu dieser Zeit so der Familienstandart war, wäre ich also nicht zur Welt gekommen, wenn dieses erste Kind gelebt hätte. Darüber habe ich später häufig nachgedacht.

Das Leben unserer Eltern und jeder Erziehungs-Ansatz waren geprägt durch „Was sich gehört“ und „was sollen die Nachbarn sagen?“

Sie hatten einen landwirtschaftlichen Betrieb und Haupterwerb waren Aufzucht und Verkauf von Tieren. Unser Vater war zusätzlich als Handwerker tätig, er arbeitete viel und hatte auf unserem Hof immer ein größeres Bauprojekt. Das Ansehen unserer Familie im Dorf war ihm sehr wichtig.

Das bedeutete für ihn, dass er der Mann im Haus war und wir uns seinen Vorstellungen unterordnen mussten. Er wiederum hatte von uns ein Bild als Familie, die singend und pfeifend voller Freude die anfallende Arbeit verrichtete. Natürlich so, wie er es wollte und wann er wollte.

Er war der Patriarch der Familie, er bestimmte alles und seine Meinung war für die Familie Gesetz.

Er verstand es, die gesamte Familie zu kontrollieren, auch wenn er nichts sagte. Selbst, wenn ich abends im Bett lag, fuhr mein Nervensystem hoch, sobald ich unten im Haus ein Geräusch hörte. Denn es konnte jederzeit sein, dass er irgendwo Streit anfing und brüllte. Durchatmen konnten wir als Kinder nur, wenn wir in der Schule oder bei Freunden waren. Und dass wir bei Freunden waren und Spaß hatten, konnte unser Vater sehr schlecht ertragen. Wir konnten mit ziemlicher Sicherheit damit rechnen, dass es daraufhin einen Wutausbruch gab. Den Spaß leistete er sich immer, gern auf unsere Kosten. Einfach nur dasitzen und ein Buch lesen oder fernsehen galt in seinen Augen als faul und man sollte sich dabei lieber nicht von ihm erwischen lassen.

Sollte es jemand wagen, eine andere Meinung als unser Vater zu vertreten, wurde dieser Mensch für ihn schlagartig zum Feind. Wenn derjenige das Haus verließ, wurde gnadenlos über ihn hergezogen. Vater war sehr leicht reizbar und man ging in seiner Nähe unwillkürlich wie auf Zehenspitzen, um nur ja nichts falsch zu machen.

Mann sein hieß damals, männliche Dominanz zu verkörpern und Frauen leisteten dagegen keinerlei Widerstand. Heute würde ihn jede Feministin sofort aushebeln, aber es war in den 70er- und 80er-Jahren einfach eine andere Zeit.

Vater wollte in allem der Beste sein, besser als die Nachbarn, besser als seine Geschwister und besser als seine Freunde. Gab es jemanden in seinem Umfeld, der erfolgreicher war oder etwas Großartiges erreicht hatte, reagierte er gereizt, denn es erzeugte in ihm ein starkes Mangelgefühl. Dieses Gefühl kompensierte er oft, indem er ein neues, großes Bauprojekt startete.

Als Kind liebte ich meinen Vater sehr. Für mich war er ein starker, unbesiegbarer Held, der alles konnte und mich vor allem beschützte. Für mich war sein Verhalten normal – ich hatte damals ja auch keinen Vergleich. Er hatte eine freundliche liebevoll-väterliche Seite, die ich sehr liebte. Diese Seite zeigte sich immer dann, wenn er zufrieden war, als Bester galt und nicht infrage gestellt wurde oder sich mangelhaft fühlte. Es mussten also viele gute Bedingungen zusammenkommen und das war eine schwierige Aufgabe für uns als Familie.

Ich verbrachte als Kind meine Zeit gern gemeinsam mit meinem Vater auf dem Hof, fuhr mit ihm Trecker und versorgte die Tiere. Ich liebte den Geruch von Heu im Sommer, wenn ich morgens mit meinen kleinen Gummistiefeln aus der Haustür ging. Und ich liebte das Gefühl von Freiheit, wenn ich mit unserem Hund über die Felder lief.

Wenn Vater wütend wurde, zeigte er eine Seite von sich, die zerstörerisch und nicht vorhersehbar war. Von jetzt auf gleich rastete er völlig aus, schrie uns an, beleidigte und beschimpfte uns. Es reichte ein kleiner Funke, um einen Tsunami heraufzubeschwören, der uns alle emotional mitriss.

Da die Familie aus meiner Mutter, meiner Schwester und mir bestand, war sein liebstes Schimpfwort „Scheiß Weiber“ und dass wir alle zu doof wären. Das schrie er gern auch mehrmals hintereinander. Er war in solchen Situationen völlig außer sich.

Sein innerlicher Druck entlud sich oft bei den Mahlzeiten, weil wir dann alle zusammen in der Küche waren. Es brauchte nur jemand etwas in seinen Augen Falsches zu sagen und schon rastete er aus. Sehr oft beschwor er diese Situationen selbst herauf, indem er einfach herumstichelte und provozierte. Bei der kleinsten Reaktion darauf explodierte dann die Luft.

Ich war die Jüngste, litt am meisten darunter, auch weil ich meinen Vater bedingungslos liebte. Das Bild, das ich von meinem Vater hatte, geriet in diesen Momenten jedes Mal wieder ins Wanken. Ich hatte große Angst vor ihm. Ich merkte aber, dass auch meine Schwester und meine Mutter Angst vor diesen unkontrollierten Wutanfällen hatten. Wir saßen dann alle wie erstarrt am Küchentisch und wagten nicht zu atmen.

Es lief eigentlich immer gleich ab: Es gab einen Auslöser, unser Vater rastete aus, eine von uns begann zu weinen. Dadurch wütete er noch mehr, dann sprang er auf und aß sein Essen auf den Treppenstufen vor unserem Haus. Er war beleidigt und wir sollten uns schlecht fühlen.

Weil meistens ich diejenige war, die zu weinen begann, lernte ich mit der Zeit, meine Tränen zu unterdrücken. Sie sammelten sich zu einem Kloß in meinem Hals.

Während die Luft bleischwer wurde, versuchten wir uns zu beruhigen. Ich versuchte, die Anspannung zu kompensieren, indem ich weiter aß, auch wenn ich gar keinen Hunger mehr hatte. Und tat so, als wäre alles ganz normal.

Mutter sprach nie mit uns darüber, sie beruhigte oder tröstete uns auch nicht. Sie machte einfach nichts, räumte den Tisch ab und ging zur Tagesordnung über. Als unser Vater mit seinem Teller wieder ins Haus kam, hielten wir den Atem an. Meistens hatte er sich aber schon wieder beruhigt und ging nach draußen. Außer, dass er nicht mit uns sprach, war alles wieder normal.

Diese Situationen lösten in mir Angst und Bedrohung aus und das Verrückte war, dass ich die Schuld für das Verhalten meines Vaters immer bei mir suchte. Auch wenn die Luft in unserem Haus wieder mal bleischwer war, sah ich den Anlass dafür in meinem Verhalten und darin, dass irgendetwas mit mir falsch sein musste. Ich hörte nicht auf, meine Eltern zu lieben, aber ich hörte relativ früh damit auf, mich selbst zu lieben.

Vater schlug uns nie, aber wenn ihn irgendetwas verärgert hatte, ging er manchmal nach draußen und verhaute mit einem schwarzen Rohrstock die Schweine, bis sie fast bewusstlos waren. Er war so außer sich dabei, dass ich meinen eigenen Vater nicht wieder erkannte. Und noch heute höre ich in meiner Erinnerung manchmal die Schreie der Tiere, die Todesangst hatten. Und finde mich dann in der gleichen Erstarrung wieder wie das Kind, das seinen Vater beobachtet und nicht versteht, warum er so gewalttätig ist.

Unsere Mutter war ein sehr kühler, emotionsloser Mensch. Ich habe sie nie richtig glücklich gesehen und sie strahlte auch keine Liebe aus. Sie schien abgeschnitten von ihrer Gefühlswelt zu sein und hatte dadurch große Schwierigkeiten, Zuwendung zu geben.

Zu meiner Mutter bekam ich nie eine emotionale Verbindung, sie hatte und machte wenig Liebevolles. Im Gegenteil, sie war abwertend und es störte sie sehr, dass ich mich mit Vater gut verstand. Unzufrieden mit ihrem eigenen Leben, weil sie den ganzen Tag nur auf dem Hof war, ließ sie keine Gelegenheit aus, mich bei meinem Vater schlecht zu machen, aus Eifersucht. Meine Eltern führten eine ungesunde Paarbeziehung, in der es auch immer um Macht ging.

Das Machtmittel meiner Mutter war, die Zuwendung für alle, auch für ihren Mann, zu verweigern. Sie setzte das gezielt als Strafe ein. Wenn Vater draußen auf dem Hof Hilfe benötigte, schickte sie mich. Es war klar, dass Vater ausrasten würde, weil wir Frauen nicht die Stärke von erwachsenen Männern hatten. Und so opferte Mutter mich, um sich selbst vor seinem Zorn zu schützen. So schlug sie zwei Fliegen mit einer Klappe.

Mutter ging sehr abwertend mit mir um, und ich merkte, je älter ich wurde, dass sie mich ablehnte. Ungewollt geriet ich immer wieder zwischen die Fronten meiner Eltern.

Mein Vater sagte Jahrzehnte später einmal, dass er sich immer gewundert habe, dass ich selbst bei strömendem Regen einige Stunden an der zwei Kilometer entfernten Hofeinfahrt wartete. Der Grund war, dass ich in Gegenwart meiner Mutter die Luft hätte schneiden können und mich lieber durchregnen ließ, als ihr ausgeliefert zu sein.

Für eine Frau in den 1960er-Jahren gehörte es einfach dazu, Kinder zu bekommen. Aber ich denke heute, sie hätte nie Kinder bekommen dürfen.

Ich hatte zu keiner Zeit, und das gilt bis heute, das Gefühl, dass ich bei meinen Eltern dauerhaft und nachhaltig Schutz oder Unterstützung gefunden hätte.

Unsere Eltern führten eine für diese Zeit klassische Ehe: Der Mann geht arbeiten, die Frau kümmert sich um den Haushalt und die Versorgung der Kinder. Der Mann hat das Sagen, die Frau ordnet sich unter.

Die emotionale Versorgung wurde allerdings schwierig, denn eine Mutter, die keine Verbindung zu ihren eigenen Gefühlen hat, kann keine Emotionalität und Liebe geben, geschweige denn eine Bindung zu ihren Kindern aufbauen.

Wenn ich es heute im Rückblick betrachte, denke ich, meine Mutter war auf ihre Art ebenfalls traumatisiert. Wahrscheinlich durch ihre Kindheit in der Kriegs- und Nachkriegszeit, durch die Erziehung meiner Großeltern, aber sicher auch durch das Verhalten meines Vaters, das wie ein Zahnrad zielsicher in die Verletzungen aus ihrer eigenen Kindheit einhakte.

Meine Schwester verstand sich gut mit Mutter, warum auch immer. Ich dagegen war für meine Mutter ein richtig rotes Tuch. Sobald wir aufeinandertrafen, kritisierte sie mich. Besonders in der Pubertät entwickelte ich einen regelrechten Hass auf meine Mutter und lehnte mich auf. Ich ging ihr, immer wenn es mir möglich war, aus dem Weg. Ich erinnere mich, dass ich als Kind einige Male versucht habe, Zuwendung oder auch Unterstützung von ihr zu bekommen und daran regelmäßig gescheitert bin. Irgendwann, und da war ich noch sehr jung, habe ich einfach aufgegeben.

Dann gab es noch die Großeltern: Sie lebten in einem kleinen Häuschen auf dem Hof. Opa war ein kleiner, alter, verbitterter Mann, der abfällig und geringschätzig zu jedem war. Im Zweiten Weltkrieg war er ein paar Jahre in russischer Gefangenschaft gewesen und glaubte danach, die Welt sei ihm etwas schuldig. Er sagte nie etwas Nettes, zu niemandem. Er machte nur immer alle Leute um sich herum schlecht.

Zu meiner Mutter war er lieblos und abwertend. Meinen Vater musste er ständig schlecht machen, zu klein fühlte er sich neben diesem starken, jungen Mann, der voller Tatendrang war. Wahrscheinlich konnte mein Großvater sich selbst nicht leiden.

Meine Mutter und mein Opa lernten sich erst nach dessen Kriegsgefangenschaft kennen. Da war meine Mutter schon ein paar Jahre alt. Als er unerwartet nach Hause kam, hatte sie Angst vor diesem kahl geschorenen abgemagerten Mann und versteckte sich vor ihm. Die Beziehung der beiden war stets auf Abstand, aber mein Opa war auch niemand, den man gern um sich hatte.

Oma war eine runde, warme, weiche Oma, die immer Kittelschürzen trug und irgendwie mit sich und der Welt zufrieden war. Also für mich regelrecht eine Lichtgestalt. Sie war ihr ganzes Leben auf diesem Hof gewesen und nie großartig in den Urlaub gefahren. Wenn sie nicht auf ihrem Sessel in ihrer Küche saß, war sie gern bei uns im Haus, denn die Ehe mit meinem Opa war für sie nicht schön. Er schrie sie auch an, wenn er seinen Frust loswerden musste, und er behandelte sie schlecht. In jüngeren Jahren hatte er sie sogar mehrfach geschlagen.

Auf dem Land und in dieser Zeit trennten sich die Frauen nicht von ihren Männern, sie hielten aus, bis einer von beiden starb. Und Oma saß das einfach aus und versuchte, das Beste daraus zu machen.

Sie war mein Zufluchtsort und mein sicherer Hafen. Sie spielte stundenlang mit mir Mensch-ärgere-Dich-nicht oder Schwarzer Peter. Sie freute sich über jeden meiner Erfolge, und war er noch so klein. Am meisten liebte ich ihren Vanillepudding mit Erdbeeren oder wenn sie Frankfurter Kranz buk. Wenn ich in die Wohnung kam, dann roch es nach Oma. Sie saß auf ihrem Sessel und machte ein Nickerchen, auf ihrem großen Busen lag unsere Hofkatze und schlief ebenfalls. Für meine Oma war ich immer richtig und sie war immer richtig für mich.

Zu meinen Großeltern ging ich immer, wenn bei unseren Eltern die Luft brannte. Ich glaube, dass Oma sehr wohl bemerkte, wie meine Mutter mich behandelte und sie versuchte im Rahmen ihrer Möglichkeiten, einen emotionalen Ausgleich für mich zu schaffen.

Dann gab es noch meine acht Jahre ältere Schwester Petra. Sie war wenig begeistert, als ich auf die Welt kam. Nun musste sie sich das Wenige, dass meine Eltern zu geben hatten, auch noch mit einem Baby teilen.

Meine Schwester hat ebenso durch unsere Kindheit emotionale Schäden davongetragen. Nur ging sie anders damit um. Sie tat immer so, als wäre alles ganz normal.

Wir versuchten beide, in diesem System aus Abwertung und Dysfunktionalität zu überleben. Beide hatten wir ein zerstörtes Selbstwertgefühl und keine Verbindung zu uns selbst. Beide waren wir unglücklich in dieser Familie. Aber wir hielten auch nie zusammen, um uns zu unterstützen, weil wir uns gegenseitig nicht vertrauten. Dafür hatten unsere Eltern schon von klein auf gesorgt, indem sie uns gegeneinander ausspielten. So wuchsen wir als Konkurrentinnen um die Zuwendung unserer Eltern auf. Unsere Eltern haben uns gegeneinander ausgespielt, damit wir uns nicht verbünden konnten. Denn: Hätten wir zusammengehalten, wären wir eine starke Einheit gewesen.

Meine Schwester führte ein sozial angepasstes Leben mit Freundinnen, Stricken und dem Abhalten von Teestunden.

Ich hingegen war in meiner Jugend fasziniert von Drogen, Rockstars und einem selbstzerstörerischen Lebensstil.

Kapitel 1

Die Legende besagt, dass sich am Tag meiner Geburt Folgendes zutrug: Mein Vater hatte meine Mutter mit Wehen ins Krankenhaus gefahren. Zur Zeit meiner Geburt gingen die Männer nicht mit in den Kreißsaal, die Frauen waren bei den Geburten ihrer Kinder allein. Als der Freund meines Vaters ihn zur Arbeit abholen wollte, fanden beide, dass es sich nicht lohnte, zur Arbeit zu fahren, weil ich ja bald auf die Welt kommen sollte. So setzten sie sich in die Küche und begannen schon mal, meine Ankunft mit Schnaps und Bier zu feiern.

Als sie im Lauf des Tages Hunger bekamen, aßen sie rohes Hähnchen, denn kochen konnte keiner von ihnen. Immer betrunkener, rief mein Vater ständig im Krankenhaus an und fragte, ob meine Mutter denn jetzt endlich fertig sei. Wenn man bedenkt, dass ich um 16:36 Uhr auf die Welt kam, kann man sich dies als sehr anstrengenden Tag für alle Beteiligten vorstellen.

Während mein Vater und sein Freund zum Zeitpunkt meiner Geburt völlig betrunken waren und sich freuten, reagierte Opa mit: „A wor een mit n Ritz?“ auf meine Geburt, was so viel bedeutete wie „Schon wieder ein Mädchen?“ Hört sich auf Plattdeutsch nicht freundlich an. Und war auch nicht freundlich gemeint.

Für das Leben auf dem Dorf waren immer Jungs erwünscht, denn die sollten die Bauernhöfe übernehmen. Frauen traute man das Führen eines Hofes damals nicht zu.

Weil meine Eltern schon eine Tochter hatten und nach mir keine weiteren Kinder geplant waren, hatten alle in der Familie die Hoffnung auf einen Jungen gesetzt. Aus heutiger Sicht hört es sich an, als hätte ich im Mittelalter gelebt, aber die Emanzipation steckte noch in den Kinderschuhen und wurde von den Männern im Dorf natürlich auch nicht gern gesehen.

Wenn eine Frau arbeiten wollte, brauchte sie damals die Zustimmung ihres Ehemannes. Meine Mutter hatte nur einen kurzen Abstecher von ein paar Monaten ins Arbeitsleben gemacht, dann gefiel meinem Vater nicht mehr, dass sie in die große, weite Welt ging, und so musste sie wieder aufhören. Ich glaube auch, dass es ihm nicht gefiel, dass seine Frau Spaß hatte. Bei der Arbeit außer Haus bekam sie andere Eindrücke vom Leben, und er hatte Angst, die Kontrolle über sie zu verlieren. Und so saß sie wieder frustriert auf dem Hof fest.

Für mich war es als Kind himmlisch, auf einem Bauernhof aufzuwachsen. Ich fühlte mich frei, war immer draußen, entdeckte alle Winkel des Hofes und hatte immer was zu tun. In den Ferien ging ich morgens nach draußen, kam zum Mittagessen ins Haus und ging dann wieder raus, bis es dunkel war. Auf den weiten Feldern, die zu unserem Hof gehörten, gab es immer etwas zu erleben.

Vater und ich waren unzertrennlich. Sobald er da war, wich ich nicht von seiner Seite. Er brachte mir viel über Tiere und Landwirtschaft bei. Aber das Wichtigste war, dass ich mich in seiner Gegenwart gut und geliebt fühlte. Er nahm mich oft in den Arm und munterte mich auf, wenn ich wegen meiner Mutter betrübt war. Ich sehnte mich sehr nach Mutterliebe und wuchs in dem Glauben auf, dass mit mir etwas falsch sein musste, wenn meine Mutter mir keine Liebe gab.

Vater verbündete sich immer mit demjenigen, der ihm kritiklos zugewandt war. Ob er mich wirklich liebte, weiß ich nicht. Aber als Kind, das ihn aufrichtig liebte, war ich sehr leicht zu steuern. Über die Jahre spielte er alle Mitglieder der Familie gegeneinander aus und ich verstand erst viele Jahrzehnte später, dass er alle Beziehungsfäden in der Familie zog und meine Schwester und mich gegeneinander aufbrachte, indem er Sachen erfand oder Tatsachen verdrehte. Wenn wir uns untereinander nicht verstanden, hatte er es leichter, uns zu kontrollieren.

Wer auf einem Bauernhof aufwächst, kennt das Gefühl von Freiheit und Weite beim Laufen über die Felder. Ich verbrachte meine Kindheit draußen, mein bester Freund war unser Hund, der mir überall hin folgte, egal, ob ich Trecker fuhr oder barfuß auf den großen Wiesen tobte, die zum Hof gehörten.

Zwei Höfe weiter lebte Frank, der ein Jahr älter war als ich und schon als mein zukünftiger Ehemann ausgesucht worden war. Seit wir kleine Kinder waren, spielten wir zusammen und mein Leben als Bäuerin schien vorprogrammiert. Ich stellte das auch gar nicht infrage, denn ich war sicher, dass meine Eltern nur das Beste für mich wollten. Sehr oft spielten wir Familie, wovon Frank eine klare Vorstellung hatte: Es gab ein Zelt, das war das Zuhause. Ich war als Frau den ganzen Tag dort und musste kochen und putzen. Frank fuhr währenddessen draußen mit seinem imaginären Trecker herum. Er besuchte Freunde, trank imaginäres Bier mit ihnen, ging feiern und war unterwegs. Ich durfte nicht aus dem Zelt, ich musste ja auf das Zuhause aufpassen.

Manchmal fuhr er auch mit seinem Trecker durch das Haus, fuhr alles um und sagte: „Du bist die Frau, du musst alles wieder aufräumen.“

Ich fühlte erstens, dass da irgendwas nicht stimmen konnte und zweitens, dass das auf keinen Fall meiner Vorstellung vom Leben entsprach. Das war mir sehr suspekt. Ich saß im Zelt und sah mich um. Das sollte mein zukünftiges Leben sein? Ich konnte es nicht glauben!

Und irgendwann, als Frank wieder mit seinem Trecker durch mein Zelt fuhr, um alles über den Haufen zu fahren, haute ich ihm eine. Schluss mit der klassischen Rollenverteilung, das war nichts für mich.

Danach hatte Frank nicht mehr so viel Lust, mit mir Familie zu spielen.