14,99 €
»Kathrin Heckmann ist es gelungen, abstrakte Vorstellungen von Wildnis durch persönliche und lebendige Schilderungen zu bereichern. Das macht Mut und inspiriert.« Thorsten Hoyer, Chefredakteur Wandermagazin Die Sehnsucht nach Wildnis zog Kathrin Heckmann alias Fräulein Draußen jahrelang raus in die Welt. Aber muss man wirklich weit reisen, um die Wildnis zu spüren? Um das herauszufinden, tauscht Kathrin ferne Reiseziele gegen heimische Gefilde. Denn wo könnte man der Essenz von Wildnis besser auf die Spur kommen als dort, wo sie objektiv betrachtet am schwersten zu finden ist? Zu Fuß, per Rad und Boot erkundet sie die unterschiedlichsten Landschaften Deutschlands. Immer auf der Suche nach diesem ganz besonderen Gefühl von Verbundenheit zur Natur, von Freiheit und Abenteuer, das längst nicht nur im australischen Outback oder der patagonischen Steppe verborgen liegt (auch wenn es dort vielleicht leichter zu entdecken ist). Und schnell wird klar: Wildnis kann man weder suchen noch finden. Wildnis kann man nur geschehen lassen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Fräulein Draußens Gespür für Wildnis
KATHRIN HECKMANN ist Gründerin und Chef-Abenteurerin des Outdoorblogs Fräulein Draußen, der zu den erfolgreichsten seiner Art im deutschsprachigen Raum zählt. Dort schreibt sie seit 2013 über ihre Touren und Erlebnisse in und mit der Natur. Zuvor studierte sie Kommunikationswissenschaft und Skandinavistik an der Universität Wien und arbeitete einige Jahre als Marketingspezialistin. 2020 erschien ihr erstes Buch Fräulein Draußen: Wie ich unterwegs das Große in den kleinen Dingen fand.
Kathrin Heckmann
Ullstein
Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de
Ullstein extra ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH1. Auflage 2023© 2023 Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinAutorenfoto: © Kathrin HeckmannE-Book powered by pepyrusAlle Rechte vorbehalten.Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.ISBN 978-3-8437-3004-4
Emojis werden bereitgestellt von openmoji.org unter der Lizenz CC BY-SA 4.0.
Auf einigen Lesegeräten erzeugt das Öffnen dieses E-Books in der aktuellen Formatversion EPUB3 einen Warnhinweis, der auf ein nicht unterstütztes Dateiformat hinweist und vor Darstellungs- und Systemfehlern warnt. Das Öffnen dieses E-Books stellt demgegenüber auf sämtlichen Lesegeräten keine Gefahr dar und ist unbedenklich. Bitte ignorieren Sie etwaige Warnhinweise und wenden sich bei Fragen vertrauensvoll an unseren Verlag! Wir wünschen viel Lesevergnügen.
Hinweis zu UrheberrechtenSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.
Die Autorin / Das Buch
Titelseite
Impressum
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Epilog
TIPPS FÜR EIGENE ENTDECKUNGSREISEN
LEAVE NO TRACE
1. PLANE IM VORAUS
Bildteil
DANKE
QUELLEN UND WEITERFÜHRENDE INFOS
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Prolog
Die Welt entdecken. Aus dem Alltag ausbrechen. Grenzen überschreiten. Natur spüren. Wilde Tiere sehen. Vor mir davonlaufen. Auf mich zugehen. Inspiration sammeln. Neues erfahren. Altes vergessen. Die pure Neugierde auf das, was hinter dem Horizont liegt.
Es gab viele Gründe, warum ich mich in den letzten Jahren immer und immer wieder auf Reisen begeben habe. Der wichtigste Beweggrund von allen jedoch war stets derselbe: meine große Sehnsucht nach Wildnis.
Lange Zeit war ich davon überzeugt, dass ich weit wegfahren müsste, um diese Sehnsucht zu stillen. Irgendwohin eben, wo wilde Tiere zahlreicher sind als Menschen, wo mehr Farn wächst als Futtermais und wo Begrenzungen aus Flüssen und Bergen bestehen und nicht aus Gartenzäunen und Leitplanken. Alaska. Patagonien. Australien. Kirgistan. Oder zumindest in den hohen Norden Skandinaviens. Doch nach und nach sickerte die Erkenntnis durch, dass mein Staunen und mein Glück nicht auf diese fernen Orte beschränkt sind. Dass Wildnis für mich weit mehr bedeutet als das Ergebnis der Gleichung Natur minus Mensch. Dass ich Wildnis vielleicht doch überall finden konnte. Zumindest dieses Gefühl von Wildnis, um das es ja eigentlich geht. Das also, was Wildnis in uns auslöst. Denn das Erleben von Wildnis bedeutet vor allem, Wildnis in uns selbst zu finden. Etwas in uns zu finden, das frei und voll Abenteuer ist, das im Einklang mit der Natur lebt und gleichzeitig nach den eigenen Regeln. Wildnis bedeutet vielleicht mehr als alles andere: Grenzenlosigkeit. Ein ungehinderter Blick bis zum Horizont und dazu das Wissen, dass man diesen Horizont irgendwann erreichen kann, wenn man nur will – und er noch längst nicht das Ende ist. Diese grenzenlose Wildnis kann man auch in seinem Innern finden. Indem man die eigenen Grenzen sieht und dann einfach beherzt darübersteigt und weitergeht.
Trotz dieser Erkenntnisse hatte ich mehr Fragen als Antworten im Gepäck, als ich mich auf die kleinen und großen Abenteuer begeben habe, von denen ich in diesem Buch berichte.
Was ist Wildnis? Was macht Wildnis mit uns? Wieso brauchen wir Wildnis? Wo kann man sie finden? Und wie kann ich sie erleben?
Meine Sehnsucht nach Wildnis hat mich in der Vergangenheit an einige der wildesten Orte dieser Erde geführt, mir einige großartige Abenteuer beschert. Jedoch habe ich das Gefühl, dass das bisher größte Abenteuer für mich war, einfach aus der Tür zu treten und sie dort zu suchen, wo man sie vielleicht am allerwenigsten vermuten würde: mitten in Deutschland. Denn wo könnte man der Essenz von Wildnis besser auf die Spur kommen als dort, wo sie objektiv betrachtet besonders schwer zu finden ist? Wo gerade mal 0,6 Prozent der Landesfläche offiziell als Wildnis gilt und selbst die meist von Menschenhand wiederhergestellt wurde? Ich glaubte, genau dort Antworten auf meine Fragen finden zu können. Ich hoffte es. Auch weil in einer einsamen Hütte irgendwo in Alaska zu leben für mich zwar durchaus eine Option wäre, ich mich aber nun wirklich nicht darauf verlassen möchte, um mein Wildnisglück zu finden. Also bin ich losgezogen. Bin durch Wälder gewandert und auf Flüssen gepaddelt, über Berge gelaufen und am Meer spaziert. Um das Land zu entdecken, in dem ich aufgewachsen bin. In dem ich die meiste Zeit meines Lebens verbracht habe. Das bisher bei meinen Reiseplänen immer viel zu kurz kam, obwohl ich schon seit Jahren sage, dass ich jetzt wirklich mal endlich mehr in Deutschland unterwegs sein muss. Und ich wollte nicht einfach nur unterwegs sein: Ich wollte meine Heimat mit dem gleichen Eifer entdecken, mit dem ich in den vergangenen Jahren auch fremde Länder entdeckt habe. Ich wollte aufregende Pläne schmieden, die mich schon begeistern, bevor ich überhaupt mit ihrer Umsetzung begonnen habe. Losziehen mit dieser Mischung aus Unsicherheit und Selbstvertrauen im Gepäck, die zu jedem guten Abenteuer dazugehört. Unterwegs voller Neugier sein, offen und wissbegierig, und immer bereit, meine Begeisterung in alle möglichen Richtungen auszudehnen. Ich wollte über mich hinauswachsen, mich ein Stück weit neu erfinden. Alte Faszinationen neu aufleben lassen und neue Faszination in mein Leben aufnehmen. Mehr lernen, mehr erfahren, mehr erleben. Mehr leben. Der Sache mit der Wildnis auf den Grund gehen, mich ihr auf unterschiedliche, auf vielfältige Weise nähern.
Gleichzeitig wollte ich aber auch mehr über den tatsächlichen Zustand von Wildnis und wilder Natur in Deutschland erfahren. Denn wenngleich es echte Wildnis in Deutschland schon lange nicht mehr gibt: Vielleicht gibt es sie zumindest im Kleinen? Vielleicht hat Deutschland ja zumindest die Chance, in Zukunft wieder etwas wilder zu werden?
Ich bin losgezogen, um Antworten zu finden. Antworten auf die für mich vielleicht größten Fragen überhaupt zu finden. Denn eines ist sicher: Ich muss die Wildnis in meinem Leben spüren. Ohne geht es einfach nicht.
Abenteuer beginnen oft im Supermarkt. Wenn man vor langen Regalen voller bunter Verpackungen steht, dann weiß man, dass es nun wirklich losgeht. Und dass es kein Zurück mehr gibt. Wenn man Kalorien kalkuliert und Faktoren wie Komprimierbarkeit und Haltbarkeit von Lebensmitteln evaluiert. Unaufhörlich überlegt, wie viel man wohl von was braucht, um nicht zu viel, aber auch auf keinen Fall zu wenig dabeizuhaben. Ständig versucht, abzuwägen und Kompromisse zu finden zwischen Nährstoffen und Geschmack, zwischen Vernunft und Verlangen. Dann kann es nicht mehr lange dauern, bis die Reise endlich startet, auch wenn die Lebensmittel selbst dank der trockenen Konsistenz und der Zugabe von Konservierungsstoffen in der Regel auch im nächsten Jahrzehnt noch einsatzbereit wären. Besonders herausfordernd war das für mich damals in Australien gewesen, als ich für die erste lange Etappe meiner Fernwanderung auf dem eintausend Kilometer langen Bibbulmun Track gepackt hatte. Lebensmittel für knapp zwei Wochen befanden sich in meinem Einkaufswagen, und ich konnte das Gewicht all der Dinge schon auf meinen Schultern spüren, bevor ich sie überhaupt im Rucksack verstaut hatte. Zurück im Hotelzimmer ging es ans Sortieren: Verpackungen wurden aufgerissen und die Inhalte in wiederverschließbare Plastikbeutel umgefüllt.
In andere Plastikfolien wurde ein kleines Loch gepikst, um unnötige Luft aus der Verpackung zu drücken, anschließend wurde das Loch mit einem Stück Tape wieder verschlossen. Trotz aller Bemühungen in Sachen Raum- und Gewichtsersparnis platzte mein Rucksack letztendlich aus allen Nähten. Das daraus resultierende schlechte Gewissen brachte mich dazu, noch ein paar Hände voll Weingummis zu essen – nur um letztendlich am selben Abend zwei weitere Packungen nachzukaufen und in die letzten freien Ritzen zu stopfen. Weingummis sind einfach unersetzbar. Auf einer Fernwanderung im australischen Busch genauso wie beim Wandern im Schwarzwald.
Westaustralien war fast 14 000 Kilometer Luftlinie von mir entfernt, als die Erinnerung daran für einige Momente ganz greifbar wurde. Ich sah die riesige Mall vor mir, die enorme Auswahl an Ramen-Nudelsuppen und Fertigreis. Dann fiel mein Blick in meinen Einkaufskorb und sagte mir, dass ich vermutlich nicht verhungern würde. Doppelkekse und gesalzene Erdnüsse lagen neben Knäckebrot und vegetarischer Salami, dazu die obligatorischen Müsliriegel, Gummibärchen und salzigen Cracker. Ein Apfel und eine Packung Cocktailtomaten hatten sich ebenfalls eingeschlichen. Frischer Luxus in jedem Wanderrucksack, den ich damals in Australien oft ganz besonders vermisst hatte. Es war ein beruhigender Anblick, der zu sagen schien: Was auch immer passiert, wir sind für dich da. Ehrlich gesagt erwartete ich allerdings nicht, dass allzu viel passieren würde. Es stand mir immerhin keine mehrwöchige Wanderung inmitten der endlos weiten Eukalyptuswälder Südwestaustraliens bevor, sondern lediglich eine dreitägige Tour in den deutlich weniger endlosen Nadelwäldern des südlichen Schwarzwalds. Noch dazu ohne Zelt und Schlafsack, sondern mit Übernachtung in Unterkünften inklusive angeschlossener Restaurants. Vermutlich war der Inhalt meines Einkaufskorbs »leicht« übertrieben, aber essen musste man ja schließlich überall. Und die Möglichkeiten der Proviantbeschaffung entlang der Strecke waren etwas undurchsichtig. Lieber ein bisschen zu viel als zu wenig, so dachte ich mir, wie schon viele Male zuvor. Und schon landete noch eine Packung Weingummi im Korb. Nun war ich aber wirklich bereit.
Jenseits des Supermarktes lag der unscheinbare Ort an der Schweizer Grenze für einen Dienstagmorgen erstaunlich leblos vor mir. Die Kirchturmglocken schlugen acht Uhr – nur für wen, das war nicht ersichtlich. Die Straßen waren wie leer gefegt. Für mich selbst war die Zeit ab sofort für ganze drei Tage eher Nebensache, solange ich es nur vor Einbruch der Dunkelheit zu meiner nächsten Unterkunft schaffte. Mit dieser Dunkelheit war allerdings früh zu rechnen, denn es war bereits Ende Oktober und der kürzeste Tag des Jahres somit nur noch einige Wochen entfernt. Der Wetterbericht versprach jedoch goldene Herbsttage, vielleicht die letzten ihrer Art in diesem Jahr. Sie waren der Grund, warum ich nun hier war, denn ich hatte erst am Abend zuvor beschlossen, den südlichen Schwarzwald auf dem Albsteig zu erkunden. Es war einer dieser Tage gewesen, an denen sich die Punkte auf meiner To-do-Liste türmten wie Steinmännchen am Rande eines beliebten Bergwanderwegs. Einer dieser Tage, die sich sehr – zu sehr – anfühlten wie damals im Büro, als ich noch einen »normalen« Job hatte und unter Dauerstress stand. Natürlich gibt es diese Tage immer noch, auch als hauptberufliche Outdoor-Bloggerin muss man Steuererklärungen machen und E-Mails beantworten, Fotos bearbeiten und Texte schreiben, die Webseite am Laufen halten, Social-Media-Kanäle bespielen und noch vieles mehr. Hilfe hatte und habe ich für all dies nicht, von einer Steuerberaterin und einer IT-Fachfrau für Notfälle mal abgesehen. Do it yourself und Learning by Doing sind nach wie vor meine Devisen. Der Unterschied zu früher ist, dass ich in großem Maß selbst entscheiden kann, wie ich arbeite, wie viel ich arbeite und wann und wo ich arbeite. Ein Segen, aber in gewisser Weise auch ein Fluch, denn wenn man sein Hobby zum Beruf gemacht hat und das liebt, was man tut, dann muss man zwar nicht immer arbeiten, aber man will es. Seit 2013 habe ich meinen Blog nun. Wenn man etwas so lange hegt und pflegt, dann möchte man auch, dass es ihm wirklich gut geht. Dennoch versuche ich, darüber nie zu vergessen, warum ich das tue, was ich tue. Und einer der Hauptgründe dafür ist nach wie vor, dass ich möglichst viel Zeit draußen verbringen möchte. Und eben das tun, was ich am allerliebsten mag: in der Natur sein, die Welt entdecken, Abenteuer erleben. Daran muss ich mich manchmal erinnern, und genau das tat ich am Vorabend. Der Rest kann warten, habe ich zu mir selbst gesagt, nachdem ich den Wetterbericht überprüft hatte. Dann tauschte ich das E-Mail-Programm gegen das Routenplanungsprogramm, und kurze Zeit später packte ich den Rucksack. Die Gedanken an E-Mails und Buchhaltung habe ich in der Wohnung gelassen, aber eine Sache doch von meinem Schreibtisch mitgenommen: die Idee für dieses Buch. Eine Idee, die schon länger in meinem Kopf herumschwirrte, sogar schon während der Arbeit an meinem ersten Buch. Nun, rund ein Jahr nachdem ich die Arbeiten an meinem ersten Buch beendet hatte, war die Zeit für diese Idee gekommen. Ich war bereit für eine neue Reise ins Unbekannte. Ins unbekannte Deutschland, aber auch in eine unbekannte Art des Schreibens. Denn während ich für das letzte Buch in der Vergangenheit gewühlt und alte Geschichten aufgearbeitet hatte, galt es nun, neue Geschichten bewusst zu erleben. Ich fand diesen Perspektivenwechsel wahnsinnig spannend, war mir aber auch der Gefahr bewusst, dass diese Herangehensweise so ihre Tücken hatte. Dass die bloße Existenz meines Vorhabens die Wahrnehmungen in vorgefertigte Formen presste, das wollte ich unbedingt vermeiden.
Und dennoch kam ich nicht umhin, an meinem ersten Wandertag auf dem Albsteig hinter jeder neuen Wegbiegung nach der Wildnis zu suchen. Wohl wissend, dass das ziemlich absurd und definitiv nicht zielführend war und auch überhaupt nicht das, was ich tun und erreichen wollte.
Wieso konntest du nicht einfach in Alaska paddeln gehen oder irgendein Land in Zentralasien zu Fuß durchqueren? Wieso konntest du nicht mit dem Fahrrad durch Australien fahren oder zumindest mit dem Geländewagen? Irgendwo hingehen eben, wo die Wildnis einem mitten ins Gesicht springt und man nicht jeden Stein einzeln umdrehen muss, um sie zu finden? Ein Abenteuer erleben, bei dem sich die Geschichte quasi von allein schreibt? Gedanken wie diese saßen so hartnäckig in meinem Kopf wie die Saatkrähen auf den brachliegenden Feldern um mich herum, krähten ähnlich unangenehm laut und schief, während ich die ersten Kilometer auf dem Albsteig zurücklegte. Jedes Mal, wenn der Weg sich fein und unscheinbar durch Mischwald wand, atmete ich erleichtert auf und sah voller Zuversicht in meine Zukunft als Wildnisreisende. Und jedes Mal, wenn der Weg sich über Schotterstraßen durch Felder und Siedlungen schlängelte, wogen die Zweifel an meinem Vorhaben schwer. Dann endlich: eine Hinweistafel für Wanderer. Gämsen sollte es hier in der Gegend geben! Das musste diese Wildnis sein, auf die ich gewartet hatte. Die hausziegenähnlichen Tiere waren auch früher schon im Schwarzwald beheimatet, wurden aber bis zur Ausrottung bejagt. Seit 1930 sind sie dort wieder zu sehen, nachdem einige Exemplare aus der österreichischen Steiermark ausgewildert wurden. Gämsen lieben steiles Gelände, in den Alpen begegnet man ihnen daher oft. Deutlich öfter als ihren imposanten Verwandten, den Steinböcken. Aber auch im Schwarzwald scheinen sie sich pudelwohl zu fühlen. Geschätzte zweitausend Exemplare gibt es dort heute wieder, so las ich auf dem Schild. Und hielt dann an den Hängen und auf Wiesen angestrengt Ausschau nach den kleinen gebogenen Hörnern und den großen dunklen Augen. Mein Fernglas hing griffbereit an der Seite meines Rucksacks. Sollte ich auf ein paar Gämsen treffen, wollte ich die Möglichkeit nicht verpassen, sie näher unter die Lupe zu nehmen. Ganz so, wie ich es in den Alpen schon öfter getan hatte. Allerdings waren weit und breit keine zu sehen. Hatten sie die Hinweistafel etwa nicht gelesen?
Nachdem ich noch ein letztes Mal erfolglos mit zusammengekniffenen Augen die Umgebung gescannt hatte, setzte ich meinen Weg auf dem Albsteig fort. Der frühwinterliche Morgennebel ließ zögerlich ein paar erste Sonnenstrahlen durch, die mich bald schon dazu brachten, mich von der ersten meiner vielen Kleidungsschichten zu lösen. Und auch die steilen An- und Abstiege an den Rändern der wilden Albschlucht trugen ganz gewiss dazu bei, dass ich schnell im kurzärmligen T-Shirt unterwegs war und trotzdem noch schwitzte. Gerade mal rund fünfzig Kilometer lang ist das kleine Flüsschen Alb, das von seinen Quellen am Südhang des Feldbergmassivs bis in den Hochrhein an der Schweizer Grenze fließt. Hier in seinem unteren Verlauf weist es ein besonders starkes Gefälle auf und hat so eine tiefe Schlucht in den Granit gefräst. Einige Male kreuzte der Albsteig die Schlucht, und auf den Brücken stehend konnte ich der tosenden Alb ganz nah sein. Dann wieder führte der Wanderweg hoch oben an den Rändern der Schlucht entlang, von wo aus ich das Wasser oft nur noch hören und nicht mehr sehen konnte. Ein dichter Teppich aus herbstlich gefärbtem Mischwald verdeckte die Sicht und formte einen eigenen, bewundernswerten Anblick. Nachdem ich auf den ersten Kilometern die Einladungen sämtlicher Aussichtsbänke ausgeschlagen hatte, nahm ich nun endlich auf einer Platz und ließ die Welt auf mich und in mir wirken. Die Sonnenstrahlen waren so beschaffen, dass sie nicht nur auf mich schienen, sondern mitten in mich hinein. Sie waren mehr als die von der Sonne emittierte elektromagnetische Strahlung, die sich mit rund 300 000 Kilometern pro Sekunde durchs All bewegte, bevor sie von meiner Haut absorbiert wurde und dort Wärme erzeugte. Sie waren ein Portal in eine andere Gefühlswelt. Ich schloss die Augen und war für ein paar Momente nur noch Wärme und Licht, war das Tosen der Alb tief unter mir, war die Farben des Herbstes und der perlende Gesang des Rotkehlchens, das ein paar Meter entfernt auf einem Stein Platz genommen hatte. Rotkehlchen sind dankbare Vögel für alle, die Vögel lieben. Sie sind furchtloser und neugieriger als die meisten ihrer Artgenossen und dazu noch wunderbar anzusehen mit ihrer kugelrunden Form und den schwarzen Knopfaugen. Außerdem singen sie das ganze Jahr über, auch im Winter, oft noch in der späteren Dämmerung oder sogar nachts. Wenn man einen Vogel zu einer Tages- und Jahreszeit singen hört, zu der man das eigentlich nicht erwarten würde, stehen die Chancen gut, dass es sich dabei um ein Rotkehlchen handelt. Ich lauschte ihm für eine Weile und öffnete dann meine Augen wieder, um mit vorsichtigen Bewegungen mein Teleobjektiv aus dem Rucksack zu holen und auf meine Kamera zu schrauben. Handgriffe, die ich mittlerweile blind und ohne nachzudenken ausführen konnte. Immer öfter habe ich auf Touren nicht nur mein Fernglas dabei, sondern auch das lange Objektiv, obwohl das eine Kilo nicht gerade förderlich für ein angenehmes Rucksackgewicht ist. Die Möglichkeit, die ein oder andere Tierbegegnung nicht nur in meinem Kopf, sondern auch auf einer Festplatte speichern zu können, ist es mir wert, auch wenn es einem längst nicht jedes Fotomotiv so einfach macht wie dieses Rotkehlchen: Es wartete nicht nur geduldig, bis ich meine Prozedur beendet und ein paarmal auf den Auslöser gedrückt hatte, sondern drehte dabei auch noch den Kopf in perfekter Fotomodellmanier zur Seite und blickte freundlich in die Kamera. Im Nachhinein betrachtet gibt es von der ganzen Tour kein Foto, das bei mir die Erinnerungen daran so lebendig werden lässt wie dieses, obwohl darauf nicht mehr zu sehen ist als ein herkömmliches Rotkehlchen auf einem ziemlich durchschnittlichen bemoosten Stein. Doch es sollte überhaupt nicht das Rotkehlchen sein, das mir auf dieser Wanderung zu einer besonderen Erkenntnis verhalf. Einer, die maßgeblich für den Rest meiner Erkundungstouren für dieses Buch und damit auch für dieses Buch selbst werden sollte.
»Wildromantisch« ist ein Wort, das bei mir direkt Assoziationen mit Werbeprospekten in Tourismusinformationen hervorruft. Ich fürchte, es gibt kein Flusstal in Deutschland, welches nicht an irgendeiner Stelle mit diesem Wort beschrieben wird. Für die Beschreibung des Albtals mit seinen klammähnlichen Passagen, Wasserfällen und Gletschertöpfen, den vermoosten Felsblöcken und farnbewachsenen Ufern vor wilder Waldkulisse gibt es aber wohl wirklich kein besseres. Der Albsteig führte mich an Orte, die einen vergessen lassen konnten, dass so etwas wie echte Wildnis im Sinne von größeren, zusammenhängenden Naturräumen, in denen sich die Natur ohne menschliches Zutun frei entwickeln darf, in Deutschland so gut wie gar nicht mehr existiert. Dass umgestürzte Baumstämme, die nicht möglichst schnell aus dem Weg geräumt werden, die Ausnahme und nicht die Regel sind. Zwei Prozent hätten es bis Ende 2020 eigentlich werden sollen. Zwei Prozent der Landesfläche sollten laut der »Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt«, die die Bundesregierung 2007 beschlossen hat, zu geschützten Wildnisgebieten erklärt werden. Und biologische Vielfalt wird dabei als nicht weniger als »[…] die Grundlage einer langfristig gesicherten Existenz des menschlichen Lebens auf der Erde« definiert, wie auch auf der Webseite des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz nachzulesen ist. Offenbar war eine langfristig gesicherte Existenz aber nicht Grund genug, um zumindest die angepeilten zwei Prozent Wildnis umzusetzen und der Natur damit Raum zur freien Entfaltung zu geben. Der Anblick dieser wilden Abschnitte des Albtals gab mir dennoch Hoffnung für mein Vorhaben, trotz dieser erschreckend geringen Zahl vielleicht nicht »die richtige«, aber immerhin meine ganz persönliche Wildnis in Deutschland zu finden. Genug davon zu finden, um ein ganzes Buch darüber zu schreiben, dessen Fazit zumindest nicht gänzlich niederschmetternd ist. Doch der Anblick von den tiefen Spuren eines Vollernters auf einem ganz und gar nicht wildromantischen Forstweg ließ die Hoffnung kurze Zeit später wieder im Keim ersticken, so wie die Last der tonnenschweren Forstmaschine die Hoffnung auf Leben unter sich mit einer einzigen Bewegung zerquetschte.
In ihrem mittleren Verlauf wurde die Alb flacher und breiter, ihr Lauf ruhiger und weniger dramatisch, gedämpft durch allerlei menschliches Zutun wie das Errichten einer Staumauer und das Begradigen von Ufern. Und gemeinsam mit dem Wasser hat sich auch meine nervöse Erwartungshaltung beruhigt. Nach und nach hörte ich auf, über das, was ich tat, nachzudenken, sondern tat es einfach. Genoss schlicht die Sonne, den Wind und das Gehen selbst, ohne zu suchen oder zu bewerten. Auch die Wasseramsel, die plötzlich durch mein Sichtfeld schwirrte, hatte ich nicht gesucht. Und wenn überhaupt, hätte ich das eher weiter flussabwärts getan, dort, wo die Alb besonders schnell fließt und wo zahlreiche Steine und Felsblöcke der Wasseramsel genügend Startplätze für ihre Tauchgänge bieten. Schon in meinem ersten Buch habe ich dem einzigen Singvogel, der seine Nahrung unter Wasser sucht, einen ausführlicheren Abschnitt gewidmet. Denn er ist mir in den vergangenen Jahren an vielen Orten der Welt begegnet. In Finnland, Kirgistan oder den USA, aber auch direkt vor der Haustür. Wurde so für mich persönlich zu einer kraftvollen Erinnerung daran, dass die Natur nichts von der Definition irgendwelcher Bundesministerien weiß und dass meine Faszination für sie nicht an einen bestimmten Ort, sondern vor allem an meine eigene Wahrnehmung gebunden ist. Diese tief greifende Erkenntnis war es, die mir überhaupt erst die Idee und die Motivation für dieses Buch gab. Denn man muss natürlich unterscheiden zwischen der Wildnis als physischem Ort und ökologischer Kategorie – wie die Kernzone eines deutschen Nationalparks oder die weitläufigen Tundralandschaften im Norden Alaskas – und Wildnis als »state of mind and heart«, als Zustand des Geistes und des Herzens, wie der US-amerikanische Autor und Fotograf Ansel Adams sie beschrieb. Letztendlich ist Wildnis beides, muss beides sein. Wir brauchen natürliche, echte Wildnis für das Gleichgewicht der Ökosysteme und damit für unser eigenes Wohlergehen, ja sogar Überleben. Und wir brauchen das Gefühl von Wildnis für unser inneres Glück – zumindest ich brauchte das. Ich hoffte, auf meiner Reise durch Deutschland zumindest Fragmente von beidem zu finden. Nicht nur am oberen Ende des Spektrums, sondern auch dort, wo Wildnis im Kleinen stattfindet. Denn letztendlich ist die verwilderte Hecke im Garten nicht per se weniger bewunderns- und gleichzeitig schützenswert als die Kernzone eines Nationalparks und die Wasseramsel an der begradigten Alb nicht weniger faszinierend als der Andenkondor in Patagonien. Ich setzte mich an den Rand der Uferböschung und verfolgte jeden ihrer Tauchgänge mit altbekannter Faszination. Und mir wurde klar, was ich eigentlich schon wusste: Wenn man draußen unterwegs ist, passieren Dinge mit einem, um einen herum. Ob man will oder nicht, ob man danach sucht oder nicht. Und die wunderbarsten Dinge passieren auch da draußen oft genau dann, wenn man nicht damit rechnet. Wenn man keine Erwartungen hat, sondern sich einfach auf den Weg macht und beobachtet, was passiert. In diesem Moment beschloss ich, nicht mehr an mein Buch zu denken. Nicht mehr an Wildnis zu denken, sie nicht regelrecht heraufzubeschwören. Denn Wildnis ist etwas, was man einfach geschehen lassen muss, und genau das wollte ich tun.
Am nächsten Morgen hatte der hereinbrechende Winter den wundervoll sonnigen Spätherbst der letzten beiden Tage mit einer einzigen, auf der Gesichtshaut stechenden Böe fortgefegt. Ich trug nach einem kurzen Temperaturtest auf dem Balkon all meine Jacken übereinander – Fleecejacke, Thermojacke, Regenjacke, zusammen mit Handschuhen und Mütze –, als ich meine Unterkunft verließ. Noch am Abend zuvor war ich in warmer Abendsonne, begleitet vom Läuten der Ziegenglocken, durch das Menzenschwander Tal bis dorthin gewandert. Eingerahmt von bunt gefärbtem Mischwald und in dem warmen Licht hatten selbst die wuchtigen Schwarzwaldhäuser mit ihrem dunklen Holz und den auf allen Seiten tief heruntergezogenen Walmdächern freundlich ausgesehen.
Durchgangsverkehr gibt es im Menzenschwander Tal keinen, und so umgab mich an diesem Morgen eine ganz besondere Ruhe, obwohl zwei absolute Schwarzwald-Hotspots – der Schluchsee und der Feldberg – von dort aus zum Greifen nah sind. Am Ende des Tals hat sich die Alb in hartes Gestein gegraben, und die Menzenschwander Wasserfälle stürzten sich vor meinen Augen von bis zu dreißig Meter hohen Felsflanken. Ein kleiner Pfad führte mich an ihnen vorbei und in Kehren bergauf. Als mich ein Holzschild auf alpine Verhältnisse hinwies und mir entsprechendes Schuhwerk empfahl, hätte ich ihm fast geglaubt (aber auch nur fast). An der Passhöhe kurz unterhalb des Feldbergs angekommen, begann es zu schneien – keine dicken Flocken, sondern feine Nadeln, die unaufhörlich die Gesichtshaut malträtieren, und beim ersten Schneefall des Jahres sind die immer besonders unangenehm. Ich zog den Kragen meiner Jacke bis zur Nase hoch und folgte den verlassenen Skipisten bergauf, die mit dieser feinen weißen Schicht nicht mehr ganz so traurig aussahen, wie sie es im Sommer tun. Mit zunehmender Höhe wurde auch das Wetter schlechter – kein Wunder, dass ich hier oben ganz allein unterwegs war.
Auf die Aussicht vom 1415 Meter hohen Gipfel des Herzogenhorns – nach dem Feldberg der zweithöchste Gipfel des Schwarzwalds und der höchste Punkt des Albsteigs – musste ich verzichten. Normalerweise könnte man von dort aus über den Schwarzwald bis zu den Vogesen und den Alpen blicken, vielleicht sogar Eiger, Mönch, Jungfrau und andere Bergriesen des Berner Oberlands erspähen. Stattdessen erspähte ich ein Gipfelkreuz im Nebel. Trotz eisigem Wind und Schneegestöber legte ich eine kleine Rast ein. Das Spannende an aussichtslosen Gipfeln ist ja, dass die so ziemlich überall sein könnten. Und dass man sich darauf konzentrieren muss, was das Gipfelerlebnis neben der Aussicht sonst noch besonders macht. Neben dem Erfolgsgefühl nach einem langen Aufstieg ist das nun mal auch das Stück Schokolade und der Schluck aus der Thermoskanne, und manchmal sind die ehrlich gesagt sogar wichtiger als der Ausblick selbst. Die meisten aussichtslosen Gipfel habe ich bisher in Regionen wie den Britischen Inseln oder Skandinavien erlebt. Aber nicht nur der Nebel, sondern auch die mit kurzem braunen Gras überzogenen und sonst eher vegetationslosen Hänge erinnerten mich an diese Touren. Genauso wie dort ist auch die Vegetation am Herzogenhorn eine Mischung aus Abholzung, Beweidung und Widerstand gegen raue klimatische Bedingungen. Den vereinzelten verwitterten Bäumen, die oft eher Skelette waren, konnte man das gut ansehen. In meinem Herzen ist ein spezieller Ort für Landschaften wie diese reserviert, und auch der Südschwarzwald fand an diesem Tag seinen Platz dort. Zusammen mit meiner letzten Packung Weingummis und dem Gedanken, dass es nicht so sehr darauf ankommt, was man sieht (oder eben nicht), sondern wie man auf etwas blickt. Dass man mit dem Herzen mehr sehen kann, als man es mit den Augen je könnte. Und wenn man genau hinguckt, dann reicht das Panorama vom wolkenverhangenen Südschwarzwald plötzlich bis in die schottischen Cairngorms, die Brooks Range in Alaska oder zumindest bis in die bayerischen Alpen …
Newtons Gravitationsgesetz besagt, dass die Schwerkraft der Erde schwächer wird, je weiter etwas von ihr entfernt ist. Ein Körper, der auf der Erde hundert Kilogramm wiegt, würde zehntausend Kilometer von ihr entfernt nur noch fünfzehn Kilogramm auf die Waage bringen. Ich war allerdings keinen einzigen Meter von ihr entfernt, sondern befand mich unmittelbar auf der dünnen Grenzfläche zwischen Erdkruste und Atmosphäre. Die einzige logische Schlussfolgerung: Irgendetwas war mit der Erde kaputt. Denn sich so leicht zu fühlen war eigentlich unmöglich auf der Oberfläche eines Planeten, der mit 9,81 Newton pro Kilogramm jegliche Masse an sich heranzieht. Das – oder ich hatte es doch irgendwie auf den Mond geschafft, wo die Schwerkraft immerhin nur noch ein Sechstel von der Gravitation der Erde beträgt. Auf dem Mond kann man rund drei Meter hochspringen und etwa vier Sekunden in der Luft verweilen, bevor man wieder auf seiner Oberfläche landet. Ja, das klang durchaus machbar für mich, obwohl es um mich herum doch bestechend irdisch aussah. Ich hatte gerade erst den kleinen Fährhafen von Lindau hinter mir gelassen, wo bereits in den frühen Morgenstunden die ersten Touristen Plastikstühle und Uferbänke besetzt hatten. Jetzt schwappte der Bodensee fast leblos neben mir, das gegenüberliegende Ufer des größten Binnensees Europas kaum sichtbar in der Ferne. Dazwischen eine große Fläche funkelndes, leicht gewelltes Wasser, hier und da ein regungslos schwimmender Schwan und ein paar Frühaufsteher auf perfekt ausbalancierten Paddleboards, mehr herumstehend als paddelnd. Ich hörte nicht viel, nur den kreischend durch die Luft schneidenden Ruf einiger Lachmöwen. Und das gleichmäßige, leichtfüßige Tap-tap-tap meiner Trailrunner auf dem Schotterweg. Ungefähr einhundertsiebzig Schritte pro Minute, angeführt von Beinen, die sich wie von allein bewegten, frei von Schwere und Mühe. Das verglichen mit meinen üblichen Laufrunden ungewohnt hohe Gewicht auf meinem Rücken schien ihnen nichts auszumachen. Und die Herausforderung, die vor mir lag, schien sie nicht im Geringsten zu irritieren. Ich könnte das für immer tun, ich will das für immer tun, einfach nie wieder aufhören, das war alles, was ich auf diesen ersten Kilometern denken konnte. Und: Vielleicht wird das alles ja gar nicht so anstrengend wie angenommen. Es war der trügerische Rausch von Endorphinen und Adrenalin, der mir zu dieser Annahme verholfen hatte. Denn es sollte ziemlich genau so anstrengend werden. Und noch vieles mehr.
In der deutschen Sprache gibt es kein gutes Wort für »laufen«, kein Äquivalent für Ausdrücke wie das englische running oder das niederländische hardlopen. Wenn man sagt, dass man einen Marathon laufen möchte, weiß natürlich jeder, was damit gemeint ist. Wenn man sagt, dass man den Maximiliansweg laufen möchte, dann sieht die Sache schon ganz anders aus. Joggen ist jedenfalls nicht das richtige Wort. Joggen ist eher das, was man sonntagmorgens zwischen Bett und Bäcker macht, in Schlabberhosen und Kapuzenpulli, um zumindest einmal pro Woche ein bisschen Sport getrieben zu haben. Rennen hingegen klingt zu sehr nach Arbeit, nach sehr kurzen Laufhosen und roter Tartanbahn. Laufen liegt ziemlich genau dazwischen, wird aber oft auch gleichbedeutend für Gehen und Wandern benutzt. Und diese Tatsache stellte mich seit einigen Jahren in meinem beruflichen und privaten Leben regelmäßig vor größere Kommunikationsprobleme. »Hab eine schöne Wanderung!«, rief mir eine Freundin noch über die Schulter zu, nachdem wir uns am Abend vor Start meines Abenteuers verabschiedet hatten. Ich hatte vorher eher beiläufig erwähnt, dass ich die kommenden zehn Tage vom Bodensee an den Königssee »laufen« wollte. Dass ich dafür durchschnittlich zweiundvierzig Kilometer und zweitausend Höhenmeter pro Tag zurücklegen würde, mit leichten Trailrunningschuhen an den Füßen und mit allem, was ich brauchte, in einem kleinen Sechzehn-Liter-Laufrucksack verstaut, hatte ich nicht angesprochen. Ich ließ ihren Wunsch daher einfach mal fürs Erste so stehen, lächelte und bedankte mich. Die Wahrheit würde sie dann schon noch früh genug erfahren. Und ich selbst auch. Denn ich hatte keine Ahnung, wie und ob ich den Königssee in zehn Tagen wirklich erreichte. Und somit war es bestimmt keine schlechte Idee, die Erwartungen anderer eher niedrig zu halten. Auch wenn meine eigenen durchaus etwas höhergesteckt waren: »So viel laufen wie möglich, so wenig gehen wie nötig« lautete mein gleichzeitig bewusst ungenau formuliertes und doch in die Pflicht nehmendes Ziel. Und natürlich glücklich, gesund und mit zwei intakten Beinen am anderen Ende des bayerischen Alpenkamms anzukommen.
Die ersten zwanzig Kilometer meiner Tour führten mich einmal rund um die äußerste Ostspitze des Bodensees. Nach und nach füllte sich die Uferpromenade zwischen Lindau und Bregenz mit Spaziergängern und Radfahrern. Normalerweise ist es nicht meine Art, meine Emotionen allzu offen auf meinem Gesicht vor mir herzutragen. Doch jetzt konnte ich mir ein breites Grinsen in Richtung jedes einzelnen Gesichts, das mir an diesem Morgen begegnete, nicht verkneifen. Ich war tatsächlich hier, obwohl ich morgens noch erst die U-Bahn und dann den Zug verpasst hatte, obwohl ich den Verschluss meiner Trinkblase nicht gefunden hatte und dann zu allem Überfluss noch meine mit klebrigen Elektrolyten gefüllte Flasche im Rucksack ausgelaufen war. Ich war hier, obwohl ich bis zum Schluss nicht wirklich daran geglaubt hatte. Ich war hier, ich lief hier, obwohl ich bis vor zweieinhalb Jahren noch gedacht hatte, dass das mit dem Laufen und mir wohl nie etwas werden würde. Weil ich es schon so oft versucht hatte und nie wirklich dabeigeblieben war, immer von irgendeiner Verletzung oder schlichtweg von akuter Laufunlust heimgesucht worden war. Weil ich eben ganz offensichtlich einfach nicht zum Laufen geboren war, und das galt es ein für alle Mal zu akzeptieren. Auch wenn das Bedürfnis zu laufen in regelmäßigen Abständen in mir aufkeimte.
Dann kam Schweden, die Reise, mit der mein letztes Buch geendet hat. Zwei Monate hab ich dort in einem kleinen rot-weißen Haus verbracht, ganz allein, im Winter, um mein Buch zu schreiben, oder zumindest damit zu beginnen. Meine tägliche Fünf-Kilometer-Runde wurde zum lieb gewonnenen und wichtigen Ritual. Anfangs noch spazieren gehend, dann immer öfter laufend, bis aus den fünf Kilometern irgendwann zehn wurden und ich einfach nicht mehr mit dem Laufen aufgehört habe. Nach Schweden nicht, nach meinem ersten Halbmarathon nicht, nach meinem ersten Berglauf nicht und nach meiner ersten Ultramarathondistanz auch nicht. In dem Moment nämlich, in dem ich aufgehört hatte, das Laufen als etwas zu betrachten, was ich tun musste, wurde es zu etwas, was ich tun wollte. Ich lief nicht, weil ich eine Läuferin werden wollte oder weil ich irgendein höheres Ziel verfolgte. Ich dachte nicht darüber nach, wie weit oder schnell ich lief, oder gar, wie weit und schnell andere Menschen liefen. Machte mir keine Sorgen darum, ob ich morgen oder gar nächste Woche auch noch laufen würde. Ich ging einfach nur laufen, weil ich es wollte und konnte, an diesem Tag, in diesem Moment. Und wenn ich danach nie wieder meine Laufschuhe schnüren würde, dann wäre das eben so. Glücklicherweise habe ich sie am nächsten Tag wieder geschnürt, und an vielen Tagen danach. Seit diesen ersten Läufen auf den vereisten Straßen im winterlichen Südschweden hat sich das Laufen schlichtweg zu einer der wichtigsten Konstanten in meinem Leben entwickelt. Die Gründe dafür sind so zahlreich, dass ich sie in einem Buchkapitel gar nicht alle aufzählen kann. Aber einer der wichtigsten ist wohl, dass das Laufen meine regelmäßige, ziemlich kraftvolle Erinnerung daran ist, dass ich Dinge tun kann, von denen ich nicht gedacht hätte, dass ich sie tun könnte. Ich bin vielleicht nicht zum Laufen geboren wie manch andere Menschen. Aber ich bin nach und nach an einen Punkt gelangt, an dem es sich wie ein Teil von mir anfühlte. Und an dem sich selbst zwanzig Lauf-Kilometer (manchmal) nach nicht besonders viel anfühlten. An diesem Morgen am Bodensee fühlten sie sich nach nichts an. Und gleichzeitig nach allem, was mir wichtig war.
Auf dem Jupiter ist die Schwerkraft in etwa zweieinhalbmal so hoch wie auf der Erde. Ein Mensch mit siebzig Kilogramm Körpergewicht würde dort also rund einhundertfünfundsiebzig Kilogramm wiegen. Einhundertfünfundsiebzig Kilogramm, das kam in etwa hin. Zumindest, was das geschätzte Gewicht pro Bein anbelangte. Es lagen nur noch eine Handvoll Kilometer bis zum ersten Ziel meiner Etappe vor mir, über eine kleine Asphaltstraße in welligem Gelände. Die Hitze des Tages war weitestgehend verflogen, um mich herum fiepten und zirpten die Grillen auf grünen Weiden, Kühe nahmen ihr Frühstück noch mal als Nachmittagssnack ein, und ein alter, kleiner Traktor schob sich gemächlich hinter mir den Hügel hinauf. Beste Bedingungen für ein idyllisches Nachmittagsläufchen eigentlich – zumindest, wenn man nicht schon einen Marathon und über tausend Höhenmeter hinter sich hatte. Meine kläglichen Versuche, die letzten Kilometer bis zu meiner Unterkunft noch laufend zurückzulegen, wurden zunehmend von Gehpausen unterbrochen. Es schien mir zeitweise schlichtweg unmöglich, meine Beine in nennenswertem Maß und adäquater Geschwindigkeit vom Boden zu heben, irgendwie durch die Luft zu befördern und etwas weiter vorne wieder aufzusetzen. Eine kurze Gehpause verschaffte da weniger den Beinen als vielmehr dem Kopf Erholung, der durch seine ständige Überredungsarbeit zunehmend ausgelaugt war. Und hatte ich mir einmal die erste Gehpause erlaubt, war die Hemmschwelle für die zweite, dritte und vierte leider in der Regel schockierend niedrig. Irgendwie schaffte ich es trotzdem noch, die Masse meines Körpers den letzten Hügel hinaufzubefördern, und zwar sogar im Laufschritt (oder so etwas Ähnlichem), bevor ich vor dem örtlichen Supermarkt die Etappe für beendet erklären konnte. Ich schmiss wahllos kohlensäurehaltige Getränke, Essen für den Abend und Proviant für den nächsten Tag in meinen Korb und brauchte an der Kasse viel zu lange, um mich an die PIN für meine EC-Karte zu erinnern.