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Freundschaft Plus Realität vs. Scheinwelt Jeder selbstbestimmte Weg zeigt seine eigene Wirkung. Die Immobilienmaklerin Svenja steckt ihren gesamten Ehrgeiz in die Gründung einer Firma, mit dem Ziel, dass sie und ihr zehnjähriger Sohn ein gutes Auskommen haben. Der vermögende Victor könnte ihr diesen Wunsch erfüllen. Alles scheint perfekt. Wäre da nicht der Künstler Andreas, Svenjas wahre Liebe und Victors Jugendfreund. Als Svenja schwanger wird, siegt ihre Vernunft: Sie heiratet Victor. Durch die Geburt ihres zweiten Sohns verändert sich Svenjas Wesen. Denn sie ist fest davon überzeugt, dass Andreas der leibliche Vater ist. Doch dieser ist spurlos verschwunden. Insgeheim hält Svenja an der Liebe zu Andreas fest. Svenja baut sich eine Scheinwelt auf, in der sie das Leben ihrer Mitmenschen bestimmt, Macht ausübt, sich in Machenschaften verstrickt und dem Alkohol und Medikamentenmissbrauch nicht abgeneigt ist. Die Vorkommnisse spitzen sich zu. Es kommt zu einem erschütternden Ereignis. Wo steckt die Wahrheit in den Lügen?
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Seitenzahl: 332
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Für meine Patenkinder
Franziska und Daniel
In Liebe und in der Hoffnung, dass ihr den Weg der Selbstbestimmung geht, um in Euer Glück zu kommen, das Leben zu genießen in Freude und in Dankbarkeit.
Hastig zog Svenja die Jeans über ihre schmalen Hüften. Der Reißverschluss gab beim Hochziehen ein ratschendes Geräusch von sich. Sie drehte sich zum Bett und verfolgte kurz Andreas` gleichmäßige Atemzüge. Dann strich sie die Bluse glatt, suchte lautlos die Schuhe, die sie im Feuer der Leidenschaft durchs Zimmer geschleudert hatte. Immer wieder huschte ihr Blick zu Andreas, der zwischen den zerknitterten Satinlaken ruhte. Sie hatte diese Bettwäsche gekauft, denn in seinem Schrank lagen seit Jahrzehnten benutzte Laken. Darauf wollte sie das Liebesspiel nicht erleben. Sanft fuhr sie mit der Hand darüber. Spürte ihren schnellen Herzschlag, doch wusste, sie musste diesen Schritt gehen, egal, wie schwer er ihr auch fiel. Auf Zehenspitzen schlich sie in die Küche, nahm den Kugelschreiber, riss einen Zettel vom Block und schrieb:
Mein Liebster, ich werde Victor heiraten. Die vergangenen Liebesstunden waren die letzten Zärtlichkeiten, die wir ausgetauscht haben. Versuche nicht, mich umzustimmen, es wird keine gemeinsame Zukunft für uns geben. In inniger, ewiger Liebe, Svenja
Sie kramte den knallroten Stift aus der Tasche, zog ihn über die Lippen und drückte auf die Unterschrift einen Kussmund. Danach stellte sie die Notiz an eine Kaffeetasse, die vom Frühstück auf dem Tisch stehen geblieben war.
In den folgenden Wochen durchlebte Svenja ein Wechselbad der Gefühle. Ihr Herz pochte bitterlich, wenn sie an Andreas dachte. Er hielt sich an ihre Bitte und ließ nichts von sich hören. Verschwand förmlich aus ihrem Umkreis. Sie sehnte sich nach seiner Umarmung, doch ihr Verstand sagte ihr: Du hast die richtige Entscheidung getroffen. Es gibt nur eine Zukunft und die ist gemeinsam mit Victor. Andreas hat in seinem Leben bislang nicht den richtigen Weg gefunden, auf ihn wirst du dich finanziell niemals verlassen können. Aber die Erinnerung an seine berauschenden Küsse und Zärtlichkeiten raubten ihr fast den Verstand. Heiße Wellen überzogen ihren Rücken, wenn sie an die leidenschaftlichen Stunden mit ihm dachte. Tagsüber vergrub sie sich hinter einem Stapel Akten oder verbrachte Zeit mit ihrem Sohn Oliver aus erster Ehe. Sobald der Neunjährige aus der Schule kam, hing er an ihrem Rockzipfel. Seit Victor in ihr Leben getreten war, spürte Svenja, dass sich ihr Sohn vernachlässigt fühlte. Am Anfang schob sie es auf Olivers Eifersucht, seine Mutter nicht mehr allein für sich zu haben. Zu Beginn gab Svenja sich Mühe, damit der Junge sich nicht zurückgesetzt fühlte. In der Zwischenzeit spielte es für sie keine Rolle mehr. Jeder musste mit der Situation klarkommen, die sie für richtig hielt. Dies galt auch für sie selbst. Schweren Herzens hatte sie ihren Entschluss getroffen, für eine Vernunftehe mit Victor und gegen die wahre Liebe zu Andreas.
Svenja saß am Schreibtisch, versuchte sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Die Gedanken schweiften ab. Victor Tilgen war der Schwarm vieler Frauen. Sein makelloses Aussehen und die langsam ergrauenden Schläfen ließen manches weibliche Wesen auf der Straße sich nach ihm umschauen. Er jedoch hatte nur Augen für Svenja. Sie könnte sich glücklich schätzen, wäre da nicht die tiefe Liebe zu Andreas, Victors bestem Freund. Vom ersten Augenblick an fühlte sie sich zu ihm hingezogen. Die Affäre lief parallel zu ihrem Leben mit Victor. Immer häufiger stahl sie sich gemeinsame Tage mit dem Liebsten und gab vor, auf Geschäftsreisen zu sein. Doch damit war jetzt Schluss. In siebzig Stunden würde sie Frau Tilgen sein. Ihr eigener freier Wille!
Svenja seufzte auf. Wieder einmal saß sie untätig herum und dachte an Andreas. Aus der Küche holte sie ein Glas mit Eiswürfeln. Öffnete die Bar, nahm die Flasche Wodka und schenkte großzügig ein. Gierig trank sie und verzog sogleich angewidert das Gesicht. Das hielt sie jedoch nicht davon ab weiterzutrinken. Sie nahm die Flasche mit, füllte das Glas nochmals voll. Danach setzte sie sich wieder an den Schreibtisch und lenkte ihre Konzentration auf die neu eingegangene Immobilie, die einen Käufer suchte. Es gelang ihr nicht. Svenja wusste, sie würde ein weiteres Mal tief ins Glas schauen, damit die Gedanken an Andreas verdrängen und um die Nacht einigermaßen zu überstehen.
Andreas ist und war ihre große Liebe. Er würde immer ihre einzige Liebe sein! Sie kam nicht über den Verlust hinweg. Wenn sie trank, fiel es ihr leichter, die eigene Entscheidung zu akzeptieren. Wenige Schlucke, Abend um Abend, aus Angst vor den Nächten. Nächten, in denen sie neben Victor lag. Dem Mann, dem sie ihr Jawort geben würde. Der ihr dafür die Sicherheit in Aussicht stellte, nicht in Armut leben zu müssen. Nicht sie, nicht ihr Sohn und auch nicht das Kind, das in ihr heranwuchs. Das schlechte Gewissen stellte sich ein. Sie stand auf, ging zurück in die Küche und leerte den Wodka im Waschbecken aus. Sie wollte das Kind der Liebe nicht schädigen. Niemals …
Regentropfen schlugen an die Fensterscheibe. Svenja blickte vom Krankenhausbett aus hinaus. Der November zeigte sich von seiner rauen, nassen Seite. Sie schlug die Decke zurück und versuchte, sich aufzusetzen. Ein stechender Schmerz durchzog ihre Bauchdecke. Die Wunde tat bei jeder Bewegung weh.
»Verdammt!« Mit der Hand hielt sie sich den Unterleib. Im Türrahmen erschien die Krankenschwester. Sie schob einen durchsichtigen Stubenwagen ins Zimmer.
»Endlich!«
»Noch einen Moment, Frau Tilgen.«
Svenja beobachtete, wie die Schwester das Baby hochhob, dann lächelnd auf sie zukam. Vorsichtig beugte sie sich zu ihr herunter.
»Ihr Sohn, Frau Tilgen. Herzlichen Glückwunsch!«
Svenja errötete vor freudiger Aufregung, als sie den Neugeborenen in die Arme nahm, sanft an sich drückte.
»Wie soll er heißen?« Die Schwester schüttelte Svenjas Bettdecke auf.
»Michael.«
»Ich trage den Namen in Ihre Kartei ein.« Kurz darauf verließ die Schwester das Zimmer.
»Endlich sind wir allein! Michael, Michael!« Svenja wiegte den Sohn hin und her. »Du machst mich zum glücklichsten Menschen auf der gesamten Welt. In dir steckt meine unendliche große Liebe, jetzt und immer wird sie mit dir lebendig bleiben.« Sanft streichelte sie über seine Wange. Geburtsfalten zeigten sich auf seiner Stirn, er sah etwas zerknittert aus. Bei ihrer Berührung bewegte er den Mund, als wollte er antworten.
»Ist das ein Grund zur Eifersucht?«, fragte Victor, ihr Ehemann, der plötzlich lächelnd im Raum stand. Erschrocken zuckte die junge Mutter zusammen.
»Schau mal, Michael, das ist Victor.« Sie hob das Baby ein wenig hoch.
»Soll unser Sohn mich beim Vornamen nennen?« Victor schaute verdutzt. Gleichzeitig streckte er die Hände nach seinem Kind aus.
»Entschuldige«, murmelte Svenja und ihre Gesichtsfarbe wechselte ins Bleiche. Sie reichte Michael dem Vater, der ihm zärtlich einen Kuss auf die Stirn hauchte. Dann ging er mit ihm auf dem Arm zum Fenster. »Schau mal, du bist an einem regnerischen Tag geboren, mein Sohn.« Er setzte zu rhythmischen Schaukelbewegungen an. Svenja beobachte ihn. Dabei tippte sie unruhig mit den Fingern auf die Bettdecke. »Bring ihn mir zurück«, rief sie.
»Willst du zurück zu deiner Mama?« Victor sah Michael ins Gesicht, verweilte weiterhin am Fenster.
»Bring mir sofort meinen Sohn zurück!«
Victor warf ihr einen besorgten Blick zu. »Das hört sich an, als hättest du etwas dagegen, wenn ich unseren Sohn halte. Du durftest ihn schließlich neun Monate bei dir haben. Durch den Kaiserschnitt konnte ich seine Geburt nicht miterleben. Du wolltest mich nicht dabei haben.« Er sah wieder aufs Baby. »Dass ich mal Vater werde!« Glücklich strahlend verharrte er in seiner Stellung.
Svenja kniff die Augen zusammen. Du bist sein Ernährer, nicht sein Vater! Michael ist ein Kind der Liebe! Svenja atmete tief durch. Tränen schimmerten in ihren Augenwinkeln. Ach Andreas, könntest du deinen Sohn ... Sie verbot sich für jetzt und auf ewig weitere Gedanken an ihn. »Herzlich willkommen zu Hause!«, sagte Victor, als sie mit dem Auto auf die Einfahrt einbogen. Svenja saß auf dem Rücksitz, neben ihr eine bunt karierte Babytragetasche. Victor hatte die Babyschale vergessen. Svenja hoffte, dass auf der kurzen Strecke kein Unfall passieren würde. Sie streichelte über Michaels kleines Händchen, strahlte ihn dabei an.
»Gefällt es dir?«, fragte ihr Ehemann.
»Was?«
»Siehst du nicht, was Oliver und ich vorbereitet haben?« Er stellte den Motor ab, drehte sich zu ihr um. Erst in dem Moment riss Svenja sich von Michaels Anblick los und sah aus der Windschutzscheibe. Vor der Haustür war eine Wäscheleine aufgehängt, bestückt mit Babykleidung. In der Mitte schaukelte im leichten Wind ein großes Willkommensschild. Vor dem Eingang stand ein zwei Meter großer Storch, der eine Babypuppe, gewickelt in einer Windel, um den Schnabel gebunden trug.
»Wo habt ihr den Storch aufgetrieben? Eine originelle Idee.« Svenja strahlte.
»Mama, Mama«, rief Oliver. Er sprang die Stufen hinunter, kam aufs Auto zugelaufen, blieb abrupt stehen. Vorsichtig sah er durch die Scheibe ins Innere. Svenja öffnete die Tür, winkte ihn heran.
»Pst, Michael schläft. Du musst leise sein.« Sie legte den Zeigefinger auf den Mund. Oliver nickte. Auf Zehenspitzen kam er näher und streckte den Kopf ins Wageninnere, sodass er ins Körbchen sehen konnte.
»Mein Bruder«, flüsterte er.
Die Mutter wandte sich ans Baby. »Zum Glück hast du keinen Schnupfen mehr, mit dem du deinen Bruder anstecken könntest. Schau Michael, das ist dein Bruder Oliver.« Sie zog ein Stückchen die Decke herunter.
»Ich trag Michael ins Haus«, sagte Victor, der in der Zwischenzeit ausgestiegen und auf Svenjas Seite herübergekommen war.
»Das mache ich selbst!«
»Du darfst noch nicht schwer heben.« Victor griff nach der Tasche.
»Ich sagte, ich trage ihn!«
Automatisch wich er einen Schritt zurück und schüttelte verwundert den Kopf. Dann wendete er sich zu Oliver und legte die Hand auf dessen Schulter. Hoch erhobenen Hauptes trug die Mutter ihren Zweitgeborenen, einer alten Sitte folgend, mit dem Köpfchen zuerst ins Haus.
In den nächsten Tagen versuchte Svenja ihren Rhythmus zu finden. Recht schnell brachte sie Haushalt und zweifaches Muttersein unter einen Hut.
»Mama, dürfen am Nachmittag meine beiden Freunde zum Spielen herüberkommen?«, fragte Oliver.
»Nur, wenn ihr euch draußen leise verhaltet, solange Michael schläft.« Sie räumte den Frühstückstisch ab.
»Aber es regnet!«, erwiderte Oliver und schob sich das letzte Stück Brot mit Haselnusscreme in den Mund.
»Dann spielst du allein in deinem Zimmer.«
»Aber ...«
»Kein aber! Und nun mach, dass du in die Schule kommst«, sagte Svenja, während sie ihn aus der Küche schob. Stillschweigend beobachtete Victor die Szene. Die Haustür fiel ins Schloss, dann kam seine Ehefrau zurück.
»Du bist zu streng mit ihm.« Victor legte die Tageszeitung beiseite.
»Wieso?« Mit gekrauster Stirn sah sie ihn an.
»Nachdem Oliver mich damals akzeptiert hat, haben wir ihn gemeinsam verwöhnt. Seit Beginn der Schwangerschaft beschleicht mich das Gefühl, dass du ihn kaum beachtest und ihm alles verbietest. Ständig muss er aufs Baby Rücksicht nehmen. Er ist gerade mal zehn und will sich austoben.« Er nahm die Brille ab, legte sie auf den Tisch. Svenja drehte sich zu ihm um. »Was soll diese Anspielung? Ich kümmere mich um Oliver, genauso wie vor Michaels Geburt.«
»Dir fällt ja nicht mal auf, dass Oliver ganz blass im Gesicht ist. In den letzten zehn Monaten hat er an Gewicht verloren. Seine Haare müssten längst geschnitten werden. Seine Jeans zeigen Hochwasser!«
»Ich denke, das bildest du dir alles ein!«
»Wirklich, Svenja?« Er sah in ihre braunen Augen.
Svenja wich dem Blick aus, indem sie sich mit dem Kaffeeautomaten beschäftigte. »Wenn du der Meinung bist, ich würde mich nicht genug um Oliver kümmern und du siehst, dass er zum Friseur soll oder neue Hosen braucht, warum erledigst du das nicht«, sprach Svenja, ohne ihn dabei anzusehen. Mit tief in die Jeans vergrabenen Händen versuchte Victor das Gehörte zu verdauen. Nach kurzer Überlegung kam er zu dem Entschluss, dass Svenja recht hatte, und nahm sich vor, am Nachmittag mit Oliver shoppen zu gehen. Er lehnte sich an die Küchenzeile, beobachtete Svenja, wie sie ins Wohnzimmer ging. Der ruhige Moment gab ihm Zeit, zurückzudenken.
Vor fünf Jahren hatten sie sich bei der Eröffnung einer Designer-Boutique auf der Düsseldorfer Kö kennengelernt. Die Königsallee ist einer der führenden Luxuseinkaufsstraßen Europas. Svenja hatte dort, auf dem Immobilienmarkt, Fuß gefasst und konnte sich vor Neuaufträgen danach kaum retten. Es begeisterte ihn, wie souverän sie auftrat und ihm dieses gewinneinbringende Objekt vor der Nase weggeschnappt hatte.
Svenja, die gertenschlanke Frau mit der dunkelbraunen, modisch kurz geschnittenen Frisur, deren mandelfarbenen Augen passend zur Haarfarbe schimmerten. Ihr Lächeln verzauberte ihn. Damals lebte sie in Scheidung von Jochen Pirra, Olivers leiblichem Vater. Um finanziell unabhängig zu sein, hatte sie sich mit einem Immobilienbüro selbstständig gemacht. Ging sie arbeiten, kümmerten sich ihre Eltern um Oliver. Victor schloss Oliver bald in sein Herz, einen Jungen, der die reinste Freundlichkeit ausstrahlte. Olivers anfängliche Eifersucht, die Zeit der Mutter mit ihm teilen zu müssen, legte sich schnell. Im Alter von acht Jahren überraschte Oliver ihn eines Morgens damit, dass er ihm Frühstück ans Bett brachte. An jenem Tag war Svenja zeitig zu einer Tagung nach Berlin aufgebrochen. Einige Monate später kam Svenja nach einem Seminar zurück, verkündete: »Ich bin schwanger.« Victor lächelte, bei dieser Erinnerung. Kurze Zeit, nach seinem Antrag heirateten sie. Victor freute sich auf sein Kind, doch mit der Schwangerschaft wandelte sich Svenjas Wesen, stellte er fest.
Oder bilde ich es mir ein? Victor blickte zu ihr hinüber. Fast geräuschlos räumte sie das Geschirr in die Spülmaschine.
»Svenja«, er kam näher und umarmte sie, »was hältst du davon, wenn wir uns heute einen schönen Abend gönnen? Wir liefern unsere Söhne bei deinen Eltern ab und ...«
»Vergiss es!«, unterbrach sie, befreite sich aus der Umarmung. Verdutzt sah er sie an. »Was soll das?«
»Wie, was soll das?« Sie verschränkte die Arme vor der Brust.
»Hast du keine Lust mehr auf ein wenig Eheleben?«
»Mit anderen Worten, du bist geil und willst den ganzen Abend lang Sex. Reicht dir unser Pensum nicht?« Sie lehnte sich an die Spüle und sah ihn provozierend an.
Verlegen räusperte sich Victor. »Also, wie du redest ... Ich dachte eher an Kino, oder in eine der Stammkneipen zu gehen.«
»Das geht nicht.«
»Warum?«
»Ich möchte Michael nicht lange allein lassen.«
»Er wäre bei deinen Eltern.«
»Michael ist erst zehn Monate, ich stille ihn noch.« Sie senkte den Blick zum Boden.
»Du stillst ihn seit Wochen nicht mehr! Was sollen diese Ausreden?«
»Pst, brüll nicht so! Ich bin froh, dass er schläft, damit ich ein paar Akten durchsehen kann.« Sie verließ die Küche.
»Bleib hier!«, rief Victor ihr hinterher, doch sie kam nicht zurück. Er fuhr sich durchs Haar. Dann fiel sein Blick auf die silberne Wandverkleidung über dem Herd. Er strich sich über den Bauch. Ob ich mit meinen fünfundvierzig Jahren nicht mehr attraktiv genug für sie bin? Er drehte sich zur Seite und betrachtete seinen Körper aus dieser Perspektive. Die sportliche Betätigung beim Squash und die wöchentlichen Runden im Schwimmbad taten ihm gut. Nicht besonders durchtrainiert, doch ein Bauch war nicht vorhanden. Mit seinen eins Meter achtzig hatte er eine stattliche Größe. Ergraute Schläfen, kein Ansatz einer Glatze. Wenige Lachfalten unter den Augen.
»Was machst du da?« Svenja lehnte am Türrahmen. Ertappt zuckte Victor zusammen. »Liegt es an mir? Bin ich dir zu alt? Willst du dich deshalb nicht mit mir in der Öffentlichkeit zeigen?«
»Du spinnst!« Sie tippte mit dem Finger an die Stirn.
»Früher haben wir vielmehr unternommen. Wenn ich da an unsere ersten Jahre denke. Wir sind übers Wochenende nach Holland, Paris, Brüssel. Haben Musicals in fast allen deutschen Städten besucht. Da haben deine Eltern immer auf Oliver aufgepasst und es hat dir nie etwas ausgemacht. Das war die Zeit, als Andreas immer noch mit dabei war.«
»Lass Andreas aus dem Spiel.«
»Warum bist du derart gereizt, wenn sein Name fällt?«
»Das Thema ist durch!«
»Weil er sang und klanglos verschwunden ist?«
»Hör auf, Victor. Später wirst du da hocken und darüber nachgrübeln. Vielleicht hat er Scheiße gebaut, wer weiß.«
»Niemals, eher ist ihm etwas zugestoßen. Er würde nicht ohne Grund unsere langjährige Freundschaft ...«
»Du hast lange genug versucht, ihn ausfindig zu machen. Gut jetzt. Es ging im Gespräch um uns und die Kinder, oder?«
»Du hast recht. Gehen wir heute Abend aus?«
Los schauspielere! Sie gab ihm einen leichten Kuss auf den Mund. »Ich bin müde. Michael strengt mich an. Dabei muss ich mich zusätzlich um Oliver und das Büro kümmern.« Sie wollte allein sein mit ihren Gedanken und dem schmerzenden Gefühl, das sich in ihr ausbreitete, seit der Name Andreas gefallen war.
Doch Victor zog sie in seine Arme. »Ich könnte ins Büro einsteigen, dann hättest du weniger Arbeit. Mehr Zeit für die Kinder, oder um dich auszuruhen.«
Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen. »Das würdest du machen?«
»Warum nicht?«
»Ich hätte nie gedacht, dass du deinen geliebten Vorzeigejob, bei deiner so bewundernswerten Star-Immobilien-Firma einfach aufgeben könntest.«
»Jetzt muss ich machen, was mein Vorgesetzter will. Mit meinem Einstieg wäre ich mein eigener Chef.« Er setzte sich auf einen Stuhl.
»Moment mal, mein Lieber. Das Ruder lasse ich mir nicht aus der Hand nehmen. Hat reichlich an Arbeit gekostet, dass Unternehmen erfolgreich nach oben zu bringen. Ich wäre deine Chefin!«
»Die ich liebe.« Er zwinkerte ihr zu und zog sie auf seinen Schoß.
»Einverstanden, wir werden beide das Büro führen. Ich kümmere mich mehr um Michael und mein Wohlergehen«, kam sie seinem Vorschlag entgegen.
»... und Oliver«, vollendete er ihren Satz. »Selbstverständlich.« Sie reichte ihm die Hand, um die Vereinbarung symbolisch zu besiegeln.
Svenjas Mutter Alina räumte die Frühstücksreste in den Kühlschrank, stapelte das Geschirr in die Spülmaschine. Aus dem Radio erklangen Lieder von Helene Fischer. Sie summte leise mit.
»Oma?«, Oliver stürmte in die Küche.
»Was ist?«
»Ich habe im Wohnzimmer Staub gewischt, soll ich den Teppich saugen?« Er reichte ihr das Putztuch.
Alina nahm es entgegen, dann strich sie ihm über seinen blonden Haarschopf. »Du bist mir mit deinen vierzehn Jahren eine große Hilfe. Andere Jungs in deinem Alter raufen sich auf der Straße und du hilfst deiner Oma, euer Haus auf Vordermann zu bringen.«
»Mama wird sich bestimmt freuen, wenn sie von der Arbeit kommt.« Seine Augen glänzten.
»Sie schuftet zu viel und Victor ist ständig im Außendienst tätig«, sagte Alina betrübt. Sie ging zur Abstellkammer, um den Staubsauger herauszuholen.
Seitdem Victor mit ins Unternehmen eingestiegen war, verdoppelten sich die Aufträge. Mit seiner Kündigung bei der Eliteimmobiliengesellschaft und dem Einstieg in die Selbstständigkeit nahmen einige seiner ehemaligen Kunden dies zum Anlass, ihm zu folgen. Ständig mussten neue Exposés angefertigt werden. Ein Shooting-Termin nach dem anderen. Vergeblich suchte Svenja nach einer Haushälterin, doch sie fand keine, die zuverlässig genug war, der sie vertraute. Alina sprang ein, nachdem sie die Unordnung nicht mehr mit ansehen konnte. Längst genoss sie ihren Ruhestand, doch hin und wieder fehlte ihre eine Aufgabe, die ihr den Tag verkürzte.
»Sei bitte vorsichtig, dass du nicht an die Kanten schlägst.« Sie reichte Oliver das Gerät.
»Mach ich, Omi.« Im Zickzack zog er den Sauger hinter sich her, während es an der Haustür klingelte.
Alina schaute durch den Spion, öffnete vergnügt.
»Na, hattet ihr beiden einen schönen Spaziergang?« Sie beugte sich zum Kinderwagen, in dem Michael saß und ihr beide Arme entgegenstreckte.
»Wir waren am See und haben Enten und Schwäne gefüttert«, gab Lutz, ihr Ehemann, zur Antwort. Er strich die Füße auf dem Vorleger ab. Dann schob er den Wagen in den Flur. Alina befreite Michael aus dem Gurt.
»Wo ist Oliver?« Lutz sah sich in der Küche um.
»Im Wohnzimmer, er hilft mir beim Hausputz.« Sie ließ Michael hinunter, zog ihm die Jacke aus. Schnell folgte er seinem Opa.
»Das machst du gut, Oliver«, lobte Lutz seinen erstgeborenen Enkel, der ihn daraufhin freudestrahlend ansah. Michael lief zum Staubsauger, schwang sich drauf. Oliver bemerkte es erst, als er das Gerät ein Stück nach vorne ziehen wollte und es sich kaum von der Stelle rührte.
»Nicht jetzt, Michael. Geh runter! Ich muss Omi helfen, sonst werden wir nicht fertig, bis Mama nach Hause kommt. Du kannst mit deinen Bausteinen spielen. Opa hilft dir bestimmt dabei.« Vorsichtig versuchte Oliver den Bruder vom Staubsauger zu heben, Michael juchzte vor Spaß dabei auf.
»Warum schubst du Michael herum?«
Oliver und sein Großvater zuckten zusammen, keiner hatte mitbekommen, dass Svenja eingetreten war.
»Ich, ich ...«, stotterte Oliver. In dem Moment war die Mutter schon bei ihm, schob ihn von Michael weg und bückte sich sofort zu ihrem Jüngsten.
»Hat er dir wehgetan?« Sie hob Michael auf den Arm, warf Oliver einen bösen Blick zu und verschwand aus dem Zimmer. Svenjas Vater traute sich nicht zu rühren, sein besorgter Blick haftete auf Oliver, der sich den linken Arm rieb. In seinen Augen schimmerten Tränen. Ungläubig schüttelte Lutz den Kopf, dann stellte er den Staubsauger aus. Tröstend legte er die Hand auf Olivers Schulter. »Sie meint es nicht so.«
Oliver plumpste aufs Dreiersofa. »Opa, warum ist Mama böse auf mich? Was mache ich ständig falsch?« Er sah den Großvater an, der sich neben ihn setzte. »Du hast nichts verkehrt gemacht. Einen so lieben Sohn kann sich jeder nur wünschen. Ich denke, Svenja hat einen schweren Bürotag gehabt. Sie freut sich bestimmt, dass du fleißig mitgeholfen hast.« Er hatte gerade zu Ende gesprochen, da erschien seine Tochter wieder im Türrahmen.
»Wenn du helfen willst, dann wisch Staub.« Sie warf Oliver den Lappen zu.
»Das habe ich schon gemacht.«
»Davon sehe ich nichts!« Mit dem Finger fuhr sie über die Fußleiste. »Ordentlich oder lass es gleich bleiben!« Sie verschwand wieder.
»Siehst du, Opa, ich mache immer etwas falsch.«
Oliver kniete nieder und schrubbte regelrecht die Leisten. Stumm beobachtete Lutz für einen Moment den Enkel, dann ging er zu seiner Frau in die Küche.
»Was ist denn mit Svenja los?«, flüsterte er.
Alina hielt kurz im Abwischen der Arbeitsfläche inne.
»Sie hat im Büro zu viel um die Ohren. Im Moment scheint jeder sein Anwesen verkaufen zu wollen und die Käufer stehen Schlange.«
»Ich geh nach Hause, kommst du bald nach?«
»Ich putze schnell über den Boden. Wenn du magst, kannst du anfangen, den Abendbrottisch zu decken.«
Aus den oberen Räumen vernahm Lutz, dass Svenja Michael eine Geschichte vorlas. Nach dem Wutausbruch zuvor war ihre Stimme ruhig und liebevoll. Schnell schaute er nochmals zu Oliver ins Wohnzimmer. Er wischte gerade über die antike Anrichte.
»Tschüss Junge!« Lutz winkte ihm zu.
»Ich denke, Mama ist jetzt zufrieden mit mir. Tschüss, Opa!«
Auf dem Heimweg, vorbei an Eichen, deren Blätter langsam zum Boden segelten, machte Lutz sich Gedanken. Er selbst arbeitete zuvor vierzig Jahre im stressigen Büroalltag. Nicht ein einziges Mal wäre ihm in den Sinn gekommen, seinen Ärger zu Hause an Alina oder der Tochter auszulassen. Sobald er die Bürotür hinter sich geschlossen hatte, war für ihn Feierabend und er genoss die Zeit mit der Familie. Er fuhr sich durchs immer noch dichte Haar. Bald würde er seinen fünfundsechzigsten Geburtstag feiern. Hin und wieder quälte ihn die Arthrose, doch seine Enkelkinder hielten ihn jung. Er nahm sich vor, mit Svenja zu sprechen, sobald sich ein geeigneter Moment dafür ergab.
Der Tisch war weihnachtlich festlich gedeckt. Tannengrün schmückte die Tafel. Auf jedem Teller lag eine Marzipan-praline. Die Kerzen in den Ständern zauberten Harmonie in den Raum. Der Christbaum funkelte mit ihnen um die Wette. Unter ihm lagen eine Menge bunt eingepackter Geschenke für die Familie bereit. Victor trug einen großen Karton herein, versteckte ihn hinter der bodenlangen Gardine. Svenja wirbelte in der Küche zwischen Kühlschrank und Herd umher, während aus dem Radio leise Weihnachtsmusik erklang.
Die Jungs befanden sich im oberen Stockwerk. Michael war nach einem langen Spaziergang mit dem Großvater eingeschlafen. Oliver telefonierte in seinem Zimmer. »Hast du später Zeit, vorbeizukommen?«, fragte er gerade seinen Freund. Noch bevor Peter antworten konnte, rief Olivers Mutter: »Hör auf zu telefonieren und komm sofort herunter.«
»Ich muss Schluss machen, Peter. Schöne Weihnachten«, sagte er schnell, legte das Handy aufs Bett, sprang danach die Stufen hinunter.
»Gehts leiser, Michael schläft«, schimpfte die Mutter.
»Er schläft tief, sonst wäre er von deinem Brüllen bereits wach geworden.«
»Musst du ständig Widerworte geben? Manches Mal frage ich mich, wer dir dieses Gen vererbt hat. Ich nicht! Das kann nur von deinem Erzeuger stammen.«
Bei den letzten Worten schnitt Oliver hinter ihrem Rücken eine Grimasse und ahmte sie nach. Den Satz konnte er förmlich singen! »Was soll ich machen?«
»Hol Wein, Bier, Cola, Wasser und Limo aus dem Keller«, bestimmte Svenja. »Nimm den Korb mit, damit dir nichts runterfällt. Ich habe geputzt!«
»Hat nicht Oma alles sauber gemacht?«
Svenja warf ihm einen vernichtenden Blick zu.
»Ich habe alles gemacht! Weil du und Oma nicht fähig seid, den Boden streifenfrei zu wischen! Jetzt mach, so weit kommt es noch, dass ich mich ständig vor dir rechtfertige oder mit dir rumdiskutiere.« Sie zog die Schublade auf, holte den Schneebesen heraus.
»Einen bestimmten Wein?«, fragte er vorsichtig.
»Egal.«
»Nicht egal«, mischte sich Victor ins Gespräch ein. »Ich geh selbst den Wein holen, dein Sohn wird ihn nicht finden.« Knurrig stieg er die Stufen in den Keller hinunter. Mit hängendem Kopf folgte Oliver und half beim Hochtragen der Flaschen. Danach verschwand er zurück ins obere Stockwerk, um sich fürs Festessen frisch zu machen. Auf der Treppe traf er Michael, der dabei war, den Kasten Bausteine ins Wohnzimmer zu schaffen. Keine zehn Minuten später hallte Svenjas Stimme erneut durch den Flur.
»Oliver, hörst du nicht, es hat geklingelt! Mach die Haustür auf, die Großeltern kommen.«
»Ich bin gerade aus der Dusche!« Mit einem schnell um die Hüften gebundenen Handtuch lehnte er den Oberkörper übers Geländer. »Kann Victor bitte aufmachen?«
»Er spielt mit Michael. Diskutier nicht, komm runter und öffne die Tür! Ich kann nicht, meine Hände sind voll Mehl.«
Barfuß und mit nassen Haaren eilte Oliver die Stufen hinab.
»Junge, du bist ja halb nackt«, sagte Opa Ernst, der Vater seines Stiefvaters. Schnell drehte Oliver um und lief wieder hoch. In dem Moment kam Svenja aus der Küche, rieb sich die Hände an der Schürze ab. Begrüßte freudig ihre Eltern und den Schwiegervater. Dann fiel ihr Blick auf die Treppe. »Oliver!«, schrie sie, »Wisch schleunigst die Stufen trocken!« Sofort setzte sie wieder ein Lächeln auf, nahm die Jacken der Familie entgegen, hängte sie in den Garderobenschrank.
»Geht ins Wohnzimmer, Victor und Michael sind dort«, sprach sie mit sanfter Stimme.
»Kann ich dir helfen?«, fragte Alina.
»Sorg bitte dafür, dass Oliver die Treppe nicht vergisst.« Sie eilte zurück in die Küche. Ihre Mutter nahm aus dem Abstellraum Putzlappen und den Schrubber.
»Lass Omi, ich mache es, sonst gibts mehr Ärger«, flüsterte Oliver. Alina sah den Enkel besorgt an. Er stand in Jeans vor ihr, sein Oberkörper war nackt. In letzter Zeit hatte er reichlich an Gewicht zugelegt.
»Junge, du musst auf deine Figur achten.«
»Ich weiß, ich esse ständig Hamburger und Fritten, weil meine Mutter keine Zeit zum Kochen hat.«
»Komm zu uns, wir haben immer einen Teller für dich übrig.«
»Ich denke, Mama wäre damit nicht einverstanden.«
»Michael isst jeden Tag bei uns, nach der Schule.« Sie reichte ihm den Lappen.
»Bei Michael ist das auch etwas anderes.« Dann machte er sich daran, die Stufen trocken zu wischen.
»Frohe Weihnachten«, erschallte es gleichzeitig aus den Mündern der Familiengesellschaft. Jeder erhob sein Glas und prostete dem andern zu. Svenja wandte sich an Oliver. »Ich hab die Kräuterbutter vergessen. Los, hol sie aus dem Kühlschrank.«
»Kann nicht mal jemand anderes gehen?«, fragte Oliver, der gerade dabei war, sich ein Stück Entenbrust auf den Teller zu legen.
»Zum hundertsten Mal heute, keine Diskussion!«
»Hörst du schlecht?«, sprach sein Stiefvater laut über den Tisch hinweg, indem er Oliver einen wütenden Blick zuwarf. Sofort schob der Junge den Stuhl zurück, schmiss die Serviette auf den Tisch, ging in die Küche. Kurz darauf kam er mit der in Plastikfolie eingepackten Kräuterbutter zurück.
»Das ist die falsche, du solltest die in der kleinen Keramikschüssel bringen, sie steht auf der Anrichte.«
»Du hattest aus dem Kühlschrank gesagt.«
»Hör auf, ständig Widerworte zu geben!«, mischte sich Victor ins Geschehen ein. »Du bist einfach zu doof, um mal etwas richtig zu machen«, setzte er hinzu.
Oliver atmete tief durch, drehte sich um, marschierte zurück.
»Was soll das?« Lutz schaute erst zu seiner Tochter, dann zum Schwiegersohn.
»Immer das Gleiche.« Victor zückte die Serviette auf dem Schoss gerade, »er hört nicht zu, wenn ihm etwas gesagt wird, und hat ständig das letzte Wort. Das wird von Monat zu Monat schlimmer.«
»Also, das hätte mir auch passieren können mit der Butter«, sagte Alina.
Lutz stupste sie unter dem Tisch an. Das war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Heiligabend und die Familie endlich mal vereint. Victor hatte seine Einstellung gegenüber Oliver verändert, seitdem Michael heranwuchs. Das war nicht nur Lutz aufgefallen. Oft sprach er mit Alina darüber. Sie fand entschuldigende Worte für die Eltern, die das Gespräch sofort beendeten. Lutz atmete tief durch, bevor er sich ans Essen machte. In dem Moment kam Oliver mit der Keramikschüssel. Er stellte sie auf den Tisch, nahm Platz und konzentrierte sich, ohne die anderen dabei anzusehen, auf seinen Teller.
»Danke Oliver«, sagte Opa Ernst, Victors Vater, der neben ihm saß. Er strich mit der Hand über sein Knie. Oliver nickte, aß stumm weiter.
»Schau mal, Michael, was für ein tolles Geschenk du vom Christkind bekommen hast«, säuselte Opa Ernst und deutete mit der Hand darauf.
»Aber Opa, das Christkind gibts nicht, das machen die Eltern«, schoss es aus Oliver heraus.
»Nun, die Eltern helfen dem Christkind«, versuchte Opa Ernst die Situation zu retten.
»Du flunkerst, oder?«
»Nein.« Ernst hoffte, einer der anderen Erwachsenen würde ihn bei seinen Worten unterstützen.
»Opa hat recht. Ich habe vorhin nur Spaß machen wollen.« Oliver kniete sich neben den Bruder. »Die Eltern helfen dem Christkind, die Geschenke zu verteilen. Schau mal, wie viel du bekommen hast. Du bist ein lieber Junge. Das Christkind schreibt das ganze Jahr über alles in ein großes schlaues Buch.«
»Meinst du wirklich?« Michael sah den Bruder mit freudigen Augen an. Dieser nickte zur Antwort.
»Und warum hast du kein Geschenk bekommen? Warst du nicht brav?«
Oliver konnte ihm darauf keine Antwort geben. Unbeholfen schaute er zu den Eltern. Danach zuckte er mit den Schultern. »Vielleicht hat das Christkind mich in diesem Jahr vergessen«, sprach er leise. Dann machte er es sich auf der Couch zwischen Alina und Lutz bequem. Der Großvater zog aus dem Jackett einen Umschlag, auf dem Olivers Name stand. In dem Moment leuchteten des Jungen Augen auf, er fiel dem Opa und der Oma um den Hals.
»Danke«, flüsterte er ihnen ins Ohr. Nun gab Opa Ernst ihm ein Geschenk. Selig drückte er ihm einen Kuss auf die Wange. Behutsam öffnete er das weihnachtliche Papier. Zum Vorschein kam eine CD mit Hipp-Hopp.
»Danke Opa.« Er gab ihm einen weiteren Kuss, dann überflog er die Titel.
»Schau mal, Michael, da ist ein weiteres Geschenk für dich.« Alina zog es hinter dem Tannenbaum hervor.
»Wow, ein so großes!« Eilig riss er das bunte Geschenkpapier auf. Zum Vorschein kam ein Feuerwehrauto. Zuerst war er sprachlos und strich vorsichtig über das große Fahrzeug. Dann nahm er auf dem Ledersitz Platz, stellte die Füße fest auf den Boden und fuhr los, dabei betätigte er die Sirene. Bis in den Flur stieß er des Öfteren an den Kanten an. Die Eltern klatschten Beifall.
Das hätte mir passieren sollen, dann wäre der Teufel los, dachte Oliver.
»Alle Geschenke sind verteilt. Ich bringe jetzt den Kaffee und Stollen.« Svenja erhob sich. Lutz stupste Alina leicht am Arm an und deutete mit dem Kopf in Richtung Oliver. Er war aufgestanden, mit traurigen Augen suchte er den Tannenbaum ab.
»Bekommt er kein Geschenk?«, flüsterte Alina Victor zu.
»Später.«
Die Großmutter atmete auf und überlegte, was dieses Spiel zu bedeuten hatte. In dem Moment kam Svenja mit einem Tablett in der Hand zurück. Sofort half Oliver ihr. Ohne ein Wort zu sprechen, arrangierten sie gemeinsam das Geschirr. Danach drehte sich Svenja zu Victor um und nickte ihm zu. Er ging zur Balkontür, schob die Gardine zurück.
»Ach!«, rief er erstaunt aus, »da haben wir ja ein Geschenk total übersehen.« Olivers Kopf schellte in Richtung des Stiefvaters. Erwartung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er biss sich auf die Unterlippe.
Svenja legte die Hand auf Olivers Schulter. »Da hätten wir dich bald vergessen.«
»Für mich?« Er deutete mit dem Finger auf seine Brust.
Daraufhin erhielt er von seiner Mutter einen leichten Stoß, damit er sich auf Victor zu bewegte.
»Frohe Weihnachten.« Der Stiefvater schob ihm das Geschenk entgegen. Oliver drehte den Kopf, sah über die Schulter hinweg zu Svenja. »Nu, schau schon.«
Daraufhin bückte er sich, entfernte vorsichtig, als handelte es sich um einen kostbaren Schatz, das Geschenkpapier vom großen Karton. Nach dem Öffnen sprang er auf, umarmte den Stiefvater und sogleich darauf die Mutter.
»Danke!«
Lutz hielt es auf seinem Platz nicht mehr aus. Er stand auf und half ihm beim Herausheben des Gegenstandes aus der Verpackung. Ein Fernseher kam zum Vorschein. Dazu eine Playstation. Die Großmutter klatschte freudig in die Hände. Unter Sirenengeheul rollte Michael mit seinem Wagen herein.
»Boah? Ich auch spielen?«, fragte er mit lieblicher Stimme.
»Aber immer!«
Knall jetzt nicht die Tür hinter ...!«, schrie Svenja. Schon passiert. Mit lautem Krachen fiel die Haustür ins Schloss. Mit einem Satz sprang Oliver die Stufen hinunter, stützte sich dabei am Metallgeländer ab. Ohne sich umzudrehen, lief er auf die Straße. Heftig klopfte Svenja ans Wohnzimmerfenster. Oliver winkte ab, ohne stehen zu bleiben, und lief hinüber zum Park. Er durchquerte ihn, dann stand er vor dem Haus seiner Großeltern. Er klingelte und wartete auf Einlass, von einem Bein aufs andere hüpfend.
»Musst du zur Toilette oder warum zappelst du so herum?«, fragte sein Opa, der aus dem Garten auf die Garageneinfahrt gekommen war.
Oliver rannte ihm entgegen. Er blickte auf. Lutz erkannte sofort, dass etwas vorgefallen sein musste.
»Krach zu Hause?«
Oliver nickte, zog die Schultern hoch und versenkte die Hände in den Jeanstaschen.
»Na, dann komm mal rein, Junge.« Lutz öffnete die Haustür. Alina saß mit Michael auf der Wohnzimmercouch. Einige Bücher lagen auf dem Tisch verteilt.
»Hey, Oliver«, sagte Michael. Vertiefte sich jedoch sofort wieder in sein Schulheft.
»Hast du Hunger?«, fragte die Großmutter.
Oliver schüttelte den Kopf.
»Wir gehen in die Küche.« Lutz zog Oliver mit sich. Alina folgte den beiden, schloss die Tür, damit Michael ungestört die Hausaufgaben erledigen konnte.
»Was ist passiert?«, fragte sie mit gedämpfter Stimme.
»Mama hat gesagt, ich soll Michael bei euch abholen. Danach bei mir im Zimmer mit ihm zusammen einen Disneyfilm ansehen, damit sie sofort wieder ins Büro fahren kann.«
»Und?«, fragte Lutz.
Oliver verzog sein Gesicht. Alina merkte, es war ihm peinlich, darüber zu sprechen.
»Wir hatten heute Mittag Schnitzel mit ...«
»Lass gut sein, Oma. Ich hab keinen Appetit. Ich bin mit einem Mädchen verabredet.« Dabei blickte er aus dem Fenster.
»Und Svenja möchte, dass du genau zu der Zeit auf Michael aufpasst, geht es darum?« Alina rückte einen Stuhl zurecht.
»Ja.«
»Michael kann bei uns bleiben. Ich sag Svenja Bescheid.«
Lutz hatte gerade die Klinke in der Hand, da sprang Oliver ihm in den Weg.
»Nein, das gibt nur mehr Ärger. Es ist nicht das erste Mal. Ich verstehe das nicht. Könnt ihr mir sagen, was ich sonst noch machen soll, damit sie mich in Ruhe lässt?« Er war aufgebracht, seine Stimme überschlug sich.
Verstohlen warf Alina ihrem Ehemann einen Blick zu.
»Ich weiß mir keinen Rat«, sagte Lutz.
»Deine Eltern arbeiten viel, sie sind täglich bis spät am Abend im Büro und ...«, versuchte Alina eine Erklärung zu finden.
Oliver machte alles, was seine Eltern von ihm verlangten. Statt Automechaniker zu werden, hatte er auf ihren Wunsch hin eine Lehre als Immobilienmakler angefangen. Dabei lag ihm Büroarbeit überhaupt nicht. Ständig kribbelte es ihm in den Händen, wenn er bei Formel 1 Rennen die Mechaniker an den Autos werkeln sah. Immerfort passte er auf Michael auf, wenn es bei den Eltern spät wurde. Half der Großmutter bei der Hausarbeit. Bald würde er seinen achtzehnten Geburtstag feiern. Die Sehnsucht nach Freiheit breitete sich in seinem Inneren aus. Er wünschte sich, seine Freunde sehen zu können, wann immer es ihm danach war. Und heute wollte er ein Mädchen treffen, sein Freund Peter hatte die Verabredung arrangiert.
Lutz sah seinen Enkel besorgt an.
»Du musst sie verstehen, sie erweitern die Firma für euch«, erwiderte Alina.
»Wenn sie noch mehr Kunden an Land ziehen, wo soll dann noch Zeit für irgendetwas sein. Andauernd nimmst du sie in Schutz, Oma. Findest immer eine Entschuldigung für ihre Handlungen. Verstehst du nicht, dass ich auch mal mit meinen Kumpels unterwegs sein möchte? Warum machst du das?« Oliver sah sie direkt an.
»Ich möchte, dass ihr in Harmonie miteinander auskommt.«
»Das will ich auch, aber egal, was ich anstelle, ständig mache ich in Mamas Augen alles falsch. Du willst mir doch nicht erzählen, dass Michael eines Tages im Büro arbeiten wird, oder?« Er hielt inne, sah, dass seine Oma die Schultern unwissend hochzog.
»Siehst du, darauf kannst du mir keine Antwort geben. Michael ist viel lieber an der frischen Luft. Täglich fährt er mit dem Rad zum Tennisplatz. Er hilft dort, die Anlage sauber zu halten. Der Besitzer gibt ihm dafür Stunden.« Er sah von einem zum anderen. »Er darf machen, was er will, keiner hält ihn davon ab. Dabei ist er weitaus jünger.« Er setzte sich neben die Oma.
Sie nahm seine Hand, legte sie in ihre und streichelte versöhnlich darüber. »Sieh mal, Oliver. Sei nicht traurig darüber, was ich dir zu sagen habe. Versprichst du mir das?« Sie sah ihn bittend an. Erst als Oliver ihr ängstlich zunickte, sprach sie weiter. »Als du klein warst, haben sich deine Eltern um dich gekümmert. Sie haben Ausflüge mit dir unternommen. Nachdem Victor mit ins Büro eingestiegen ist, haben sie es erweitert.«
»Dabei wollte Mama kürzertreten!«
»Sie fühlt sich für ihr Büro verantwortlich, sie hat es damals allein aufgebaut. Es fehlte ihr die Zeit, sich um dich zu kümmern. Dann waren wir für dich da und als Victor in ihr Leben kam, wurde es besser. Doch dann …«
»Aber für Michael bleibt Zeit genug! Um ihn kümmern sich beide, direkt, wenn sie nach Hause kommen. Ich würde auch mal gerne mit ihnen etwas zusammen machen, nicht oft, doch hin und wieder …«
Alina atmete tief durch. »Ich weiß, seitdem Michael auf der Welt ist … er ist beider Kind. Verstehst du, was ich damit andeuten möchte?« Sie sah ihn besorgt an.
»Ich weiß, ich bin nicht Victors leiblicher Sohn und deshalb ... bevor mein Bruder auf die Welt kam, war ich …« Tränen sammelten sich in seinen Augenwinkeln. »Aber ich tue immer, was er von mir verlangt. Reicht das nicht, um geliebt zu werden?«, schluchzte er auf.
Lutz ließ sie allein, zu sehr schmerzte ihn Olivers Kummer.
»Ich weiß, ich weiß ...«, stammelte Alina. Sie wusste sich keinen Rat, ihn anders zu trösten.
Als Oliver sich beruhigt hatte, legte sie eine Hand unter sein Kinn, hob es an. »Eins darfst du nie vergessen, deine Mutter liebt dich! Und ich bin ganz sicher Victor auch. Sie arbeiten so viel, dass sie vergessen, es dir zu zeigen, gehen davon aus, du bist schon erwachsen genug.« Sie bemerkte, dass ein kleines Funkeln in seinen Augen zu erkennen war.
»Bist du dir da ganz sicher, Oma?«
»Ja, das bin ich!« Sie strich ihm eine Haarsträhne aus der Stirn.
Die gesamte Belegschaft des Immobilienbüros Tilgen hatte sich im Konferenzraum eingefunden. Auf dem Tisch standen Kristallgläser bereit, belegte Brötchen mit Käse, Lachs und Wurstaufschnitt warteten darauf, gegessen zu werden. Paul Schmitt, der Buchhalter, gekleidet in einen blauen Nadelstreifenanzug mit Fliege, stand am Fenster und hielt Ausschau. Svenja telefonierte, während Victor den Champagner einschenkte.
»Er kommt.« Paul ging in den Flur, um Oliver die Bürotür zu öffnen.
»Mensch, ich habe es geschafft!«, rief Oliver freudig, als ihn der Buchhalter feierlich empfing.
»Wusste ich, Junge, du hast in den letzten Wochen reichlich gepaukt.« Kameradschaftlich schlug Paul ihm auf die Schulter. Dann führte er Oliver in den Konferenzraum, in dem sich die gesamte Belegschaft im Kreis aufgestellt hatten und Beifall klatschte.
Olivers Blick ging in die Runde, blieb am Schreibtisch haften. Dort saß seine Mutter, die sich genau in dem Moment mit dem Stuhl Richtung Fenster drehte, damit sie ungestört weiter telefonieren konnte.