Freundschaft als Beziehung zur Welt - David Terwiel - E-Book

Freundschaft als Beziehung zur Welt E-Book

David Terwiel

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Beschreibung

Das Buch rekonstruiert Hannah Arendts Begriff von Freundschaft auf Grundlage ihrer moralphilosophischen und politiktheoretischen Schriften. In der für sie typischen Manier des unabhängigen Denkens, konturiert sie ein von der Antike inspiriertes Beziehungsverständnis, das unsere moderne Auffassung von Freundschaft verunsichert und herausfordert. Arendts Freundschaftsbegriff beschränkt sich nicht auf die Privatsphäre, sondern fordert im Gegenteil als politische Tugend dazu auf, sich mit der Differenz in Beziehung zu setzen und den streitlustigen Austausch unterschiedlicher Meinungen zu praktizieren und wertzuschätzen. Freundschaft ist eine Schule der Pluralität und deswegen kommt ihr gerade in Phasen gesellschaftlich-politischer Spaltung und Polarisierung große Bedeutung zu.

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David Terwiel

Freundschaft als Beziehung zur Welt

Zu einem Schlüsselbegriff bei Hannah Arendt

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

Das Buch rekonstruiert Hannah Arendts Begriff von Freundschaft auf Grundlage ihrer moralphilosophischen und politiktheoretischen Schriften. In der für sie typischen Manier des unabhängigen Denkens, konturiert sie ein von der Antike inspiriertes Beziehungsverständnis, das unsere moderne Auffassung von Freundschaft verunsichert und herausfordert.Arendts Freundschaftsbegriff beschränkt sich nicht auf die Privatsphäre, sondern fordert im Gegenteil als politische Tugend dazu auf, sich mit der Differenz in Beziehung zu setzen und den streitlustigen Austausch unterschiedlicher Meinungen zu praktizieren und wertzuschätzen. Freundschaft ist eine Schule der Pluralität und deswegen kommt ihr gerade in Phasen gesellschaftlich-politischer Spaltung und Polarisierung große Bedeutung zu.

Vita

David Terwiel, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politische Wissenschaften der RWTH Aachen University.

Meinen Eltern

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

Inhalt

Impressum

Inhalt

Dank

1.

Einleitung

2.

Episoden exemplarischer Freundschaft

2.1

Die Sorge um das andere Selbst – Mary McCarthy

2.2

Das Nein zur Freundschaft – Karl Jaspers

2.3

Selbstlosigkeit oder Paria – Rahel Varnhagen

3.

Ideengeschichtliche Orientierung

3.1

Freundschaft mit dem anderen Selbst – Aristoteles

3.1.1

Das liebenswerte Ding

3.1.2

Freundschaft zum Mitbürger und zu sich selbst

3.2

Einheit in der Freundschaft – Montaigne

3.2.1

Der Topos der Verschmelzung – Er ist ich

3.2.2

Politik und Freundschaft bei Blossius und Gracchus

4.

Freundschaft zu sich selbst – Denken und Moral

4.1

Paradigmatische Fragen an das Denken

4.1.1

Wo denken – Die philosophische Tradition

4.1.2

Mit wem denken – Das Selbstgespräch mit dem Freund

4.2

Zwei Modi des denkerischen Gesprächs

4.2.1

Kritisches Denken

4.2.2

Narratives Denken

4.3

Das Denken und die negative Moral

4.3.1

Das kann ich nicht tun

4.3.2

Vom weltlichen Nutzen einer negativen Moral

4.4

Auf der Suche nach einer positiven Moral

4.4.1

Der Wille – Die ambivalente Grundlage der positiven Moral

4.4.2

Die Urteilskraft und der Freundeskreis

4.4.3

Von der Möglichkeit einer schlechten Freundschaft

5.

Freundschaft – Die Beziehung des Politischen

5.1

Die Neuzeit – Der Beginn der Weltentfremdung

5.1.1

Politik unter Wölfen und der Zweifel an der Welt

5.1.2

Das Brüderlichkeitsprinzip – Gemeinsam gegen die Welt

5.2

Ein unmoderner Politikbegriff

5.2.1

Troja und die Erfahrung des Politischen

5.2.2

Ein Heerlager ohne Gewalt – Die Polis

5.3

Politik unter Freunden

5.3.1

Unwissenheit als Haltung

5.3.2

Die Rehabilitierung der Meinung

5.3.3

Die Welt als das konstitutive Innen der Freundschaft

6.

Freundschaft – Beziehung zur Welt

6.1

Über die Form der Freundschaft

6.2

Veruntreuung der Freundschaft

6.3

Advocatus Mundi – Reflections on Little Rock

7.

Fazit

Literatur

Dank

Die Freiheit, eine Dissertation zu schreiben, empfand ich immer als einen großen Luxus. Sich selbst dieses stattliche Stück an Zeit herauszunehmen, um sich ohne ernste Nutzenabwägungen mit Politischer Theorie zu beschäftigen, und dafür mit einem prestigeträchtigen Titel geehrt zu werden, erschien mir nie gerecht. Jetzt, zum Ende der Dissertation und mit dem fertigen Produkt vor Augen, verstärkt sich dieses Gefühl von Ungerechtigkeit noch, weil ich allein die Früchte dieser Arbeit einsammle, als wäre es tatsächlich die Arbeit eines Einzelnen gewesen. So mischt sich unter die Gefühle von Erleichterung, Stolz und Dankbarkeit auch ein wenig Scham, denn viele Menschen haben dieses Projekt im Laufe der Jahre ganz entscheidend mitgetragen und unterstützt. Darum möchte ich diesen Menschen hier meinen aufrichtigen Dank aussprechen.

Der erste Dank gebührt meinen Eltern, Nikolaus und Brigitte, deren bedingungslose Liebe und Unterstützung sind die Basis all meiner Stärke und meines Selbstvertrauens. Außerdem danke ich meinen Geschwistern, Julia, Benedikt und Eva. Sie geben mir Halt und Heimat, unabhängig davon, wie verstreut wir leben. Außerdem will ich meinen lieben Nichten und Neffen - Hanna, Moritz, Philipp, Daniel, Anaïs, Marie, Lena, Simon, Sarah und Nina - für die Freude danken, die sie bringen. Die ganze Familie hat die Promotion mitgetragen und nie einen Zweifel am erfolgreichen Abschluss aufkommen lassen, obwohl es beileibe nicht immer viel Grund zum Optimismus gab. Während des langen Schreibprozesses gab es häufig Phasen der Blockade, in denen Ablenkungen und Selbstzweifel den Schreibprozess völlig zum Erliegen gebracht haben. Dann kam es auf die Menschen an, die mit Fürsorge, Sensibilität und auch etwas Druck nicht zugelassen haben, dass man den Kopf immer tiefer in den Sand bohrt.

Dabei bin ich vor allem meinem Bruder Benedikt dankbar, der nicht nur anregender Gesprächspartner für neue Ideen war, sondern mich in zahllosen Telefonaten mit seiner unerschöpflichen Energie und Motivation angesteckt und mir damit die Kraft und die Lust zum Weitermachen gegeben hat.

Genauso ermutigend waren Sarah Allaouis echtes Interesse und ehrliche Mitfreude an den Gedanken dieser Arbeit. Ich bin ihr für die sensible Lektüre auch noch vorläufiger Textpassagen sehr dankbar. Wenig hat mehr Überwindung gekostet als die ersten Herausgaben unfertiger Texte, aber auch nur wenig hat mehr geholfen.

Malte Miram war mir über die ganzen Jahre hinweg ein Freund, aber auch Leidensgenosse. Mit ihm die gemachten Erfahrungen des Doktorandenlebens zu besprechen, gab mir oft wichtige Orientierung. Besonders dankbar bin ich Malte für das Bestärken, Vorträge zu halten, und für die herzliche Integration in den Bonner Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte.

Verfasst wurde die Dissertation am Institut für Politische Wissenschaft in Aachen. Dieser Ort war meine akademische Heimat, von der ich beruflich stark profitiert und die ich persönlich sehr genossen habe. Hier gilt mein erster Dank meinem langjährigen Chef, Emanuel Richter, und meiner herzlichen Bürokollegin, Annette Förster. Ein besseres Ankommen in der akademischen Welt hätte man sich nicht wünschen können. Das trifft auch auf Sibel Yildirim und Alberta Nestler zu, die dieser akademischen Welt Struktur geben und für mich das Herzstück des Instituts bilden. Meinen beiden späteren Chefs, Hans-Jörg Sigwart und Jared Sonnicksen, bin ich für die intensive und ununterbrochene Unterstützung während und selbst nach der Anstellung in Aachen dankbar. Sie sind für mich wichtige Vertrauenspersonen geworden, auf deren Präsenz und Augenmaß ich mich immer verlassen kann.

Das Institut war für mich auch deshalb so wichtig, weil dort ein lebendiges Denken und Sprechen über Hannah Arendt gepflegt wird. Helmut König, Hans-Jörg Sigwart, Jürgen Förster, Ole Meinefeld, Maike Weißpflug und Caner Dogan haben ein inspirierendes Umfeld geschaffen, in dem mein Thema immer auf Resonanz traf und weiter wachsen konnte. Caner Dogan hat mir darüber hinaus in der letzten Phase als Lektor und geduldiger Ratgeber wichtige Entscheidungshilfe gegeben. Am meisten verdanke ich allerdings Jürgen Förster, der mir gerade in der schwierigen Anfangszeit der Promotion und der Arbeit am Institut zu einem Mentor geworden ist. Er hat mir während unzähliger Gespräche nicht nur in inhaltlichen Fragen viel Einsicht und Hilfe gegeben, sondern auch meine Haltung als Politikwissenschaftler sowie meine Dozentenpersönlichkeit maßgeblich geprägt.

Betreut wurde die Arbeit in Bonn von Grit Straßenberger und in Augsburg von Marcus Llanque. Marcus Llanque war seit meinem BA-Studium in Augsburg eine prägende Figur in meinem akademischen Leben. Er stand mir mit seinem Rat und seiner Unterstützung weit über die Zeit meines Studiums hinaus zur Seite.

Grit Straßenberger habe ich als Dozentin während des Masters in Berlin kennengelernt und musste damals in einem ihrer Seminare ein Referat über Freundschaft bei Aristoteles halten. Dass sie Jahre später meine Doktormutter geworden ist, macht mich sowohl stolz als auch dankbar. Durch ihre vorbildliche Verbindung von menschlicher Zugewandtheit und Professionalität schuf sie ein Betreuungsklima, das geprägt war von Ernsthaftigkeit, Respekt und Vertrauen. In diesem Umfeld war Grit Straßenberger für mich im besten Sinne eine Autorität.

Die Danksagung dieser Arbeit wäre nicht vollständig, wenn nicht auch den Freunden gedankt würde, die auf die ein oder andere Art das Dissertationsprojekt im Laufe der Jahre berührt und gefördert haben. Mein Dank gilt: Mirko Beckers, Tobias Bevc, Rene Geiser, Theresa Gerlach, Lukas Greven, Frauke Höntzsch, Bärbel Keysselitz, Heinrich und Hannelore Mohringer, Petra Pointner, Sebastian Schmitz, Guido Schryen, Paul Sörensen, Lukas Vogelgsang. Außerdem hat Julia Navarro Ruiz lange mit mir gemeinsam die Belastungen dieser Dissertation getragen und ich bin ihr zutiefst dankbar für alles, was sie für mich getan hat.

Zum Schluss gilt mein Dank meinem besten Freund Benjamin Strehler. Dieses Buch stellt auch den Versuch dar, die Erfahrung unserer Freundschaft zu verstehen. Sie war mir stets lebendiges Beispiel und Vorbild für das, was Freundschaft ist.

1.Einleitung

Als Damon nachts in die Gemächer des Tyrannen Dionys von Syrakus schleicht, hat er den Dolch im Gewande, denn er will die Stadt vom Tyrannen befreien. Doch Damon wird von den Häschern1 des Tyrannen gefasst und auf der Stelle zum Tode verurteilt. Widerstand ist zwecklos, und so ergibt sich Damon in seine gerechte Strafe, bittet sich aber noch drei Tage Zeit aus, um seine Schwester zu verheiraten. Zur Sicherheit bietet er dem Tyrannen als Pfand seinen Freund Phintias an. So berichtet es Friedrich Schiller in Die Bürgschaft, der berühmten Ballade der Freundschaft. Der Tyrann nimmt dieses Angebot nicht aus Gnade an, sondern aus Arglist. Denn eine Hinrichtung wird es geben, aber vielleicht kann er darüber hinaus noch die Ideale von Freundschaft und Treue beschmutzen, wenn Damon sein Versprechen zur Rückkehr nicht einhält.

Damon geht also zu seinem Freund Phintias, erzählt von dem unglücklichen Verlauf der Ereignisse und unterrichtet ihn, dass er sich an seiner Stelle ausliefern solle: »So bleib du dem König zum Pfande / Bis ich komme, zu lösen die Bande.«2 Das ist keine Bitte, auch keine Frage, Phintias wird eher darüber informiert, was nun getan wird. Und genauso selbstverständlich reagiert Phintias: »Und schweigend umarmt ihn der treue Freund / Und liefert sich aus dem Tyrannen«. Hier wird nicht gebeten und nicht gedankt, hier wird nichts erklärt und gerechtfertigt. Phintias muss auch nicht davon überzeugt werden, noch muss Damon versichern, dass er sein Wort halte. Es muss überhaupt nicht miteinander geredet werden; die Umarmung erfolgt schweigend. Diese Großtat der Freundschaft – das absolute Vertrauen und die Bereitschaft sich selbst zu opfern – ist in der Bürgschaft eine kurze, vierzeilige Selbstverständlichkeit.

Damon zieht los, und während auf dem Hinweg alles gelingt und die Schwester verheiratet wird, scheint sich auf dem Rückweg die ganze Welt gegen ihn verschworen zu haben: das Schicksal, die Natur und die Mitmenschen. So stürzt die Brücke über den reißenden Fluss ein, Räuber trachten ihm nach dem Leben und erbarmungslose Hitze droht ihn zu verdursten. Doch alle Hindernisse werden überwindbar durch die Erinnerung an den Freund in Lebensgefahr. Das ist die Kraft der Freundschaft, gegen alle Widrigkeiten der Welt zu bestehen. Damon kommt zurück nach Syrakus und muss davon ausgehen, dass sein Freund schon ans Kreuz geschlagen ist und trotzdem will er zurück in die Fänge des Tyrannen, damit er zumindest im Tode wieder mit seinem Freund vereint wird und sich der Tyrann nicht rühmen könne, dass der Freund dem Freunde die Pflicht gebrochen habe. Aber der Freund lebt noch und im letzten Moment kommt Damon auf den Hinrichtungsplatz gestürmt: »Und sieht das Kreuz schon erhöhet, / Das die Menge gaffend umstehet; / An dem Seile schon zieht man den Freund empor, / Da zertrennt er gewaltig den dichten Chor: / Mich, Henker, ruft er, erwürget! / Da bin ich, für den er gebürget!« Dieses Exempel von freundschaftlicher Treue schaffte dann, was der Dolch nicht vermochte: es bezwingt den Tyrannen und dieser spricht die berühmten Worte: »Ich sei, gewährt mir die Bitte, / In Eurem Bunde der Dritte.«

Diese Ballade ist nicht nur wunderschön und kraftvoll, sondern zeichnet auch eindrucksvoll das klassische Ideal von Freundschaft, dessen Motive auch unserem modernen, alltäglichen Freundschaftsverständnis sehr vertraut sind. Man spürt den freundschaftlichen Wert des sprachlosen Einvernehmens, der selbstverständlichen Hilfe in der Not und die Kraft, die einem die Freundschaft schenkt und mit der man auch die großen Herausforderungen meistern kann, die einem das Leben und die Welt entgegenwerfen. Bei Montaigne heißt es zur Freundschaft »er ist ich« und diese Identität der Freunde zeigt sich am Beispiel von Damon und Phintias, die man sogar gegeneinander austauschen kann. Diese Selbstlosigkeit wird von Schiller zu einer gewaltigen Kraft stilisiert, die das Herz des Tyrannen bezwingt und ihm wieder Vertrauen in die Treue der Menschen gibt.

Es gibt allerdings noch einen weiteren Grund, warum ich diese beeindruckende Ballade ausgewählt habe. Denn sie steht nahezu diametral dem entgegen, worauf Arendts Begriff von Freundschaft abzielt. All die hier aufgeführten Motive, alles was an dieser Ballade schön und gut anmutet, wird Arendts Freundschaftsbegriff in sein Gegenteil verkehren. Aus Arendts Perspektive taugt diese Freundschaft, die sich in Sprachlosigkeit, in Individualitätsauslöschung und in selbstloser Opferbereitschaft bis in den Tod beweist, keineswegs als Ideal einer guten Beziehung, sondern vielmehr als typisch moderne Einheitsfantasie, die ein fundamentales Problem der weltvergessenen und weltfeindlichen Neuzeit auf den Punkt trifft. Dass ein Tyrann um Anteil an dieser Freundschaft bittet, überrascht in Anbetracht ihrer Qualitäten nicht, denn es könnte zu einer Tyrannis kaum etwas besser passen als identitäre Einheit bis in den Tod.

Diese Lesart ist freilich überspitzt und übersieht bewusst den eigentlichen Sinn und die Schönheit der Ballade, aber tatsächlich könnten die Ideale, die dort der Freundschaft zugeschriebenen werden, kaum weiter von dem entfernt sein, was in dieser Arbeit als Arendts Freundschaftskonzept herausgearbeitet wird. Bei Hannah Arendt fand ich ein von der Antike inspiriertes Konzept der Freundschaft, das die Pluralität gegen die Einheit und streitlustige Kommunikation gegen das Schweigen tauscht. Es handelt sich um ein Konzept, bei dem die Tugend Ehrlichkeit und nicht Opferbereitschaft ist und um eines, das in der Welt keine Bedrohung sieht, gegen die man sich freundschaftlich wappnen muss, sondern den eigentlichen Heimatort der Freunde. Freundschaft heißt nicht ›Wir gegen den Rest der Welt‹, sondern ›Wir in Beziehung zur Welt‹. Das stellt eine Vorstellung von Freundschaft dar, die womöglich weniger vertraut erscheint und in deren Bunde sicherlich kein Tyrann der Dritte sein möchte.

Es handelt sich um eine das Alltagsverständnis verwirrende Begriffsdeutung, die ganz typisch für Arendt ist: Wie viele ihrer Begriffe gewinnt sie auch Freundschaft aus einem eigenständigen Rückgriff auf die Antike und überspringt dabei die neuzeitliche Tradition, die sie für gescheitert erachtet. Sie bricht Begriffsperlen aus ihrem antiken Kontext, übersetzt sie in ihr Denken und schafft damit Begriffe, die eine merkwürdig unzeitgemäße Gültigkeit besitzen. Das führt zu kontraintuitiven Begriffen, die sich weder unmittelbar annehmen noch abweisen lassen und die im Idealfall auf den zweiten Blick überzeugen oder zumindest ihr kritisches Potential entfalten. Arendt sucht Begriffe, die von der neuzeitlichen Tradition vernachlässigt oder vergessen wurden, weil sie den politisch-gesellschaftlichen Anforderungen nicht genügten und deswegen in den Hintergrund geraten sind. Solche unbescholtenen Begriffsperlen, die kein Teil einer gescheiterten, modernen Tradition geworden sind, erwecken Arendts Interesse, denn sie können Teil ihres Projektes werden, das Politische mit Begriffen neu zu beschreiben, die sich der Gewaltsemantik widersetzen.

Freundschaft ist ein solcher Begriff. Obwohl Arendt in ihrer persönlichen Beziehungspraxis als »Genie«3 oder »Meisterin«4 der Freundschaft gerühmt wird, stehen eine Durchdringung der theoretischen Verwendung des Begriffs wie auch eine fokussierte Konzeptionalisierung ihres Freundschaftsbegriffs noch aus. Zwar werden bisher einzelne, konkrete Freundschaften Arendts phänomenologisch ausgeleuchtet, interpretiert und erzählt, aber das Interesse gilt in der Regel eher den beeindruckenden, intellektuellen Persönlichkeiten und weniger dem theoretischen Verständnis von Freundschaft.5 Auch wenn dieses Vorgehen durchaus auch für die Idee der Freundschaft gewinnbringend sein kann, wie jüngst Andree Michaelis-König in seiner Studie Das Versprechen der Freundschaft6 gezeigt hat, neigt dieser induktive Zugang ausgehend von der arendtschen Praxis zu eher assoziativen Verknüpfungen mit arendtschen Theoremen. Daraus folgt zum einen, dass Aspekte, die nicht im Verhältnis zwischen Arendt und Jaspers, Scholem, McCarthy etc. angelegt sind, unbeachtet bleiben und zum anderen, tendieren solche Behandlungen zu einer ›Positiv-Kultur‹, die die Widerständigkeiten des Begriffs ausblenden. Freundschaft droht dann ein weicher Horizontbegriff zu werden, der das Nachdenken ins Unendliche ausweitet und dabei diffundiert. Im Ergebnis entsteht der merkwürdige Eindruck der Dauerpräsenz eines Begriffs, dessen amorpher Bedeutungsüberhang häufig angedeutet, aber nie ausgearbeitet wird: »Der Gedanke der Freundschaft beschäftigt Arendt zeitlebens und ist in beinahe allen ihren Schriften gegenwärtig«7, wie Ingeborg Nordmann in ihrem Nachwort triftig feststellt. Dennoch bleibt trotz dieser Allgegenwart in den Schriften der Begriff theoretisch unterbelichtet.

Zur Schließung dieser Forschungslücke möchte ich beitragen und Freundschaft als theoretisches Argument und eigenständigen Begriff bei Arendt herausarbeiten. Das Untersuchungsmaterial ist dann weniger Arendts Beziehung zu diesem oder jenem Freund, sondern die Verwendung der Freundschaft im Kontext der theoretischen Argumentation. Das liefert einen Schlüssel zum Verständnis von Arendts politischer Theorie, ohne den sich einzelne Passagen kaum adäquat interpretieren lassen. Wenn Arendt von Freundschaft spricht, meint sie etwas Bestimmtes: Wenn sie die Tätigkeit des Sokrates als den Versuch interpretiert, aus den Bürgern Athens Freunde zu machen, wenn sie ermahnt, dass im Denken die Partner Freunde sein müssen und wenn das moralische Problem des Mordes darin besteht, dass niemand mit einem Mörder befreundet sein möchte, dann bedeuten diese Referenzen auf den Begriff Freundschaft etwas Spezifisches. Das sind keine lapidaren Formulierungen, sondern überlegte Bestimmungen von Relationalität an neuralgischen Stellen der Argumentation. Was dieses Spezifische ausmacht, bedarf einer eingehenden – und bisher vernachlässigten – Analyse.

Ziel dieser Arbeit ist also, den Begriff der Freundschaft an Arendts theoretischen Positionen herauszuarbeiten und in der Umkehrung die Stellen zu erhellen, an denen Arendt Freundschaft argumentativ nutzt. Im Kern dieses Konzepts der Freundschaft bei Arendt steht die Idee, Freundschaft nicht als die Beziehung zweier Freunde zu verstehen, sondern als eine Beziehung zur Welt, die über den Freund vermittelt wird. Was vorerst als eine Nuance erscheinen mag, verändert alle Koordinaten dieser Beziehung grundsätzlich. Das eigentliche Interesse der Freundschaft kreist nicht mehr um den Freund, sondern die Welt. Demnach schenkt die Freundschaft den Menschen einen anderen Modus der Existenz, nämlich das Personsein und das Gefühl im Bereich der Pluralität nicht ganz fremd oder sogar zuhause zu sein. Wenn darin das eigentliche Interesse der Freundschaft besteht, dann ändern sich vielfache Prioritäten, Tugenden und Praktiken. Dann gilt es, in der Beziehung zuerst die Welt zu schützen und erst danach den Freund. Somit werden Wahrhaftigkeit und Streitfähigkeit wichtiger als Übereinstimmung. Die Pluralität verliert ihre Bedrohlichkeit und wird zu einer Qualität der Beziehung. Ich werde Freundschaft am Ende in das etwas technische Bild eines Dreiecks ohne Hypotenuse fassen. Zwei unabhängige Menschen sind gleichermaßen auf die Welt bezogen und somit nur indirekt verbunden; es ist eine Beziehung über Eck, über Bande und immer steht etwas – die Welt – zwischen den Menschen. Die Welt wird zum konstitutiven Faktor des freundschaftlichen In-Beziehung-Seins und auf dieser Grundlage problematisiert Arendt wiederkehrende Versuchungen, diese Beziehungsform zu hintergehen: Die Versuchung der Liebe, die Versuchung der Sachlichkeit und die Versuchung der Freiheit.

Die Perspektive, die ich auf Hannah Arendt einnehme, lässt sich einer Strömung zuordnen, die Arendt seit einigen Jahren als eine zentrale »Referenzautorin für einen ›dissentiven Republikanismus‹«8 liest, wobei Fragen der Stabilisierung einer pluralistischen Ordnung über Konflikt thematisiert werden. Davon lassen sich andere Stränge abgrenzen, wie die frühe Auseinandersetzung, die Arendt hauptsächlich als eine »Denkerin der Polis«9 gelesen hat, die als Neoaristotelikerin die antiken Konzepte von Phronesis und Politik wiederentdeckt.10 Diese frühe Lesart machte sie anfällig für den Vorwurf der modernefeindlichen Polisromantikerin, wie ihn Jürgen Habermas geäußert hat: »Auch Arendt fällt zunächst unter den Habermas’schen Verdacht, ein polisnostaligisches Theorieprogramm in polemischer Opposition gegen genuin moderne Positionen entworfen zu haben.«11 Später dämpft Habermas seine Kritik und erkennt in Arendts Machtbegriff Anschlussmöglichkeiten für die Theorie des kommunikativen Handelns. In diesem Kontext konturiert sich eine Strömung, der zum Beispiel Seyla Benhabib12 angehört, die Arendt eher als moderne Theoretikerin liest und das Kommunikative des Handlungsbegriffs betont. Diese moderne Lesart geht zu Lasten des Aristotelismus und der expressiv-agonalen Seite des öffentlichen Miteinanders.13 Das ist eine Auslegung, die das Konflikthafte bei Arendt deliberativ zu harmonisieren versucht und von der sich der ›dissentive Republikanismus‹ dahingehend unterscheidet.

Eine weitere eher konkurrierende Lesart Arendts eröffnen die revolutionären Ereignisse in Mittel- und Osteuropa um 1989. Arendt wird als Revolutionsdenkerin wahrgenommen, da ihre Begriffe – insbesondere Spontanität, Natalität, Handeln – ein treffendes Instrumentarium zur Beschreibung von Revolutionen lieferten, sowohl für Forschende als auch für die Selbstbeschreibung der Akteure.14 An dieses Befreiungspotential knüpfen radikaldemokratische Ansätze an; prominent vertreten von Oliver Marchart.15 Hier ist zwar das Dissentive nicht unterrepräsentiert, aber die Euphorie der Befreiung verliert den Blick für die Stabilisierung der Freiheit.

Sowohl gegen eine konsensual-deliberative Lesart als auch gegen einen einseitigen Fokus auf das befreiend-destabilisierende Neuanfangen wenden sich die Vertreter eines ›dissentiven Republikanismus‹ bei Arendt. Es wird versucht, Arendts »politische Ordnung des Konflikts«16 auszuleuchten, was bedeutet, das Pluralitätsaxiom mit den Stabilitätserfordernissen einer Ordnung zusammenzuführen. Grit Straßenberger beschreibt es wie folgt: »Die freiheitlich-republikanische Demokratie bedarf zu ihrer Erhaltung der sichtbaren Darstellung und der kommunikativen Austragung von Differenz.«17 Zu diesem Zweck rücken Gegenstände ins Interesse der Betrachtung, die beide Seiten – Pluralität und Stabilität – moderieren, wie zum Beispiel Institutionen18, Recht19, Narrativität20 oder Spiel21. In diese Reihe gehört meine Rekonstruktion der Freundschaft, die als Modus konfliktiver Verbindlichkeit verstanden wird. Sie liefert eine Reflexionsfläche für die relationalen Bedingungen des dissentiven Republikanismus.

Der Stand der Forschung zu Arendts Freundschaftsbegriff ist weder auf Seiten der Freundschaftsforschung noch auf Seiten der Arendtforschung besonders ausgeprägt. Die einschlägigen Überblickswerke zur Freundschaft – meist aus der Soziologie, Philosophie oder Literaturwissenschaft – führen Arendt nicht als eine Autorin mit einem relevanten Beitrag zur Debatte.22 Die politik- oder zumindest sozialwissenschaftliche Literatur zur Freundschaft wächst zwar, seit Derridas Politik der Freundschaft23 2002 erschienen ist, bleibt aber insgesamt weiterhin ein ›Orchideenthema‹.24 Im Kontext der Sozialwissenschaften ist der Begriff Solidarität25 um ein Vielfaches verbreiteter. Dies mag auch daran liegen, dass Solidarität spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts im Zuge mehrerer Transformationsprozesse klarer politisch konnotiert und aufgeladen ist, während Freundschaft zunehmend undeutlich zwischen privat und öffentlich changiert.26 Eine Ausnahme bietet Klaus-Dieter Eichler, der durch die Herausgabe des Lesebuches Philosophie der Freundschaft27 1999 einen Kanon an Texten der politischen Philosophie von Platon bis Michael Sandel zusammengestellt hat und damit Freundschaft politiktheoretisch zugänglicher und sichtbarer gemacht hat. Arendt taucht allerdings in diesem Buch noch nicht auf, aber in seinem Aufsatz Die Freundschaft der Politik28 von 2006 wird Arendt inzwischen neben Derrida als eine zentrale Referenz des Freundschaftsdiskurses dargestellt. Der Fokus liegt hier auf der Brüderlichkeitskritik und der Rede zum Erhalt des Lessingpreises von 1959. Die Lessingrede gilt allgemein als der zentrale Text zum Thema der Freundschaft bei Arendt. 2018 hat Matthias Bormuth eine Neuausgabe der Lessingrede herausgegeben, die den Titel Freundschaft in finsteren Zeiten trägt und von recht persönlichen Texten über Freundschaft gerahmt ist.29 Mit dem gleichen ›Framing‹ hat Bormuth 2016 auch den zweiten wichtigen aber im Diskurs über Freundschaft kaum rezipierten Text Sokrates – englisch Philosophy and Politics – neu herausgegen und mit Überlegungen zur Freundschaft kontextualisiert.30

Das sind Indizien für ein zunehmendes Interesse am Begriff der Freundschaft, aber in der Breite der Arendtforschung ist er bei weitem noch nicht angekommen. Das steht, wie oben bereits erwähnt, im krassen Gegensatz zu der Beschäftigung mit Arendts Freundschaften, an denen ein reges Interesse herrscht. Arendts Freundschaften erfahren eine hohe Aufmerksamkeit, ihr eigenständiges Nachdenken über den Begriff der Freundschaft hingegen kaum. Das ist eine wesentliche fachliche Leerstelle, denn Helmut König schreibt, dass seit Aristoteles niemand mehr »so intensiv und produktiv über die Freundschaft nachgedacht hat wie Hannah Arendt.«31 Der Forschungsstand zeigt hier also eine relevante Lücke, weil Arendt bisher nur als Praktikerin der Freundschaft, nicht aber als Theoretikerin der Freundschaft untersucht wird.

Auch wenn ein wesentliches Forschungsdefizit besteht, so gibt es durchaus vereinzelte Arbeiten, die sich intensiver mit der Freundschaft bei Arendt auseinandersetzen. Im deutschsprachigen Raum sind die Arbeiten von Christina Thürmer-Rohr hervorzuheben, die im Sammelband Fremdheiten und Freundschaften von 2019 in einigen Aufsätzen32 eine feministische Perspektive auf die Freundschaft (auch bei Arendt) wirft und sie als weltoffenes und geschlechtsneutrales Gegenkonzept zur Brüderlichkeit versteht. Ihr Vorgehen kommt der vorliegenden Studie methodisch am nächsten, weil Thürmer-Rohr darauf verzichtet, Freundschaft primär aus Arendts Praxis heraus zu deuten. Daneben nimmt die Arbeit des Kulturwissenschaftlers Ringo Rösener33 von 2017 Freundschaft als Liebe zur Welt. Im Kino mit Hannah Arendt eine unkonventionelle Perspektive ein, denn er verschränkt Filminterpretationen mit Philosophie. Freundschaft sind bei ihm die arendtschen Tätigkeiten des miteinander Sprechens und Handelns, die er an Kinofilmen exemplifiziert. Lesenswert berührt Tatjana Tömmel in ihrem Buch Wille und Passion34 die Freundschaft neben der Solidarität und dem Respekt als einen Nachbarbegriff zur Liebe, und zudem ist sie Autorin des Artikels zu Freundschaft im einschlägigen Arendt-Handbuch.35

Im englischsprachigen Teil der Arendtforschung lässt sich ein etwas systematischeres Nachdenken über Freundschaft finden. Die meisten Texte adressieren einen spezifischen Topos, beispielsweise die Abgrenzung zur Liebe und die Verortung der Freundschaft36 oder die Mittlerfunktion der Freundschaft in dem komplexen Verhältnis von Wahrheit und Politik.37 Diese Aufsätze geben wertvollen Aufschluss zu einzelnen freundschaftsrelevanten Aspekten in Arendts Denken, aber unzweifelhaft ist die führende Referenz zu Arendt und Freundschaft das Buch Hannah Arendt and the Politics of Friendship von Jon Nixon aus dem Jahr 2015. Zwar beschäftigt es sich ebenfalls vor allem mit den Freundschaftserfahrungen von Hannah Arendt, aber sein Ziel ist es nicht, diese Erfahrungen zu beschreiben, sondern die politische Bedeutung des Begriffs zu gewinnen, denn die ist »central to Hannah Arendt’s conception of politics«38. Seine Beschäftigung mit Jaspers, Heidegger, McCarthy und Blücher verbindet er intuitiv mit den Begriffen Politik, Verstehen und Pluralität. Sein Buch hat die gesamte Forschung zu Arendt und Freundschaft und auch meine Arbeit am meisten unterstützt, jedoch unterscheidet sich Nixons biografischer Zugang von meiner werkhermeneutischen Herangehensweise.

Bei dieser Arbeit handelt es sich um eine hermeneutische Werkexegese: im Werk einer Autorin soll ein Begriff im Sinne der Autorin verstanden werden, um das Werk dieser Autorin besser zu verstehen. Es ist ideengeschichtliche Archivarbeit, die das Register der Akte Arendt um den Eintrag Freundschaft erweitern und Arendt gleichzeitig im Lichte dieses Begriffs ausleuchten möchte. Damit Freundschaft ein Schlüssel zum arendtschen Werk sein kann, darf der Begriff nicht gänzlich aus der arendtschen ›Methodologie‹ gerissen werden. Darum werde ich mich in weiten Teilen der Arbeit auf die arendtsche Perspektive oder Methode einlassen.

Daraus folgen drei methodische Punkte: Erstens gewinnt der Begriff als ein Schlüssel zum arendtschen Werk nicht dadurch Kontur, ihn historisch zu rekonstruieren, sondern vielmehr rational. Im Sinne von Richard Rorty versucht die historische Rekonstruktion einen Einblick in die politisch-historische Konstellation zur Zeit des Autors zu bekommen, während es der rationalen Rekonstruktion allein um die überzeugende Argumentation geht. Daher kann gemäß der rationalen Rekonstruktion ein Argument des Aristoteles nicht nur mit relativ zeitgenössischen Autoren wie Platon, sondern auch etwa mit Hobbes und Kant ins Gespräch gebracht werden. Rorty ordnet solche rationale Rekonstruktion der analytischen Philosophie zu: »Analytische Philosophen, die sich um ›rationale Rekonstruktion‹ der Argumente großer, verstorbener Philosophen bemüht haben, sind dabei in der Hoffnung verfahren, diese Philosophen als Zeitgenossen zu behandeln, als Kollegen, mit denen sie Meinungen austauschen können.«39 Auch wenn Arendt selbst weder analytisch noch Philosophin war, verfährt sie genau in diesem Duktus. Damit trifft auch auf sie der Anachronismus-Vorwurf zu, der sich generell an die rationalen Rekonstrukteure richtet: »sie hämmerten sich die Texte so zurecht, daß sie die Gestalt von Aussagen annehmen, über die derzeit in den philosophischen Fachzeitschriften diskutiert wird.«40 Dieser Anachronismus ist in gewisser Hinsicht arendtsche Programmatik, die sie Perlentauchen nennt und das trifft besonders auf einen an der Antike inspirierten Begriff von Freundschaft zu. Arendts Interesse gilt hier nicht den historischen Zusammenhängen, aus denen sie recht schonungslos herausgebrochen sind, sondern der Überzeugungskraft in der Gegenwart.

Diese Programmatik hängt mit der zweiten Konsequenz zusammen, die sich aus Arendts Methode für diese Arbeit ergibt. Arendt selbst hat Freundschaft nicht als einen Archivbegriff bearbeitet, sondern in seiner »Arsenalfunktion« also als »Teil des Deutungskampfes der Gegenwart«41. Sie nutzt Freundschaft in der Regel als ein kritisches Reflexionskonzept, das vor allem als Kontrast in Erscheinung tritt. Was damit gemeint ist, zeigt sich exemplarisch am besten an einem Zentraltext der Freundschaft, der Rede zum Erhalt des Lessingpreises der Stadt Hamburg. Hier wird die homogene Brüderlichkeit durch eine Kontrastierung mit der pluralen Freundschaft kritisiert und ohne Brüderlichkeit bekommt die Freundschaft im Text keine Kontur. Um der Freundschaft als eigenständigem Konzept näher zu kommen, müssen deswegen auch die zahlreichen Kontrastfolien und Gegenstände der freundschaftlichen Kritik betrachtet werden. Um über Freundschaft nachzudenken, muss also nach Möglichkeit mitberücksichtigt werden, wogegen sie sich mit der Verwendung positioniert.

Zur Konzeptualisierung eines arendtschen Begriffs muss man sich drittens darauf einlassen, dass Arendt selbst keine werkübergreifende Konsistenz ihrer Begriffe beachtet hat. Arendts Inkonsistenzen sind allerdings weniger ihrer Nachlässigkeit geschuldet, sondern beruhen auf der Überzeugung, dass Konsistenz kein Eigenwert ist und sich gerade auch in den Inkonsistenzen eine Offenheit gegenüber der Welt verbürgt.42 Sie erweist sich als eine Denkerin, die immer bereit ist, die begriffliche Eindeutigkeit im Interesse einer adäquaten Bestimmung der Welt zu opfern. Für kaum einen Begriff ist das angemessener als für Freundschaft, da Arendt die freundschaftliche Haltung Lessings gerade an seiner Bereitschaft festmacht, »sogar die Widerspruchslosigkeit mit sich selbst«43 aufzugeben. Man darf also nicht der Versuchung erliegen, alle Widersprüche auflösen zu wollen und Arendt dort Gradlinigkeit zu unterstellen, wo sie selbst aus guten Gründen Widersprüche in Kauf genommen hat. Das gilt vor allem, wenn am Ende der Arbeit ein Begriffsvorschlag gemacht wird. Der Begriff kann nur Motive versammeln und sortieren, aber keine definitorische Härte ohne Deutungsoffenheit erzeugen.

Diese drei methodischen Vorgaben Arendts werden in meiner Arbeit nicht bekämpft, sondern sind im Gegenteil untersuchungsleitend. Sie entsprechen der grundsätzlichen Haltung Arendts zur Wissenschaft und Welt, die ich nicht methodisch glätten kann, ohne den Sinn arendtschen Theoretisierens zu verstellen. Um sie zu verstehen, muss ihr Verständnis respektiert werden und dabei sollte man nicht auf die Suche nach Eindeutigkeit gehen, sondern den im Widerspruch liegenden Weltzugang erhalten. Dazu passt die hermeneutische Perspektive und das davon geprägte Vorgehen: Hermeneutik bezeichnet eine theoretische Perspektive, die das ›Verstehen‹ als einen »spezifischen Modus des Weltzugangs« auffasst und sich »als grundlegende Gegenposition zu naturalistischen Verständnissen sozialer Wirklichkeit begreifen lässt.«44

Der konkrete Prozess der Erarbeitung verläuft in hermeneutischen Zirkeln, deren Phasen das finale Produkt nur noch bedingt darstellen kann. Der hermeneutische Zirkel verweist darauf, dass »Verstehen als aktiver und produktiver dialektischer Annäherungsprozess aufgefasst«45 wird. Dabei nähert sich der hermeneutische Interpret gezwungenermaßen mit einem Vorverständnis, das auf einen Text trifft, dem dieses Vorverständnis nicht gerecht wird. »Die Widerständigkeit des Textes, die Probleme, die er für das unmittelbare Verstehen aufwirft, veranlassen den Leser dazu, sein naives Vorverständnis zu korrigieren, den Text in einen größeren Kontext zu stellen und seinen Verstehenshorizont so schrittweise zu erweitern.«46 In dem Wechselspiel von Vorverständnis und Textverständnis zieht der hermeneutische Zirkel immer engere Kreise, die am Ende zu einem überzeugenden, aber nicht objektiven Ergebnis führen.

Konkret wurde ein Vorverständnis durch die Beschäftigung mit den zwei kleinen Texten entwickelt, in denen sich Arendt intensiv mit Freundschaft beschäftigt: der Rede zum Erhalt des Lessingpreises Gedanken zu Lessing und dem Aufsatz Sokrates. Mit diesem Vorverständnis wurden die großen Monografien von Arendt gelesen, immer auf der Suche nach gehaltvollen Beschreibungen der Freundschaft bzw. ihren Kontrastkonzepten. Dadurch hat sich ein Set an wiederkehrenden Motiven und Gegenmotiven dargeboten, die am Ende zu einem gesättigten Verständnis von Freundschaft und zu einem begründeten Begriffsvorschlag verdichtet werden. Im letzten Kapitel kristallisiert sich aus dieser Verdichtung ein eigenständiger Begriff der Freundschaft heraus, der dann in Bezug zu seinen Problematisierungen gesetzt wird. Mit dieser Methode entsteht ein unkonventioneller Zugang zu Arendts Werk, der auf neue Weise Themen und Texte Arendts miteinander ins Gespräch bringt. Die kleinen und eher randständigen Texte verbinden die großen Werke über die Frage der relationalen Bedingungen des gelingenden Handelns und Denkens.

Das Vorgehen der Arbeit stellt sich dabei wie folgt dar. Den Einstieg bilden Episoden aus Arendts persönlichen Freundschaften, die etwas Typisches über Freundschaft zeigen. Daraus sollen zunächst keine direkten theoretischen Erkenntnisse abgeleitet, sondern erste Hinweise auf das Phänomen und einen kursorischen Einblick in Arendts Umfeld gegeben werden (Kapitel 2). Die Auswahl der Freunde stellt dabei weder eine Besten- noch eine Gesamtliste dar, aber Mary McCarthy, Karl Jaspers und Rahel Varnhagen sind unbestritten relevant und wurden bereits Teil einer öffentlichen Auseinandersetzung mit oder um Hannah Arendt. Zusammen liefern sie bereits ein wichtiges Vorverständnis für Arendts Idee von Freundschaft. Im Anschluss daran werden mit Aristoteles und Montaigne zwei ideengeschichtliche Referenzen vorgestellt, die für Arendt relevant sind. (Kapitel 3). Dabei spielt Aristoteles als einzige durchgängige explizite Referenz Arendts die entscheidende Rolle. Dem gegenüber wird Michel de Montaigne vorgestellt, auf den Arendt zwar nicht selbst Bezug nimmt, der aber mit Aristoteles bricht und den Weg in die romantische und verschmelzende Freundschaft geht. Er steht damit stellvertretend für ein Freundschaftsverständnis, das Arendt problematisiert. Diese beiden ersten Kapitel stellen Vorarbeiten für den folgenden Hauptteil der Arbeit dar.

Der Hauptteil ist in zwei Kapitel geteilt. Zunächst wird die Freundschaft zu sich selbst thematisiert und dabei eher auf Texte aus dem Bereich der vita contemplativa zurückgegriffen, während das zweite Hauptkapitel die Freundschaft als eine politische Beziehung zu den Mitbürgern bedenkt und dabei eher die vita activa bespricht. Im ersten Hauptkapitel (Kapitel 4) gehe ich Arendts Frage nach dem Zusammenhang von Denken und Moral nach, wobei sich die freundschaftliche Beziehung zwischen mir und mir selbst als zentral erweist. Der Mensch ist im Inneren bereits eine rudimentäre Pluralität, deren Erhalt durch Freundschaft für das Denken notwendige Bedingung ist. Damit schreibt Arendt die Pluralität entgegen der philosophischen Tradition in das Geistesleben ein und gibt ihr eine moralische Dimension, denn wer mit sich selbst befreundet sein möchte, der kann nicht mehr alles tun. Diese moralische Grundierung des Denkens wird im Verlauf des Kapitels als eine ›negative Moral‹ ausgeleuchtet und anschließend mit Hilfe der anderen menschlichen Kapazitäten – dem Willen und dem Urteilen – zu einer ›positiven Moral‹ weiterentwickelt. Demzufolge wird dem Freundeskreis als Urteilsgemeinschaft eine entscheidende, aber gleichwohl ambivalente Rolle für das moralische Handeln zugewiesen. In diesem Komplex von Denken und Moral wird Freundschaft zu einer kritischen, unabhängigen Verbundenheit, deren zentrale Tugend die Wahrhaftigkeit ist und deren schieres Bestehen bereits eine moralische Qualität darstellt, weil sie zwar nicht das Leid der Menschen lindert, aber die Welt vor den sogenannten ›Skandalen‹ – wie sie mit Jesus sagt – bewahrt. Moralität wird über die Integrität der denkenden Person behauptet und integer ist eine Person, die mit sich selbst befreundet ist.

Das politische Potential wird im zweiten Hauptkapitel (Kapitel 5) ausgearbeitet, wobei Klaus Dieter Eichler treffend bemerkt, Arendt mache »am Modell der Freundschaft die ›Substanz‹ des Politischen anschaulich und eine Abstraktheit konkret.«47 Das Sprechen von Freundschaft führt direkt in den Kern des Politischen und ist hier vor allem eine Kampfansage gegen polemische Politikbegriffe, die den Feind und die Gewalt zum zentralen Gegenstand des Politischen machen. Deswegen wird das Kapitel zu Beginn den weltvergessenen Politikbegriff der Neuzeit und die dazugehörige Idee von politischer Verbindung unter den Bürgern kritisieren. Dagegen wird Arendts an der Antike inspirierter Politikbegriff vorgestellt, der geschult an den homerischen Epen die Erfahrungen von Freiheit, Gleichheit und Gewaltlosigkeit in den Mittelpunkt stellt. Die Ironie liegt darin, dass in der gigantischen Schlacht um Troja die antiken Tötungsmaschinen um Odysseus, Menelaos und Achill das gewaltlose Miteinander der Freien und Gleichen erfahren. In ihrer Auseinandersetzung mit diesen Erfahrungen vor Troja entwickelt Arendt ein Verständnis des Politischen, bei dem die politischen Fragen den Freund betreffen und der Feind dabei nur zufälliger Kontext ist. Doch Freundschaft ist für Arendt nicht nur in der Debatte um das Politische als Gegenbegriff zu Gewalt und Feindschaft wichtig, sondern taucht als »eminent republikanische Tugend«48 auch in der Analyse der Polis als institutionalisierte politische Ordnung auf. Die Polis ist die Fortführung des Heerlagers und für ihren Untergang macht Arendt auch einen Mangel an freundschaftlicher Tugend unter den Bürgern verantwortlich. Für eine Gemeinschaft, die sich nicht durch Abgrenzung nach außen definieren möchte, ist Freundschaft unter den Bürgern unabdingbar, denn sie liefert mit der Welt ein ›konstitutives Innen‹. Als politische Tugend steht sie für Weltoffenheit, Konfliktaffinität, Gleichwertigkeit und für die Temperierung eines Überschwangs der Freiheit.

In beiden Hauptkapiteln tritt die Freundschaft vor allem ex negativo in Erscheinung. Im Kapitel der Freundschaft zu sich selbst konturiert sie sich, indem das freundschaftliche Denken gegen dasjenige der philosophischen Tradition abgegrenzt wird, welches Metaphysik gegen Weltlichkeit, Homogenität gegen die Pluralität etc. ausgespielt hat. Das gleiche gilt für das politische Potential der Freundschaft, welches besonders gegen die weltlose Neuzeit spürbar wird. Das liegt daran, dass Arendt die Freundschaft nicht selbst ausmalt, sondern meist nur den negativen Raum um das Phänomen Freundschaft abzeichnet. Die Entwicklung des Freundschaftsbegriffs gelingt Arendt nicht durch den Satz ›Freundschaft ist …‹, sondern durch den Satz ›Freundschaft ist nicht…‹. Dem letzten Kapitel (Kapitel 6) kommt darum die Schlüsselaufgabe zu, diese negative Logik einmal zu verlassen und einen positiven Begriff von Freundschaft anzubieten. Dafür werden die Form und die Verbindung der bereits erfassten Elemente zueinander bestimmt und beschrieben. Mit diesem positiven Gerüst des Begriffs Freundschaft werden dann die Topoi, gegen die Arendt die Freundschaft immer wieder argumentativ ins Feld führt, auf eine Art gezeigt, die deren je spezifisches Verbindlichkeitsproblem sichtbar werden lassen. Dabei handelt es sich neben Liebe und Objektivität auch um gewisse Überschüsse der Freiheit. Zuletzt soll der schöne Begriff der Freundschaft an seine unangenehmen Ränder geführt werden, indem ich Arendts Intervention in die Ereignisse um Little Rock als Beispiel für eine Praxis im freundschaftlichen Sinne interpretiere. Das abschließende Fazit (Kapitel 7) wird die Erkenntnisse der Arbeit resümieren und Implikationen des arendtschen Freundschaftsbegriffes abstecken.

2.Episoden exemplarischer Freundschaft

An den Anfang des Nachdenkens über Freundschaft möchte ich keine systematischen Überlegungen stellen, sondern einen unmittelbaren Geschmack von Freundschaft geben. Das Phänomen soll erst einmal entfaltet und entgrenzt werden, bevor am Ende der Arbeit ein systematischerer Begriff von Freundschaft rekonstruiert und entworfen wird. Dafür sollen drei Freunde von Arendt vorgestellt oder besser Episoden aus diesen Freundschaften erzählt werden, die die These der Freundschaft als eine Beziehung zur Welt andeuten sollen. Nicht etwa, weil ich denke, man könne aus Arendts Privatleben geradlinig Erkenntnisse für die Theorie ableiten, aber auch private Erfahrungen inspirieren das Denken. Außerdem hat es den schönen Nebeneffekt, auf diese Weise Arendt und ihr Umfeld zumindest sporadisch etwas kennenzulernen. Es handelt sich dabei um Mary McCarthy, Karl Jaspers und Rahel Varnhagen. Die Auswahl ist weder vollständig noch repräsentativ, aber zweifelslos sind es relevante Freunde von Arendt und darüber hinaus auch sehr markante Arten der Freundschaft, die darum auch erste Elemente für eine Theorie der Freundschaft spürbar machen. Die Beziehung zu Mary McCarthy ist die intime ›beste‹ Freundin, mit der viele lebensweltliche und besonders auch private Dinge besprochen werden. Im Gegensatz dazu ist die Freundschaft zu Karl Jaspers viel distanzierter und weniger intim, aber dafür öffentlicher und intellektueller. Die Freundschaft zu Rahel Varnhagen fällt aus dem Rahmen, zwar teilen sie ähnliche und sehr intime Erfahrungen und Probleme rund um die Frage, wie man als Jude in die Welt kommt, aber sie haben freilich nie ein Wort miteinander gesprochen. Arendt war Rahels Biographin und entwickelt im Laufe ihrer Auseinandersetzung mit der »deutschen Jüdin«49 eine Art freundschaftliche Beziehung, sodass sie sie sogar einmal ironisch ihre »wirklich beste Freundin«50 nannte. Auf Rahel passt die aristotelische Formel der Freundschaft: Sie ist Hannah Arendt ein anderes Selbst.

Worauf ich bei der Vorstellung dieser drei Beziehungen den Fokus legen möchte, sind Momente, an denen das Spezifikum der Freundschaft auftaucht oder problematisiert wird, nämlich die Frage nach dem spezifischen Verhältnis zur Welt als integralen Bestandteil dieser Beziehungsform. Es geht in diesem Kapitel darum, spürbar werden zu lassen und eine Anschauung davon zu geben, was die Behauptung meinen könnte, Freundschaft sei eine Beziehung zur Welt und nur indirekt eine Beziehung zum Freund. Diese merkwürdige Gegenüberstellung zwischen Freund und Welt und wie sie in Konflikt geraten können, wird an einer kleinen Episode mit Mary McCarthy idealtypisch deutlich. McCarthy ist an einer Stelle ihres Lebens versucht, sich gewaltsam aus den Verstrickungen mit der Welt und ihrer Geschichte zu befreien, um eine neue Liebe beginnen zu können. Und Hannah Arendt ist als gute Freundin nicht bereit, Mary McCarthy dabei zu unterstützen. Stattdessen steht Arendt auf der Seite der Welt und ermahnt sie zur Treue gegenüber ihrer Vergangenheit. An dieser unscheinbaren Episode wird die Treue zur Welt als Kern der freundschaftlichen Haltung erkennbar werden. Treue ist bei Arendt eng verwoben mit dem englischen Wort ›true‹, mit dem Wahren. Einen Zusammenhang zwischen Treue und Wahrheit entfaltet Arendt im Denktagebuch schön, wenn auch leider auf Grund der Notizhaftigkeit des Denktagebuches nicht ganz leicht:

»Treue: ›true‹: wahr und treu. Als wäre das, dem man die Treue nicht halten kann, auch nie wahr gewesen. Daher das grosse Verbrechen der Untreue, wenn sie nicht gleichsam unschuldige Untreue ist; man mordet das Wahr-gewesene, schafft das, was man selbst mit in die Welt gebracht hat, wieder ab, wirkliche Vernichtung, weil wir in der Treue und nur in ihr Herr unserer Vergangenheit sind: Ihr Bestand hängt von uns ab. So wie es von uns abhängt, ob Wahrheit in der Welt ist oder nicht. Wenn es die Möglichkeit der Wahrheit und des Wahr-gewesen-Seins nicht gäbe, wäre Treue Starrköpfigkeit, wenn es Treue nicht gäbe, wäre die Wahrheit ohne Bestand, ganz und gar wesenlos.«51

Treue ist eine Verpflichtung zur Wirklichkeit und der treue Freund ist derjenige, der bereit ist, die Wirklichkeit auszusprechen, allerdings nicht, um einen Streit zu gewinnen und Recht zu haben, sondern dem Gewesenen und der Faktizität der Beziehung und damit der Integrität und Kontinuität des eigenen Lebens gerecht zu werden. Die treuen Freunde in diesem Sinne sind dann nicht unzertrennlich, in guten wie in schlechten Zeiten füreinander da, sondern Bürgen und Zeugen der gemeinsamen Vergangenheit und Gegenwart. Diese Treue wird auf die Probe gestellt, wenn einer der Freunde versucht, das gemeinsam Wahr-gewesene zu verleugnen. Dann zeigt sich, ob es wahre Freunde sind, die dann auch bereit sind, für die gemeinsame Vergangenheit auch gegen den Freund zu streiten. Freundschaft ist keine vollkommene Solidarität mit dem Freund, sondern mit der Welt, die die Freundschaft begründet.

Dieses Motiv taucht auch in besonderer Weise in der Freundschaft zu Karl Jaspers auf. Arendt und Jaspers schaffen es, die Welt zwischen sich zu halten und über sie die Freude auszukosten, miteinander in Beziehung zu sein. Diese Beziehung entspricht am ehesten auch dem Konzept der Freundschaft, das man bei Arendt findet, und das wiederum hier in der Arbeit auch ausgearbeitet wird. Merkwürdigerweise ist diese gelingende Praxis aber nicht sehr harmonisch, sondern konstitutiv von einer Streitlust geprägt, denn wenn zwei Individuen wahrhaftig über die Welt sprechen, dann entstehen immer Meinungsverschiedenheiten. Mit dem Freund aber macht es Freude, solche Meinungsverschiedenheiten auszutragen. Über die Welt mit Individuen in Beziehung zu sein, ist immer eine Differenzbeziehung, die nur über Lust an der Verschiedenheit gelebt werden kann.

An Rahel Varnhagen wird in mancherlei Hinsicht das Gegenteil sichtbar, nämlich die Liebe zur Gleichheit. Rahel Varnhagens Leben ist davon geprägt, sich anzupassen und dazugehören zu wollen, was ihr die Welt allerdings nicht eröffnet, sondern verschließt. Das liegt natürlich an dem grassierenden Antisemitismus, der Rahel immer wieder aus der Welt ausschließt, aber Arendts Erzählung legt einen anderen und provokanten Fokus: Arendt problematisiert Rahels Umgang mit dieser Welt, denn Rahel erkennt die weltliche Wahrheit ihres Jüdisch-Seins nicht an und versucht dieser Tatsache vergeblich zu entfliehen. Sie verleugnet sozusagen ihre weltliche Erscheinung. Rahel will ihren Diskriminierungsmarker loswerden und das hält Arendt für unmöglich und selbstzerstörerisch. Rahels Lebensentwurf ist beinahe eine Antithese zur Freundschaft, weil sie allein versucht, gegen die Welt als jemand anderes in ihr zu erscheinen. Aber neben dieser Geschichte gibt es den berühmten Salon der Rahel Varnhagen, in dem sie die Geselligkeit der Freunde genießt und als sie selbst in Erscheinung treten kann. An ihrer Freundin Rahel zeigt Arendt die Probleme des Weltbezuges wie die zwei Seiten einer Medaille: Auf der einen Seite scheitert Rahel daran selbstlos und alleine in die Welt zu kommen, und auf der anderen gelingt es ihr selbstbewusst und mit Freunden. Alle drei Episoden ventilieren auf unterschiedliche Weise das Thema der Freundschaft, wie man in Beziehung zur Welt treten kann, beziehungsweise welche Art Schwierigkeiten dabei auftreten können.

2.1Die Sorge um das andere Selbst – Mary McCarthy

Mary McCarthy wird hier vorgestellt als Arendts beste – im Sinne der engsten – Freundin, mit der sie intimste Themen wie Liebesleben, Sehnsüchte und Ängste bespricht. Solche Themen haben bei den beiden keine Schwere: Es herrscht »eine von jeder Melancholie befreite Leichtigkeit im Umgang mit allen Fragen, der Freundschaft und Liebe, der Literatur, der Philosophie, der Politik und des Alltags.«52 Im Gegensatz zu der Leichtigkeit mit den Themen ist der Umgang der Freundinnen miteinander von tiefer Emotionalität geprägt; kaum ein Brief, der sich nicht die Zeit nimmt, die Liebe und Sehnsucht füreinander auszudrücken. Die Freundschaft zu McCarthy trägt fast Züge einer Liebesbeziehung und die McCarthy-Biografin Frances Kiernan konstatiert auch »the friendship grew into something akin to love.«53 In der arendtschen Nomenklatur ist das eher eine Problematisierung der Beziehung als ein Gütesiegel, denn Liebe und Freundschaft sind bei ihr Komplementärbegriffe. Während die Liebe sich stärker um den Menschen sorgt, ist die Freundschaft primär um die Welt bemüht. Denn in der engen Freundschaft der Liebenden gerät der Raum für das Zwischen häufig unter Druck. Aus dieser praktischen Vermischung der beiden Komplementärbegriffe lässt sich einerseits schließen, dass die Praxis doch immer gnädiger ist als die strikte Begriffsarbeit und andererseits ist sie ein Indiz, warum diese beste Freundschaft nicht zur Vorlage für die ideale Freundschaft geworden ist. Wofür diese Freundschaft in diesem Kapitel stehen kann, ist die Sorge um das Selbst der Freundin. Ich möchte zeigen, wie diese Freundinnen das jeweilige Selbst bekräftigt und bestärkt haben, indem sie sich gegenseitig für den Pluralitätsraum vorbereitet und ihre Persönlichkeiten ausprobiert haben. Im Anschluss möchte ich eine kleine Situation nacherzählen, die unscheinbar wirkt, aber in der ihre Beziehung in Frage stand, weil Arendt Freundschaftlichkeit anbietet als McCarthy Liebe erwartet. Daran will ich zeigen, dass die freundschaftliche Sorge um das Selbst bedeutet, die durch Geschichten in der Welt verwurzelte Persönlichkeit zu schützen und nicht den weltlosen Menschen.

Mary McCarthy wurde 1912 in Seattle geboren und musste mit sechs Jahren den schweren Schlag erleiden, dass beide Eltern innerhalb einer Woche der Influenza Pandemie von 1918-1919 zum Opfer fielen. Sie und ihre vier Geschwister kamen in Obhut, wobei McCarthy von ihrer Großtante aufgenommen wurde. Dort erlebte sie ein Martyrium von physischer und psychischer Gewalt. »By the age of eleven McCarthy had lost both parents within a week of one another, been mentally and physically abused by those responsible for her care and protection, and been separated from her siblings.«54 McCarthy schildert die Gewaltexzesse in dem Buch Memories of a Catholic Girlhood von 1957 an einer Episode, in der man ihr unterstellt hatte, ihrem Bruder einen Zinnschmetterling gestohlen zu haben:

»The boys were ordered to bed, and then, in the lavatory, the whipping began. Myers [the great aunt’s husband] beat me with the crop, until his lazy arm tired; wriggling is hard work for a fat man, out of condition, with a screaming, kicking, wriggling ten-year-old in his grasp. The great aunt then took his place, striking harder than he, with a hairbrush, in a businesslike, joyless way.«55

Die Situation änderte sich für Mary McCarthy als sie – für das Mädchen überraschend –wegen der Gewalt von ihren leiblichen Großeltern aufgenommen wurde und dort in eine liebevolle und aufmerksame Umgebung kam. Dennoch waren die Misshandlungen der frühen Kindheit prägend, genauso wie die überraschende Wende durch die Aufnahme seitens der Großeltern. Jon Nixon, der McCarthy-Biografin Kiernan folgend, beschreibt die Prägung für McCarthy durch die Erfahrungen der Jugend als »fatalistic in both its unpredictablity and chronic uncertainty.«56 McCarthy, die in ihrer Kindheit in die Unterwerfung geprügelt wurde, war dauernd um Selbstbehauptung und Streitfähigkeit bemüht, woraus Nixon auch eine Sympathie zur nicht minder streitfähigen Hannah Arendt ableitet.57 McCarthy erlebt eine durchwachsene Schulkarriere in verschiedenen katholischen Einrichtungen und wird eine rebellische Kämpferin gegen Autorität. Lediglich den intellektuellen Frauen, denen sie an ihrer Schule begegnete, zollte sie Anerkennung. Hannah Arendt wird genau diese Art der weiblichen Autorität bedienen und »gewissermaßen die bedeutendste unter McCarthys Lehrerinnen.«58 In ihren erwachsenen Jahren wird Mary McCarthy zu einer »intellectually challenging and erotically charged«59 Person. Insgesamt war McCarthy viermal verheiratet und führte einige Romanzen, unter anderem mit Philip Rahv, dem Herausgeber des einflussreichen linken Magazins Partisan Review.

Die 38-jährige Hannah Arendt trifft die sechs Jahre jüngere Mary McCarthy um 1944, als beiden der große Durchbruch noch bevorstand. Arendt, die seit 1941 in New York lebt, versucht eine neue Heimat aufzubauen und schrieb zu dieser Zeit regelmäßig für das deutsch-jüdische Magazin Aufbau. McCarthy war in den New Yorker Kreisen bereits keine Unbekannte und hatte – ähnlich wie Varnhagen – einen Zirkel von New Yorker Intellektuellen um sich.60 Auch wenn Arendt McCarthys Debütroman The Company She Keeps bewunderte, hätte die Beziehung der beiden durchaus kaum schlechter beginnen können. Bei einer Hausparty 1945, die der oben erwähnte Philip Rahv gibt, spricht McCarthy in einer Gruppe von Freunden, dass ihr Adolf Hitler leidtäte, der absurderweise die Liebe seiner Opfer ersehnte. Arendt, die sich auf solchen Partys grundsätzlich wegen ihrer Schüchternheit unwohl gefühlt haben soll, hört, wie diese junge Intellektuelle lapidar und zum Amüsement der feinen Gesellschaft über Hitler schnattert. Worauf sie – auch etwas dramatisierend – »explodiert«61 und den Gastgeber und Partner McCarthys fragt, wie er als Jude eine solche Bemerkung in seinem Haus gestatten könne und das vor ihr, einem Opfer Hitlers und Insassin eines Konzentrationslagers.62 Arendt gestattet ihr keine Entschuldigung und daraufhin stiehlt McCarthy sich davon.63 Erst einige Jahre später begruben beide diesen Vorfall, als Arendt auf dem Rückweg von einer gemeinsam besuchten Veranstaltung, auf der sie für eine ähnliche Position stritten, am Bahnsteig recht unvermittelt ein Gespräch mit McCarthy so beginnt: »Machen wir doch Schluß mit dem Unsinn! Wir denken doch so ähnlich.«64 Daraufhin konnte McCarthy ihre Bemerkung von damals einordnen und auch Arendt stellte richtig, nie in einem Konzentrationslager, sondern einem Internierungslager gewesen zu sein.65 Nachdem sie sich diese Situation verziehen hatten, beginnt eine lange Freundschaft, die für beide von größter Bedeutung werden wird. Interessant ist dabei auch, dass Arendt als erstes ihren Lageraufenthalt richtigstellt und damit ihre Lüge ausräumt. Es scheint Arendt wichtig gewesen zu sein, diesen Neustart der Beziehung nicht durch eine Lüge zu belasten.

Für Arendt war die Beziehung zu McCarthy eine Möglichkeit, die neue Heimat USA zu verstehen und umgekehrt bot Arendt für McCarthy eine Chance, Einblicke in die Welt des europäischen Bildungsbürgertums zu bekommen; so konnten die beiden aneinander fremde Welten kennenlernen. Daneben spielte wohl auch der Altersunterschied von 6 Jahren eine Rolle, weil die Beziehung dadurch »eine Mutter-Tochter-Komponente«66 bekam. »McCarthy finding in the older Arendt the pleasure of stability that she had lost with the death of her mother, and Arendt finding in the younger McCarthy the restlessness that she had experienced as an adolescent and towards which she felt a kind of protective sympathy.«67 Neben solchen psychologischen Aspekten, die mit einiger Vorsicht betrachtet werden müssen, ist die einleitend erwähnte Romantik und Sehnsucht nacheinander auffällig, die aus der »Romanze in Briefen«68 spricht und einer Liebesbeziehung nicht unangemessen wären. »Die Zärtlichkeit jedoch, die in ihren Briefen zu finden ist, zeugt von einer Freundschaft, die einer Liebesbeziehung nahekommt; kein Liebesverhältnis, aber auch nicht ganz platonisch.«69 Die Beziehung hat eine sehnsüchtige Komponente mit dem Wunsch der physischen Anwesenheit der anderen. Oftmals lebten beide nicht am selben Ort und die Freunde sahen sich nicht regelmäßig; besonders nachdem McCarthy in den 1960ern nach Europa gezogen ist. »Repeatedly, they expressed the desire to be in one another’s presence; spoke of how much they missed on another and how much they were looking forward to one another’s visits; and signed off their letters with deep expressions of love for one another.«70 Hier zwei schöne Beispiele für die Sehnsucht der beiden füreinander. Mary McCarthy schreibt an Hannah Arendt »Ich schreibe Dir aus rein egoistischen Gründen: weil mein Herz übervoll ist und ich reden möchte. Als wären wir in deiner Wohnung.«71 und ein Briefende: »Ach Liebste, ich wünschte, ich hätte heimkommen können. Ich vermisse Dich sehr.«72 Auch Arendt spricht nicht minder liebevoll: »Gott weiß, warum ich erst heute schreibe. Ich habe Dir unzählige Briefe geschrieben: daß ich Dir danke, daß ich große Sehnsucht nach Dir habe, daß ich mit neuer Verbundenheit und Zärtlichkeit an Dich denke.«73 Es ist befremdlich, beide Autoren so zu lesen, da ihr öffentliches Schreiben zumeist so kühl und bewusst herzlos wirkt oder zumindest dafür kritisiert wurde: »Choosing to face reality rather than the Other appeared to many of their readers as a refusal of intimacy and empathy, and, in fact, it was.«74 In den Briefen der Freundinnen richten beide eine leidenschaftliche Sehnsucht auf die andere, die je eine Art Heimat und Geborgenheit bot. McCarthy und die Beziehung zu ihr wird für Arendt zu dem Ort, an dem sie sich wieder in der Heimat befand, sowohl kulturell als auch persönlich:

»Sie [McCarthy D.T.] war eine der wenigen Amerikanerinnen, in deren Gegenwart Hannah Arendt die Scheu überwand, die sie immer dann verspürte, wenn sie Menschen nicht seit ihrer Jugend oder aus einer Atmosphäre kannte, die sie an ihre Jugend erinnerte, einer Atmosphäre deutscher Kultur, in der das richtige Goethe-Zitat immer bei der Hand war.«75

Arendt kann hier die Maske fallen lassen und auf eine Weise sie selbst sein, wie es auf Grund der Flucht aus Europa nur noch selten möglich war. McCarthy verband für Arendt die neue und alte Heimat und linderte somit einen Bruch in Arendts Biografie und das Gefühl der Heimatlosigkeit.

Für beide war die Freundschaft essenziell, um einen (Rück-)Halt im Leben zu haben und dennoch ist sie von beiden nicht zum Gegenstand theoretischer Reflektion geworden. Es ist bemerkenswert, dass Arendt diese ›beste‹ Freundschaft nicht zum Ideal der theoretischen und politisch fruchtbaren Reflektion gemacht hat: »They did not analyse their relationship or use it to conceptualise – or reconceptualise – friendship.«76 Dieser Umstand schmälert die Beziehung nicht, aber es drängt nach der Frage, warum das der Fall ist. Meine Vermutung ist, dass hier eine Beziehung geführt wurde, deren Nähe und emotionale Verbundenheit häufig kein ›Zwischen‹ mehr erlaubte. Die Beziehung wurde nicht primär geführt, um in der Welt zu Hause zu sein, sondern um bei seinem anderen Selbst zu Hause zu sein. Es ist eine intime, innerliche Beziehung und diese Innerlichkeit verträgt sich nicht mit öffentlicher Bearbeitung.

Jon Nixon attestiert der Freundschaft aus zwei Gründen »immense importance«: »utility« und »pleasure«.77 Pleasure (Lust) hatten beide an der Anwesenheit der anderen und an dem Gefühl der Heimat, wie oben angedeutet. Doch ebenso bedeutsam für die Freundschaft war der Nutzen, utility. So unterstützten sich beide, allerdings nicht öffentlich-professionell; keine rezensierte die Arbeiten der anderen oder lobte sie in öffentlicher Weise. Zwar half McCarthy Arendt beim Schreiben und Übersetzen ihrer Texte ins Englische und Arendt unterstützte beispielsweise McCarthys Bewerbung bei der Guggenheim Foundation, aber darin bestand nicht der Nutzen ihrer Freundschaft. Vielmehr unterstützten sie sich, indem sie sich im voröffentlichen Schutzraum ihrer Freundschaft auf die Öffentlichkeit und die dortigen Akteure vorbereiteten. Arendt und McCarthy besprechen häufig ihre Einschätzungen und Bewertungen verschiedener Personen, was auch deshalb nötig ist, weil sie beide nicht Teil der bestehenden männlichen Netzwerke sein konnten und sicherlich auch nicht sein wollten. Darum hilft den beiden, miteinander ihr Umfeld zu besprechen und zu beurteilen, und darum nennt Jon Nixon ein Gutteil des Briefwechsels auch »gossipy«78. Die Selbstbestätigung beschränkte sich aber freilich nicht auf die Einschätzung verschiedener Personen, sondern auch auf die gegenseitigen Perspektiven und Positionen. In der Bestätigung oder natürlich Zurückweisung der eigenen Sichtweisen durch die jeweils andere, bekamen beide die nötige Sicherheit zu erkennen, wo sie selbst stehen. In den gemeinsamen Gesprächen bildete sich die eigene Meinung und bekam eine Sicherheit, die es ihnen erlaubte, auch öffentlich und gegen Widerstände ihre Meinung zu vertreten. Sie schöpften Kraft aus dem freundschaftlichen Rückhalt. In dieser Haltung waren die beiden dazu in der Lage, öffentliche Debatten so kontrovers zu bereichern. Jon Nixons überzeugende These zur Freundschaft von Hannah Arendt und Mary McCarthy lautet, dass sie beiden verhalf, sich ihrer selbst zu versichern:

»Their friendship was about becoming themselves: each helped the other to become herself; each was useful to the other in the professional and social circles within which they moved; and, crucially, each took pleasure in the other. Each was a better person than she might have been had they not, on that subway platform, drawn a line under the past and moved on. Their new beginning was a friendship within which each was able to complement and strengthen the other.«79

Beide Frauen, die in ihren frühen Jahren Unsicherheiten erlebten, mussten in einer zeitweise prekären und dauerhaft männlich dominierten Welt Fuß fassen und fanden aneinander einen Hafen der Selbstversicherung.

Mit der wichtigen Rolle, die die andere spielt, kommt auch die Sorge um das Selbst des anderen und die Selbstverpflichtung, es zu schützen. Der Freund will das Selbst des anderen bewahren, das sich in der gemeinschaftlichen Praxis geformt hat. Sichtbar wird diese Ethik in den Briefen um das Thema der Liebesbeziehungen von McCarthy. Denn obwohl sie in ihrer Literatur einen scharfen und kühlen Blick auf menschliche Beziehungen hatte, waren ihre eigenen Intimbeziehungen von Verletzungen, Dramatik und Impulsivität geprägt. Aus diesem Kontext möchte ich eine kleine unscheinbare Episode nachzeichnen, an der sichtbar wird, wie Arendt versucht McCarthy eine treue Freundin zu sein, indem sie die Persönlichkeit McCarthys verteidigt, und zwar gegen die Freundin.

McCarthy war seit 1946 mit ihrem dritten Ehemann Bowden Broadwater verheiratet, aber die Ehe gerät unter Druck, nachdem McCarthy 1955 eine Fehlgeburt erlitt, und ist zerrüttet, nachdem sie eine verhängnisvolle Affäre zu dem Lügner und Trinker John Davenport eingegangen ist. In diesem Ehezustand lernt sie 1959 den Diplomaten James West kennen. Schon nach kurzer Zeit wurde die Ehe beschlossen und McCarthy bemühte sich nachdrücklich um die Scheidung von Broadwater. Der verweigerte die für ihn überstürzte Scheidung nach 13 Jahren Ehe und es drohte sich ein Rosenkrieg zu entwickeln. Nachdem McCarthy nachdrücklicher auf der schnellen Abwicklung der Scheidung beharrt und bereit ist, diese Scheidung auch gegen Broadwaters Einverständnis durchzusetzen, versucht Arendt eine vermittelnde Position einzunehmen, indem sie mit beiden Parteien spricht. »Arendt makes no attempt to pass judgement on her friend’s actions. Instead, she seeks to mediate between McCarthy and Broadwater and to help each see the other’s point of view.«80 Gegenüber Broadwater, den Arendt in dieser Zeit häufig empfängt, hält sie die Linie »Wenn Du jetzt in die Scheidung einwilligst, werdet Ihr Freunde bleiben, wenn nicht, wirst Du alles unnötig verschlimmern. Verzögern hat keinen Sinn, weil Du weißt, daß es nur ein Verzögern ist.«81 Umgekehrt empfiehlt sie McCarthy: »Wenn Du jetzt gegen seine Wünsche das Verfahren in Gang bringst, mußt Du Dir darüber im klaren [sic] sein, daß er versuchen wird, bei jedem einzelnen Schritt die Dinge schwieriger zu machen.«82 Es ist schon allein bezeichnend, dass Arendt, obwohl McCarthys beste Freundin, auch ihrem verlassenen Ehemann noch eine Gesprächspartnerin sein kann, der sich Broadwater anvertraut. Arendt ist unparteiisch und darum bemüht, in dieser Situation die gemeinsame Vergangenheit nicht im Rosenkrieg zu zerstören und die Zukunft für beide nicht zu belasten. McCarthy sieht anfänglich in der unparteiischen Haltung Arendts einen Verrat gegenüber der Freundschaft und äußert diesen Verdacht auch ehrlich: »Mir kommt der Gedanke (und ich kann ihn genausogut aussprechen), daß er Dich irgendwie davon überzeugt hat, daß er recht hat. Oder zumindest vernünftig ist.«83 Zwar kann Arendt McCarthy davon überzeugen, dass sie auf ihrer Seite steht und es sich eben nicht ausschließt, dennoch auch Broadwaters Position und Meinung miteinzubeziehen, aber dennoch schlägt McCarthy Arendts Rat in den Wind. »Ich möchte Dir, aber nur Dir, sagen, daß ich nicht abwarten werde, was Bowden zu tun geruht. […] Ich liebe Jim mehr als je zuvor, genau wie umgekehrt, und es ist einfach zu lächerlich, daß wir die hilflosen Spiegelungen anderer sind, unter den Umständen. Soviel dazu.«84