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Kathrin Heckmann ist "Fräulein Draußen", Deutschlands bekannteste wandernde Bloggerin. Ihre Leidenschaft fürs Draußensein wurde eines Tages so groß, dass sie ihren Job als Marketing-Managerin aufgab und beschloss, das Wandern und Reisen zu ihrem Beruf und Alltag zu machen. Dabei müssen es aber nicht die höchsten Gipfel oder die weitesten Wege sein. Unterwegs sein, frei sein, glücklich sein ist das, was ihr wirklich wichtig ist. Und das sucht und findet "Fräulein Draußen" auf einer 1.000 km langen Fernwanderung in Australien genauso wie auf einem Kurztrip nach Brandenburg. Ihr Buch erzählt mitreißend von der Reise einer jungen Frau, die in Wanderschuhen nicht nur zu sich selbst, sondern vor allem auch zur Natur fand. Und alles begann, als sie dem Ruf einer Eule in die nächtliche Wüste folgte ...
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Das Buch
»Ich möchte die Geschichten von kleinen Dingen erzählen, die so klein gar nicht sind, allein schon, weil sie Großes in mir bewirkt haben. Ich möchte von den Farben des Himmels und den Formen der Landschaft und dem Geruch der Erde erzählen. Von Begegnungen mit wilden und manchmal auch weniger wilden Tieren. Von der Faszination des Wanderns, des langsamen Unterwegsseins in der Natur und davon, was passiert, wenn man beginnt, genauer hinzusehen.
Ich möchte von Momenten des Glücks erzählen, aber auch von den Herausforderungen und Hindernissen, die eine solche Reise in erstaunlich unbekannte Welten mit sich bringt. Und ich möchte von dem erzählen, was ich in mir fand, nachdem ich begonnen hatte, draußen zu suchen.«
Die Autorin
2013 folgte KATHRIN HECKMANN einem Herzenswunsch und schlug zum ersten Mal allein ihr Zelt in der Wildnis der schottischen Highlands auf. Kurz darauf gründete sie ihren Blog »Fräulein Draußen«, der heute zu den erfolgreichsten Outdoor-Reiseblogs im deutschsprachigen Raum zählt. Dort schreibt sie über ihre Reisen, Wanderungen und Erlebnisse in und mit der Natur. Zuvor studierte die Autorin Kommunikationswissenschaft, Journalismus und Skandinavistik an der Universität Wien und arbeitete anschließend einige Jahre als Marketing- und Medienspezialistin für große Konzerne.
Kathrin Heckmann
Fräulein Draußen
Wie ich unterwegs das Große in den kleinen Dingen fand
ullstein extra
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ISBN 978-3-8437-2266-7
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Coverfoto: © Carsten Riedl / Edeka Südwest
Umschlagmotive: Gettyimages/©Florian Köhler/EyeEm
E-Book: LVD GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
Prolog
RAUS
Ein leuchtend gelbes Zelt auf einem einsamen Berggipfel, im Hintergrund nichts als unendlich erscheinende Weite, der erste sanfte Schimmer eines neuen Tages und Milliarden leuchtender Punkte, die in ihrer Gesamtheit jene Galaxie formen, die unser Zuhause ist. In einigen Milliarden Jahren wird die Milchstraße mit ihrem galaktischen Nachbarn, dem Andromedanebel, zusammenprallen. Und auch wenn dabei vielleicht einige Sterne auf der Strecke bleiben werden, werden sie zusammen einen völlig neuen, noch viel spektakuläreren Nachthimmel bilden. Bis es so weit ist, ist die Milchstraße aber auch nicht gerade der schlechteste Anblick. Oder besser gesagt: der vielleicht schönste Anblick, den ich mir nur vorstellen könnte.
Zeit für einen Blick in diesen Nachthimmel fand ich jedoch bis vor wenigen Jahren viel zu selten. Das kleine gelbe Zelt mit all den funkelnden Sternen existierte in meinem Leben vor allem als Hintergrundbild meines Arbeits-Laptops. Und die Nacht, die wurde viel zu oft von meiner Schreibtischlampe erhellt, sodass ich die Sterne gar nicht hätte sehen können, selbst wenn ich es versucht hätte. Dann war lediglich der Inhalt meiner Kaffeetasse dunkel, die neben der abgenutzten Tastatur stand und in aller Regelmäßigkeit gefüllt wurde.
Koffein, das brauchte ich in diesen Tagen dringend. Nicht etwa, weil ich es war, die da in dem gelben Zelt auf dem Berggipfel langsam erwachte. Nicht etwa, weil ich nach einem langen Wandertag und einer – dank dem auf Berggipfeln oft üblichen Wind – unruhigen Nacht einen frühmorgendlichen Energieschub benötigte. Sondern weil ich unentwegt auf den Bildschirm starren musste, acht Stunden am Tag, fünf Tage die Woche, gerne auch mal mehr und gerne auch mal am Wochenende.
Manchmal fühlte es sich für mich an wie Kurzurlaub im Kopf, meistens aber eher wie Selbstgeißelung, wenn meine Aufmerksamkeit beim hektischen Wechsel zwischen E-Mails und Tabellen, Präsentationen und Briefings auf die Szenerie auf meinem Bildschirm fiel. Da war dann immer dieser kurze Stich ins Herz beim Blick auf den Laptop, der vor kleinen Icons nur so wimmelte, die endlich mal wieder sortiert werden mussten. Für einen Moment wurde mein Blick festgehalten, wie magisch angezogen vom kleinen gelben Zelt. Dann begann sich das Chaos in meinem Kopf und in meinem Herzen aufzulösen. Dann wusste ich, wo ich hingehörte und wo ich sein wollte, und das war definitiv kein gut gepolsterter Drehstuhl in einem großen, grauen Büro.
Trotzdem hatte ich oft darüber nachgedacht, das Bild gegen ein anderes auszutauschen. Gegen ein paar bunte Schmetterlinge vielleicht, oder einen Schnappschuss des Familienlabradors. Vielleicht aber auch einfach gleich gegen das Porträt eines gänzlich seelenlosen roten Ziegelsteins, welches bestimmt irgendwo in den Weiten des Internets zu finden war. Hauptsache irgendetwas, das mich nicht schmerzhaft an die Welt da draußen erinnerte, die seit einigen Jahren einen immer größer werdenden Platz in meinem Herzen einnahm. Eine Welt, die in diesen Momenten nicht weiter von mir entfernt sein konnte und doch direkt außerhalb des Bürogebäudes begann. Geändert habe ich das Hintergrundbild nie, bis heute nicht. Doch es sollte der Tag kommen, an dem ich mein Leben gegen ein neues eintauschen würde.
Es war der Beginn eines neuen Jahres, an dem ich den Entschluss fasste, dieses alte Leben umzukrempeln. Von drinnen nach draußen – im wahrsten Sinne. Eine Zeit also, die wie keine andere gemacht war für fundamentale Lebensentscheidungen. Die Zeit, zu der immer alles ganz anders werden soll und doch selten wird. Wenn Menschen bis an den Rand mit guten Vorsätzen und weisen Entschlüssen gefüllt sind und dann letztendlich doch den Willen oder den Mut oder gar den Wunsch selbst wieder verlieren. Ich hatte mir keine Vorsätze zurechtgelegt, das tat ich eigentlich nie. Auch weil mein Lebensstil alles in allem doch ziemlich akzeptabel war. Vegane und gesunde Ernährung: Check. Regelmäßig Sport treiben: Check. Wieder mehr Bücher lesen: Sowieso. Mit dem Rauchen aufhören: Schon vor vielen Jahren geschehen.
Doch die Bürotür, die ich am ersten Arbeitstag des neuen Jahres aufschloss, öffnete sich nach innen und damit in die falsche Richtung. Und als ich wie so oft etwas widerwillig meinen Laptop aufklappte und das kleine gelbe Zelt auf dem Bildschirm erschien, traf mich die Erkenntnis wie ein Schlag. Ich wollte, dass diese Sterne mehr waren als nur digitale Leuchtpunkte über meiner Tastatur. Ich wollte Luft atmen, die nicht von Klimaanlagen gefiltert war, und an ihrem Geruch erkennen, welcher Monat gerade war – nicht durch den Blick auf den Kalender. Ich wollte dem Himmel dabei zusehen, wie er langsam seine Farbe änderte, ohne dabei die meiste Zeit des Tages durch eine Glasscheibe zu starren. Ich wollte nicht über Stapel von Aktenordnern stolpern, sondern über Baumwurzeln. Nicht von Weckern, sondern von dem Gezwitscher der Vögel geweckt werden, und wenn irgendetwas in meinem Leben flimmerte, dann sollten es die echten Sterne sein – auch wenn die eigentlich gar nicht flimmern, sondern nur den Anschein erwecken, wenn ihr Licht auf die wabernden Luftschichten der Erdatmosphäre trifft. Und abends wollte ich mir die schmerzenden Schultern reiben. Nicht etwa, weil ich mal wieder acht Stunden oder mehr am Schreibtisch gesessen hatte, sondern weil sich in dem Rucksack, den ich den ganzen Tag auf dem Rücken getragen hatte, alles befand, was ich zum Leben brauchte. Und selbst so ein aufs Wesentliche reduziertes Leben wog eben doch ein paar Kilo, das hatte ich auf meinen vergangenen Reisen und Wanderungen bereits gemerkt.
Da war er also, mein guter Vorsatz für das neue Jahr. Und ich wusste, dass ich keine andere Wahl hatte, als an diesen Wunsch zu glauben und ihn in die Tat umzusetzen, wenn ich glücklich werden wollte. Also kündigte ich meinen gut bezahlten Job, schnürte ein für alle Mal die Wanderschuhe und machte mich nur wenige Monate später auf den Weg. Zu meiner ersten langen Fernwanderung: 1 500 Kilometer durch Großbritannien. Und in mein neues Leben, denn ab jetzt sollte das Draußensein mein Beruf sein.
Meine eigentliche Reise zu dieser Erkenntnis und dieser Entscheidung begann aber nicht etwa an diesem Arbeitsmorgen, sondern schon einige Jahre zuvor. Es war eine Reise, die nicht zu einem bestimmten Ort führte, sondern mir nach und nach die Augen öffnete für all die kleinen Dinge, die die Welt da draußen erst zu dem machten, was sie ist: ein Ort voller Wunder, die zu erkennen ich bis dahin nie so wirklich gelernt hatte.
Um genau diese Reise soll es in dem Buch gehen. Ich möchte die Geschichten von kleinen Dingen erzählen, die so klein gar nicht sind, allein schon weil sie Großes in mir bewirkt haben. Ich möchte von den Farben des Himmels und den Formen der Landschaft und dem Geruch der Erde erzählen. Von Begegnungen mit wilden und manchmal auch weniger wilden Tieren. Von der Faszination des Wanderns, des langsamen Unterwegsseins in der Natur und davon, was passiert, wenn man beginnt, genauer hinzusehen.
Ich möchte von Momenten des Glücks erzählen, aber auch von den Herausforderungen und Hindernissen, die eine solche Reise in erstaunlich unbekannte Welten mit sich bringt. Und ich möchte von dem erzählen, was ich in mir fand, nachdem ich begonnen hatte, draußen zu suchen.
Die Kulisse für diese Geschichten sind meine Reisen und Wanderungen, all die großen und kleinen Abenteuer, in die ich mich in den letzten Jahren begeben habe. Die Hauptdarstellerin aber, das ist die Natur selbst. Und die spielt längst nicht nur in Blockbustern mit, tritt nicht nur auf den großen Schauplätzen dieser Welt auf. Natur ist überall, und genau dort bin ich ihr begegnet.
Alles nahm seinen Anfang einige Jahre, bevor ich den Entschluss fasste, meine Anstellung zu kündigen und mein Leben vor allem mit dem Reisen, Wandern, Fotografieren und Schreiben zu verbringen. Und an dieser Stelle beginnt auch dieses Buch.
Kapitel 1
DER RUF DER EULE
Ich weiß nicht mehr, ob ich langsam aus dem Schlaf erwacht oder doch nie richtig eingeschlafen war. Letzteres wäre gut möglich gewesen, denn meine günstig erstandene Isomatte war für passionierte Seitenschläfer wie mich nur bedingt geeignet, und meine Hüftknochen waren bereits mit schmerzhaften Druckstellen übersät. Jeder seitenschlafende Mensch, der schon mal in einem Zelt genächtigt hat, kennt ihn wohl, diesen Schmerz. Und die endlosen Diskussionen mit sich selbst darüber, ob man denn nicht auch einfach Rückenschläfer sein oder sich zumindest auf den Bauch drehen könne, so wie andere Menschen es ja auch ohne Probleme tun. Aber wenn man es dann versucht, stellt man ziemlich schnell fest, dass man in Sachen Schlafposition einfach keine Wahl hat. Man ist und bleibt, wer man nun mal ist. Also rollt man sich, geplagt von Hüftschmerzen und Müdigkeit, wieder auf die Seite – aber immerhin auf diejenige, auf der die Druckschmerzen etwas weniger schlimm sind, weil man letzte Nacht auf der anderen geschlafen hat. Und hofft, dass die Erschöpfung den Kampf schnell gewinnt und einen zumindest bis zum ersten Morgengrauen halbwegs in Ruhe schlafen lässt.
Meine Freundin und Reisebegleitung Marie lag neben mir und sah schon wieder bestens erholt aus. Sie schlief jede Nacht tief und fest, denn sie besaß eine dieser gelben, fröhlich vor sich hin knisternden Hightech-Isomatten, die sich wohl jeder seitenschlafende Mensch irgendwann in seinem Leben zulegt, wenn er vorhat, öfter mal im Zelt zu nächtigen. Heute, rund sieben Jahre nach dieser Reise, besitze ich schon die zweite davon, und dazu noch eine wärmere Variante, die auch für Minusgrade geeignet ist. Aber damals wusste ich es noch nicht besser, denn um die eigene Schlafposition macht man sich eben normalerweise nur relativ wenige Gedanken.
Ich hatte mir jedenfalls bis dahin wenig den Kopf darüber zerbrochen. Und im Zelt geschlafen hatte ich auch erst ein paarmal, während einiger Campingplatz-Urlaube und dem einen obligatorischen Festivalbesuch. Ich war damals 23 Jahre alt, hatte gerade die Uni beendet, und es war meine erste große Reise. Das erste Mal ganz weit weg von allem, was ich bisher kannte oder zu kennen geglaubt hatte. Das erste Mal eine richtig große Reisetasche packen, in einen richtig großen Flieger steigen und richtig lange fliegen – mit unglaublicher Aufregung im Gepäck. Und nur kurze Zeit später lag ich in einem Nationalpark im Südwesten der USA die halbe Nacht wach, weil ich mich einfach nicht mehr entscheiden konnte, welche der beiden Hüften weniger wehtat. Und dann hörte ich es.
»Huh.«
Mit einem Mal war der Schmerz in meinen Hüftknochen so weit weg, wie er nur sein konnte.
»Huh.«
Ich lag ganz still, den Blick starr an die Zeltdecke gerichtet, weil man in Momenten, in denen man unbedingt etwas ganz genau hören möchte, aus irgendeinem seltsamen Grund noch nicht einmal wagt, die Augen zu bewegen.
»Huh.«
Zweifelsfrei. Da draußen war eine Eule, direkt neben dem Zelt, das Marie und ich mitten in der wüstenartigen Einöde des Bundesstaates Utah aufgestellt hatten – und ich war plötzlich ziemlich aufgeregt.
»Huh.«
Langsam setzte ich mich auf und war zum ersten Mal froh darüber, dass ich keine dieser besagten Isomatten hatte, die bei jeder Bewegung laut knisterten. Ich fuhr mit der Hand den Reißverschluss entlang, bis ich den kleinen Schieber ertastete, und zog ihn langsam auf, Zahn für Zahn, in der Hoffnung, gleichzeitig leise und doch schnell genug zu sein, um einen Blick auf das fremde, aber gleichzeitig seltsam vertraute Wesen zu erhaschen. Doch als der Spalt in der Zelttür groß genug war, konnte ich gerade noch den dunklen, geflügelten Schatten sehen, der sich von dem knorrigen Bäumchen neben unserem Zelt erhob. Er schwebte genauso lautlos wie farblos in die Nacht davon und ließ mich gleichermaßen verzaubert wie enttäuscht zurück. Die Eule war direkt neben mir gewesen, nur durch eine dünne Zeltplane von mir und meinem Blick getrennt, und nun war sie fort.
»Huh.«
Oder doch nicht?
»Huh.«
Ein bisschen weiter entfernt war sie auf jeden Fall, vermutlich saß sie in einer der Kiefern am Ende unseres Zeltplatzes. Ich schälte mich aus dem Schlafsack, streifte meine dicke Fleecejacke über und schlüpfte in die Sandalen, die sorgsam und bereits in die richtige Richtung gedreht vor dem Zelt platziert waren. Draußen war es fast heller als innen im Zelt. Es war Vollmond, oder zumindest nah dran, und die Luft zwischen mir und dem Nachthimmel war klar wie Glas. In Utah gibt es einige der dunkelsten Orte in den gesamten Vereinigten Staaten, aber nun mussten sich meine Augen eher an das Licht als an die Schwärze gewöhnen. Ich sah mich um, um mich zu orientieren, und das Mondlicht reflektierte aus jeder Richtung so hell, dass ich fast schon die Farben meiner Umgebung erkennen konnte. Das von der Sonne schon ganz ausgeblichene Gelb der Nylon-Außenschicht unseres Zeltes, die dunkelgrün angepinselte und gegen Tiereinbrüche gesicherte Mülltonne, unsere viel zu kleinen, hellblauen Campingstühle, die eigentlich für Kinder gemacht waren und von denen wir bei Walmart noch dachten, dass sie einfach nur ein besonders gutes Schnäppchen gewesen waren. Und natürlich der sanft rötlich rostbraune Sandstein, der sich durch den Arches Nationalpark zog wie die steingewordenen Überreste eines Dinosaurier-Friedhofs.
Eulen haben von Dingen wie Hellblau oder Rostbraun relativ wenig Ahnung, denn in Sachen Farbsehen sind sie, zumindest diejenigen Arten, die nachtaktiv sind, schlechter dran als Menschen. Während ihre tagaktiven Verwandten genauso wie wir auf eine Vielzahl von farbsehenden Zapfen setzen können, haben nachtaktive Eulen deutlich mehr der lichtempfindlichen Stäbchen in ihren Augen. Diese sind dazu noch überproportional groß, bei Menschen entspräche das Augen in der Größe von Äpfeln. Der Mangel an Zapfen macht Eulen zwar weniger empfänglich für Dinge wie gelbe Zelte und rote Steine, aber dafür sehen sie auch in den dunkelsten Utah-Nächten noch die unselige Maus, die irgendwo da unten auf dem Sandstein, zwischen Felsblöcken und Wacholderbüschen, emsig ihrem nächtlichen Treiben nachgeht – und ein paar Augenblicke später vielleicht schon nicht mehr.
»Huh.«
Ich versuchte, tunlichst nicht über die Zeltschnüre zu stolpern, als ich vorsichtig um das Zelt herum und in Richtung der Bäume schlich, in denen ich meine Eule vermutete. Ich wusste nicht genau, wieso ich das tat, und dachte in diesem Moment auch gar nicht erst darüber nach. Vielleicht war es die pure Abenteuerlust, die auf dieser Reise zum ersten Mal so richtig in mir erwacht war und die mich nun antrieb, mitten in der Nacht mein Zelt zu verlassen und in Sandalen einer Eule hinterherzulaufen, die höchstwahrscheinlich gar nichts von mir wissen wollte. Und ich wusste nichts über sie, hatte außer im heimischen Wildtierpark, in dessen Nähe ich aufgewachsen war, niemals eine Eule gesehen. Hatte vielleicht manchmal irgendwo eine gehört, mir dann gedacht: Oh, eine Eule, oder wahrscheinlich noch nicht mal das, und mich dann nicht weiter mit ihr beschäftigt. Vermutlich hatte ich sogar schon viel mehr Eulen gehört, denn, und das weiß ich heute: Längst nicht alle Eulen geben das berühmte »Huh« der Waldohreule oder das »Hu-huhuhuhu-huuu« des Waldkauzes von sich, die Laute der beiden häufigsten Arten in unseren Breitengraden, die quasi in jedem Horrorfilm oder Krimi irgendwo als Soundeffekt zu hören sind. Da gibt es zum Beispiel noch das fauchende bis schrill-kreischende »Schriiiiii« der Schleiereule, welches bei mir deutlich mehr Gänsehaut zu verursachen vermag, als es ein Gruselfilm mit mittelmäßigem Waldkauz-Effekt je könnte. Dagegen war der dumpfe Klang meiner Eule wunderschön, beruhigend, fast schon meditativ, geheimnisvoll, wohlwollend. Es war ein Ruf, dem ich gerne folgte, auch wenn es mitten in der Nacht war, in einem fremden Land, auf einem fremden Kontinent und ich lediglich Sandalen an den vom Tag noch staubigen Füßen trug, die nicht unbedingt den besten Schutz gegen Skorpionstacheln oder Schlangenzähne boten.
Auf halbem Weg zwischen Zelt und Eule hielt ich inne. Ich wollte das Tier nicht stören, die Mäuse und andere potenzielle Beutetiere nicht verjagen, nach denen sie vielleicht Ausschau hielt. Ich wollte ihre nächtliche Welt nicht durcheinanderbringen, wollte lediglich mal einen Blick hineinwerfen, einfach mal gucken, wie es dort so war und ob das vielleicht auch etwas für mich wäre. Ich setzte mich auf einen Stein und wartete auf den nächsten Ruf, der bis jetzt fast wie ein Uhrwerk in regelmäßigen Abständen ertönt war. Ab hier war der Boden mit allerlei scharfkantigem und stachligem Gestrüpp übersät. Ein einzelner großer Wacholderstrauch ragte darüber hinaus und stand genau zwischen mir und dem Mond, die schattigen Enden seiner Äste zugegebenermaßen etwas bedrohlich in meine Richtung gestreckt.
»Huh.«
Irgendwie hatte meine Eule es geschafft, von meinen Augen und Ohren gänzlich unbemerkt den Baum zu wechseln, und rief nun aus einer ganz anderen Richtung zu mir herüber. Eulen fliegen lautlos, zumindest für unsere Ohren. Und meine Wüsteneule war da keine Ausnahme. Diese Tatsache ist ungleich faszinierender, wenn man einmal bewusst darauf achtet, wie laut andere Vögel fliegen. Auf das »Flapp-Flapp-Flapp« von Tauben. Auf das Pfeifen, wenn sich Krähen im schnellen Flug ihren Weg durch die Luftschichten schneiden. Eulen hingegen sind trotz ihrer teils erheblichen Größe völlig still, können ohne jedes wahrnehmbare Geräusch von einem Ast zum nächsten segeln. Ihr weiches, lockeres Federkleid bietet wenig Widerstand, dank der samtartigen Oberfläche des Gefieders entsteht keine Reibung. Und die gezahnten Außenkanten der Schwungfedern zerstreuen den Luftstrom in feine Wirbel und nehmen ihm damit so gut wie jeden Laut, während die Strukturen der Ober- und Hinterseite der Flügel den Schall zusätzlich dämpfen.
So schnell fliegen wie Krähen oder Tauben können sie mit diesen Flügeln nicht, aber das müssen sie auch gar nicht. Denn wer keine Geräusche macht, die potenzielle Beutetiere vorwarnen könnten, der hat es auch nicht sonderlich eilig. Ich war fasziniert von einem Geräusch, das gar nicht existierte.
»Huh.«
Meine Eule schien nicht so richtig hungrig zu sein, denn ihr Ruf würde auch den unaufmerksamsten Nager in Aufruhr versetzen, wenn ja sogar ich ihn deutlich hören konnte. Und mein Gehör war von der Perfektion eines Eulenohrs weit entfernt. Die hochsensiblen Organe sind als seitliche Schlitze am Kopf der Eule angeordnet, eines etwas höher als das andere, sodass sie die Herkunft von Geräuschen präzise orten kann. Gleichzeitig wirkt der Gesichtsschleier aus Federn als zusätzlicher Verstärker, der selbst das Rascheln einer Maus unter einem halben Meter Schnee nicht ungehört lässt. Selbst also falls sie ihren bis zu 270 Grad drehbaren Kopf mit den starren Augen nicht in meine Richtung gewandt hatte, wusste sie bestimmt ganz genau, wo ich war und was ich dort trieb.
Vielleicht konnte sie sogar hören, wie die kalte Nachtluft mit meinem vom Stein aufgewärmten Körper kollidierte, als ich mich von ihm erhob. Er trug die Wärme eines ganzen Spätsommertages in sich und hatte sie jetzt in der Nacht an mich weitergegeben. Ich kletterte auf einen großen, lang gezogenen Felsen, der wie der umgedrehte Bug eines rostigen alten Schiffes aus der flachen, von Trockenheit und extremen Temperaturen in Schach gehaltenen Vegetation hervorragte, und lief auf seinem Rücken entlang bis zu seinem höchsten Punkt. Es war erstaunlich, wie gut selbst die Sohlen meiner billigen Sandalen auf dem glatt geschliffenen und gleichzeitig porösen Gestein Halt fanden. Ich fühlte mich bei meiner nächtlichen Kraxelei ein bisschen wie eine der Echsen, die wir früher am Tag auf diesen Felsen zahlreich bei ihrem Sonnenbad gesehen hatten. Sie konnten mit ihren Füßchen auf so ziemlich allem klettern, so schien es.
Ich erklomm den Felsen heute schon zum zweiten Mal, einige Stunden zuvor hatten Marie und ich von seinem Rücken aus dabei zugesehen, wie die Wüste im Licht der untergehenden Sonne nach und nach zu glühen begann, bis sie feuerrot leuchtete und anschließend langsam, von Rosa zu Pink zu Purpur zu Lila zu Blau zu Schwarz, wieder erlosch. Wir hatten nicht genug bekommen können vom Anblick dieser Landschaft, selbst nachdem wir sie schon den ganzen Tag lang zu Fuß erkundet hatten. Wir waren über staubige Pfade, durch ausgetrocknete Flussbetten und Schluchten gewandert, vorbei an Ansammlungen kleiner Kakteen, gelblich blühenden Salbeibüschen, bizarr verformten Wacholderbäumen und natürlich durch, über, unter und vorbei an Gesteinsformationen in allen vorstellbaren Ausführungen und rostigen Farbtönen. Diese verblassen je nach Gesteinsschicht, Blickwinkel und Sonneneinfall mal mehr ins Gelbliche und leuchten dann wieder feuerrot. Devil’s Garden, Skyline Arch, Balance Rock oder Fiery Furnace sind nur einige der klingenden Namen, die für eine Landschaft wie diese gar nicht dramatisch genug sein können. Eine Landschaft, die eher wie ein riesiges, verlassenes Freilichtmuseum der bildenden Künste anmutet, nur dass hier keine Menschen am Werk sind und das Museum alles andere als verlassen ist. Es ist vielmehr mehr work in progress, und die Künstlerin ist die Natur.
Einst gab es in dieser heute so trockenen Gegend ein ganzes Meer, bis es immer mehr versalzte und letztendlich austrocknete. Irgendwann konnte die verhältnismäßig weiche Salzschicht die darüber abgelagerten Gesteinsmassen nicht mehr gleichmäßig tragen, sie geriet in Bewegung, wölbte sich unter der Last auf, und die Oberfläche wölbte sich gleich mit. Es entstanden Risse, die durch Erosion zu Gesteinsrippen wurden. Die unterschiedlichen Gesteinsschichten waren Wind, Wasser und Frost nun schutzlos ausgeliefert. Manche von ihnen hielten diesen aber länger stand als andere, und so entstanden die Brücken und Bögen, die dem Nationalpark ihren Namen gaben. Und das alles passiert bis heute.
Der Landscape Arch ist der längste unter ihnen. Ganze 96 Meter spannt er sich auf einer Leinwand aus eisblauem Himmel über die staubige Felsenlandschaft, an manchen Stellen schon so gefährlich dünn, dass man fast die Gesetze der Physik infrage stellen möchte. Auch wenn Schatten in dieser Gegend rar ist, sollte man unter diesem Bogen lieber nicht länger pausieren, denn irgendwann wird er einstürzen. Genauso wie viele vor ihm und viele, die noch folgen werden. Vielleicht morgen, vielleicht in einem Jahr, vielleicht auch erst in zehn. Es wird damit ein neues Wüsten-Kunstwerk geformt werden, während an anderer Stelle neue Brücken und Bögen entstehen. Verglichen mit einem Planetenleben, geht das alles relativ schnell vonstatten, für uns Planetenbewohner aber ist, abgesehen von den Einstürzen – zuletzt widerfuhr dies einem Bogen namens Wall Arch im Jahr 2008 –, über die Jahre kaum ein Unterschied feststellbar. Und so war der Arches Nationalpark, den ich erlebte, dem von Edward Abbey gar nicht so unähnlich.
Der amerikanische Schriftsteller, Philosoph und radikale Umweltaktivist, der sein Werk ganz dem Südwesten der USA widmete, kam Ende der Fünfzigerjahre als Ranger für den amerikanischen National Park Service in dieses Gebiet. Für die Nationalpark-Verwaltung galt Arches zu dieser Zeit noch als quasi unerschlossenes Territorium. Doch in den Augen von Abbey, der seinem Arbeitgeber und dessen Schaffen schon damals ziemlich kritisch gegenüberstand, hatte die Zivilisation bereits in einem für ihn fast unerträglichen Maß Einzug gehalten: gut erhaltene Schotterstraßen, die die Besucher in ihren Autos bequem zu allen wichtigen Punkten führten, die beeindruckendsten Felsbögen nur einen kurzen Fußmarsch von den Parkplätzen entfernt. Die Wanderwege bestens markiert, sodass Dinge wie Karte und Kompass getrost zu Hause bleiben konnten. Und die kleinen Campingplätze im Park zumindest mit den nötigsten Annehmlichkeiten ausgestattet, inklusive komfortablen Picknicktischen, Feuerstellen und Mülleimern, die regelmäßig geleert wurden. Trinkwasser musste man noch selbst mitbringen, doch Feuerholz wurde gestellt, und es war Aufgabe von Rangern wie Abbey, dieses aus der Umgebung zu beschaffen.
Im Jahr 1956, als Edward Abbey seine erste Saison antrat, verzeichnete Arches 28 500 Besucher. 2015 musste der Park zum ersten Mal am Wochenende des amerikanischen Feiertags Memorial Day vorübergehend wegen Überfüllung und Verkehrsstau geschlossen werden. Im Jahr meines Besuchs, 2012, waren es schließlich insgesamt rund eine Million Besucher. Und ein paar Dutzend davon schliefen dort am Fuß meines Aussichtsfelsens in ihren Zelten, Trailern und absurd großen Wohnmobilen auf dem Devil’s Garden Campground, der normalerweise schon etliche Monate im Vorhinein ausgebucht war.
Marie und ich hatten nur einen der begehrten Plätze ergattern können, weil wir in unserem jugendlichen Leichtsinn den Reiseführer, der uns genau das mitgeteilt hätte, komplett ignoriert, ja genauer gesagt überhaupt gar nicht erst gelesen hatten. So klopften wir am frühen Abend müde von einer langen Autoetappe, aber gut gelaunt an die Tür des Campingplatzaufsehers und fragten unschuldig nach einem Platz, welcher dank einer kurzfristigen Stornierung tatsächlich verfügbar war. Der Campingplatzwart konnte es selbst nicht ganz glauben, und wir auch nicht, als wir unseren Schlafplatz inmitten dieser wundersamen Welt aus Stein und Fels im Schein unserer Stirnlampen bezogen. Auch wenn die Hauptstraße im Park mittlerweile sogar asphaltiert war, es fließendes, wenn auch reichlich nach Chlor schmeckendes Wasser gab und ein kleines Bündel Feuerholz stolze sechs US-Dollar kostete.
Ironischerweise trug das Buch Desert Solitaire, zu Deutsch Die Einsamkeit der Wüste, von Edward Abbey zur Berühmtheit und Entwicklung des Arches Nationalparks bei. Dabei hatte der glühende Verfechter unberührter Wildnis und deren existenzieller Wichtigkeit für alles Leben, Menschen eingeschlossen, das nie beabsichtigt, ja vielmehr noch aktiv zu verhindern versucht:
»Steigen Sie im kommenden Juni bloß nicht in Ihr Auto, machen Sie keinen Ausflug ins Canyonland, in der Hoffnung, etwas von dem zu Gesicht zu bekommen, was ich auf diesen Seiten zu schildern versucht habe. […] vieles, worüber ich in diesem Buch schreibe, [ist] bereits nicht mehr vorhanden oder geht viel zu rasch unter. Das Buch ist kein Reiseführer, sondern eine Elegie. Ein Denkmal.«
Denkschrift, Biologiebuch, Abenteuerroman, gesellschaftskritische Abhandlung über etwas, das für Edward Abbey mit Wildnis in etwa noch so viel gemeinsam hatte wie eine Eule mit einem Pinguin – zumindest auf den für Besucher erschlossenen Teil des Parks bezogen, in dem wir uns befanden. Und über etwas, das für mich dennoch die Erfüllung eines Traums war, von dem ich bis dahin gar nicht wusste, dass ich ihn gehegt hatte. Diese Gegend war der mit Abstand wildeste Ort, an den mein Körper und meine Seele bis dahin gereist waren. Jeder Strauch, jeder Stein war ungezähmter als alles, was ich bisher kannte. Natur in Reinform, die mich fest in ihren Bann zog, mich einfach so zu einem Teil von ihr machte. Und das, obwohl ich doch eigentlich gar keine Ahnung von alldem hatte und mein Leben zu Hause in jeglicher Hinsicht so weit entfernt von dieser Welt war, wie es nur sein konnte. Die Eule, die, jetzt unterhalb von mir und nach wie vor für meine Augen unsichtbar, in einem der Bäume saß und zwischendurch ein »Huh« von sich gab, war meine Brücke zu dieser Welt.
Ich lauschte ihr noch eine ganze Weile, bis sie sich irgendwann erhob und in lautlosem Flug in die Dunkelheit davonglitt, zu der Grenze, ab der meine Augen ihre Gestalt nicht mehr von der Farbe der Nacht unterscheiden konnten, und darüber hinaus. Meine Eule war fort, aber ich blieb noch ein bisschen, sah ihr nach, auch nachdem ich sie schon lange nicht mehr sehen konnte. Der Sandstein unter meinen Händen und Füßen war warm und weich, also so, wie Stein eigentlich niemals ist. Der Nachthimmel spannte sich endlos über mich und die Wüste, und ich war gleichzeitig so groß wie das Zentrum des Universums und so klein wie ein Sandsteinkörnchen im Wind. Am liebsten wollte ich nie wieder weg von dort. Und gleichzeitig wollte ich überallhin.
»Wird sie [die Wüste], wenn ich wiederkomme, noch dieselbe sein? Werde ich noch derselbe sein? Wird überhaupt alles jemals wieder wie früher sein? Falls ich wiederkomme.«
Das fragte sich Edward Abbey, bevor er seinen kleinen Wohnwagen zum vorerst letzten Mal hinter sich zuschloss. Die Antwort: Er würde wiederkehren, schon in der nächsten Saison. Und ich würde es auch. Vielleicht nicht in den Arches Nationalpark, aber an Orte wie diesen, wo ich die Natur in all ihrer Größe erkennen, in all ihren Nuancen bewundern könnte. Immer, immer wieder. Um zu finden, was ich in dieser Nacht zum ersten Mal gefunden hatte, als ich dem Ruf der Eule folgte. Als ich einen Blick in ihre geheimnisvolle Welt werfen durfte und feststellte, dass diese jedem offensteht, der es wagt, nachts in Sandalen auf Steine in der Wüste zu klettern und zu warten, bis sich die Augen an das Licht gewöhnt haben. Eine Welt, über die ich so wenig wusste, in der ich so fremd war und in der ich mich doch zu Hause fühlte. Und ich würde nie wieder dieselbe sein. Denn diese Nacht hatte zwar nicht alles verändert, aber alles in mir.
Desert Solitaire von Edward Abbey kaufte ich mir am nächsten Tag im Besucherzentrum des Parks, zusammen mit einem Buch über Raben und Krähen, weil es eines über Eulen nicht gab. Ich las Abbeys Worte auf meiner weiteren Reise durch den Südwesten der USA, die mich zu einigen der größten Naturwunder dieser Erde führte. Und was ich las, öffnete meine Augen. Nicht etwa für die Großartigkeit und Einzigartigkeit dieser Orte, denn die sprangen einem ohnehin ins Auge. Aber für die Großartigkeit und Einzigartigkeit all der kleinen Dinge, die die staubigen Wanderwege und endlosen Highways säumten, egal ob im Grand Canyon oder irgendwo an einem vermeintlich unbedeutenden Straßenrand. Meine Augen wurden für die Tatsache geöffnet, dass sich das große Ganze erst offenbart, wenn man beginnt, den Blick auf das vermeintlich Unscheinbare zu richten. Wenn man nicht nur das Fenster herunterkurbelt, um schnell ein paar Fotos vom Parkplatz aus zu schießen, sondern Autos und Städte und Straßen weit hinter sich lässt, die Wanderschuhe schnürt und sich nach draußen begibt – ohne Barriere zwischen sich und der Welt, mit offenem Herzen und wachem Blick.
»Vom Auto aus können Sie gar nichts sehen; Sie müssen schon aus der gottverdammten Kiste aussteigen und zu Fuß gehen, besser noch, auf Händen und Knien über den Sandstein und durch das dornige Gebüsch und die Kakteen kriechen. Erst wenn Blut Ihren Weg markiert, werden Sie vielleicht etwas zu sehen bekommen. Eher nicht.«
Es erschien mir als der einzig wahre und der einzig mögliche Weg, die Welt wirklich zu entdecken. Und genau das wollte ich tun. Allein schon weil ich sonst vielleicht nie erfahren hätte, dass Steine auch warm und weich sein können und Eulen lautlos fliegen.
Kapitel 2
EIN HÜGEL IM NIRGENDWO
Es war der denkbar schlechteste Start, den ich mir für meine erste Reise ganz allein nur vorstellen konnte. Schon am Morgen meines Abreisetages nach Schottland wachte ich mit wenig verheißungsvollen und schmerzhaften Anzeichen in meinem Hals auf. Ich nahm während der Anreise abwechselnd Tee und desinfizierende Lutschtabletten zu mir, aber nichts half mehr. Schmerzen und Erschöpfung legten sich zunehmend wie ein schwerer grauer Schleier über das, was einst Aufregung und Vorfreude war, und erdrückten diese bis zur Unfühlbarkeit.
Die zwei Stunden Fahrzeit im Mietwagen bis nach Inverness waren alles, was ich noch zustande brachte. Und das vermutlich nur dank des erhöhten Adrenalinausstoßes, den so eine erste Fahrt im Linksverkehr nun mal mit sich bringt. Ab dann gab es nur noch mich, mein Hostelbett, welches sich zum Glück in einem Einzelzimmer befand, und eine der niederschmetterndsten Erkältungen, die ich mir jemals zugezogen hatte.
Eigentlich sah mein Plan vor, nur die erste Nacht in diesem Hostel zu verbringen und mich dann ganz schnell in die aufregende Welt des schottischen Hochlandes zu flüchten. Aber nun war selbst der Gang zum Wasserkocher in der Gemeinschaftsküche eine Herausforderung.
Ich verlängerte meinen Aufenthalt für eine Nacht und verbrachte den gesamten ersten Tag meiner Reise schlafend, schniefend und schluchzend. Bis ich irgendwann zwischen Fieberträumen und Ingwertee die Erkenntnis hatte: Wenn ich schon in Schottland krank bin, dann wenigstens in der Natur. Und so nahm ich am nächsten Morgen alle durch den Ruhetag gesammelten Kräfte zusammen und fuhr ein Stück nach Süden. Dort wartete wieder ein Hostelzimmer auf mich, aber dieses Mal eines mit selbst gebackenem Zitronenkuchen und einem Fenster, durch dessen geöffneten Spalt ich das Wasser des Loch Ness an das nur wenige Meter von mir entfernte Ufer schwappen hören konnte. Und obwohl ich mich nach wie vor elend fühlte und nicht erahnen konnte, wie lange mich diese Erkältung ans Bett fesseln würde, wusste ich: Wenn ich irgendwo möglichst schnell wieder gesund werden würde, dann an diesem Ort.
Abends setzte ich mich dick eingepackt ans steinige Ufer des Sees und versenkte meine Augen in seiner dunklen, unergründlichen Tiefe. Ich konnte sie spüren, ja regelrecht sehen, obwohl das aufgrund des Torfgehalts fast schon schwarze Wasser nicht den kleinsten Blick unter seine Oberfläche zuließ. Und ich kam nicht umhin, trotz allen besseren Wissens nach ungewöhnlichen Bewegungen des Wassers Ausschau zu halten, die womöglich durch ein Seemonster namens Nessie verursacht wurden. Denn das ist es, was Schottland macht. Es zieht einen in seinen mystischen Bann, und man kann einfach nichts dagegen tun. Und so war ich, ehe ich mich versah, mittendrin in der Reise, auf die ich mich so sehr gefreut hatte. Sie war bisher gar nicht so verlaufen, wie ich mir das erwünscht und vorgestellt hatte, und doch hätte ich es mir besser nicht erträumen können. Denn die Natur Schottlands hatte mich bereits verzaubert. Und genau dafür war ich doch letztendlich hierhergekommen.
Zwei Tage verbrachte ich am Ufer des zweitgrößten Sees Schottlands, bevor ich mich stark genug fühlte, die Richtung einzuschlagen, in die mein innerer Kompass schon die ganze Zeit gezeigt hatte. Je weiter ich auf der Küstenstraße nach Norden fuhr, desto größer wurden der Himmel und das Meer, als wäre ich von nichts anderem umgeben als strahlendem Blau. Alles in allem eher ungewöhnlich für Großbritannien und speziell diesen Teil des Landes. Wie auch die sonnenverbrannte Haut, die ich mir prompt am rechten Arm zuzog. Truckersonnenbrand nennt man das, auch wenn mein kleines graues Auto alles andere war als ein Lkw. Und das war auch gut so, denn viele Straßen in den nördlichen Highlands sind kaum für ein Auto breit genug und lediglich hier und da mit Buchten zum Ausweichen versehen.
Eine solche kleine Straße war es, auf die ich mein Auto irgendwann lenkte. Weg von der Hauptstraße, weg von der Küste, einfach irgendwo den Blinker setzen, von einer Sekunde auf die andere, und ganz aus dem Bauch heraus entscheiden und dem Gefühl hinterherfahren. Dem musste ich nämlich folgen, um meinen Wunsch zu erfüllen, den ich mit auf die Insel gebracht hatte: Ich wollte endlich alleine im Zelt übernachten, von nichts als unberührter Natur und von niemandem als mir selbst umgeben. Einfach meinen Rucksack packen, draufloslaufen, irgendwo mein Zelt aufbauen und damit nicht nur diesen Platz, sondern die ganze Welt zu meinem Zuhause erklären. Ich wollte draußen sein und vor allem draußen bleiben, für eine Nacht und (hoffentlich) für viele weitere, die in der Zukunft noch folgen würden, ohne mich spätestens bei Einbruch der Dunkelheit in die üblichen vier Wände oder auf einen bequemen Campingplatz zurückzuziehen. Diese ganz besondere Freiheit erleben, die in Ansätzen selbst der bloße Anblick eines Zeltes inmitten weiter Landschaft zu vermitteln mag und die so viel größer und großartiger sein musste, wenn man selbst in diesem Zelt lag.
Für die kommenden Tage sah der Wetterbericht allerdings wenig verheißungsvoll aus. Und deswegen hieß es nun: jetzt oder nie. Meine kleine Straße führte um einen tief ins Land schneidenden Meeresarm herum, dessen Ufer lediglich einige weit verstreute Farmhäuser säumten. In einer Haltebucht an der äußersten Spitze des Fjords hielt ich an, stieg aus dem Auto und sah mich prüfend um. Irgendetwas an den Hügeln um mich herum sah vielversprechend aus, ja geradezu vertrauenserweckend, ich konnte gar nicht genau sagen, was es war, aber ich wusste schnell: Hier und jetzt würde ich es wagen.
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