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Low Carb, No Carb - das Ansehen von Kohlenhydraten hat in den letzten Jahren sehr gelitten. Gelten Sie doch als Krank- und Dickmacher schlechthin. Völlig zu unrecht, wie Journalist und Ernährungsexperte Golo Willand anhand aktueller Studien wissenschaftlich belegt. Mehr noch: Er entlarvt die häufigsten Lügen der Kohlenhydrate-Gegner und zeigt, welche gravierenden Folgen der vermeintlich gesunde Verzicht auf diesen überlebenswichtigen Bestandteil unserer Nahrung tatsächlich hat. "Smart Carb" lautet daher die Devise: Durch die richtige Auswahl, Kombination und Zubereitung werden Kohlenhydrate zu einer Top-Energiequelle für jeden Tag!
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Seitenzahl: 278
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© eBook: 2022 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München
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Projektleitung: Nadine Widl
Lektorat: Martin Kulik
Bildredaktion: Simone Hoffmann
Covergestaltung: Sabine Krohberger, ki36, München
eBook-Herstellung: Lea Stroetmann
ISBN 978-3-8338-8433-7
1. Auflage 2022
Bildnachweis
Coverabbildung: Adobe Stock
Fotos: Himmelreich Fotografie (Autorenporträt)
Syndication: www.seasons.agency
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Die Gedanken, Methoden und Anregungen in diesem Buch stellen die Meinung bzw. Erfahrung des Verfassers dar. Sie wurden vom Autor nach bestem Wissen erstellt und mit größtmöglicher Sorgfalt geprüft. Sie bieten jedoch keinen Ersatz für persönlichen kompetenten medizinischen Rat. Jede Leserin, jeder Leser ist für das eigene Tun und Lassen auch weiterhin selbst verantwortlich. Weder Autor noch Verlag können für eventuelle Nachteile oder Schäden, die aus den im Buch gegebenen praktischen Hinweisen resultieren, eine Haftung übernehmen.
Kohlenhydrate haben einen schlechten Ruf – doch den verdienen sie nicht!
In diesem Buch erfahren Sie …
… wieso ohne Carbs unsere Entwicklung zum modernen Menschen unmöglich gewesen wäre.
… warum unser Gehirn ohne Carbs nicht auf Hochtouren laufen kann.
… inwiefern Low Carb, Keto und Co. falschliegen.
… warum Vollkorn nicht immer besser ist.
… wie Sie mit der richtigen Vor- und Zubereitung das Beste aus den Carbs herausholen.
Brechen wir ein Stück frisch gebackenes Brot, strömt uns seine Verführungskraft entgegen. Eine Sehnsucht trifft hier auf das Versprechen nach Erfüllung.
Die Tradition des Brotbrechens ist im Nahen Osten, wo der Getreideanbau seinen Anfang nahm, weit älter als die abrahamitischen Religionen. Hierbei wird geteilt, was die Gemeinschaft am Leben hält. Es ist die Grundlage für die Selbsterhaltung, die nun jedem zuteilwird. Nichts anderem widmeten Kulturen so viel Aufmerksamkeit und Mühsal wie dem Getreide: dem Anbau und der Ernte wie auch der intensiven Verarbeitung und Zubereitung.
Diese Aufgabe stiftete Gemeinschaft, Zusammengehörigkeitsgefühl und sogar Lebenssinn. Die Laoten verstehen sich bis heute als Kinder vom klebrigen Reis. Reisanbau mit dem dafür notwendigen Bewässerungssystem erzwingt nicht nur schier endlose Stunden im Feld, sondern auch Kooperation. Die Klebrigkeit des Reises symbolisiert den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Kohlenhydratreiche Naturgeschenke verbanden die Menschen besonders eng mit ihrer Umwelt. Sie mussten die Natur »lesen lernen«, um zu ihren täglichen Portionen Brot, Reis, Hafer- oder Hirsebrei zu kommen. Die Pflanzen kennen, ihre Reife wahrnehmen, die Jahreszeiten bestimmen, Wetterveränderungen erahnen. Nur so konnten Gemeinschaften gut wachsen und gedeihen.
Mit einem Stück Brot in der Hand verbinden wir uns also mit unserer Urgeschichte. Hier liegt die über Jahrtausende entwickelte Antwort auf die Herausforderung, den Hunger der Menschen zu stillen.
Doch Getreidekörner, eigentlich hochgezüchtete Grassamen, sind noch lange keine Nahrung für den Menschen. Zu der werden sie erst durch Verarbeitung und Zubereitung. Frisch geerntet sind sie wenig nahrhaft und sogar gespickt mit Stoffen, die eine gesunde Verdauung stören. So wurden Carb-Verarbeitungsverfahren zum schlagenden Herz der menschlichen Kulturen.
Die Lebensmittelhistorikerin Rachel Laudan schreibt: »Rund um die Welt waren die Getreideküchen von einer ähnlichen kulinarischen Philosophie legitimiert, mit drei Grundannahmen. Ein Opfer-Tauschhandel zwischen den Göttern, die das Getreide gaben und das Kochen lehrten, sowie den Menschen, die den Göttern dafür Opfer (Essen) darbringen mussten.«
Damit war kulturübergreifend nicht nur das Getreide heilig, sondern auch die den einzelnen Sorten und Arten spezifischen Koch- und Verarbeitungstechniken. Allzu gerne hätten andernfalls viele Menschen mit dem Gedanken gespielt, sich die aus heutiger Sicht unvorstellbare Mühsal der Verarbeitung zu sparen, Stampfer und Reibstein in den nächsten Bach zu werfen – und den Kochtopf vielleicht noch hinterher. Doch da hier am Heiligen gedient und gearbeitet wurde, gab es kein Entrinnen.
Das wandelte sich erst mit der industriellen Verarbeitung von Nahrungsmitteln. Plötzlich zählte das tradierte Wissen nicht mehr. Wer an alten Techniken festhalten wollte, lief Gefahr, belächelt zu werden. Mit dem Aufstieg der Wissenschaft, dem Glauben an diese, waren die alten Götzen gestürzt. Die Errungenschaften des technischen Fortschritts waren nun das, wozu man aufschaute. So entstand eine Lebensmittelindustrie, die ihre Produkte auf kostengünstig und bequem trimmte, die Frischeprodukte durch länger konservierbare Produktversionen ersetzte.
Angesichts der vielen mühseligen Stunden am Tag in der Getreideverarbeitung fiel der Widerstand gegen die Verlockung des Fortschritts schwer. Wir können uns heute kaum vorstellen, welche Erleichterung es darstellte, das Mehl oder die Grütze nun im Laden zu günstigem Preis aus dem Regal nehmen zu können.
Aber hier wurden nicht traditionelle Verarbeitungstechniken von Maschinen übernommen, die den Menschen all die Kraft und die viele Zeit einsparten. Es passierte viel mehr: Die Getreide wurden grundlegend anders verarbeitet und die Endprodukte unterschieden sich oft deutlich von den in Handarbeit oder auch mit Wind-, Wasser- oder Ochsenkraft hergestellten Produkten.
Die Menschen vergaßen das zweite göttliche Geschenk – die Kochtechniken – zu ehren. Bestärkt von dem Glauben in der Wissenschaft, Wesentliches über die Nahrung bereits verstanden zu haben, konnte die Lebensmittelindustrie weiter selbstgewiss vorgehen und ihren Eroberungszug um den Globus fortsetzen.
In direkter Folge der modernen Getreideverarbeitung erkrankten in Asien, aber auch den Südstaaten der USA Millionen von Menschen, Hunderttausende starben. In anderen Teilen der Welt sorgte zunehmender Wohlstand stattdessen dafür, dass Menschen sich eine abwechslungsreiche Ernährung leisten konnten und so die Nährstoffverluste der verarmten Getreideprodukte zumindest teilweise ausgleichen konnten.
Von Anfang an begleitete heftige Kritik die Weißmehlkonserve, die nun das traditionell als Frischeprodukt verstandene Mehl ablöste. Bald wurden Vorwürfe laut, die bis heute anhalten – etwa dass Weißmehl die Entstehung von Zivilisationskrankheiten wie Diabetes begünstigt. Nun sind aber zeitnahe Folgen für die Gesundheit viel leichter nachweisbar als solche, die sich wie Diabetes über Jahrzehnte entwickeln. So war es lange Zeit leicht, Kritik an diesem »Fortschritt« als Spleen der entstehenden Naturkost- und Naturheilkundebewegung abzutun.
Doch es geht um weit mehr als um verlorene Vitamine, die dem Glauben nach anderweitig ergänzt werden können. Denn das ist nur ein Teil dessen, was sich durch die moderne Verarbeitung und Zubereitung an unserem Grundnahrungsmittel verändert hat. Viele Aspekte finden bis heute kaum Beachtung – wie etwa der verschlechterte Aufschluss, die Bioverfügbarkeit der Inhaltsstoffe oder der Abbau von natürlicherweise enthaltenen Verdauungshemmern.
Mit unseren Carbs stimmt heute vieles nicht. Beim Superraffinat der Industrie, dem Haushaltszucker, ist das am offensichtlichsten und schon vielfach besprochen. Was wenigen bewusst ist: Brot ist heute etwas ganz anderes als vor 200 Jahren. Das gilt auch für Reis, für Pasta und für Brei erst recht.
Wir haben den jahrtausendealten gemeinsamen Pfad der Koevolution aus der Zucht von Getreide, der sich verfeinernden Verarbeitung und unserer längst daran angepassten Biologie verlassen.
So mancher von uns schmeckt und spürt, dass mit den Carbs heute etwas nicht stimmt. Unser Grundnahrungsmittel ist nicht mehr so, wie wir es eigentlich erwarten und kennen. Hätten wir keine instinktive biologische Ahnung von Carbs, dann hätten wir diese menschentypische Nahrung nie wirklich für uns erschließen können und wir wären nicht geworden, was wir heute sind. Während die feinen Störsignale auf der Zunge noch im Alltag untergehen können, machen sich bei immer mehr Menschen die nunmehr sperrigen Carbs mit Bauchgrimmen bemerkbar.
Leider hat auch die Gegenbewegung, die gegen die Weißmehlkonserve antrat, nicht zum Doppelgeschenk der Götter an die Menschen zurückgefunden. Vollkorn und Müsli sind ebenfalls Neuerungen, auch wenn ihnen der Ruf anhaftet, retro zu sein. Doch sie sind kein Zurück zur vorindustriellen Nahrung. Auch mit diesen Carbs stimmt etwas nicht, wie Zunge und Bauch oft deutlich bekunden.
Als wären zwei Gegner nicht genug für die himmlische Gabe, tauchte noch ein dritter auf, der leider großen Einfluss entwickelte. Auch wenn sich die dominierende Empfehlung gegen Übergewicht, nämlich Kalorienreduzierung, nicht direkt gegen die Carbs wendet – oder diese sogar dem Fett vorzieht –, trägt dies zu einem weiteren Bedeutungsverlust bei. Letztlich gilt auch für diesen »Energieträger« die Denunziation als Kalorienlieferant, den man angeblich gemäß der einfachen Formel der Kalorienbilanz verknappen oder sich sogar eine Weile ganz verkneifen sollte. Was früher den Hunger stillte und zu Recht als Grundlage für unser Wohlbefinden galt, wird nun als grundsätzliches Problem behandelt.
Die Berechnung des Energiewerts und die Reduktion auf diesen führte zu einer Degradierung unserer Grundnahrungsmittel. Aus einer göttlichen Gabe ist nunmehr eine Beilage geworden, deren hoher Brennwert selbst mit zugleich enthaltenen Vitaminen und Ballaststoffen kaum noch zu entschuldigen ist.
Leidtragende Nummer eins dieser Herabstufung der Carbs in Ansehen und Verarbeitung ist unser Gehirn. Das so empfindliche Organ kommt nun ständig zu kurz. Das besonders große Gehirn des Menschen bestreitet seinen enormen Energiebedarf fast ausschließlich mit Glucose. Brot, Nudeln, Kartoffeln und Reis sind mit ihrer reichlich enthaltenen Stärke die wichtigsten und – wenn richtig verarbeitet – gesündesten Lieferanten von Glucose. Stärke besteht zu 100 Prozent aus diesem Traubenzucker, der darin zu Ketten oder komplexen Gebilden zusammengeschweißt ist. Hingegen ist die Glucose in Haushaltszucker nur zur Hälfte vertreten, gepaart mit der fürs Gehirn nutzlosen Fructose.
So wie die Entwicklung und auch das Leben der Menschen über Jahrtausende noch um die Getreide, um ihren Anbau und ihre Verarbeitung kreiste, so sind auch im menschlichen Organismus die Carbs das Schwerkraftzentrum, das alles in seinem Bann hält. Denn obwohl es in den heutigen Zeiten des Nahrungsüberflusses kaum vorstellbar ist und es nach der Einfachformel von der Kalorienbilanz auch nicht mehr denkbar ist, bleibt es eine große Herausforderung, das Gehirn ausreichend mit seiner Energie zu versorgen. Unser heutiger Dauerstress erhöht den Bedarf, den wir wiederum mit den heutigen Carbs noch schwerer decken können. In uns ist ein biologischer Engpass eingebaut, der in herausfordernden Zeiten bald zu eng ist, um genug von der jetzt gebrauchten Lebensenergie hindurchzulassen. Die größte Katastrophe für unseren Organismus ist es, wenn das Gehirn mit seinen empfindlichen Nervenzellen nicht genug Energie und Sauerstoff bekommt.
Doch die Einfachformel von der Kalorienbilanz lässt einen wichtigen Faktor vollkommen außen vor: die Unterzuckerung. Ein niedriger Blutzuckerspiegel ist demnach kein echtes Problem, gerade wenn noch Kalorienreserven am Bauch auf ihre herbeigesehnte Verbrennung warten. Das Aufreißen der Kühlschranktür allen guten Vorsätzen zum Trotz ist so betrachtet kein Hilfeschrei des Gehirns. Es gilt als gierig, wenn wir nicht schon nach dem ersten Riegel Schokolade genug haben, sondern erst nach der halben Tafel aufhören können. Gemäß der Einfachformel von der Kalorienbilanz können wir mit Willensstärke nach einer Diät unser neues Gewicht halten. Doch obwohl Wille und vor allem Leidensdruck mehr als groß genug sind, belegen Studien, dass dies bei den allermeisten Menschen nicht nachhaltig funktioniert.
Wenn wir hingegen den biologischen Flaschenhals erkennen, der durch den enormen Größenzuwachs des menschlichen Gehirns entstanden ist, und den damit vervielfachten Glucosebedarf, dann eröffnet sich ein völlig neues Verständnis von unserer Nahrung, unserem so engen Verhältnis zu Getreide und Brot, traditionellen Techniken der Verarbeitung und Zubereitung von Carbs, unserem manchmal verstörenden Ernährungsverhalten wie auch unserer Biologie.
Mit Energie en masse oder gar Zucker allein ist dieser biologische Engpass nicht zu überwinden. Auf diese Strategie wird oft instinktiv zurückgegriffen, weil vorher bei den Carbs die Qualität nicht stimmte, eine gesunde und volle Verwertung der Getreideenergie nicht möglich war.
Welch ungesunde Dynamik dadurch angestoßen wird, belegt eine aktuelle groß angelegte Studie. Teilnehmer, deren Blutzuckerspiegel im Vergleich zwischen den Mahlzeiten am tiefsten fiel, hatten größeren Hunger und verzehrten 312 Kalorien mehr am Tag. Aufs Jahr hochgerechnet könnten so 100.000 Kalorien extra konsumiert werden. Die Schlüsselrolle des Blutzuckerverlaufs beim Essverhalten ist damit eindrucksvoll belegt.
Der Organismus versucht, was an Klasse fehlt, durch Masse zu ersetzen. Dabei werden die Bedürfnisse des Gehirns allenfalls phasenweise gestillt. Viel nicht nutzbare Energie aus der Nahrung wird dabei dauerhaft im Fettgewebe eingelagert. Wir sollten uns also unbedingt näher anschauen, wie Getreide verarbeitet und zubereitet werden sollte, damit der Blutzuckerspiegel stabiler wird und wir an unserem biologischen Engpass nicht in Schwierigkeiten kommen.
Nach dem Aufstieg der industriellen Nahrungsmittelverarbeitung mit ihrer Weißmehlkonserve und dem blank geschmirgelten Reis, der Gegenbewegung, der jeglicher kultureller Eingriff am vollen Korn suspekt ist, und der pauschalisierten Kalorienkritik trat noch eine vierte Bewegung auf, die das göttliche Doppelgeschenk aus Carbs und deren Verarbeitungsmethoden radikal infrage stellte. Unter der englischsprachigen Kurzformel »Low Carb« (wenig Kohlenhydrate) versammelten sich zahlreiche Ansätze, die in den Carbs an sich das eigentliche Problem zu erkennen glaubten. Schließlich lassen Brot, Nudeln, Reis und Kartoffeln den Blutzucker hochschnellen. Um diesen auf ein gesundheitlich verträgliches Niveau zu bekommen, muss reichlich Insulin ausgeschüttet werden. Das Hormon der Bauchspeicheldrüse wandelt Glucose in Fett und setzt dieses dann in den für die Aufbewahrung zuständigen Zellen dauerhaft fest. Übergewicht, Diabetes und andere Folgeerkrankungen entstünden so – angefacht von Brot & Co. Die gesundheitliche Misere begann demnach mit dem Ackerbau, als die steinzeitlichen Jäger statt Mammutbraten nun Getreide zu ihrem Grundnahrungsmittel erkoren. An umfänglichen Verzehr von Grassamen seien Menschen jedoch nicht angepasst. Die Steinzeitdiät, die oft unter »Paläo« firmiert, versucht die vermutete Ernährungsweise aus jener Zeit heute zu praktizieren. Die propagierten Vorstellungen von der Kost unserer fernen Vorfahren in der Altsteinzeit, dem Paläolithikum, sehen oftmals vor, dass nur wenig kohlenhydratreiche Nahrungsmittel verzehrt werden, etwa Knollen oder Beeren in Maßen, während Getreide meist tabu ist. Andere Low-Carb-Philosophien sind noch deutlich strenger, gerade »Keto«.
Doch 2021 müsste eigentlich als das Jahr in die Geschichte eingehen, in dem diese Vorstellungen von einer Low-Carb-Ernährung des Menschen als jagender und sammelnder Homo sapiens verworfen wurden. In der führenden Wissenschaftszeitschrift Nature erschien ein Artikel, der auf Basis zahlreicher Forschungen einen umfänglichen Kohlenhydratkonsum schon lange vor dem Ackerbau belegt – anders als Low-Carb-Befürworter oft behaupten. Im Nature-Artikel von Andrew Curry steht, die aufgeführten Studienergebnisse würden die Idee »zerstören«, dass sich die frühen Menschen vor allem von Fleisch ernährt haben. Stattdessen aßen sie schon lange vorher Getreidebrei und noch viel länger stärkereiche Knollen.
Etwas länger ist schon nachgewiesen, dass der moderne Mensch, Homo sapiens, schon von Beginn an mit einer Vervielfachung von Amylasegenen für seinen Speichel ausgestattet war, vielleicht sogar schon sein direkter Vorgänger. Dieser Umstand ergibt erst Sinn, wenn umfänglich gekochte Stärke verzehrt und gründlich gekaut wurde. Denn die vielfache Menge des Verdauungsenzyms kann schon im Mund viel Stärke in Zucker umwandeln. Studien haben nun gezeigt, dass steigender Stärkekonsum eng mit der Zunahme der Genkopien verbunden ist. Des Weiteren gibt es aktuell etliche Belege für urmenschlichen Carbkonsum, wie etwa die einer feurigen Carbzubereitung schon vor 170.000 Jahren.
Damit sind nun die Low-Carb-Befürworter in der Bringschuld, die Unbedenklichkeit ihrer neu entwickelten Ernährungsweise bei längerer Anwendung nachzuweisen. Doch auch in diesem Bereich musste Low Carb jüngst schwere Rückschläge durch langjährige Studien einstecken. Ein Beispiel: 50-jährige Teilnehmer, die weniger als 30 Prozent ihrer Nahrungsenergie aus Carbs bezogen, hatten im Durchschnitt vier Lebensjahre weniger noch vor sich. Weitere Studien bestätigen die deutlich erhöhten Risiken einer drastischen Reduktion von Carbs. Als gesunde Ernährungsempfehlung für die Allgemeinheit kommt Low Carb damit nicht mehr infrage. Diese Studien verwerfen Low Carb aber nicht als vorübergehende Diät oder als Ernährung bei bestimmten Krankheiten, gerade Diabetes. Die Frage müsste für sich untersucht werden – soll aber nicht Gegenstand dieses Buchs sein.
Dieses für eine Ernährungsweise ungewöhnlich deutlich schlechtere Abschneiden einer Low-Carb-Ernährungsweise ist umso verwunderlicher, wenn man bedenkt, wie ungesund viele Carbs heute sind. Selbst mit den schlechtesten Carbs im Proviant ergeht es einem immer noch besser als mit einer Carbknauserei. Die Studien unterstreichen somit, wie wichtig kohlenhydratreiche Nahrungsmittel für unsere Gesundheit sind.
Es gibt noch weitere neue Erkenntnisse aus der Wissenschaft, die die Schlüsselrolle von Kohlenhydraten für unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden verdeutlichen. Besonders spannend sind die rund um Glycogen, das sich Studie um Studie als Superkraft im Stoffwechsel herauskristallisiert und das bis vor Kurzem noch lediglich als Speicherform von Glucose angesehen wurde.
Glycogen ist wie ein Raketentreibstoff für höhere Aufgaben. Wenn genug von ihm vorhanden ist, wechselt das Bioprogramm. Aus einer eben noch sparsam kalkulierenden Zelle wird ein üppig florierendes Biotop. Glycogen ist nicht nur Treibstoff für den höheren Energiezustand, sondern auch Bioindikator für eine gute Energieversorgung.
Ohne Glycogen findet so manch höhere Aufgabe nicht oder nur eingeschränkt statt. Sie wird in Hoffnung auf zukünftig bessere Zeiten mit mehr Glycofülle auf die lange Bank geschoben. Da geht es um höhere Hirnfunktionen, ums Lernen, Verinnerlichen und das episodische Gedächtnis. Da geht es um die verjüngende Zellteilung, Vermehrung und Fitness von Abwehrzellen wie auch die Erneuerung der Darmschleimhaut. All diese positiven Effekte des Glycogens werden durch eine großzügige Carbversorgung sichergestellt – denn damit der Raketentreibstoff richtig zündet, braucht es mehr als eine gerade so ausreichende Betriebsenergie im zentralen Nervensystem.
Glycogen hat außerdem entscheidende Mitsprache bei der Fettverbrennung im braunen Fettgewebe. Zudem steuert der Blutzucker Ernährungsverhalten und Kalorienverzehr. Carbs sind somit zentral an unserer Gewichtsregulation beteiligt.
Zusätzlich gibt es noch eine bisher unbekannte Welt, deren Erforschung noch ganz am Anfang steht: das Glycom. Glucose und andere Zucker als Bau und Funktionsstoffe. Eine teils märchenhaft erscheinende Stoffwelt, die aber auch viel mit der harten Biorealität zu tun hat, etwa als Stützgerüst von Knorpeln, Bildner von Gelenkschmiere, schützendem Schleimfilm in Atemwegen und Verdauungstrakt sowie als elastischer Stretch in der Haut. Auch hier zeigt sich wieder: Wir brauchen Carbs auch jenseits von ihrem Brennwert!
Es gibt also allen Grund, eine reiche Kohlenhydratversorgung sicherzustellen. Doch das ist mit unserer heutigen Einstellung gegenüber den Carbs und deren heutiger Verarbeitung schwierig.
Mangelnde Qualität kann nicht einfach durch Quantität ausgeglichen werden, Nahrung muss man im Körper auch gut verdauen und nutzen können, gut verstoffwechseln können. Was wir bräuchten, wäre eine Rückkehr zu den Carb-Grundnahrungsmitteln, so wie sie vor 200 Jahren bei uns noch waren, bevor die Industrie ihre Produktion vereinnahmte.
Viele Menschen spüren, dass heute etwas mit den Carbs nicht stimmt. Das beflügelt auch den Trend, Brot wieder selbst zu backen, vielleicht auch selbst das Getreide dafür in einer Haushaltsmühle zu mahlen. Doch auch dabei wird oft Wesentliches übersehen oder ist schlicht unbekannt. Die Geschichte von dem Korn und dem, was wir durch seine moderne Verarbeitung verloren haben, geht noch viel tiefer.
Viele Erkenntnisse dazu hat eine österreichische Forscherin noch Mitte des vergangenen Jahrhunderts in entlegenen Bergregionen entdecken und retten können. Leider hat dieser Wissensschatz bisher wenig Beachtung gefunden. Wichtig wäre, noch möglichst viel von dem weltweit schwindenden Wissen zur traditionellen Getreideverarbeitung zu bergen, das sich in so manch abgeschiedenem Ort noch in die Gegenwart gerettet hat. In Studien zur traditionellen Getreideverarbeitung wurde und wird oft nicht genug auf die entscheidenden Details geachtet, die heute ein Nachmachen ermöglichen würden. Vertiefte Erkenntnisse um die traditionelle Getreideverarbeitung sollten Anstoß dafür sein, die meist damit verbundene Mühsal nun originalgetreu von Geräten übernehmen zu lassen.
Allerdings kann sehr viel schon aus eigener Hand getan werden, um Carbs wieder gesünder zu machen. Dabei gibt es einfache und schnelle Wege, beispielsweise das Meiden von Problemcarbs. Manchmal braucht es aber auch ein wenig Übung und Kochhandwerk. Dieses Buch soll Ihnen zeigen, worauf es dabei wirklich ankommt.
Auf diesem Weg haben Sie einen guten Verbündeten. Sie müssen nur gut auf ihn hören: Ihren Körper, der gut über Carbs Bescheid weiß. Sein – biologisch gesehen und ein wenig zugespitzt – Ein und Alles muss er schließlich kennen, vor allem erkennen können. Die Zunge kann beispielsweise herausschmecken, wie gut verdaubar die Stärke ist. Sie reagiert auch ungehalten, wenn Carbs mit dabei sind, die sich vermutlich bald negativ im Bauch bemerkbar machen.
Früher war dieses Biomonitoring voll in Kraft. Schließlich haben Bauern seit Ewigkeiten einen Großteil ihrer Ernte selbst verzehrt. Was sie produzierten, stand unter permanenter eigener Feedbackkontrolle. Alles musste von Zunge und Bauch geprüft und für gut befunden werden. Aus der oft knappen Ernte musste das Beste herausgeholt werden. Lieferte eine Getreidespeise nicht mehr gute Kraft, zeigte sich das spätestens bei der harten Arbeit auf dem Feld. In der heutigen stark arbeitsteiligen Wirtschaft kaufen Bauern ihr Essen meist im Supermarkt. Die menschliche Biologie hat somit an Mitsprache verloren. Viele Entscheidungen über Verarbeitung und auch Sortenauswahl werden nun von der Industrie getroffen. Doch glücklicherweise schlummert in jedem von uns immer noch dieser Experte dafür, ob das jeweilige Getreidemahl, die Hauptnahrung des Menschen, gut gelungen ist.
Wenn das der Fall ist, werden wir anschließend reich belohnt – ein bestärkendes Biofeedback wird ausgelöst. Das Gehirn bildet mehr Serotonin, schließlich sollen wir die Mahlzeit gut in Erinnerung behalten und mit gebührendem Abstand gerne wiederholen. Das wird noch weiter dadurch verstärkt, dass nun mehr Glucose, die von Pflanzen eingefangene Sonnenenergie, unseren Organismus nährt. Schließlich ist sie auch Seelenenergiestoff, ihre Aufs und Abs in uns sind eng mit unserem Befinden und unserem Sein verbunden.
Der Weg zurück zu den traditionellen Carbs bringt einen enormen Gewinn für die Gesundheit. Aber die Bereicherung beginnt schon gleich beim Essen: Sie schmecken besser – und beflügeln uns. Lassen Sie uns nun gemeinsam das Hauptnahrungsmittel des Menschen wiederentdecken.
Sie waren da, von Anbeginn. Sogar schon halbe Ewigkeiten, bevor die ersten menschlichen Vorfahren anfingen, langsam anders auszusehen und sich anders zu verhalten als ihre nächsten, auf den Bäumen verbliebenen Verwandten, die Affen. Stärkedepots der Pflanzenwelt, die typischen verdichteten Kohlenhydrate, verbergen sich vielerorts. Hinter der Rinde so mancher Palme wartet etwas dieser pflanzlichen Speicherform von Sonnenenergie. Auch Samen erhalten von der Mutterpflanze meist eine kräftige Portion davon mit auf den Weg ins Leben, beispielsweise in Wildgetreide und in Bohnen. Manchmal konnte unseren Vorfahren die Stärke sogar von oben auf den Kopf fallen, etwa in Form einer Baobabfrucht, wenn sie unterm Affenbrotbaum durchschlenderten. Manche Frucht ist eine passable Stärkequelle. Typischerweise locken Früchte jedoch mit Zucker, also einzelnen oder doppelten Zuckereinheiten, die eine süße Sensation auf der Zunge auslösen – im Gegensatz zur intakten Stärke.
Ein besonderes Stärkeangebot floriert jedoch unsichtbar unter der Erde. Hier verstecken viele Pflanzen Nährstoffdepots: Knollen, verdickte Wurzeln und Rhizome – Kartoffeln, Möhren und Ingwer sind heute beliebte Vertreter davon. Forscher sprechen auch von »Underground Storage Organs«, also unterirdischen Speicherorganen, kurz USOs. Diese dienen den Pflanzen in Notzeiten wie auch für Wachstumsschübe oder um neue Abkömmlinge zu bilden. Im Trockenanteil können die USOs zu 80 Prozent aus Stärke bestehen, also zu Ketten und Gittergebilden zusammengeschweißten Glucosemolekülen, Traubenzuckereinheiten.
10 WILDE TOPQUELLEN FÜR CARBS
BaobabSagopalmeManiokTaro (Rhizom)WildgetreideBrotfruchtErdmandelWasserkastanieEichelnEdelkastanienDiese natürlichen Hochkonzentrate für Stärke, die USOs, sind aus mehreren Gründen für den werdenden Menschen interessant. Sie sind unter der Erde versteckt, was die Konkurrenz um die heimlichen Nährstoffschatzkästchen der Pflanzen vermindert. Es braucht schon einiges an botanischer Expertise, um aus der überirdischen Pflanzenpracht, etwa an der Beschaffenheit von Blättern, auf reichen Lohn unter der Erde zu schließen. Unbedarft losgraben oder gar planlos die Erde umackern – das wäre keine Option. Schließlich muss auch die Energiebilanz stimmen. Die Nahrung muss weit mehr Energie enthalten, als für ihre Beschaffung und anschließende Verdauung verbraucht wird. Die meisten Tierarten ahnen nichts von dieser reichen, aber eben oft gut versteckten Nährstoffquelle unter ihren Pfoten oder Hufen, sie müssen aus weit weniger gehaltvollen Blättern oder Grashalmen das Beste für sich herausholen. Selbst wenn sie es ahnten, fehlte ihnen oftmals die Fähigkeit, danach zu graben.
Der Mensch mit Händen und seinem Werkzeuggebrauch ist hier prädestiniert.
Aber auch einige Affenarten interessieren sich für die unterirdischen Nährstoffdepots, besonders Paviane. Schimpansen graben danach mit Stöcken. Einige Bärenarten können ihre Krallen und Verwandte der Hausschweine ihre mit festem Knorpel gestärkten Wühlnasen nicht von den USOs lassen. So sind Knollen und Rhizome zwar keine Exklusivnahrung, die von Natur aus nur auf den Menschen und seine Vorfahren unter der Erde warteten. Aber gerade für kleinere Menschengruppen, so also, wie unsere Vorfahren durch die Natur streiften, ruhte hier oft genug Vorrat unter der Erde.
USOs finden sich reichlich in tropischen Regionen, in denen die Menschheit ihren Ursprung nahm, aber auch in anderen Klimazonen. Ihre Integration in den Speiseplan ist aus noch einem weiteren Grund besonders attraktiv. Anders als etwa Früchte, die zwar verführerisch süß und bunt zum Festmahl einladen, warten die eher holzig und spröde anmutenden Knollen und Rhizome geduldig unter der Erde auf ihre Entdeckung. Sie sind nicht nur ein paar Tage reif, dann matschig und bald verschimmelt – wie die Früchte. Vielmehr sind sie oft sogar viele Monate Topnahrungsquelle, klinken sich teils aus dem Zyklus der Jahreszeiten aus, dem ständigen Werden und Vergehen über der Erde. Selbst wenn für so manches USO gerade keine gute Erntezeit ist, dann haben andere Pflanzenarten ihre unterirdischen Nährstofftresore prall gefüllt. Zudem lassen sich geerntete USOs oft über Monate in einem Häufchen Erde lagern, eben in ihrem natürlichen Zuhause. Wechselt man zwischen einigen Arten von USOs, hat man ein potenzielles »Grund«-Nahrungsmittel fürs ganze Jahr. Kein süßes Paradies mit zuckrigen Kirschen, aber ein Fundament, das reichlich Nährstoffe und Energie liefert, besonders fürs Gehirn – und vor Hungerperioden bewahren kann. Durch USOs kann auch Energie getankt werden, um andere hochwertige Nahrungsmittel zur Ergänzung zu jagen und zu sammeln. So entstand ausgerechnet auf der Erde für die einst hoch oben im Geäst Lebenden nun eine neue Lebenswelt, mit einer ertragreichen Stärkemine darunter.
Das Stärkeangebot der Natur war also stets vorhanden. Kohlenhydrate waren in großen Mengen zugänglich, sofern das botanische Wissen, Werkzeuge wie etwa Stöcke fürs Graben und die Bereitschaft, sich die Hände schmutzig zu machen, vorhanden waren. Anders als von vielen Low-Carb-Befürwortern behauptet, brauchte es also keinen Ackerbau, um regelmäßig große Mengen Kohlenhydrate zu verzehren. Carbs gab es für den Menschen und seine Vorfahren schon seit Ewigkeiten. Und das in Mengen, groß genug, um eine Sippe satt zu machen, lange vor der neolithischen, der jungsteinzeitlichen Revolution, die vor etwa 12.000 Jahren ihren Anfang nahm. Die Menschen mussten nicht erst sesshaft werden, um reichlich Kohlenhydrate spendende Pflanzen zu züchten und anzubauen. Die gab es schon vorher als Service der Natur.
Nur die Frage bleibt, ob die Menschengrüppchen von dem großzügigen Angebot der Natur auch beherzt Gebrauch machten, ob sie das oft faserige, runzelige Knollengewächs auch tagtäglich essen mochten. Oder war das Notnahrung, wenn gerade partout keine leckere Alternative zu finden war, wie manche Low-Carb-Befürworter behaupten? Demnach wären die USOs die Steckrüben des Paläolithikums gewesen, von denen man sich zu üppigeren Altsteinzeit-Zeiten bei Mammutsteak und Heidelbeermus am flackernden Lagerfeuer mit Schaudern erzählte.
Noch immer ist schwer – und wird es möglicherweise auch immer bleiben – mit Zuverlässigkeit zu bestimmen, wie sich unsere Vorfahren vor ein oder zwei Millionen Jahren ernährten, selbst die ersten Homo sapiens vor wohl 300.000 Jahren. Es braucht besonders günstige Umstände, damit ein Skelett, Kochwerkzeuge oder gar Nahrungsreste solch halbe Ewigkeiten überdauern. Was die Zeit nicht zerstört, schaffen vielleicht Bagger, Höhlentouristen auf Souvenirjagd – oder es wird schlichtweg nicht entdeckt.
Außerdem sind geeignete Rückzugsplätze oft schon zu Urzeiten immer wieder neu benutzt und bewohnt worden. Ein in der Höhle aufgefundener Stößel wird in einem neuen Zeitalter wiederverwendet, eine Stelle für ein Feuer erneut als geeignet befunden, ein Knochen zur Schmuckherstellung verwendet.
Zwei Umstände zinken zusätzlich die Ergebnisse:
Erstens sind Pflanzensamen und Blätter viel weniger zeitresistent als Tierknochen, in denen Biss- und Werkzeugspuren von Vormenschen eingeritzt sind. Beweise für Fleischkost überstehen die Zeit besser.
Zweitens ist der Nachweis von Stärkeverzehr besonders knifflig. Diese Speicherform der Glucose wird von den Pflanzen Schicht über Schicht in Miniaturkügelchen und Miniaturkieseln verpackt. Diese Aufbewahrung macht diese Energieglobuli zwar fit, um etliche Jahrtausende zu überdauern – sofern sie nicht nass werden. Das spricht für die Chance, noch Spuren von Stärke in Verarbeitungswerkzeugen oder im Zahnstein von Urmenschen zu finden, um so Erkenntnisse über den Kohlenhydratanteil in der Nahrung zu gewinnen. Doch da die Stärkekügelchen so fein und leicht wie Pollen sind, können sie auch durch die Luft schwirren. Die entdeckten Stärkespuren am Steinzeitstößel müssen also gar nicht beim Stampfen der Pflanzen freigesetzt worden sein, die »Infektion« mit dem laut Low Carb angeblichen Problemstoff in unserer Nahrung kann vielmehr Jahrtausende später über den Luftweg erfolgt sein.
Besonders überzeugende Hinweise für eine lange schon carbreiche Ernährung kommen jedoch aus den anatomischen Veränderungen bis hin zum modernen Menschen. Gerade diese helfen, sich ein Bild von der wahrscheinlichen Urnahrung zu machen. Unstrittig ist, dass mit der enormen Zunahme an Gehirnvolumen auch der Bedarf an gehaltvollerer Nahrung und bestimmten Nährstoffen stark gestiegen ist. Während ein vor drei Millionen Jahren wohl schon meist aufrecht die Savanne nach Nahrung durchstreifender Australopithecus mit durchschnittlich 464 Kubikzentimetern Gehirnvolumen auskommen musste, konnte Homo erectus am Anfang seiner irdischen Laufbahn vor etwa 1,8 Millionen Jahren schon mit über 800 Kubikzentimetern durchstarten und über neue Strategien zur Nahrungsbeschaffung nachsinnen. Ein gefundener rund 200.000 Jahre alter Erectusschädel bot bereits Platz für über 1100 Kubikzentimeter Gehirn.
Beim modernen Menschen wird das gegenwärtige Durchschnittsvolumen mit rund 1350 oder 1450 Kubikzentimetern angegeben. Das sind gerade einmal zwei Prozent des Körpergewichts. Aber diese verbrauchen 20 bis 25 Prozent der zugeführten Energie.
Im Vergleich zum Schimpansen hat der moderne Mensch ein mehr als dreimal so großes Gehirn und nebenbei auch noch einen deutlich größeren Körper zu versorgen. Dabei sind Gehirne von Primaten wie Schimpansen und Menschen bereits biologische Luxusausgaben. In ihnen sind die Nervenzellen dicht gepackt. Im gleichen Quantum Hirnmasse arbeitet ein Vielfaches an Rechnerleistung. Die Neurowissenschaftlerin Suzana Herculano-Houzel hat nachgerechnet: Würde im menschlichen Gehirn genauso großzügig mit Platz umgegangen wie im Gehirn eines Nagetiers, etwa einer Maus, dann würde das menschliche Gehirn 36 Kilogramm wiegen müssen, um auf seine Zahl an Nervenzellen zu kommen. Der Energiebedarf eines Gehirns korreliert recht genau mit der Zahl der Nervenzellen. Um sich diesen Bioluxus an Dichte und Volumen leisten zu können, mussten fraglos neue Wege in der Energieversorgung gegangen werden.
Dann ist unser Gehirn auch noch wählerisch. Es verlangt eine bestimmte Energieform, eben die Glucose. Von den heute rund 200 Gramm, die wir am Tag davon aufnehmen, verbraucht das Gehirn schon zwei Drittel. Allein dieser laut Lehrbüchern bestehende Bedarf spricht deutlich für eine natürlicherweise eher kohlenhydratreiche Ernährung des Menschen, eben weil er sich ein Gehirn mit enormem Sonderbedarf leistet.
Typischerweise kommt für den Menschen ein Großteil der täglich verzehrten Kohlenhydrate aus stärkereichen Nahrungsmitteln wie Brot, Brei, Nudeln, Kartoffeln und Reis, einen kleineren Anteil bestreiten Zucker aus Früchten und Honig. Neuerdings übernimmt der zugesetzte raffinierte Zucker einen bedeutenderen Anteil am Kohlenhydratverzehr. Wir können zwar auch Glucose selbst bilden, kaum aus Fett, vor allem aus Eiweiß – doch der Körper drückt dort aus guten Gründen auf die Bremse.
Mit einer Ernährung basierend auf Früchten, wie sie viele unserer engsten Verwandten im Tierreich heute noch praktizieren, wäre eine solche Expansion an hochverdichtetem Gehirnvolumen nicht möglich gewesen. Für einen Schimpansen mit seinen knapp 400 Kubikzentimetern mögen Früchte noch bedeutsames Grundnahrungsmittel sein, bei einem Gehirnvolumen von 1400 – die auch noch intensiv genutzt werden – reicht diese Ernährungsgrundlage nicht mehr aus.
Um auf die täglich unter Normalbedingungen verbrauchten 130 Gramm Glucose fürs Gehirn zu kommen, müssten wir etwa 3,8 Kilogramm Äpfel am Tag essen oder knapp drei Kilogramm Aprikosen. Heutige! Denn bei diesen ist der Zuckergehalt hochgezüchtet. Von natürlichen Früchten, also jenen, die während der menschlichen Evolution zur Verfügung standen, müssten es dann oft noch deutlich mehr sein. Da Muskeln, Nieren, rote Blutzellen und Fortpflanzungsorgane auch noch Glucose benötigen, kämen noch weitere dicke Fruchtportionen obenauf. Wir sprächen von knapp sechs Kilogramm Zuchtäpfeln. Bis auf wenige Ausnahmen sind Früchte arm an Eiweiß und Fett. Deshalb müssten entsprechend noch daran gehaltvolle Nahrungsmittel zum täglichen Esspflichtvolumen hinzuaddiert werden. Abgesehen von den fraglos ungesunden Speisemengen, die kaum im Verdauungstrakt Platz fänden. Außerdem steckt in Früchten auch noch die problematische Schwester der Glucose, die Fructose, die in solchem Umfang übergewichtig und krank machen könnte. Dann ist da noch das bereits angeführte Verfügbarkeitsproblem: Früchte sind nur wenige Tage im Jahr reif, selbst in den Tropen findet sich nicht immer ein üppiges Angebot.
Blätter und Wildgemüse hätten noch viel weniger Treibstoff für die Gehirnexpansion sein können. Diese sind beim Kohlenhydratgehalt noch dürftiger aufgestellt. Mittels Fermentation von darin reichlich enthaltenen Ballaststoffen durch Bakterienkolonien im Verdauungstrakt kann zwar eine stattliche Figur aufgebaut werden, wie etwa Gorillas, aber auch Elefant und Büffel beweisen. Doch diese Bakterien produzieren eher Fette und Eiweiße, die teils in den Organismus aufgenommen werden können, während die Glucoseausbeute verhältnismäßig gering bleibt. Acht Stunden isst und kaut ein Gorilla täglich seine sperrige Nahrung, die nur schwer aufschließbar ist. Darin sind Energie und Nährstoffe nicht nur in geringer Konzentration enthalten, diese sind auch weit schwerer herauszulösen, um sie für den eigenen Stoffwechsel nutzbar zu machen. Mehr als ein halbes Kilogramm Gehirn kann sich der Gorilla mit seiner Nahrung bei aller Hingabe beim Essen und Kauen nicht leisten.
Auch Nüsse wären keine ideale Basis für den enormen Größenzuwachs des Gehirns gewesen. Ihre Nährstoffe liegen zwar hochkonzentriert vor. Doch Nüsse sind zumeist reich an Fetten und Eiweißen, die uns nicht bei der Energieversorgung des Gehirns helfen. Viele Nussarten sind sehr arm an Kohlenhydraten. Für den gesamten Tagesbedarf müssten über vier Kilogramm Haselnüsse täglich verspeist werden. Auch ein Volumen, das kaum zu schaffen ist. Außerdem könnten Nüsse mit oft zwei Dritteln Fettgehalt in solchen Mengen Durchfall auslösen.
Fraglos sind Früchte, Gemüse wie auch Nüsse wertvolle und wichtige Nahrungsbestandteile, die eine Ernährung vervollständigen. Doch als Treibstofflieferant für die Evolution einer Spezies, die alles auf die Gehirnkarte setzt, Körperkraft weitgehend durch Denkkraft ersetzt, kommen diese nicht infrage.
Während circa sechs bis sieben Kilogramm Wildfrüchte den durchschnittlichen Tagesbedarf an Glucose decken können, würde beispielsweise Maniok diese Aufgabe in einem Bruchteil der Menge bewältigen. Rund 700 Gramm von diesem knorrigen Erdprodukt würden ausreichen.