Freiheit oder Tod - Sophie Wahnich - E-Book

Freiheit oder Tod E-Book

Sophie Wahnich

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Beschreibung

Über den Verlauf und die Konsequenzen der Französischen Revolution scheint heute Einigkeit zu bestehen: Die Ausrufung der Menschenrechte wird gefeiert, Gewalt und Terror gelten hingegen als extremistische Entgleisungen, die uns heute in den Feinden der Demokratie wieder begegnen und unsere offene Gesellschaft bedrohen. Die renommierte Revolutionshistorikerin Sophie Wahnich wirft einen prüfenden Blick auf die Geschehnisse nach 1789 und erschüttert damit unser heutiges demokratisches Selbstverständnis: Der Terror muss als authentischer Ausdruck des Volkswillens begriffen werden, revolutionärer Terror und Terrorismus lassen sich nicht gleichsetzen, womit klar wird: Unsere Demokratie ist aus Gewalt geboren. In einem aktuellen Nachwort, entstanden anlässlich der Attentate von Paris, klärt Wahnich die Frage, worin sich der demokratische Terror vom islamistischen unterscheidet. Hinweis: Slavoj Žižeks Vorwort ist in dieser eBook-Fassung nicht enthalten.

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Sophie Wahnich

Freiheit oder Tod

Über Terror und Terrorismus

Mit einem Nachwort der Autorin anlässlich der Anschläge in Paris

Aus dem Französischen und dem Englischen von Felix Kurz

Fröhliche Wissenschaft 089

Für Lorenzo und Julia

Ich will niemals vergessen, dass man mich gezwungen hat – für wie lange Zeit? – ein Ungeheuer an Gerechtigkeit und Unduldsamkeit zu werden, einer, der blind vereinfacht, ein arktisches Wesen, gleichgültig gegenüber jenen, die nicht für ihn sind, um die Höllenhunde zu schlagen.[1]

René Char

Inhalt

Einleitung

Eine unerträgliche Revolution?

Argumente der Anklage

Die Furcht bannen: Neue Fragen über den Terror

I. Die Emotionen hinter der Forderung nach dem Terror

Die Quellen des Sakralen oder das sublimierte Entsetzen

Die Nationalversammlung muss die souveränen Emotionen des Volkes übersetzen

II. Die Septembermassaker

Die Durchtrennung des heiligen Bandes zwischen Volk und Nationalversammlung

Eine souveräne Vergeltung

Das natürliche und das politische Menschheitsempfinden

III. Die Schreckensherrschaft als langer Zyklus der Vergeltung: Für eine Neuinterpretation der Gesetze über den Terror

»Seien wir schrecklich, damit das Volk es nicht sein muss«

Vom Gesetz über die Verdächtigen zur Reorganisation des Revolutionstribunals

Werte als Prüfsteine

IV. Über das Volk und das Volkstümliche

Worin besteht die revolutionäre Gleichheit?

Thermidor

Schluss: Terror und Terrorismus

Nachbildwirkung und Sehstörung

Eine andere politische Sakralität

Nachwort: Die Gegenwart des Terrors

Geschichtswissenschaftliche Sackgassen: Die revolutionäre politische Gewalt in der Historiografie der Französischen Revolution

Das Ende der Geschichte ist definitiv beendet – auch hier

Schauplätze einer kriegerischen Gewalt

Momentaufnahmen der Demonstrationen

Zusätzliche Anmerkungen nach dem 13. November

Danksagung

Anmerkungen

Einleitung

Eine unerträgliche Revolution?

In Éric Rohmers Film Die Lady und der Herzog (2001) sieht man die Französische Revolution aus der Perspektive von Grace Elliott, einer Freundin und ehemaligen Geliebten des Herzogs von Orléans. Bevor sie im Zuge der Schreckensherrschaft selbst in Haft gerät, wird Elliott Zeugin zweier Ereignisse, die zum Bild einer fanatischen Revolution beigetragen haben: der Septembermassaker von 1792 und der Hinrichtung des Königs. Während der Massaker fährt Elliott in einer Kutsche durch Paris. Als der Kopf der Fürstin von Lamballe – ein bekanntes Gesicht – auf einer Pike vor ihren Wagen gehalten wird, gelingt es ihr noch, nicht in Ohnmacht zu fallen, doch in ihrem Domizil angekommen bricht sie bei der Schilderung dieser Szene vor Entsetzen in Tränen aus. Mit Blick auf den König hofft Elliott noch bis zum 21. Januar 1793, man werde es nicht wagen, ihn zu töten, und deutet die bis zu ihrer Residenz in Meudon dringenden Rufe der Menge als Protest gegen seine angekündigte Exekution. Elliott legt Trauer an und vermag ihre Verbitterung über den Herzog von Orléans, der nicht nur nichts gegen die Hinrichtung unternommen, sondern namentlich für sie gestimmt hat, nicht zu überwinden. Die revolutionäre Gewalt erfasst die Körper, sei es durch die Septembermassaker, die außerhalb jeder Institution stattfinden, oder im völlig neuartigen Rahmen eines Prozesses gegen den König. Elliotts Reaktionen entspringen zugleich der Empfindsamkeit und der Moral: Ihre Furcht, Wut und Trauer drücken ein emotionales und normatives Urteil aus. Man darf vermuten, dass sie beide Ereignisse als »unerträglich« wahrnahm.

Elliott hielt ihre Sichtweise, die sich mit der eines Burke oder Taine deckt, in ihren nach den Ereignissen verfassten und erstmals 1859 veröffentlichten Memoiren fest. Durch Rohmers Historienfilm ist sie aber auch zu einer heutigen Perspektive auf die Französische Revolution geworden. Auch wenn nicht behauptet werden kann, dass sie vorherrschend wäre – die Französische Revolution wird sicher nicht von all ihren Erben verabscheut –, ist festzuhalten, dass die Rezeption des Films, wie sich bereits vor seinem Kinostart im September 2001 abzeichnete, nicht nur aufgrund der innovativen Ästhetik, sondern auch wegen seines ideologischen Blickwinkels ausgesprochen lobend ausgefallen ist. Marc Fumaroli erklärte ihn in den Cahiers du cinéma vom Juli 2011 zu einem Schlüsselfilm über »die blutigsten und umstrittensten Stunden unserer Geschichte«[1] und zog eine Parallele zwischen den Gefängnissen während der Schreckensherrschaft und den nationalsozialistischen Vernichtungslagern:

Als sie [Elliott, S. W.] im Gefängnis Herzoginnen, Gräfinnen, Waschfrauen und Kammerzofen begegnet, die nur aufgrund ihrer Geburt oder ihrer Loyalität allesamt der Hinrichtung geweiht sind, ist sie beinahe froh, ihr Schicksal zu teilen, so wie es ein »Goj« aus der Résistance vielleicht 1942/43 im Durchgangslager Drancy gewesen wäre.[2]

Diese Parallele ist zentral für die Begründung einer neuen, »empfindsamen« Rezeption der Französischen Revolution: Der Abscheu vor den politischen Verbrechen des 20. Jahrhunderts nötigt zu Abscheu vor dem revolutionären Ereignis. Die Französische Revolution war unsäglich, weil sie »die Matrix des Totalitarismus« und seine Sprache geschaffen hat.[3]

Die sozialen und ideologischen Spaltungslinien, die das Ereignis selbst durchzogen, haben seit jeher auch seine Darstellungen verfolgt. Es gab immer konterrevolutionäre Sichtweisen auf die Revolution, und als solche wurden sie auch verstanden. Was heute hingegen erstaunt, ist, dass sie als ganz selbstverständlich durchgehen und, wie Éric Rohmers Film, von Kritikern wie Publikum als historisch adäquat betrachtet werden. Nicht mehr die Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Perspektiven auf ein schwierig zu interpretierendes Ereignis scheint heute zeitgemäß, sondern ein Abscheu, der keiner Begründung bedarf. Da die Französische Revolution auch jene Phase umfasste, die die Briten reign of terror und die Franzosen la Terreur nennen, ist es nicht nur unmöglich, sie in Gänze zu retten – sie lässt sich sogar in Gänze verwerfen. Sie gilt heute als eine Gestalt des politisch Unerträglichen, zu der sie 1795 schon einmal geworden war.

Doch beruht dieser Abscheu, diese Zurückweisung immer auf einer reflektierten, kritischen Position? Eine kleine Anekdote weckt Zweifel daran. An der Sorbonne, die früher als Hochburg der jakobinerfreundlichen Historiker galt, trat Michel Vovelle 1985 die Nachfolge von Albert Soboul an. Im Jahr darauf schlug er Magisterstudenten vor, am 21. Januar ein »Kalbskopfessen« zu veranstalten. Dabei handelt es sich um einen republikanischen Brauch, bei dem der Kalbskopf den Kopf des Königs symbolisiert: Das Volk versammelt sich zu einem Festmahl, um in karnevalesker Manier den Tod des Königs nachzuspielen. Vovelles Vorschlag wurde mit Eiseskälte begegnet. Auf den Großteil der Studenten, die immerhin den Studiengang zur Geschichte der Revolution belegten, wirkte er unanständig; auf das vergnügte Kichern ihres Professors antworteten sie mit betretenem, ungläubigem Schweigen. Das Kalbskopfritual schien nicht mehr zeitgemäß, ohne dass man es überhaupt in Ruhe durchdacht hätte. Man konnte die Enthauptung des Königs schlichtweg nicht mehr nachspielen – der Gedanke daran löste Irritation, ja Ekel aus. Dieses gemeinsame Festessen gehörte meines Erachtens zum »obligatorischen Ausdruck der Gefühle«.[4] Tatsächlich »ist eine beträchtliche Kategorie oraler Äußerungen von Gefühlen oder Emotionen […] rein kollektiver Natur«, wobei

dieser kollektive Charakter in keiner Weise der Intensität der Gefühle abträglich ist, ganz im Gegenteil. […] Doch alle diese kollektiven, simultanen Ausdrucksformen, die moralischen Wert und obligatorische Kraft haben, sind mehr als bloße Äußerungen der Gefühle des Individuums und der Gruppe […], wenn man sie sagen muß, so deshalb, weil die ganze Gruppe sie versteht.

Man äußert seine Gefühle also nicht nur, man äußert sie an die Adresse der anderen, da man sie ihnen äußern muß. Man äußert sie sich selbst, indem man sie den anderen und für die anderen zum Ausdruck bringt.

Es ist im wesentlichen eine Symbolik.[5]

Die kollektive republikanische Symbolik löste sich in den Achtziger- und Neunzigerjahren des 20. Jahrhunderts jedoch auf. Anlässlich der Feierlichkeiten zum 200. Jahrestag der Revolution kehrte die Frage der revolutionären Gewalt wieder und erschütterte einige Gewissheiten, die sich seit der Befreiung von 1944/45 erneut aufgedrängt hatten. Bislang hatten sich die Franzosen des revolutionären Ereignisses nicht schämen müssen – sie sollten vielmehr stolz sein auf die Erfindung der Republik, dem Gegenmodell zum Vichy-Regime, und vor allem stolz auf die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, die bei der Neubegründung des Völkerrechts nach dem Zweiten Weltkrieg und mit der berühmten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 wieder Geltung erlangt hatte. Während der Zweihundertjahrfeier jedoch wurden 1789 und 1793 auseinandergerissen, der Kampf gegen das Ancien Régime von der Erfindung der Republik abgelöst, die Spreu vom Weizen getrennt. 1789 wurde gefeiert, 1792 hingegen – das Jahr des Sturzes der Monarchie und der republikanischen Erneuerung – verblieb im Schatten von Valmy. Mit Blick auf 1793 zog man es vor, seine »schönen Vorgriffe« mit denen von 1789 zu verschmelzen. Die Abschaffung der Sklaverei sowie das Recht auf Bildung und öffentliche Unterstützung wurden ihres Kontextes entkleidet, der Zusammenhang dieser unbestreitbaren Werte mit der Schreckensherrschaft nicht untersucht. Offenbar behagen der französischen Demokratie ihre Fundamente nicht. »Heute, da die Demokratie zum einzigen Horizont der Gesellschaften wird, wäre es fatal, den Blick nur auf ihren Gründungsmoment – 1789 – zu richten und die dunklen Tage von 1793 auszusparen«, erklärt Patrice Gueniffey, einer der heute führenden Kritiker der Revolution, und fragt weiter: »Wer würde es heute wagen, den Terror so freimütig zu feiern wie Albert Mathiez, der ihn 1922 als den ›roten Schmelztiegel‹ beschrieb, in dem ›aus den Trümmern all dessen, was die alte Ordnung getragen hatte, die zukünftige Demokratie Gestalt annahm‹?«[6] Aus dieser eine Weile nach der Zweihundertjahrfeier formulierten Perspektive, die aber durchaus in ihrem Geist war, darf die Demokratie mit jenem »roten Schmelztiegel« nichts mehr zu schaffen haben. Die Möglichkeiten, sich das Ereignis zu eigen zu machen, sind heute beschränkt durch die Sensibilität gegenüber dem Blutvergießen, gegenüber der Entscheidung, aus politischen Gründen zu töten und die Verantwortung dafür zu übernehmen.

Durch das Heraufbeschwören des Blutvergießens wird der Wert des revolutionären Ereignisses in Zweifel gezogen. Fragen, die man zuvor nur von hartgesottenen Monarchisten erwartet hätte, sind auf Titelblättern von Zeitschriften und in großen Fernsehproduktionen gestellt worden. »Musste man den König töten?«, fragte le Nouvel Observateur 1993. »Hätten Sie, die heutigen französischen Zuschauer, entschieden, die Königin zu töten?«, wollte Robert Hossein am Schluss seiner Sendung über Marie-Antoinette wissen. Als Symptome sind diese Fragen durchaus aufschlussreich.

Indem sie der nachträglichen Beurteilung von Ereignissen, die zweihundert Jahre zurückliegen, ein Kant’sches Sollen zugrunde legen, machen solche Fragen die heute lebenden Menschen zu Beteiligten an der historischen Situation des Jahres 1793. Die Befragten sollen den Platz der Abgeordneten einnehmen, die über solche Fragen tatsächlich zu entscheiden hatten, der Zeitgenossen des Ereignisses, die darüber debattieren mussten, um eine politische Position zu finden. Auf diese Weise wird eine Ordnung der Geschichtlichkeit erfunden, die man als Ineinanderschieben von Gegenwarten oder Situationen bezeichnen könnte. Die Leser sind nicht länger bloße Erben eines Ereignisses, zu dessen Protagonisten sie nicht gehörten. Wenn sie wirklich seine Erben sein wollen, müssen sie an ihm teilhaben. Anders formuliert: Alle Erben der Gründung der Republik können moralisch in die Kategorie der Königsmörder eingeschlossen werden, ja in die von »blutrünstigen Männern«, wie die Thermidorianer es nannten. Wer würde heute, selbst als Republikaner, eine solche Bezeichnung akzeptieren? Kant schrieb über die Französische Revolution bekanntlich:

Die Revolution eines geistreichen Volks, die wir in unseren Tagen haben vor sich gehen sehen, mag gelingen oder scheitern; sie mag mit Elend und Greueltaten dermaßen angefüllt sein, daß ein wohldenkender Mensch sie, wenn er sie, zum zweitenmale unternehmend, glücklich auszuführen hoffen könnte, doch das Experiment auf solche Kosten zu machen nie beschließen würde – diese Revolution, sage ich, findet doch in den Gemütern aller Zuschauer (die nicht selbst in diesem Spiele mit verwickelt sind) eine Teilnehmung dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasm grenzt, und deren Äußerung selbst mit Gefahr verbunden war, die also keine andere als eine moralische Anlage im Menschengeschlecht zur Ursache haben kann.[7]

Die moralische Rückprojektion auf die Französische Revolution hat jedoch zur Folge, dass die Position des unbeteiligten Zuschauers unmöglich wird. Robert Hosseins Inszenierung benötigt den Auftritt des Akteurs im doppelten, sowohl theatralischem wie historischem Sinne des Wortes. Auch hier dürfen die Zuschauer nicht Zuschauer bleiben, sondern müssen de facto Akteure werden, indem sie für oder gegen den Tod von Marie-Antoinette stimmen und so das Schauspiel einer Volksbefragung aufführen, das ein Wesensmerkmal des Ereignisses leugnet: seine Unwiderruflichkeit.

»Der Vorschlag, Ludwig XVI. den Prozess zu machen, ist ein konterrevolutionärer Gedanke, es würde bedeuten, die Revolution selbst zu einem Rechtsstreit zu machen«, hatte Robespierre erklärt.[8] Wenn heute dem Prozess der Prozess gemacht wird, dann wird dieser Rechtsstreit neu eröffnet: Statt der Fähigkeit zu begreifen soll erklärtermaßen die des Verurteilens zum Zuge kommen. Ein solches moralisches Dispositiv stellt sich dem Interesse an historischer Erkenntnis in den Weg. Es wird gar nicht mehr versucht, den Sinn des Todes jenes Mannes zu ergründen, den Saint-Just als einen »Fremden« gegenüber dem Gemeinwesen und der Menschheit bezeichnet hatte. Es wird auch nicht mehr versucht herauszufinden, wie ein solches Ereignis zur Begründung einer neuen Souveränität beitrug. Die Frage ist von vornherein entschieden. Was hier vorgeführt werden soll, ist eine Gestalt des Bösen in der Geschichte, die Unfähigkeit, politische Konflikte friedlich, das heißt ohne körperliche Gewalt und Töten zu regeln. Ein glücklicher Erbe der Französischen Revolution zu sein wird gleichbedeutend mit einer Mitschuld an einem geschichtlichen Verbrechen. So wird zugunsten einer moralischen Fragestellung der Charakter des Ereignisses als eines politischen Laboratoriums ausgelöscht. Die wissenschaftliche, im historistischen Sinne des Wortes geschichtliche Debatte wird zu einer verbotenen Zone. In der immerwährenden Gegenwart dieser moralischen Verurteilung herrschen Dekontextualisierung und die Naturalisierung eines Gefühls von Menschlichkeit.

Diese Neuaufführung des Ereignisses im Modus einer moralischen und normativen, empfindsamen und emotionalen Verurteilung, im Rahmen einer Ästhetisierung, lässt die Revolution selbst denjenigen als unerträglich erscheinen, die der klassischen politischen Soziologie zufolge eigentlich nicht zu ihren Gegnern zählen dürften. In Frankreich stößt die Revolution heute nicht nur auf der Rechten, sondern auch auf der Linken, unter den Erben von Jean Jaurès, auf Ablehnung.

Argumente der Anklage

Der neue Abscheu vor der Französischen Revolution ist untrennbar damit verbunden, dass eine Parallele zur Geschichte der politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts konstruiert und zugleich das heutige demokratische Modell idealisiert wird. Während die heutige Demokratie das Individuum schützt, schützte die Revolution das souveräne Volk als politische und soziale Gruppe; während sie zwischen dem Volk und seiner Vertretung mit dem Verfassungsgericht eine dritte Schlichtungsinstanz einrichtet, gab die Revolution alle Macht der Nationalversammlung; während sie von einem demokratischen Konflikt ausgeht, der auf einer Politik des Kompromisses, der Annäherung und Abwägung basiert, träumte die Revolution von einer absoluten, auf Prinzipien gegründeten Politik, die illusorisch und utopisch war; während die demokratische Justiz ein an das positive Recht gebundenes Strafrecht umfasst, war die revolutionäre Justiz politisch: Sie beruhte auf gesellschaftlicher Rache und dem Idealismus des Naturrechts. Die Liste solcher Gegensätze, die die Gegner des revolutionären politischen Modells präsentieren, ließe sich beliebig fortsetzen.[9]

Abscheu und Idealisierung sind somit die zwei emotionalen Gesichter der Konstruktion einer Revolution, die das Andere der Demokratie darstellen soll. Auf diese Weise lässt sich die Gesamtheit ihrer politischen und gesellschaftlichen Formen mit solchen, die als totalitär klassifiziert werden, im Zuge ein- und derselben Ablehnung vermengen.

Noch deutlicher und radikaler wird diese konfuse Analogie in gewissen neueren philosophischen Analysen bemüht. Giorgio Agamben formuliert es in Homo Sacer folgendermaßen:

Die These von einer innersten Solidarität zwischen Demokratie und Totalitarismus (die wir hier, wenn auch mit aller Vorsicht, aufstellen müssen) ist offensichtlich keine historiographische These […], die der Ausräumung und Einebnung der enormen Unterschiede, die ihre Geschichte und ihre Gegnerschaft kennzeichnen, Vorschub leisten soll. Trotzdem muß auf der historisch-philosophischen Ebene, die ihr eigen ist, an der These entschieden festgehalten werden; denn sie allein erlaubt es, uns angesichts der neuen Realitäten und der unvorhergesehenen Konvergenzen dieses Jahrtausendendes zu orientieren.[10]

Implizit richtet sich diese These gegen die Französische Revolution, die als Gründungsmoment unserer westlichen Demokratien verstanden wird. In Mittel ohne Zweck formuliert Agamben die historiografische Dimension seiner Kritik ausdrücklicher. Über »die Erklärungen der Menschenrechte von 1789 bis heute« heißt es dort:

Dass durch sie der Untertan zum Bürger wird, bedeutet, dass die Geburt – das heißt das bloße natürliche Leben – hier zum ersten Mal der unmittelbare Träger der Souveränität wird […]. Das Geburtsprinzip und das Souveränitätsprinzip […] vereinen sich nun unwiderruflich, um den Grund des neuen Nationalstaats zu bilden.[11]

Noch deutlicher stellt Agamben die historische Parallele zwischen Revolution und Totalitarismus in seinem Text »Was ist ein Volk?« heraus: Als das Volk (im Sinne der Gesamtheit der Staatsbürger)

mit der französischen Revolution der einzige Verwahrer der Souveränität wird, wird das Volk [im Sinne der einfachen Leute] […] zu einer störenden Gegenwart, und Armut und Ausschluss erscheinen zum ersten Mal als ein in jedem Sinne unerträglicher Skandal. […] In dieser Perspektive ist unsere Zeit nichts anderes als der erbitterte und methodisch durchgeführte Versuch, die Spaltung, die das Volk entzweit, dadurch zu schließen, dass das Volk der Ausgeschlossenen radikal eliminiert wird.[12]

Weiß man, dass eine solche Abwesenheit von Spaltungen laut Agamben zum Phantasma eines reinen, homogenen, geeinten Volkes wie in der Weltanschauung Hitlers führt, dann können diese Ausführungen nur befremden. Letztlich entdeckt jener Philosoph wieder die These einer den Totalitarismen und den heutigen Demokratien gemeinsamen theoretischen Matrix, die sich anhand des Gründungsereignisses der Französischen Revolution analysieren lasse. Gemeint ist die Matrix der Biopolitik, die sich Agamben zufolge ins Zentrum der souveränen Macht der revolutionären Periode eingeschrieben hat.

Michel Foucault hatte das Handlungspaar der souveränen Macht – »sterben machen« und »leben lassen« – dem Handlungspaar der »Biopolitik« gegenübergestellt: »leben machen« und »sterben lassen«. Für Foucault setzt eine solche Politik voraus, dass »die Gattung und das Individuum als einfacher lebender Körper zum Einsatz ihrer [der Gesellschaft] politischen Strategie werden«, wie Agamben erläutert; daraus »ergibt sich eine gewisse Animalisierung des Menschen, die durch die ausgeklügeltsten politischen Techniken ins Werk gesetzt wird«, sowie »die Möglichkeit, das Leben sowohl zu schützen wie auch seinen Holocaust zu autorisieren«.[13] An diesem Punkt setzen Agambens Überlegungen ein. Weit davon entfernt, am Gegensatz von Biopolitik und Souveränität festzuhalten, erklärt er, die Praxis der souveränen Ausnahme, »sterben zu machen«, trage ebenso zu einem »biopolitischen Körper« bei wie die von Foucault beschriebenen Praktiken der Biopolitik. Dieser Körper ist somit ein Objekt der Macht, er entspricht dem, was die Griechen zoe nannten: einem animalischen Leben im Gegensatz zum bios, dem politischen oder tatsächlich menschlichen Leben, insoweit dieses in Freiheit stattfindet und von der Idee des Allgemeinwohls geleitet ist. Agamben schreibt, dass »die Ausnahme überall zur Regel wird« und »Recht und Faktum in eine Zone irreduzibler Ununterscheidbarkeit geraten«.[14] Der Ort par excellence, an dem dieser biopolitische Körper hergestellt wird und die Ausnahme das einzige Recht darstellt, ist das Vernichtungslager.

Die Frage nach dem Charakter der Französischen Revolution erscheint bei Agamben in Gestalt der These einer »innersten Solidarität zwischen Demokratie und Totalitarismus«, eines gemeinsamen politischen Fundaments, das zwischen animalischem und politischem Leben nicht mehr unterscheide. Doch ist dies historisch haltbar? Gehörten die Französische Revolution und namentlich die Schreckensherrschaft einer solchen Zone der irreduziblen Ununterscheidbarkeit an? Wenn ja, wie? Und zielten schließlich – eine Frage von fundamentaler Bedeutung – die revolutionären Anstrengungen auf die unbegrenzte Ausweitung dieser Zone, wie etwa mit Blick auf die angeblich uferlosen Verdächtigungen während der Terreur behauptet worden ist, oder im Gegenteil darauf, ihr einen Ort am Rand der politischen Sphäre zuzuweisen?

Diesen biopolitischen Körper, auf den heute verwiesen wird, um die Französische Revolution infrage zu stellen, hatte bereits Hannah Arendt in Über die Revolution scharf kritisiert, auch wenn sie den Begriff Biopolitik noch nicht kennen konnte. Laut Arendt eröffneten die soziale Frage und die Formulierung eines allgemeinen Existenzrechts eine Politik, die die Frage des »Lebens« (Aristoteles’ zoe, Agambens »nacktes Leben«) rechtmäßig anerkannte und so ein System des Mitleids begründete. Indem sie die soziale Ungleichheit zwischen Armen und Reichen denunzierten, zerstörten die Revolutionäre die Möglichkeit von Politik, die für Arendt nicht auf dem Prinzip der Gleichheit, sondern auf dem der Freiheit beruht. Aus Arendts Sicht ist nicht das Leben, sondern die Welt Gegenstand der Politik. Die Freiheit ist eine Realität der Welt, sie entfaltet sich in einem gemeinsamen Raum, in dem sich die Menschen durch Taten und Worte geltend machen; die Menschen sind frei, wenn sie handeln. Für Arendt führte die soziale Frage dazu, dass die Revolution nicht etwa freie Bürger hervorbrachte, sondern Menschen, die im Hinblick auf die materiellen Güter gleich sein sollten und so, nicht anders als unter dem abgelehnten Ancien Régime, auf eine Herde reduziert wurden. Vor dem Hintergrund einer solchen abstrakten Gleichmacherei hatte niemand mehr das Verlangen, handelnd auf die Welt zu wirken; was zählte, war allein das Glücksgefühl, der »schöne Tag (euhēmería) des Lebens«, um Aristoteles’ Wendung aufzugreifen. Anders als die Menschen- und Bürgerrechtserklärung behauptete, hatten die Franzosen nicht den Status von Bürgern erklommen.

Für Arendt ist das Blutvergießen durch die Revolutionäre, die Grausamkeit gegenüber dem politischen Feind, mit dem Auftritt der malheureux, der Unglücklichen, in den Jahren 1793/94 verbunden: »Wo immer man die Tugend aus dem Mitleid abgeleitet hat, haben sich Grausamkeiten ergeben, die es unschwer mit den grausamsten Gewaltherrschaften der Geschichte aufnehmen können.« Sie zitiert die radikalsten der Revolutionäre mit den Worten »Par pitié, par amour pour l’humanité, soyez inhumains!« [»Aus Mitleid, aus Liebe zur Menschheit, müssen wir unmenschlich sein!«], bezeichnet dies als »die furchtbare Sprache des Mitleids« und verweist auf »die geläufige Rationalisierung […], mit der Menschen sich für die Grausamkeiten, die sie im Namen des Mitleids begehen, entschuldigen«: um den kranken Körper zu retten, entfernt der Chirurg mit seinem so grausamen wie heilsamen Messer das Geschwür.[15] Die Französische Revolution wird so zu einem unerträglichen historischen Ereignis, das als Archetyp einer gegen den Körper des Feindes gerichteten Gewalt das heutige Empfinden verletzt; sie bietet das Bild einer außerordentlichen, schier grenzenlosen Grausamkeit, die den Tätern legitim erscheint, weil sie in dem Gefühl handeln, Gutes zu tun.

In der Aversion gegen die Französische Revolution verbindet sich die Ablehnung einer Politik des Mitleids, die politische Ohnmacht erzeugt, mit der Ablehnung einer Politik der Grausamkeit, die mit einer Leidenschaft für die Unglücklichen und der Praxis der souveränen Ausnahme einhergeht. Agamben gelangt zu dem Schluss, »solange keine völlig neue – das heißt nicht mehr auf die exceptio des nackten Lebens gegründete – Politik da ist«, werde »der ›schöne Tag‹ des Lebens […] das politische Bürgerrecht nur über Blut und Tod erlangen oder in der vollkommenen Sinnlosigkeit, zu der es die Spektakel-Gesellschaft verdammt«.[16]

Diese theoretischen Einlassungen sind ein Hinweis darauf, wie die Abneigung gegen die Französische Revolution das gesamte gesellschaftliche und politische Spektrum erfassen konnte. Sie erscheint nicht mehr nur neben der angeblichen Vollkommenheit des heutigen demokratischen Modells verwerflich, sondern auch angesichts dessen, was ihr Erbe – die moderne Souveränität – und der es beseelende Geist – die Idee einer gerechten und glücklichen Gesellschaft – zusammengenommen angeblich hervorbringen: politische Ohnmacht.

Um diese Debatten neu zu eröffnen, muss man in die Archive zurückkehren und das politische und philosophische Projekt der Revolution aus nächster Nähe studieren. Indem wir auf einige Schlüsselmomente der revolutionären Dynamik zurückkommen, können wir die politische und historische Beziehung zwischen Freiheit, Souveränität und Gleichheit in ein neues Licht rücken und eine andere Interpretation vorschlagen.

Die Furcht bannen: Neue Fragen über den Terror

»Was ist es, das die Menschen so bewegte, daß sie ihresgleichen töteten – nicht als sittenloses und gedankenloses Tun einer halbtierischen Barbarei, die es nicht besser wußte und niederen Instinkten folgte, sondern als kulturgestaltender Erkenntnisdrang […]?«[17] Auch wenn diese Frage formuliert wurde, um das Mysterium von Opferritualen zu lüften, ist es verlockend, sie auf die Zeit der Schreckensherrschaft zu beziehen.

Dieser explizit anthropologische Ansatz erlaubt es nämlich, zu einer a priori