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"Du bist also erneut bereit, für etwas zu sterben? Wäre es nicht mal schön, für etwas zu leben?" Ein Brief, geschrieben von ihrer kürzlich verstorbenen Mutter, führt Hope Tremblay an die Küste der Hudson Bay. Dort trifft sie ihren Onkel Andrew und wird unerwartet in dunkle Familiengeheimnisse eingeweiht. Plötzlich findet sich die junge Frau inmitten von Gestaltwandlern wieder. Konfrontiert mit tödlichen Gefahren, muss Hope ihre eigene Stärke finden. Dabei stößt sie auf längst vergessenes Wissen und damit auf eine starke Verbündete im Kampf um Freiheit. Denn dunkle Mächte haben seit Jahrzehnten die Bucht ihrer Vorfahren im Griff.
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Seitenzahl: 400
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Copyright 2022 by
Dunkelstern Verlag GbR
Lindenhof 1
76698 Ubstadt-Weiher
http://www.dunkelstern-verlag.de
E-Mail: [email protected]
ISBN: 978-3-910615-54-0
Alle Rechte vorbehalten
Für Adrian
Für deine mutige Frage „Warum nicht?“,
die der Anfang von allem war.
Für Frieda
Für deine Freundschaft,
die mir immer eine Inspirationsquelle ist.
Inhalt
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7 – Drei Jahre später
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Epilog
Danksagung
Triggerwarnung
Prolog
Sie konnte es nicht fassen. Er war wirklich so weit gegangen. Verärgert schlang Abigail die Arme um ihren Bauch. Sie spürte, wie sich ihre Tochter darin bewegte. »Keine Angst, Liebes! Dein Dad und Andrew werden das schon schaffen.« Sie strich liebevoll über ihre Wölbung. Auch wenn diese Geste beruhigend auf das ungeborene Kind wirken sollte, konnte sie die Angst in ihrer Stimme nicht verbergen. Als das Poltern und Brüllen aus dem unteren Geschoss lauter wurden, presste die zierliche Frau ihren Rücken enger gegen die Wand. Das Holz kratzte an ihrem Shirt. Den Blick auf die geschlossene Tür ihres Schlafzimmers gerichtet, spannte sie ihre Kiefermuskeln an.
Sie hatte gewusst, dass ihre Liebe zu Logan Schwierigkeiten mit sich bringen würde. Doch dass ihr Vater so weit gehen und Männer schicken würde, um sie zu holen? War ihm sein Ego wichtiger als das Glück seiner Tochter? Erkannte er denn nicht, wie glücklich sie mit Logan war? In das Poltern mischte sich wildes Knurren, und Abigail glaubte, die Krallen der Kämpfenden über den Boden scharren zu hören. Anscheinend war ihr Ungehorsam für ihren Vater eine solche Schmach, dass er wirklich vor keinen Mitteln zurückschreckte. Wie hätte sie einen anderen Mann heiraten können, nachdem Logans Lachen sie so verzaubert hatte? Ein Grinsen stahl sich auf ihr Gesicht. Sie hatten sich auf einem Dorffest kennengelernt, in einem kleinen Ort am Rande der Bucht. Sie war ihm vom ersten Blick an komplett verfallen gewesen. Sein Charme, sein Humor, dieses Lächeln. Auch das Flüstern ihrer besten Freundin, dass er ein Tremblay sei und sie bloß die Finger von ihm lassen sollte, hatte sie nicht davon abbringen können, die ganze Nacht mit ihm zu reden. Danach war alles sehr schnell gegangen. Ihr Umzug in das Haus der Tremblays, ihre Heirat und schließlich ihre Schwangerschaft. Doch an keiner dieser Entscheidungen hatten die beiden je gezweifelt.
Hastige Schritte im Flur ließen sie aus ihren Erinnerungen hochschrecken. Instinktiv griff sie nach dem Baseballschläger neben sich. Sie würde sich nicht kampflos geschlagen geben! Schützend umschlang sie mit einem Arm ihren Bauch. Als Antwort trat das Ungeborene kraftvoll dagegen.
Die Tür wurde aufgerissen. Statt eines Angreifers schob sich Andrew ins Zimmer hinein und warf das Holz hinter sich ins Schloss. Das sonst so freundliche Gesicht des Mannes wirkte seltsam ausdruckslos. Blut und Schweiß bedeckten seinen gesamten Körper. Abigail erkannte die Wunden, die die Krallen und Zähne der Wölfe gerissen hatten. Sie umklammerte den Baseballschläger fester. »Was ...«, weiter kam sie nicht.
Ihr Schwager kam hastig auf sie zu, griff nach ihr und riss sie unsanft auf die Füße. »Du musst hier weg!« Während er sie mit sich zum Fenster zog, schnappte er sich ihre Handtasche vom Bett.
»Was passiert da unten?« Abigail sah ihn verwirrt an.
Schreie drangen zu ihnen nach oben. Ein besonders lautes Dröhnen, welches das ganze Haus erschütterte, ließ die beiden innehalten.
Andrews Zähne mahlten aufeinander, und seine Finger um ihren Arm verkrampfte sich. Abigail sah, wie das Fell unter seiner Haut tanzte. Er musste kämpfen, um nicht die Kontrolle zu verlieren.
»Die Verstärkung wird nicht rechtzeitig hier sein.« Mit diesen Worten riss Andrew das Fenster auf und warf einen prüfenden Blick in die Tiefe. »Sobald wir den Boden erreicht haben, rennst du zum Auto. Egal, was passiert, du läufst zum Van und fährst! Verstanden?« Er durchwühlte ihre Tasche, zog den Wagenschlüssel daraus hervor und versuchte, ihn ihr in die Hand zu drücken. Achtlos ließ er dabei den Beutel fallen.
Aber die Schwangere hielt noch immer den Baseballschläger umklammert. Wütend reckte sie ihm ihr Kinn entgegen. »Ich soll also abhauen?«
»Willst du dich mit diesem Zahnstocher einem ausgewachsenen Gestaltwandler stellen?« Mit gekräuselter Stirn musterte er den Schläger.
Irgendetwas ging im Haus klirrend zu Bruch. Jaulen mischte sich in den Lärm.
»Ich werde euch nicht im Stich lassen!«
»Du musst hier weg! Verstehst du das nicht?« Andrew packte sie an den Schultern. »Dein Vater wird erst Ruhe geben, wenn Logan und das Baby tot sind! Wenn du das Leben der beiden retten willst, musst du fliehen und die Bucht verlassen!«
Tränen stiegen in ihr hoch und nahmen ihr die Sicht. Seine Worte waren hart, aber die Wahrheit darin sickerte allmählich zu ihr durch. Klappernd fiel der Baseballschläger zu Boden. »Was ist mit Logan?«
Dumpfes Knurren drang durch die verschlossene Tür zu ihnen. Die Angreifer waren auf dem Weg zu ihnen.
»Los jetzt!« Andrew schwang sich über die Fensterbank in die Nacht hinaus und landete mit beiden Beinen auf dem Vordach der Veranda.
So schnell Abigail mit ihrem Bauch konnte, erklomm auch sie die Fensterbank. Im selben Moment zerbarst hinter ihr die Tür. Sie konnte noch die Umrisse eines Wolfes in der Wolke aus Holzsplittern erkennen, bevor Andrew sie ins Freie zog.
Mit wenigen Sprüngen brachte der junge Mann die beiden vom Vordach auf die Veranda, welche sich hinter dem Haus der Tremblays erstreckte.
Abigail spürte das kalte Metall des Autoschlüssels in ihrer Hand. Energisch schob Andrew sie zu der kleinen Treppe. Sie wollte gerade die ersten Stufen nehmen, da ließ sie ein ohrenbetäubendes Klirren zusammenzucken. Dort, wo vor wenigen Sekunden noch das Fenster ihres Schlafzimmers gewesen war, brachen die Gestalten zweier Wölfe durch die Hauswand. In einem Regen aus Glas- und Holzsplittern schlugen die ineinander verkeilten Leiber auf dem Boden auf. Gefletschte Zähne wurden in weiches Fleisch gegraben. Fell und Haut riss unter Krallen.
Unter dem Aufprall der Kämpfenden vibrierte die Veranda unter Abigails Füßen. Erschrocken schrie sie auf und ließ beinahe den Schlüssel fallen. Ihr Schrei ging in neuem Knirschen unter. Ein drittes Tier brach durch die hintere Verandatür aus dem Wohnzimmer ins Freie. Seine Pranken rasten auf die junge Frau zu, während sie mit aufgerissenen Augen den Kampf vor sich beobachtete.
»Lauf!« Ein wildes Knurren verschluckte Andrews Rufen. Ein Flirren ging durch die Gestalt des Mannes, und dort, wo gerade ihr Schwager gestanden hatte, warf sich ein weiterer Wolf ihrem Angreifer entgegen. Seine Krallen gruben sich in dessen Flanken und schleuderten ihn einige Meter zurück gegen die Mauer, was das ganze Gebäude erneut erzittern ließ.
Das Wanken des Hauses riss Abigail aus ihrer Schockstarre. Sie rannte die Stufen hinab und lief, so schnell sie ihre Beine trugen. In ihrer Panik stolperte sie über ihre eigenen Füße. Der Weg zum Van kam ihr wie eine Ewigkeit vor. Wildes Brüllen hinter ihr ließ sie zusammenzucken in der Erwartung, dass sich jeden Moment Klauen in ihren Rücken graben würden.
Als sie den Wagen erreichte, drehte sie sich ein letztes Mal um. Ein Bild aus Schmerzen bot sich ihr. Das Blut der Wölfe bildete Lachen auf dem hellen Holz der Veranda. Dunkle Spritzer sprenkelten die aufgebrochene Fassade des Hauses. Immer noch gruben die Tiere ihr Reißzähne in Fleisch und rissen Haut auf. Lautes Jaulen klingelte in ihren Ohren.
In all dem Leiden erhaschte sie den Blick eines sterbenden Wolfes. Er war gezeichnet von Liebe und brannte sich auf ewig in ihre Seele ein.
Kapitel 1
Das Grün der Bäume und das Braun ihrer Stämme verschwammen vor dem Fenster des Busses zu einer massiven Wand.
Mit einem Seufzen rieb sich Hope die Augen. Seit Stunden saß sie in den hinteren Reihen des schwerfälligen Gefährts, welches sich über die Landstraße schlängelte. Sie hätte nicht gedacht, dass sich die letzte Etappe ihrer Reise so in die Länge ziehen würde.
Der Sitz unter ihr quietschte, als sie sich darin zurückfallen ließ. Vor ihr flogen die Reihen der Bäume vorbei. So viel Natur hatte es in ihrer Wohnung im Londoner Stadtviertel Greenwich eindeutig nicht gegeben.
Hope schnürte es die Kehle zu, denn fast 20 Jahre lang waren diese zwei Zimmer ihr Zuhause gewesen, bis sich vor sechs Monaten alles geändert hatte. Nachdem die Ärzte bei ihrer Mutter Krebs im Endstadium diagnostiziert hatten, war alles sehr schnell gegangen. Trotz aller Bemühungen und dem Kampfgeist ihrer Mom hatte am Ende die Krankheit gesiegt. Eine Träne stahl sich aus ihrem Augenwinkel und rollte ihre Wange hinab. Ihre Mom war alles gewesen, was sie an Familie gehabt hatte.
Doch ein einziger Brief in den Unterlagen ihrer Mutter hatte diese Gewissheit geändert und ihr neue Hoffnung gegeben. Was sie dazu bewegt hatte, ohne groß nachzudenken, den nächsten Flug nach Kanada zu nehmen. Entschlossen wischte Hope sich über das Gesicht. Der Umschlag war an Andrew Tremblay adressiert. Oak Lane 8, Chesterfield. Andrew Tremblay. Tremblay. Der Familienname, den sie trug und den ihre Mutter bei ihrer Hochzeit angenommen hatte. Sie ballte ihre Finger um das zerknitterte Schreiben in der Tasche ihres Hoodies. Sie wusste nicht, wer dieser Andrew war. Aber sie war an die Hudson Bay gekommen, um genau dies herauszufinden.
Trotzig schürzte sie die Lippen und wandte sich wieder dem vorbeiziehenden Grün vor ihrem Fenster zu.
In diesem Augenblick brach der Wald auf und gab den Blick in die Bucht frei. Überrascht zog Hope die Luft ein und richtete sich in ihrem Sitz auf.
Glitzernde Weite erstreckte sich eingebettet inmitten der dicht bewaldeten Hänge der Berge. Unbändig wogten die Wassermassen gegen das felsige Ufer. Die vielen Schaumkronen der Wellen leuchteten in der Sonne, die sich über dem Horizont erhob. Sie fühlte die salzige Gischt förmlich auf ihrem Gesicht, spürte den Wind an ihren Haaren zerren, hatte den Geruch von Algen in der Nase. Der Anblick der Bucht ließ sie erschaudern und wohlige Wärme legte sich wie eine Decke um ihr Herz.
Mit einem Kopfschütteln wischte sie dieses Gefühl aus ihrem Körper. Sie warf sich erneut in den quietschenden Sitz unter sich, während sie ihre Kopfhörer tiefer ins Ohr schob. Eindeutig zu viel Natur!
Der Kies knirschte unter den Reifen des Busses, als dieser an der Haltestelle stoppte. Die gelangweilte Stimme des Fahrers erklang durch den Lautsprecher. »Chesterfield!«
Mit einem dankbaren Nicken und ihrem Rucksack über der Schulter nahm Hope die wenigen Stufen aus dem Fahrzeug. Kaum hatten ihre Sneaker den Boden berührt, ging hinter ihr die Tür klappernd zu, und das Gefährt setzte sich in Bewegung. Eine schwarze Wolke aus Auspuffgasen hüllte Hope ein. Sie blickte dem Bus hinterher, bevor sie sich dem Ort zuwandte.
Der asphaltierte Weg vor ihr führte einen leichten Abhang hinunter und endete direkt am Ufer der Bucht. In der Ferne konnte Hope einen breiten Steg ausmachen, der das Ende des Dorfes markierte. Links und rechts daneben schaukelten Boote auf dem aufgewühlten Wasser hin und her.
Na gut! Sie nahm auch den zweiten Tragegurt über ihre Schulter und zog ihn fester. Dann finden wir diesen Andrew!
Während sie mit gemächlichen Schritten die Hauptstraße entlang schlenderte, ließ sie ihren Blick über die Ansammlung von Holzhäusern schweifen. Es war Mittagszeit an einem Wochentag. Aber Hope schätzte, dass selbst zu einem anderen Zeitpunkt hier nicht mehr los sein würde. Keine Menschenseele war bei den Hütten oder auf der Straße zu sehen. Gelegentlich war das Bellen eines Hundes zu hören oder das entfernte Brummen eines Motors. Ansonsten wirkte der Ort mit den rustikal gezimmerten Veranden und Vans in den Einfahrten wie ein verschlafenes Nest.
Im Gehen holte Hope ihr Smartphone aus dem Rucksack und überprüft ihren Standort. Inzwischen war sie nicht mehr weit von der Oak Lane entfernt. Aufregung rumorte in ihrem Magen, sodass sie ihren Hoodie enger um die Schultern zog. Der vertraute Geruch des Stoffes half etwas. Zuletzt zog sie die Kapuze über ihren Kopf und versuchte, ihre unbändige Mähne darunter zu verstecken. Während sie gegen ihre Locken kämpfte, huschte eine lieb gewonnene Erinnerung durch ihre Gedanken. Ihre Mom war stets an ihren Haaren verzweifelt. Diese Mähne hast du von deinem Vater geerbt. Aber deine wunderschönen, braunen Augen hast du von mir! Ihr freudiges Lachen verklang in Hopes Ohren und versetzte ihrem Herzen einen kleinen Stich.
Als Hope in die Oak Lane einbog, knirschte der Kies der schmalen Straße unter ihren Schritten. Je näher sie dem doppelgeschossigen Haus kam, umso nervöser wurde sie. Der Anblick der meterhohen Fichten, die lange Schatten auf das Gebäude warfen, halfen nicht dabei, ihre Nerven zu beruhigen.
Sie blieb vor dem Zaun stehen, der nur mit Mühe die wild wuchernde Hecke unter Kontrolle hielt. Das Haus hatte eindeutig schon einmal bessere Tage gesehen. Die Farbe blätterte an vielen Stellen von der Holzfassade ab, die Regenrinne konnte aufgrund von fehlenden Stücken ihre Aufgabe nicht mehr wirklich erfüllen und einige Fensterläden hingen schief in ihren Angeln.
Hope verzog verärgert die Lippen. Denn die filigranen, geschwungenen Verzierungen am Geländer der überdachten Veranda und der Fassade zeigten, dass dem Gebäude einst viel Liebe zuteilgeworden war, es nun allerdings vernachlässigt wurde.
Die Scharniere des Gartentors quietschten, als Hope es aufschob und das Grundstück betrat. Am unteren Treppenabsatz zur Veranda blieb sie stehen und blickte erneut die Außenwand vor sich hoch. Ihre Hände wurden schwitzig bei dem Gedanken, gleich diesem Andrew gegenüberzustehen. Vielleicht war es nicht richtig gewesen, herzukommen. Ihre Mutter musste damals Gründe gehabt haben, den Kontakt zu ihrer Familie abzubrechen. Was, wenn dieser Andrew Hope überhaupt nicht sehen wollte? Oder eine Rechnung mit ihrer Mom offen hatte?
Wütend presste sie die Zähne aufeinander. Fuck! Hope, reiß dich zusammen! Du bist nicht den weiten Weg aus London gekommen, um auf den letzten Metern zu kneifen!
Als sie die erste Stufe der Treppe nehmen wollte, klackte das Schloss der Haustür. Erschrocken fuhr Hope zusammen und erstarrte mitten in der Bewegung.
Die Scharniere knarzten, als die schwere Holztür aufschwang. Im größer werdenden Spalt erschien das Gesicht eines Mädchens. Hope schätzte sie auf zwischen zwölf und sechzehn Jahren. Sie konnte Skepsis, aber auch eine Spur Neugierde im Blick der Jugendlichen erkennen, während diese sie von oben bis unten musterte.
»Kann ich dir irgendwie helfen?«
»Ich ... äh ... ich bin auf der Suche nach Andrew. Andrew Tremblay.« Hope stolperte die wenigen Stufen hinauf und zog mit zittrigen Fingern den Umschlag aus ihrer Tasche. Sie hielt das Papier mit der Anschrift hin. »Aber vielleicht bin ich hier auch falsch?«
Das Mädchen lehnte sich ein Stück aus dem Türrahmen, um besser lesen zu können. Mit gerunzelter Stirn entzifferte sie die Adresse, bevor sie Hope erneut skeptisch musterte. »Und warum genau suchst du Andrew?«
Erleichtert atmete Hope auf. Anscheinend hatte sie das richtige Haus gefunden. »Na ja, der Brief ist für ihn.«
»Wie jemand von der Post siehst du aber nicht aus.«
»Das stimmt, aber ich wollte ihn persönlich überbringen.«
»Und, warum das?«
Als Hope antworten wollte, erklang ein Poltern aus dem Inneren des Hauses. »Harper, was lungerst du an der Tür herum?«
Die raue männliche Stimme ließ Hopes Hände erneut schwitzig werden.
»Hier ist jemand für dich.« Mit diesen Worten trat der Teenager einen Schritt zurück, öffnete damit die Tür und gab den Blick auf einen groß gewachsenen Mann frei, der sich die verschlafenen Augen reibend die Treppe vom ersten Stock hinab kämpfte.
Hope vergaß beinahe zu atmen, während sie gebannt jede noch so kleine Bewegung beobachtete.
»Für mich?« Er schob das Mädchen zur Seite, trat in den Eingang und musterte Hope interessiert. Als er die Locken erblickte, die unter der Kapuze hervorquollen, erstarrte er. Sein Mund öffnete sich langsam, und unwillkürlich fasste er sich an den Kopf, wo sich ebenfalls eine zwar kurze, aber dennoch genauso wilde Mähne kräuselte wie bei Hope.
Sie wagte ein zaghaftes Lächeln.
»Du ...« Andrew schien seine Sprache schneller wiedergefunden zu haben. »Du bist Abigails Tochter, oder?«
Hope schaffte es, zögerlich zu nicken, bevor Andrew sie an den Schultern ergriff und sie mit einem leisen Fluchen ins Innere des Hauses zog. Er sah sich mit einem prüfenden Blick nach draußen um, bevor er die Tür hinter ihr ins Schloss warf.
Hope stolperte einige Schritte in den halbdunkeln Flur des Hauses. Schnell fand sie ihr Gleichgewicht wieder und fuhr zu dem Mann herum. Sie wollte ihn wütend einen Fluch entgegenschleudern, doch der Satz blieb ihr im Hals stecken. Panik gefror ihre Glieder. Ihr Fluchtweg war versperrt, denn mit funkelnden Augen baute sich Andrew vor ihr auf. »Hat dich jemand auf dem Weg hierher gesehen? Hast du mit jemanden gesprochen?«
Seine Fragen drangen nicht zu ihr vor. Mit offenem Mund starrte sie den wütenden Mann an. Warum war sie allein hergekommen? War sie wirklich so dumm gewesen?
»Ob dich jemand gesehen hat?« Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Er machte einen Schritt auf sie zu und unwillkürlich wich sie zurück. Sie stieß mit dem Rücken gegen eine Kommode. Die unzähligen Bilderrahmen darauf klirrten und ein Porzellanfigürchen schob sich bedrohlich dicht an den Rand der Platte.
»Boah, Andrew! Was soll der Scheiß? Siehst du nicht, dass du ihr Angst machst?« Schnaubend schob das Mädchen die Figur einige Zentimeter in Sicherheit. Sie lehnte sich neben Hope an das Möbelstück und blickte den Mann vor ihnen mit geschürzten Lippen an.
Mit einem verblüfften Blinzeln ließ Andrew die Schultern sinken. Seine verkrampften Hände lösten sich und er atmete durch. »Sorry. Harper, du hast recht. Bitte entschuldigt. Ich wollte nicht ...« Er wankte zurück. Schweiß stand ihm auf der Stirn, und seine Gesichtsfarbe hatte ein ungesundes Grau angenommen. »Sorry ... ich muss kurz ... frische Luft!« Mit diesen Worten verschwand er taumelnd im Flur. Wenig später hörte Hope, wie eine Tür zuschlug.
»Was ist denn in den gefahren?« Kopfschüttelnd blickte Harper ihm nach, bevor sie Hope neben sich einen prüfenden Seitenblick zu warf. »Alles in Ordnung bei dir?«
»Ja ... Nein ... Keine Ahnung.« In Hopes Kopf drehte sich alles. Andrews aggressive Reaktion hatte sie bis ins Mark erschreckt. Auch die eigene Dummheit allein herzukommen. Sie krallte ihre Finger um den Brief, den sie noch immer in der Hand hielt.
Harpers anfängliche Skepsis schien verschwunden zu sein, und aufrichtige Besorgnis spiegelte sich in ihre Miene. Ein zaghaftes Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. »Vielleicht hilft ein Kaffee?«
Hope konnte keinen klaren Gedanken fassen. Sie zitterte leicht, als das Adrenalin ihre Muskeln erreichte. Was wäre passiert, wenn Harper nicht da gewesen wäre? War Andrew der Grund, warum ihre Mutter damals die Bucht verlassen hatte? Hope schluckte. Doch dann nickte sie. »Was Warmes klingt nicht schlecht. Mein Name ist übrigens Hope.«
»Harper. Falls du es nicht schon mitbekommen hast.« Grinsend schob sich die Jugendliche an ihr vorbei.
Nach diesem Schock wirkte die Wohnküche, in die sie Harper führte, auf geradezu absurde Weise heimelig. Auf Harpers einladende Geste hin zwängte Hope sich hinter einen wuchtigen Eichentisch und nahm auf dem Sofa dahinter Platz. Ihren Rucksack stellte sie daneben ab.
Harper ging auf die Arbeitszeile zu, welche die gesamte Längsseite des Raumes einnahm, und hantierte an einer altmodischen Kaffeemaschine herum.
Hope betrachtete die feinen Verzierungen an den Türen der Hängeschränke. Doch auch diese kunstfertigen Arbeiten waren mit Vernachlässigung gestraft worden. Die Regale und Arbeitsflächen waren vollgestopft mit allerlei Hausrat, und die Lackierung des Holzes war durch eine dicke Staubschicht ermattet. Aus einer Ecke erklang das leise Dudeln eines Radios.
»Andrew hat sich wirklich komisch benommen. So kenne ich ihr gar nicht.«
Während sie Harper dabei beobachtete, wie diese die Maschine in Gang brachte, griff Hope nach einer Haarsträhne und zwirbelte diese zwischen ihren Fingern. »Du ... du lebst also hier mit Andrew?«
»Ja!« Harper ließ sich auf einen Stuhl ihr gegenüber fallen. Erst jetzt bemerkte Hope die zierliche Statur und die dunklen Augen des Teenagers, welche sie aufmerksam musterten.
»Ist er dein Dad?«
Bei der Frage lachte Harper laut auf, sodass ihr die schwarzen, langen Haare ins Gesicht fielen. Mit einem letzten Prusten strich sie die Strähnen hinter ihr Ohr. »Nee! Also nicht mein Leiblicher. Er hat mich bei sich aufgenommen, nachdem meine Mutter mich weggegeben hat. Da war ich aber noch ein Baby.«
»Das tut mir leid.«
»Muss es nicht. Meine Mutter war selbst noch ein Kind, als sie mich bekam.«
Ein leises Klicken signalisierte, dass der Kaffee fertig durchgelaufen war. Kurze Zeit später stellte Harper eine Tasse vor Hope auf den Tisch. In ihren eigenen Kaffee rührte sie einen ansehnlichen Löffel voll Zucker und einen noch größeren Schuss Milch.
Nachdenklich beobachtete Hope, wie der Dampf aus dem Becher emporstieg. Noch immer hielt sie den Brief für Andrew unter dem Tisch in den Händen. Das Papier brannte förmlich auf ihren Fingerspitzen. Andrew hatte ihr zwar einen gehörigen Schrecken eingejagt. Aber sie musste mit ihm reden. »Weißt du, wann Andrew wiederkommt?«
Harper zuckte mit den Schultern. »Ne. Ich schätze, er lungert irgendwo im Garten oder auf der Terrasse herum. Das macht er immer gerne, um nachzudenken.« Fragend hielt sie Hope die Schale mit Zucker hin. »Auch was?«
»Also, um ehrlich zu sein: Ich mag gar keinen Kaffee.«
Die Arme vor der Brust verschränkt stand der ungefähr fünfzigjährige Mann auf der Veranda und starrte den Waldrand an, der sich in einigen Metern Entfernung um das Haus zog. Auch wenn sein Bart und seine Haare an einigen Stellen bereits ergraut waren, musste Hope anerkennen, dass sich eine kräftige Statur unter seinem Flanellhemd abzeichnete.
Das Scheppern des Fliegengitters hatte ihr Kommen zwar angekündigt, dennoch zuckte er leicht zusammen, als sie sich ihm näherte. Sie versuchte sich an einem schüchternen Lächeln und trat mit etwas Abstand neben ihn. »Hi.«
Nach der ersten Schrecksekunde wandte er sich ihr ebenfalls mit einem Grinsen zu. »Hi.«
Stille trat ein, während der er sie ansah. Sein Blick verharrte einige Zeit auf ihren Haaren. Mit einem Lachen strich er sich durch seine eigenen. »Ich schätze, dass man unsere Verwandtschaft nicht leugnen kann, oder?«
Sie brachte keine Antwort zustande, sondern starrte ihn mit fragenden Augen an.
»Abigail hat nicht viel über mich oder die Bucht erzählt, nehme ich an?«, deutete Andrew ihre Reaktion richtig.
Hope nickte stumm.
»Dein Dad war mein großer Bruder. Und Abigail ... Abi gehörte schnell zu meinen engsten Freunden, nachdem Logan sie hergebracht hatte. Ich schätze, dass du hier aufgetaucht bist, bedeutet, dass ihr etwas zugestoßen ist?«
Erneut nickte Hope nur, obwohl die Erkenntnis, dass er ihr Onkel war, in ihren Fingerspitzen kribbelte.
»Darf ich fragen, was?«
»Krebs.«
»Sie hat es nicht geschafft?«, murmelte er, während er sie mit traurigen Augen musterte.
Wieder ein Nicken.
Er seufzte und rieb sich mit den Händen übers Gesicht. »Und ich Vollidiot benehme mich so daneben! Es tut mir ehrlich leid! Ich wollte dich nicht erschrecken. Ich freue mich tatsächlich sehr, dass du hier bist und ich dich endlich kennenlernen kann!«
Freundlichkeit blitzte in seinen Blick auf, woraufhin Hope sich etwas entspannte. Seine warmen Augen nahmen ihr die Angst. Dennoch brauchte sie einen tiefen Atemzug, bevor sie ihre Stimme wiederfand. »Entschuldigung angenommen. Ich habe meinen Besuch ja auch nicht angekündigt.«
»Ja, eine Brieftaube wäre schon drin gewesen!« Er zwinkerte ihr zu.
Bei seinem Spruch musste sie lächeln. Dann senkte sie den Kopf und musterte den Umschlag in ihrer Hand.
»Ist der von Abigail?« Andrew war ihrem Blick gefolgt.
»Er hat mich zu dir geführt.« Sie reichte ihm das abgegriffene Dokument.
»Hast du ihn gelesen?«
»Nein. Was auch immer darin steht, wollte sie dir sagen und nicht mir.«
Überrascht zog er seine Augenbrauen hoch und griff nach dem Brief. Er las die Adresse und strich andächtig über Abigails Handschrift. »Du weißt wirklich nichts über uns?«
»Nein.« Sie zögerte. »Ich habe früh gelernt, dass Fragen nach meiner Herkunft Mom immer sehr aufwühlten. Ich habe dann immer Ärger bekommen. Also habe ich irgendwann aufgehört zu fragen. Als ich dann den Umschlag in ihren Unterlagen fand, dachte ich, dass du sie mir vielleicht beantworten kannst.«
»Bestimmt.« Nachdenklich drehte er das Schriftstück in seinen Händen. Dann atmete er durch und steckte den verschlossenen Umschlag in die Tasche seiner Jeans. Anschließend blickte er in den Himmel, an dem nur vereinzelte Wölkchen zu sehen waren.
»Hör zu, Hope. Deine Mom hat dir die Antworten aus gutem Grund verwehrt. In der Vergangenheit ist einiges vorgefallen, sodass gewisse Leute sicher nicht gut auf deine Ankunft reagieren werden. Lass mich bitte erst mit ihnen reden und die Angelegenheit klären.«
Fragend runzelte sie die Stirn und blinzelte unter ihrer Kapuze hervor zu ihm herüber. Mit jemanden über sie reden? Und vor allem, wer würde sich denn an ihrem Auftauchen stören? Sie überlegte. Wenn sie ihm mit zu vielen Fragen auf die Nerven ging, war die Wahrscheinlichkeit groß, dass er sie rauswarf. Und das wollte sie nicht, so sehr seine Begrüßung sie auch erschreckt hatte. Er war ihre einzige Chance, um mehr über ihre Familie herauszufinden. Also nickte sie zustimmend.
Bei ihrer Reaktion seufzte er leise und wandte sich zu ihr um. Er wollte nach ihrer Schulter greifen, hielt dann jedoch inne und blickte ihr stattdessen in die Augen. »Ich weiß, dass das jetzt sehr komisch rüberkommt. Aber du musst mir etwas versprechen. Bitte, es ist überlebenswichtig, dass du vorerst das Haus nicht verlässt. Kein Kontakt zu niemanden außer Harper, Ty und mir.«
Irritiert kräuselt sie die Nase. Sich höflich zu verhalten, um ihn nicht zu verärgern, war eine Sache. Sich in ein fremdes Haus einsperren zu lassen, eine andere. Grimmig schürzte sie die Lippen und funkelte ihren Onkel zwischen ihren Locken hervor an. »Wer ist Ty? Und wieso soll ich das Haus nicht verlassen?«
»Hör zu. Ich werde dir alles in Ruhe erklären. Werde dir jede deiner Fragen beantworten. Aber ich brauche ein wenig Zeit. Und so lange muss ich dich bitten, hier im Haus zu bleiben. Bitte! Es ist wirklich wichtig.«
Sie presste die Lippen aufeinander. Irgendwie ergab das alles keinen Sinn! Und diese Heimlichtuerei ging ihr allmählich auf die Nerven. Aber was blieb ihr anders übrig, wenn sie nicht ihre Sachen nehmen und abhauen wollte? »Ich gebe dir 48 Stunden. Danach will ich Antworten oder ich bin weg!«
Erleichtert grinste er sie an und nickte. Dann hielt er plötzlich inne und sah zum Waldrand hinüber. »Zumindest eine deiner Fragen werde ich dir sofort beantworten können. Ty ist der Sohn eines verstorbenen Freundes und der dritte und letzte Bewohner der Oak Lane. Aber ich denke, dass er sich gleich selbst vorstellt.«
Überrascht folgte Hope Andrews Blick über die verwilderte Wiese. Die Baumkronen verschluckten jedes bisschen Tageslicht und tauchten das Unterholz in Dunkelheit. Doch allmählich zeichnete sich zwischen den Bäumen eine Silhouette ab. Ein junger Mann trat aus dem Wald hervor. Hope schätzte, dass er ungefähr in ihrem Alter sein musste. Barfuß und nur mit einer Jeans bekleidet, sein Shirt in der Hand, steuerte er auf das Haus zu. Breite Schultern, trainierte Arme und ein ansehnliches Sixpack zeichneten seine Statur. Schweiß rann ihm über die gebräunte Haut, und er fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, die ihm in Fransen ins Gesicht fielen. Doch am meisten faszinierte sie sein Lächeln, das sich auf seine Lippen stahl, sobald er am Haus ankam. »Ich wusste nicht, dass wir Besuch erwarten.«
»Ty, ich würde dir gerne meine Nichte Hope vorstellen.«
Tys Augen blitzten erstaunt auf, während er ihr seine Hand hinhielt. »Hey! Freut mich.«
Hope bekam nur ein stummes Grinsen zustande. Wie umwerfend konnten Lachgrübchen sein? Hastig schüttelte sie seine Hand. Ihre Haut kribbelte unter seiner Berührung. Könntest du mit dem dämlichen Grinsen aufhören, Hope? Sie räusperte sich und stopfte ihre Hände zurück in die Taschen ihres Oberteils.»Ja, freut mich auch.«
Verschmitzt zog er einen Mundwinkel nach oben, während er sie mit seinen braunen Augen einen Moment lang musterte. »Willst du länger hierbleiben?«
»Zumindest die nächsten zwei Tage.« Sie zwang sich, ihre Fußspitzen anzustarren. Verdammt! Der Typ brachte sie aus dem Konzept.
»Recht kurz für eine so lange Anreise?«
Fragend runzelte sie die Stirn.
»Einen britischen Akzent hört man hier eher selten. Gefällt mir!« Mit einem Zwinkern grinste er sie an.
Verdammt! Was?
»Du Herzensbrecher! Spar dir etwas von deinem Charme für später auf!« Andrew hieb dem jungen Mann freundschaftlich auf die Schulter.
Dieser versuchte eine verärgerte Miene hinzubekommen, gab sich dann aber glucksend geschlagen. Er verpasste Andrew einen Knuff auf den Oberarm, bevor er sich sein Shirt über die Schulter warf. »Freut mich jedenfalls, dass du hier bist! Aber jetzt sollte ich wohl mal besser duschen gehen.«
Bei seinen Worten wanderte ihr Blick unwillkürlich zu seiner Brust, wo dieser genau für eine Sekunde zu lange von seiner nackten Haut gefesselt wurde. Bei Tys Grinsen begannen ihre Wangen zu glühen. Mit hochrotem Kopf machte sie ihm den Weg frei, das Gesicht hinter ihren Locken versteckt. Der Geruch nach Sägespänen und Schweiß stieg ihr in die Nase, als er nur wenige Zentimeter neben ihr vorbeiging.
Harper war ein sehr lebhaftes Mädchen. Auf dem Weg die Treppe hinauf plapperte sie unentwegt. Hope fiel es schwer, ihren Wortstrom zu folgen.
»Entschuldige das Durcheinander! Wir bekommen echt selten Besuch.« Mit Schwung öffnete Harper die schweren Vorhänge. Das Gästezimmer für Hope befand sich neben den Räumen von Ty und Andrew und einem Bad im oberen Geschoss. Harper hingegen hatte ihr Reich auf dem Dachboden.
Als Hope auf die beiden Fenster zutrat, tanzten Staubkörner im Licht der Sonne um sie herum. Der Raum war nicht sonderlich groß. Ein Bett, ein Schrank und eine Kommode waren alles, was neben Kisten voller Autoteilen, Trainingsgeräten und Elektronik an Einrichtung hier hineinpasste. Aber die Aussicht auf die Hudson Bay entschädigte eindeutig für das Chaos. Über die Wipfel der Fichten hinweg konnte Hope auf das Wasser der Bucht blicken. Wie wenige Stunden zuvor im Bus lief ihr bei diesem Anblick ein angenehmer Schauer über den Rücken. Gebannt starrte sie auf die tanzenden Wogen der Wellen. Sie hatte Andrew zwar versprochen, dass sie das Haus nicht verlassen würde. Aber ein kleiner Abstecher ans Wasser würde nicht so dramatisch sein. Sie würde einen Weg finden, sich unbemerkt davonzustehlen.
Es dauerte eine Weile, bis sie bemerkte, dass Harper hinter ihr damit beschäftigt war, das Zimmer freizuräumen. Hastig griff auch Hope nach einem der vielen Kartons, wodurch sie mehr Staub in die Luft wirbelte.
Mom hätte einen Anfall beim Anblick dieses Hauses bekommen.
Hope musste bei dem Gedanken unwillkürlich grinsen. Sie hatten keine teuren Möbel oder irgendetwas Wertvolles in ihrer Wohnung in London gehabt. Dazu hatten sie nie den Platz, geschweige denn das Geld besessen. Aber ihre Mom war stolz darauf gewesen, dass sie es vor über zwanzig Jahren mit einem Baby und gerade einmal hundert Dollar in der Tasche geschafft hatte, sich ein neues Leben aufzubauen. Als die Erinnerung an das geregte Kinn ihrer Mom aufblitzte, zog sich Hopes Herz schmerzhaft zusammen. Sie vermisste sie. Aber bevor sich eine Träne aus ihrem Augenwinkel lösen konnte, hallten die letzten Worte ihrer Mutter in ihr wider: »Alles wird gut, Liebes!«
Trotzig zog sie die Nase hoch und wischte sich übers Gesicht, bevor sie eine Box vom Boden aufhob.
»Tut mir übrigens leid, dass ich vorhin so unfreundlich zu dir war.« Harpers Stimme holte sie aus ihren Gedanken.
»Schon in Ordnung.«
»Nein, es ist nur ...« Harper blieb mit einem Kleidersack in den Händen mitten im Raum stehen und musterte nachdenklich die Kartons. »Ich bin neuen Leuten immer erst mal skeptisch gegenüber. Andrew bekommt öfters Besuch von Leuten aus dem Dorf oder anderen Orten der Bucht.«
»Und?« Hope blieb in der Tür stehen.
»Wenn einer von denen vor der Tür steht, schickt mich Andrew meistens weg, um irgendwas zu erledigen. Ich glaube, er will mich aus dem Haus haben, damit ich denen nicht über den Weg laufe. Und so ziemlich jedes Mal, wenn ich dann wieder nach Hause komme, herrscht tagelang dicke Luft.«
»Hm, klingt wirklich eigenartig.« Hope begann, an einer ihrer Locken zu nesteln.
Mit einem erschöpften Schnauben stopfte sich Harper den Sack unter den Arm und versuchte ein zaghaftes Lächeln, als sie auf Hope zutrat. »Was ich auf jeden Fall damit sagen wollte: Ich bin echt froh darüber, dass du hier aufgetaucht bist. Ich wusste, dass Andrew irgendwo eine Nichte hat. Aber sonderlich viel hat er nicht erzählt.«
»Na ja, ich schätze, weil er eben auch nur wenig über mich zu erzählen hatte.« Hope zuckte mit den Schultern und erwiderte Harpers Grinsen.
»Du bleibst doch etwas, oder?«
Hope blies ihre Wangen auf und schürzte die Lippen. »Irgendwie scheint das hier so einige zu interessieren.« Sie musste an die Begegnung mit Ty zurückdenken, und sofort schoss ihr die Röte ins Gesicht.
Dies blieb nicht unbemerkt von Harper. »Ty, oder?« Sie zwinkerte ihr verschwörerisch zu, während sie den Kleidersack an Hope vorbei in den Flur warf.
Verlegen strich sich Hope die Haarsträhne, die sie zwischen zwei Finger gezwirbelt hatte, hinters Ohr. »Ich weiß nicht genau, wie lange ich bleibe. Als ich den Brief an Andrew fand, habe ich einfach das Flugticket gebucht. Irgendwie musste ich herkommen und ihn treffen. Ich denke, das hängt auch davon ab, wie lange Andrew mich hier haben will.«
»Da mach dir mal keine Sorgen. Wie du vielleicht schon gemerkt hast, hat Andrew ein Herz für Streuner.« Harpers Grinsen wurde breiter, und das Mädchen trat an Hope heran. Aufgrund des Größenunterschieds musste sie zu ihr hinaufsehen. »Ich freue mich wirklich, dass du da bist!« Mit diesen Worten schlang sie ihre Arme um Hope.
Hope zog ihre Knie ans Kinn und umschlang ihre Beine mit den Armen. Sie saß auf der breiten Fensterbank ihres Zimmers und blickte auf die untergehende Sonne. Eine lauwarme Brise strich durchs geöffnete Fenster hinein.
Sie seufzte und ließ ihren Kopf gegen den Rahmen in ihrem Rücken fallen. Nachdem Harper und sie mit dem Herrichten des Zimmers fertig gewesen waren, hatte es Abendessen gegeben. Andrew konnte ganz passabel kochen. Und so sehr sie sich Antworten auf ihre Fragen wünschte, war sie froh darüber gewesen, dass am Tisch über Belanglosigkeiten gesprochen worden war. Ty und Harper hatten sich geschwisterlich geneckt, und Andrew war wie ein richtiger Dad dazwischen gegangen. Sie lächelte bei dem Gedanken daran, während sie das Salz in der Abendluft erschnupperte. Erneut breitete sich dieses wohlige Gefühl in ihrem Inneren aus.
Die letzten Wochen hatten sich surreal angefühlt. Ihre Mom zu verabschieden, ihre Beerdigung zu organisieren, all die Ungewissheit über ihre eigene Zukunft. Themen, mit denen sie sich im Alter von einundzwanzig Jahren eindeutig nicht hatte befassen wollen.
Sie schloss die Augen und lauschte den Geräuschen des Waldes. Sie war noch nie an einem Ort wie Chesterfield gewesen. Wie konnte sie sich hier so zu Hause, so ... angekommen fühlen? Das Rauschen der Blätter, der Geruch des Holzes im ganzen Haus und das gemeinsame Lachen am Tisch war eigenartig vertraut.
Sie hatte keine Ahnung, was ihre Mutter damals dazu bewegt hatte, die Verbindung zu ihrer Familie abzubrechen. Aber es konnte nichts Gutes gewesen sein, wenn sie sogar einen ganzen Ozean zwischen sich und ihre Vergangenheit hatte bringen wollen. Andrews Reaktion auf ihr Erscheinen und dieses ganze Theater mit dem Verstecken bestätigte ihre Befürchtung. Sie seufzte. Und dennoch hatte ihr Onkel ihr vorm Zubettgehen auf die Schulter geklopft. »Es ist schön, dass du hier bist.«
Ein weiterer Seufzer bahnte sich seinen Weg durch ihre Kehle. Und Ty? Er hatte sie beim Abendessen keine Sekunde aus den Augen gelassen. Heißes Prickeln flammte in ihrem Nacken auf, wenn sie an seine Lachgrübchen dachte.
Mit einem energischen Kopfschütteln versuchte sie, die Gedanken an den jungen Mann zu verscheuchen. Am besten sollte sie ihn sich direkt aus dem Kopf schlagen und jetzt endlich schlafen gehen!
Als sie das Fenster hinter sich schließen wollte, drangen Stimmen von unten zu ihr herauf. Das Gemurmel wurde vom Knarren der Holzdielen begleitet, welche die Veranda hinter dem Haus bedeckten.
»Meinst du, dass sie Probleme machen wird?« Hope erkannte Tys gedämpfte Stimme.
»Ich hoffe nicht. Ich hoffe, dass der alte Mann seinen Groll endlich begraben hat und wenigstens seine Enkelin in Ruhe lässt«, antwortete ihm Andrew.
»Und was, wenn nicht?«
»Dann muss ich Wyatt dazu bringen, dass er den Greis in seine Schranken weist.«
»Und wie willst du das schaffen?« Ty lachte spöttisch auf.
»Das lass mal meine Sorge sein.«
»Dann direkt heute Nacht beim Clan-Treffen?«
»Muss ich wohl oder übel.«
Kapitel 2
Hope saß regungslos auf der Kante ihres Betts. Den Hoodie eng um die Schultern gezogen, wartete sie und lauschte nach auffälligen Geräuschen im Haus. Doch bisher umgab sie die nächtliche Ruhe.
Sie würde ihm folgen. Zwar wollte Andrew, dass sie das Haus nicht verließ. Aber wenn sie die Chance hatte, ihren Großvater zu treffen, dann musste sie die nutzen! Auch wenn er anscheinend ein Problem mit ihr hatte. War es da nicht eh am sinnvollsten, wenn sie das persönlich mit ihm klärte? Sie pustete sich eine Locke aus dem Gesicht.
Ein leises Knarren ließ Hope aus ihren Gedanken schrecken. Die Tür von Andrews Zimmer wurde geöffnet, und kurze Zeit später ächzten die Bodendielen. Sofort strömte Adrenalin durch Hopes Körper. Ihr Herz schlug schneller. Sie stand auf und schlich zur Tür ihres Zimmers. Sobald die Schritte im unteren Geschoss verklungen waren, drückte Hope langsam die Klinke herunter. Sie verzog das Gesicht, als die Scharniere beim Öffnen quietschten. War eigentlich keine einzige Tür in diesem Haus geölt? Sie hielt inne, doch das Geräusch schien nicht bemerkt worden zu sein.
Schnell gelangte sie zur Treppe und die Stufen hinab.
Gerade kam sie unten an, da hörte sie, wie das Fliegengitter zur Veranda leise klapperte. Die Terrasse lag dunkel und verlassen vor ihr. Sie dachte schon, dass sie Andrew verloren hatte. Doch dann konnte sie seine Umrisse im Halbdunkel ausmachen. Ihr Onkel bewegte sich mit großen Schritten auf das angrenzende Waldstück zu.
Zum Glück. Hätte er den Van genommen, wäre es eine kurze Verfolgung geworden. Das Gras raschelte sanft um ihre Beine. Geduckt überquerte sie im Laufschritt die Wiese und betrat nach ihrem Onkel den Wald.
In der Dunkelheit zwischen den Bäumen war Hope für jeden Lichtstrahl des Vollmonds dankbar, der durch die dichten Kronen drang. So konnte sie zumindest Umrisse ausmachen und erkannte in der Ferne, wie Andrew sich zielstrebig seinen Weg durch das Unterholz bahnte.
Ihr Herz klopfte vor Aufregung. Sie zuckte zusammen, wenn Dornensträucher sich in ihrer Kleidung verfingen oder das Laub zu laut unter ihren Schuhen raschelte. Er durfte sie nicht entdecken! Sie presste sich die Hand auf den Mund, um ihren schnellen Atem abzudämpfen. Andrew gab wirklich ein ordentliches Tempo vor.
Plötzlich tauchten vor ihnen im Wald tanzende Lichtpunkte auf. Hope konnte den schummrigen Schein von Fackeln zwischen den Bäumen ausmachen. Sie schienen den Rand einer Lichtung mitten im Wald zu markieren. Hope war so abgelenkt davon, dass sie erst im letzten Moment registrierte, wie Andrew in einiger Entfernung vor ihr stehen blieb. Sie konnte sich hinter dem Stamm eines heruntergefallenen Baumes verstecken.
Ihr Onkel stand wie angewurzelt am Rande des Lichtscheins, den die Fackeln in den Wald warfen. Sein Brustkorb hob und senkte sich unter tiefen Atemzügen. Die Arme zur Seite ausgestreckt ballte er seine Hände zu Fäusten. Dann hob er den Kopf. Mit gerecktem Kinn trat er auf die Lichtung.
Hope verharrte einige Augenblicke in ihrem Versteck. Dann pirschte sie sich an den Rand des Platzes und suchte Schutz hinter einer Eiche. Sie erkannte sofort, dass diese Lichtung nicht auf natürliche Weise entstanden war. Kein Gras oder Moos, sondern nackte Erde bedeckte den Boden, und nicht eine einzige Pflanze wuchs darauf. Unzählige Füße hatten im Laufe der Jahre jegliches Leben von diesem Platz vertrieben.
Aber ein Objekt zog sofort Hopes Aufmerksamkeit auf sich. Scharfen Kanten zeichneten die Umrisse eines Gebildes aus Stein in das kalte Licht des Mondes. Auf einem Podest aus Felsplatten erhob sich bedrohlich eine Ansammlung aus aufgeschichtetem Schiefer. Sie musste erst genauer hinsehen, um die glatt polierte Sitzfläche darin zu erkennen. Dahinter erhoben sich gewaltige Steinplatten wie eine Art Rückenlehne in die Höhe. Das Monstrum wirkte wie ein Thron aus einer vergangenen Zeit.
Bei diesem Anblick erschauderte Hope, und instinktiv presste sie sich enger an den Schutz bietenden Baum vor sich. Nur mit Mühe konnte sie ihren Blick vom Felsen ab- und der Ansammlung von Menschen zuwenden, deren Gemurmel die Lichtung erfüllte. Hope bekam mit, wie Andrew sich zu einer der über den Platz versprengten Gruppen gesellte und die anderen Männer mit Handschlag begrüßte. Seine Schultern wirkten angespannt, und Falten gruben sich tief in seine Stirn. Sie verstand nicht wirklich, was hier vor sich ging. Aber etwas sagte ihr, dass es besser war, wenn sie sich vorerst versteckt hielt.
Mit einem Mal ging ein Raunen durch die versammelten Männer. Auf der gegenüberliegenden Seite machten sie mit gesenkten Köpfen jemandem oder etwas Platz. Hope konnte Bewegungen im Dunkeln des Waldes ausmachen und hielt den Atem an.
Dann sah Hope ihn zum ersten Mal.
Aus dem Schwarz der Nacht schälten sich die Umrisse eines gewaltigen Mannes. Beim Anblick seines breit gebauten Körpers musste Hope schlucken. Mit großen Schritten durchquerte er die Menschenmenge, die ehrfürchtig vor ihm zurückwich. Angriffslustig funkelte er die Anwesenden an, während er die schwarzen Haare in den Nacken warf. In glatten Strähnen flossen sie seinen muskulösen Rücken hinab und lenkten Hopes Blick auf die Tätowierungen, die in dunklen, breiten Linien Großteile seines freien Oberkörpers verzierten. Ein zufriedenes Lächeln stahl sich auf sein Gesicht, als er sich schließlich auf den Thron fallen ließ. Der Stein erzitterte unter seinem Gewicht.
Als der Hüne zum Sprechen ansetzte, keuchte Hope plötzlich auf. Blanke Wut schwappte in ihr hoch. Ihre Kopfhaut kribbelte durch die Hitze, die mit einem Mal durch ihre Adern schoss. Hatten ihre Hände zuvor ruhig auf der Borke des Baumes geruht, so grub sie nun ihre Nägel in die raue Oberfläche. Sie rang nach Luft, denn ein unerklärlicher Hass schnürte ihr die Brust zu. In dem verzweifelten Versuch, sich zu beruhigen, wandte sie den Blick ab. Aber auch das half nicht. Was war das bloß?
Irritiert wischte sie sich den Schweiß aus dem Gesicht, stieß sich vom Baum ab und taumelte einige Schritte nach hinten. Das Tosen in ihren Adern kreischte sie förmlich an. Sterne tanzten vor ihren Augen und nahmen ihr die Sicht. Unter ihrer Haut begann etwas zu vibrieren, etwas Dunkles, geradezu Lauerndes.
Töte ihn! Zornig hallte eine Stimme durch ihren Kopf.
Der Hass darin erschreckte sie. In blinder Panik stolperte sie weiter rückwärts, bis sie gegen etwas stieß und das Gleichgewicht verlor.
Durch den Schleier der Wut registrierte sie, wie sich Arme um sie legten und ihren Sturz abfingen. Instinktiv knurrte sie auf und grub ihre Nägel in den Stoff der Jacke.
»Hey, hey, ich bin’s!« Tys Stimme drang durch den Sturm in ihrem Kopf. Erleichtert schluchzte sie auf. Tränen der Wut und Verzweiflung rannen ihr übers Gesicht. Sie atmete schwer und schlang die Arme um die Brust. Der Hass schien sie fast zu zerreißen.
Tys Gesicht tauchte vor ihr auf. Seine Augen waren geweitet vor Schreck. Aber im selben Moment umgriff er sie fester und hob sie hoch. »Besser, ich bringe dich hier weg.«
Im selben Moment verlor sie den Boden unter den Füßen. Sie klammerte sich an seine Jacke, während er sie hochhob und sich in Bewegung setzte.
Sie bekam nicht mit, in welche Richtung er ging. Doch mit jedem Schritt, den er tat, beruhigte sich das Rasen in ihrer Brust und gab ihre Sinne frei. Das Zittern ließ nach, und sie konnte tief durchatmen. Gierig sog sie die frische Luft in ihre Lunge.
Nach einiger Zeit trat er aus dem Wald an den Kiesstrand der Bucht. Die kleinen Steine knirschten unter seinen Füßen.
Vorsichtig setzte er Hope auf einem der Felsen ab, die versprengt am Strand herumlagen. Er ging vor ihr in die Hocke.
Hope schwirrte der Kopf. Sie hob die Nase in den Wind. Die salzige Luft half ihr dabei, sich zu beruhigen. Was war das gerade gewesen? Was war das für ein Zorn, eine Wut, ein Hass? Töte ihn ... wie absurd! Sie würde doch niemanden töten. Da bemerkte sie Tys besorgten Blick auf ihr. Scheiße! Er wird sicher wissen wollen, was passiert ist. Besser, sie erzählte nichts. Zumal sie selbst nicht wusste, was das gerade war und zum anderen sie nicht einschätzen konnte, wie er auf ein »Ich höre Stimmen in meinem Kopf« reagieren würde.
»Alles in Ordnung?« Ty klang verunsichert, und vorsichtig umschloss er ihre kalten Hände mit seinen Fingern.
Bei seiner Frage stiegen in ihr erneut Tränen in die Augen. Aber sie blinzelte die kleinen Tropfen weg und schluckte. Nein! Sie würde nicht noch einen Heulkrampf vor einem fast völlig Fremden kriegen! Ihre Tränen waren ihr jetzt etwas unangenehm. Sie holte tief Luft, löste ihre Hände aus seinem Griff und stopfte sie in ihre Hosentaschen. »Geht schon«, murmelte sie. »War einfach ein wenig viel in der letzten Zeit. Das mit meiner Mom. Andrew zu treffen ...«
»Kann ich mir denken.« Er seufzte und musterte sie ein letztes Mal.
Als sie ihm jedoch zaghaft zulächelte, erhob er sich und setzte sich neben sie. Er blickte nachdenklich über das unruhige Wasser, auf dem sich das Licht des Mondes spiegelte.
Hope zog ihren Hoodie enger um sich und die Kapuze über ihren Kopf. Sie schob sich einzelne Haarsträhnen hinters Ohr, um ebenfalls auf die Bucht hinauszublicken. »Eigentlich hatte ich vor, mich unbemerkt herzuschleichen«, grummelte sie.
Er lachte leise. »Ich verrate schon nichts.«
Der Wind strich kräftig über die Bucht und überzog ihre Haut mit einer angenehmen Kühle. Seufzend fing sie an, eine Haarsträhne zwischen ihren Fingern zu zwirbeln.
»Das mit deiner Mom tut mir leid«, durchbrach Ty die Stille.
»Danke.«
»Andrew meinte, dass es Krebs war?«
»Ja. Bauchspeicheldrüse. Leider kam die Diagnose viel zu spät. Sie hatte nicht wirklich eine Chance.«
»Scheiße ...«, murmelte er und sah sie an. Mitgefühl lag in seinen Augen.
»Du hast auch deine Familie verloren?«
Bei ihren Worten schnalzte er mit der Zunge und wandte sich wieder dem Wasser zu. Er schwieg einen Moment. »Es war ein Autounfall. Alles war vereist, und der Wagen kam von der Straße ab.«
»Das tut mir leid.«
Er senkte den Kopf und nickte ihr dankbar zu, bevor er auf die Wellen starrte. »Darf ich dich noch was fragen?«
»Klar.«
»Was willst du hier?«
Überrascht ließ sie die Haarsträhne los und setzte sich auf, die Kapuze ins Gesicht gezogen. »Ich weiß so gut wie gar nichts über meine Familie oder meine Herkunft. Meine Mom hat mir nicht viel erzählt. Selbst auf dem Sterbebett nicht.«
»Ist es denn so wichtig zu wissen, woher man kommt?«
»Ist diese Frage nicht ein wenig herablassend?«
Mit gerunzelter Stirn blickte er sie an.
»Du weißt, woher du kommst. Du bist in dieser Gemeinschaft und in einer Familie aufgewachsen. Für mich hat sich nie auch nur die Chance auf so etwas geboten. Bisher gab es nur meine Mom. Und das war auch irgendwie gut. Aber jetzt bin ich allein. Ist es nicht nachvollziehbar, dass ich zumindest verstehen will, warum ich keinen Kontakt zu meinen Verwandten habe?«
Er zog überrascht seine Augenbrauen hoch und musterte Hope nachdenklich. Bei seinem Blick und der eintretenden Stille schoss ihr die Röte ins Gesicht, und sie vergrub ihre Hände tiefer in ihren Hosentaschen.
Doch dann nickte Ty. »Sorry. Ich habe nicht nachgedacht.«
Hope lächelte ihm schüchtern zu. »Entschuldigung angenommen. Aber jetzt darf ich dir eine Frage stellen. Was war das eben auf der Lichtung?«
Ty zog die Luft zwischen die Zähne und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Vielleicht solltest du das lieber Andrew fragen.«
»Ich frage aber dich.«
Er musterte sie mit einem Seitenblick. Dann seufzte er ergeben. »Na schön.« Er beugte sich nach vorn und stützte seine Ellenbogen auf den Knien ab. »In der Bay gibt es drei große Gemeinschaften, sogenannte Clans. Den Clark-Clan im Süden, uns Tremblays im Norden und dazwischen die Turners. Ihr Ursprung liegt in drei alten Blutlinien, also Familienstammbäumen. Mein Vater meinte einmal, dass die sogar einen indigenen Ursprung haben.« Sein Blick wanderte über den Landstrich der Bucht, der sich in einem weiten Bogen zu ihrer Rechten landeinwärts zog.
»Um Streitigkeiten zwischen den Gruppen zu vermeiden, gibt es das Clan-Treffen. Mindestens einmal im Monat treffen sich die Männer der Familien und beraten über Anliegen der Bucht. Früher wurde dieses Treffen von den drei Familienoberhäuptern der jeweiligen Clans geleitet. Alle wichtigen Entscheidungen wurden von ihnen gemeinsam getroffen.«
»Früher?«
»Vor Wyatt.« Frustriert schnaubte Ty auf. Er presste die Lippen aufeinander, und seine Augen glänzten vor Wut. »Seit meiner Kindheit gibt es den Rat aus den Familienoberhäuptern nicht mehr. Wyatt hat die Führung über die Clans übernommen.«
»War er der Mann mit den Tätowierungen auf dem Rücken?« Flammen der Wut züngelten in Hopes Brust empor, als ihr das Bild dieses Hünen durch den Kopf schoss.
»Wyatt ist kein guter Mensch. Er gibt zwar vor, dass er die Clans geeint hat. Aber so fühlt es sich nicht an. Zwischen uns herrscht so viel Streit.«
»Du meinst, wie das mit meinem Großvater?«
»Wie ...?«
»Mein Fenster ist genau über der Veranda.«