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Nora Kain

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  • Herausgeber: dtv
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

Grausam zugerichtete Leichen und ein Mörder wie aus dem dunkelsten Albtraum Frankfurt im Jahr 1800: Drei auf ungewöhnliche Weise entstellte Leichen versetzen die Stadt in Angst. Gerüchte über religiöse Ritualmorde machen die Runde. Nur zwei erliegen dem alten Aberglauben nicht: Zeitungsredakteur Johann und Manon, deren Vater als Rechtsmediziner die Überreste der Ermordeten obduziert. Die beiden erkennen, dass die Verbrechen die blutige Handschrift eines berüchtigten Mörders tragen – einer Gestalt wie aus dem dunkelsten Albtraum. Man nennt ihn »den Aal«, weil er einst lebensgefährlich verletzt wurde und seine Wunden nur dank der Schuppen eines Aals geheilt werden konnten. Doch der Aal wurde vor Jahren hingerichtet, Johann selbst hat die Enthauptung bezeugt. Bis Manon und er die wahren Hintergründe aufdecken, ist es für beide fast zu spät …

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Seitenzahl: 450

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Über das Buch

Frankfurt im Jahr 1800: Drei auf höchst ungewöhnliche Weise zugerichtete Leichen versetzen die Stadt in Angst. Gerüchte über religiöse Ritualmorde sind bald in aller Munde. Nur zwei erliegen dem alten Aberglauben nicht: Zeitungsredakteur Johann und Manon, deren Vater als Rechtsmediziner die Überreste der Ermordeten obduziert. Die beiden erkennen als Einzige, dass die Verbrechen die blutige Handschrift eines berüchtigten Mörders tragen – einer Gestalt wie aus dem dunkelsten Albtraum. Man nennt ihn »den Aal«, weil er einst lebensgefährlich verletzt wurde und seine Wunden nur dank der Schuppen eines Aals geheilt werden konnten. Doch der Aal wurde vor Jahren hingerichtet, Johann selbst war Zeuge der Enthauptung. Bis Manon und er die wahren Hintergründe aufdecken, ist es für beide fast zu spät …

Nora Kain

Frevel

Historischer Thriller

»Eine vom Chirurgicus vorgenommene Leichenschau ist der Buchgelehrsamkeit bei Weitem überlegen. Cadaver sind in unserer Disziplin ergo das größte und dringlichste Bedürfnis. Ausreichend befriedigt werden kann es leider nie. Jedoch werden der Wissenschaft löblicherweise zunehmend zum Tode Kondemnierte zur Verfügung gestellt.

In diesem konkreten Fall hat die Examinierung des Delinquenten folgende Erkenntnisse erbracht: Zwei glatte, scharf strukturierte Schnitte im Unterkiefer und am Hinterhaupt führten zu schweren Blessuren. Endgültig vom Leben zum Tode befördert wurde er jedoch erst durch den festen Hieb, der ihn zwischen drittem und viertem Halswirbel traf.«

 

Aus der Medicina forensisvon Physicus und Chirurgicus Theophil Pontus

1.25. Mai 1797

Ich darf mich nicht übergeben, dachte Johann verzweifelt. Nicht jetzt.

Er hatte am Morgen nur drei Löffel Getreidebrei gegessen, dennoch stieg ihm säuerlicher Speichel die zunehmend enger werdende Kehle hoch, als er sich dem Rossmarkt näherte. Vom Frankfurter Korrespondenten im Hirschgraben, seinem Arbeitsplatz, waren es knapp zweihundert Meter dorthin, aber ihm kam die Strecke unendlich weit vor. Sämtliches Blut schien ihm in die Beine zu sacken und machte diese immer schwerer. Nicht einmal mit Claus Uffenbach konnte er Schritt halten, seinem Zeitungsverleger, obwohl der aufgrund seiner rundlichen Statur eher zu watscheln als strammen Schrittes zu gehen schien.

»Was trödelst du so herum?«, herrschte Uffenbach ihn prompt an. »Freust du dich denn nicht?«

Wie konnte man sich bloß auf ein solches Ereignis freuen?

»Ich … ich war noch nie bei einer Hinrichtung«, presste Johann mühsam hervor.

»Na, dann wird es doch Zeit«, sagte Uffenbach und schlug ihm aufmunternd auf die Schulter.

»Immerhin habe ich viel über Hinrichtungen gelesen«, warf Johann beflissen ein, während er gegen seine Übelkeit anschluckte. Wenn schon nicht mit einem robusten Magen, so wollte er wenigstens mit umfangreichem Wissen aufwarten. »Wenn einst in Frankfurt ein Todesurteil gefällt worden war, so waren alle Zünfte verpflichtet, beim Bau des Schafotts mitzuhelfen. Wer keine Zeit hatte, für den wurde ein Nagel aufgehoben, den er nachträglich ins Holz der Richtstätte schlagen musste. So lastete die unehrenhafte Arbeit nicht auf einem allein.«

Wie immer, wenn sich seine Lippen zu einem Lächeln verzogen, gab Claus Uffenbach ein leises Schmatzen von sich.

»Schön, schön. Du bist ein schlaues Bürschchen. In den Frankfurter Korrespondenten kommt diese Nagelgeschichte trotzdem nicht. Sie braucht zu viel Platz, und es spritzt zu wenig Blut. Würde der Nagel zwischen zwei Rippen getrieben, ließe sich etwas damit anfangen. So aber …« Wieder ein Schmatzen. »Hinter dem Schreibtisch mag man sich so einiges ausdenken, aber wahre Inspiration findet man dort, wo das Henkerbeil Richtung Nacken saust.«

Johann bekam eine Vorstellung davon, wie sich das wohl anfühlte, als Uffenbach ihm einmal mehr auf die Schulter drosch. Und leider hörte er auch nicht auf zu reden.

»Als ich ein kleiner Junge war, hat man Betrügern noch die Ohren abgeschnitten. Und denen, die keine mehr hatten, hat man den Frankfurter Adler in die Stirn gebrannt. Noch besser war das Rädern. Das war zu meinen Lebzeiten leider schon abgeschafft, aber mein Vater hat mir herrliche Geschichten darüber erzählt.«

Herrliche Geschichten?, fragte sich Johann und unterdrückte mit Mühe ein Zittern. Wohl eher schauderliche!

Hartnäckig starrte er beim Gehen auf die eigenen Schuhspitzen und nicht auf den vielen Dreck und Unrat, der zwischen den Pflastersteinen wucherte. Uffenbach bekam indes nicht genug davon, in Grausamkeiten zu schwelgen. »Von den Füßen aufwärts wurden den Mördern mit einem schweren Wagenrad sämtliche Knochen zertrümmert, um sie danach ans Rad zu flechten und dieses aufzurichten. Mit viel Glück haben sie da noch gelebt. Mein Vater hat immer gesagt: ›Wer wissen will, wie der Teufel kreischt, weil ihm das Höllenfeuer den Arsch versengt, hat in diesem Augenblick eine Ahnung davon bekommen.‹«

Johann war sich sicher, dass der Teufelsarsch mehr aushielt als sein Magen.

»Und die Weiber!«, schwärmte Uffenbach. »Die hat man einst in ein Fass gesteckt und im Main ersäuft, wenn sie ihre Brut nach der Geburt in den Abort fallen ließen, anstatt sie zu säugen.«

»Der Rat ist milder geworden«, warf Johann ein. »Fast immer entscheidet er sich fürs Enthaupten.«

»Wie schrecklich öde!«, kam es mit klagendem Unterton. »Aber wenn ein Braten zu lange im Ofen war, sodass er zäh und trocken rauskommt, muss man ihn wenigstens kräftig würzen. Und genau das ist unsere Aufgabe.«

Als Johann vor vier Wochen die Arbeit beim Frankfurter Korrespondenten aufgenommen hatte – ein Bürgerblatt zur Unterhaltung und Belehrung aller Stände –, hatte er eigentlich erwartet, auf den Spuren von Herder, Merck und Goethe zu wandeln und mit seinen Artikeln die Menschen zum Wahren und Guten zu erziehen. Doch Claus Uffenbach hatte ihm rasch klargemacht, dass die schöngeistigen Texte von erfahreneren Kollegen geschrieben wurden. Von ihm erwartete er sich etwas anderes. Nämlich nicht, dass er mit seinem Englisch und Französisch, seiner geschliffenen Sprache oder dem scharfen Verstand brillierte, den er am Frankfurter Humanistischen Gymnasium ebenso geschult hatte wie an der Hochschule von Erlangen. Sondern dass er einen Beitrag leistete, damit die Auflage wuchs. Um es von achttausend auf die erhofften zehntausend Exemplare pro Ausgabe zu bringen, reichte es nun mal nicht, über die beiden Frankfurter Messen zu berichten. Oder über die Sitzordnung bei Festbanketten an hessischen Fürstenhöfen. »Unsere Geschichten haben dafür zu sorgen, dass dem Leser vor Grauen der Mund offen steht!«

Grauen nahm Johann nicht wahr, als sie den Rossmarkt erreichten – die Gesichter der zahlreich herbeiströmenden Schaulustigen waren vielmehr vor Aufregung gerötet. Während die Glocken von gleich mehreren Kirchtürmen Sturm läuteten, schien ein riesiges Volksfest im Gange zu sein. Vor den neuen Stadtpalästen der reichen Patrizierfamilien, denen manch mittelalterliches Giebelhaus zum Opfer gefallen war, hatte man etliche Buden errichtet. Würstchen und Rippchen wurden in der einen gebraten, Hühnchen in der nächsten. Ein paar der Hühner lebten noch. Mit ihren Füßen waren sie an eine Stange gebunden und gackerten sich kopfüber die Seele aus dem Leib. Angeboten wurde nicht nur, das krosse Fleisch vom Knochen zu nagen, sondern auch, das Federvieh eigenhändig zu köpfen. Wem das mit einem Schlag gelang, der bekam einen Humpen Bier kostenlos.

Johann beschleunigte seine Schritte, um dem Gackern zu entfliehen. Doch auch bei der nächsten Bude übte man die Treffsicherheit – an einer Steckrübe, die an einem Bindfaden hing und von der es dünne Scheiben abzuschlagen galt. Auch der Henker, so hieß es, habe sich gestern Abend auf diese Weise auf die Enthauptung vorbereitet. Als eine Rübenscheibe direkt vor Johanns Füße rollte, überlief ein Kribbeln seinen Nacken, gefolgt von kaltem Schweiß. Er blieb stehen, aber Uffenbach schubste ihn weiter.

»Das Bier trinken wir beide erst hinterher – dann geht’s zum Schwarzen Bock nach Sachsenhausen.«

Seine Stimme ging in lautem Johlen unter. Ein hölzerner Wagen, mit dem man sonst Gemüse transportierte – er hatte lediglich zwei Räder und ein Gitter, das Kohlköpfe davon abhielt, auf den Boden zu plumpsen –, traf ein. Er kam von der Hauptwache, wo nicht nur die Kompanien der Soldatenwache untergebracht waren, sondern wo sich auch das Gefängnis befand. Die Zellen im Obergeschoss waren den vermögenden Gefangenen vorbehalten, im Schanzenloch ganz unten landeten die Schwerverbrecher. So wie der Mann auf dem Wagen.

»Na?«, rief Uffenbach. »Schlottert er vor Angst? Macht er sich gleich in die Hose? Kotzt er?«

Johanns Kehle zog sich zusammen, als sich der Wagen der hölzernen Tribüne näherte, auf der der Richtblock stand. Der Henker von Frankfurt wartete schon. Fünf beidhändig zu führende Richtschwerte besaß er, und wenn er nicht gerade Mörder enthauptete – was zu Uffenbachs Leidwesen fast seltener geschah als Kaiserkrönungen –, war er Frankfurts Abdecker. Heute würde er das größte Richtschwert gebrauchen, mit breiter und flacher Klinge, die in einer abgerundeten Spitze endete, und eingravierten Sinnsprüchen. Johann hatte sich kundig gemacht und wusste, was auf der Vorderseite stand: Die Herren steuern das Unheil, ich führe ihr Urteil aus. Auf der Rückseite wiederum war zu lesen: Wenn ich das Schwert aufhebe, so wünsche ich dem armen Sünder das ewige Leben.

Das Gesicht des Scharfrichters war verhüllt, die Haltung starr. Auch der Verurteilte regte sich kaum. Als der Wagen hielt, musste ihm der Geistliche, der ihn begleitete und unentwegt Gebete murmelte, einen Stoß versetzen, damit er aus dem Gefährt kletterte. Dem Stöcker – einem Stadtknecht, der den Todgeweihten ebenfalls begleitete – war das zu langsam, er packte ihn grob an der Schulter, um ihn zur Richtstätte zu zerren.

Das Gejohle wurde lauter. Uffenbach versetzte Johann einen Stoß ins Kreuz.

»Los! Geh näher ran! Du musst doch sehen, wie das kalte Schwert blitzt und das heiße Blut spritzt!«

Johann wollte sich weigern, wurde aber mit der Menschenmenge mitgerissen. Fast jeder war bestrebt, dem Richtblock so nahe wie möglich zu kommen. Und fast jeder zückte ein weißes Taschentuch oder hielt einen gewärmten Topf parat. Das Blut eines Enthaupteten, so hieß es, würde die Fallsucht heilen – und das sogar noch besser als die Nachgeburt einer Frau, gebrannter Regenwurm oder die Klauen eines fleischfressenden Tieres. Und ein Lappen, auf den nur ein Tropfen von diesem Blut gefallen war, würde großes Glück bringen, wenn man ihn unter den Ladentisch legte, was vor allem für die vielen Händler und Kaufleute Frankfurts verlockend klang.

Johann wich nur mit Mühe etlichen Ellbogen aus. Als er endlich eine halbwegs sichere Position erreicht hatte, verstellten ihm zahlreiche Köpfe den Blick auf die Hinrichtungsstätte, und er hörte nur, konnte es aber nicht sehen, wie das Todesurteil wiederholt, ein Stab zerbrochen und dem Unglückseligen vor die Füße geworfen wurde, als Zeichen, dass er sein Leben verwirkt habe.

Er hoffte, dass er auch weiterhin nichts sehen musste. Und hatte zugleich Angst, Uffenbach zu enttäuschen. Wenn er nicht bald seinen ersten großen Artikel zu dessen Zufriedenheit verfasste, würde er die heiß ersehnte Stelle als Zeitungsschreiber verlieren. Und einem wie ihm blieb dann nur, sich als Hauslehrer von verwöhnten Erben das Leben schwer machen zu lassen.

»Ich bin ein Fremder, weile erst seit Kurzem in Frankfurt«, hörte er sich selbst plötzlich laut rufen. »Könnt ihr mir sagen, was dieser Adam Rau verbrochen hat?«

Er wusste zwar selbst, dass der Delinquent zwei Frankfurter Jungfrauen grausam ermordet hatte. Doch Uffenbach gefiel es bestimmt, wenn die Taten schauderhaft ausgeschmückt wurden.

»Nenn ihn nicht Adam Rau«, erhielt er prompt eine Antwort. »Er ist doch der Aal.«

Auch das war Johann bekannt. Einst hatte Adam Rau schwere Verletzungen davongetragen: Die einen behaupteten, bei einem Brand, andere sprachen von einem Schwertkampf. Bevor er daran verbluten konnte, hatte ein Arzt jedenfalls die Wunden mit den Schuppen von Aalen gestopft. Der Blutfluss war tatsächlich zum Erliegen gekommen, die Fischhaut aber mit der Menschenhaut verwachsen, sodass er seitdem grässlich entstellt war.

»Warum das denn?«, fragte er vermeintlich ahnungslos.

»Abgesehen davon, dass er aussieht wie ein Aal? Aale fressen Schweine- oder Pferdeköpfe, die man ins Wasser wirft, von innen her auf. In ähnlichem Zustand war der Unterleib der armen Jungfrauen, als der Aal mit ihnen fertig war.«

»Ja, ja«, ereiferte sich ein anderer, »man hat sie in einer Lache aus Blut gefunden. Die Gedärme wurden ihnen aus dem Leib gerissen.«

»Nicht nur die«, mischte sich noch jemand ein. »Bis zum Herz hat er sich hochgearbeitet, um es zu zerstückeln.«

»Noch an den Rippen waren Spuren der Klinge festzustellen.«

»Nur die Gesichter waren unberührt. Ein wenig sahen die Jungfrauen so aus, als würden sie schlafen.«

»Von wegen! Nachtblau waren die Lippen, weil kein Tropfen Blut mehr im Leichnam verblieben war!«

Während das Gesagte Johann mit tiefem Entsetzen erfüllte, klangen die Stimmen zunehmend begeistert. Wie nur war es möglich, sich an solcher Grausamkeit zu ergötzen?

Genug davon! Er machte sich daran, wieder den Rückweg anzutreten. Doch als er sich an einem Mann mit feistem gerötetem Gesicht vorbeidrängen wollte, versetzte der ihm einen Stoß. Schmächtig wie er war, geriet Johann ins Taumeln, schlug sich fast den Kopf an der hölzernen Tribüne an, fand rechtzeitig das Gleichgewicht wieder – und war nun aber endgültig inmitten der Menschenmasse gefangen. Immer näher schob sie ihn an die Hinrichtungsstätte heran.

Johann überlief es kalt. Nicht der Anblick des Richtblocks und des Henkerschwerts erschütterte ihn derart. Nicht die Stille, die sich über den Platz senkte und die selbst die gackernden Hühner verstummen ließ.

Es war der Gestank. Der grässlichste Gestank, der ihm je in die Nase gestiegen war. Er ging von der Gestalt aus, nicht sonderlich groß, ziemlich ausgezehrt, die eben vor dem Richtblock niedergestoßen, sodann mit Lederriemen daran festgebunden wurde. Johann hatte erwartet, dass der Schuldige ähnlich gekleidet sei wie die zu Tode verurteilten Kindsmörderinnen – ganz in Weiß nämlich. Doch wer immer den Delinquenten vorhin aus seiner Zelle geholt hatte, war nicht damit zufrieden gewesen, dass dessen Kleidung zerrissen und die Füße nackt waren. Mit Abfällen vom Fischmarkt hatte er ihn übergossen. Eine schleimige Masse überzog den Körper, in der Gräten und tote Augen schwammen, Schuppen, Schwanzflossen, fauliges Fleisch. Kaum eine Stelle war nicht davon bedeckt, vor allem am Kopf. Unmöglich war zu erkennen, wo die Aalschuppen Menschenhaut ablösten und wo grindige Stellen zwischen den Haaren klafften. Aber das war nicht notwendig, um von diesem Wesen nicht als Adam Rau zu denken, sondern als glitschigem Aal. Als sein Kopf auf den Richtblock gedrückt wurde und der Henker das Richtschwert hob, zuckte er denn auch wie einer, den man eben aus dem Main gezogen hatte.

Alles in Johann drängte ihn dazu, die Augen zu schließen, aber er schaffte es nicht. Erst ließ ihn das pure Grauen erstarren, dann etwas anderes. Der Blick des Aals.

Verrottet mochte alles an ihm wirken, aber nicht seine Augen. Sie waren von einem warmen Braun, wach, menschlich. Und alles mochte verklebt und verdreckt sein, nicht aber die Lippen. Schmal waren sie, doch von einem gesunden Rot. Sie begannen zu zucken, sie öffneten, schlossen sich. Kurz dachte Johann, er murmele ein lautloses Gebet, dann vernahm er ein Wort.

Hatte er das richtig verstanden? Hatten es die anderen auch gehört?

Johann löste nun doch den Blick vom Aal, drehte sich um, las in keiner der Mienen jenes Erstaunen, jene … Fassungslosigkeit, die sich in ihm ausbreitete. Da waren nur Häme, Sensationslust, Blutgier. Rasch wandte er sich wieder dem Richtblock zu, in der Hoffnung, der Aal würde noch mehr sagen.

In diesem Augenblick ging das Richtschwert nieder. Ein Schwall Blut traf Johann, aber er spürte dessen Wärme nicht, wie denn auch. Alles in ihm erkaltete, als er zuschauen musste, wie sich der Stahl zwar in die Haut grub, aber zu weit über dem Nacken und auch nicht tief genug, um den Kopf abzutrennen. Die Lippen des Aals waren immer noch rötlich, aber schlossen sich nicht länger um einen Mund, nur um ein rotes Loch, aus dem Blut schoss und sich – merkwürdig verdreht – der Unterkiefer schob.

Ein Schmerzenslaut brach sich Bahn, wie Johann ihn noch nie gehört hatte. Als stiege er nicht aus dem Innersten hoch, um über den Mund den Körper zu verlassen, als brüllten sämtliche Muskeln, sämtliche Sehnen, sämtliche Knochen. Wer so schrie, wurde davon irre. Wer es hörte, wurde davon irre. Die Arme des Henkers bebten, tief saß wohl die Scham über den verfehlten Schlag, wenngleich die Zuschauer kein Murren ausstießen, nur begeistertes Gejohle. Wieder hob er das Richtschwert, wieder schlug er zu, wieder verfehlte er diese eine Stelle zwischen zwei Halswirbeln. Ein Ächzen ertönte, als würde ein hundertjähriger Baum gefällt. Auch einmal mehr ein Schmerzenslaut, so durchdringend, dass Johann nicht sagen konnte, ob er grollend tief oder gellend hoch war. Dann riss er schlagartig ab, und noch mehr Blut sprudelte aus dem gespaltenen Mund. Der Kopf war immer noch nicht auf das Bett aus Sägespänen gefallen, der Halsmuskel aber weit genug durchtrennt, dass er langsam vom Richtblock rutschte. Der Kopf baumelte nur noch an einem dünnen Faden am Rumpf, der Unterkiefer hing herab.

Der dritte Hieb fiel etwas kraftloser aus, aber auch konzentrierter. Ein dumpfes Poltern, das Knistern der Holzspäne, dann war es endlich geschafft. Zwei hellrote Blutströme quollen aus dem Rumpf, und als der Scharfrichter den abgeschlagenen Kopf der Menge präsentierte, starrten Johann nicht länger warme braune Augen an, nur schwarze Löcher.

Wieder brandete Gejohle auf. Ein paar der Umstehenden stürzten sich auf das Blutgerüst, um einen Splitter zu ergattern, der als Talisman dienen würde, während diejenigen, deren Gesichter blutverschmiert waren, zu rennen begannen. Ob sie sich das Blut so schnell wie möglich abwischen wollten? Aber nein, seine Heilkraft galt als umso höher, je schneller der Befleckte herumlief!

Johann war von seinem Grauen kurz wie gelähmt. Doch alsbald trat er die Flucht an, wühlte sich durch die Menschenmenge, hatte schon den halben Rossmarkt überquert. Ein Dutzend Schritte noch, und er würde den Ort des Schreckens hinter sich lassen.

Doch wie aus dem Nichts trat Uffenbach vor ihn und packte ihn.

»Sieh nur, Johann, wen ich getroffen habe. Doktor Theophil Pontus vom Collegium Medicinum des Senckenbergischen Instituts. Man hat ihm den Kopf des Aals zu Forschungszwecken versprochen. Im anatomischen Institut wird er gründlich das Gehirn untersuchen, um herauszufinden, ob dies bei einem grausamen Menschen wie ihm schwere Schäden aufweist.«

So unangenehm ihm die Berührung war, nur dank des festen Griffs konnte Johann sich aufrecht halten.

»Ver-ver-ver…«, setzte er an. Wie war es möglich, dass der Aal noch ein ganzes Wort zustande gebracht hatte, er jetzt aber keines?

Uffenbach scherte sich nicht weiter um ihn, Theophil Pontus aber musterte ihn eingehend. Er war ein unscheinbarer Mann, untersetzt, dürr und mit fahler Gesichtshaut. Doch wer ihm einmal begegnet war, würde nie wieder diesen bohrenden Blick vergessen. Es stand nicht bloß Interesse darin, es war eine regelrechte Gier, mit der er jedes noch so kleine Detail in sich aufzusaugen schien.

»Wie gut, dass du voller Blut bist, aber keine Spuren des Gehirns aufweist. Dies ist ein Zeichen, dass es noch intakt ist. Großartig. Ich fürchtete schon, dass es während der Prozedur beschädigt werden könnte.«

»Ver-ver-ver…«, stotterte Johann wieder.

»Und ebenso erfreulich ist es, dass sich die Reichsstadt Frankfurt nicht länger dem wissenschaftlichen Fortschritt verschließt«, fuhr der Doktor fort. »Vor einigen Jahren noch hat man den abgeschlagenen Kopf eines Delinquenten auf einen der Stadt zugewandten Pfahl geschlagen – und wenn er nach einigen Stunden wieder abgenommen wurde, war er für die Examinierung unbrauchbar. Ganz zu schweigen von den Gliedern der Geräderten, die man gerne wochenlang am Rad verwesen ließ. Dass wir den Leichnam öffnen dürfen, gilt mittlerweile gottlob als ausreichende posthume Strafe.«

Ein flüchtiges Lächeln, ein gedankenverlorenes Nicken, dann stob der Arzt auf den Richtblock zu.

Johann blickte an sich hinab und stellte fest, dass seine Kleidung tatsächlich von grässlichen Flecken übersät war.

Uffenbach folgte dem Blick und schnalzte anerkennend mit der Zunge.

»Ver-ver-ver…«, stammelte Johann.

»Ver-ver-was? Heraus damit! Was waren die letzten Worte dieses Frevlers?« Uffenbach legte den Kopf leicht schräg. »Hieß es etwa verflucht? Oh, das klingt gut! Damit lässt sich etwas anfangen! Lass mich nachdenken, wie wir das ausschmücken können. Mein Fluch lastet fortan über euch Frankfurtern. Mich werdet ihr nicht los, ich werde euch in den Schlaf verfolgen.« Er lachte begeistert. »Ja, das gefällt mir. Wie ein Schatten … wie ein Nachtmahr lege ich mich künftig über diese Stadt … Sag mal, was hast du denn? Kipp mir bloß nicht um! Jetzt gibt es doch das versprochene Bier. Und wenn dein Magen das nicht verträgt, lass dir Apfelwein servieren. Wir müssen auf deine erste Hinrichtung anstoßen.«

Johann würgte bei jedem weiteren Wort. Was da an ihm klebte, waren nicht länger nur kalter Schweiß und Blutspritzer von der Richtstätte, es schien ein schleichendes Gift zu sein, das durch seine Poren drang. Selbst wenn er sich zigfach wusch, würde es an ihm haften bleiben. Und selbst wenn er zigfach frische Luft einsog, würde er sich von der Woge des Gestanks verfolgt fühlen.

»Er hat nicht gesagt: verflucht. Sondern: Verrat«, presste er gerade noch hervor. Dann hastete er hinter die Bude, wo die gackernden Hühner hingen, beugte sich vor und kotzte so lange, bis er nur noch bittere Galle schmeckte.

»Nebst zum Tode Kondemnierten dienen vorzugsweise Totgefundene, Almosenempfänger und namenlose, in Hospitälern Gestorbene der Scientia. Ebenso werden der Anatomie häufig ledige Mütter überstellt, deren Kadaver fundamentale Erkenntnisse zum Partus, dem Akt des Gebärens, bringen. So lässt sich retrospektiv die Lage des Kindes erörtern, meist dergestalt, dass es mit seinem Haupte treulich an den innerlichen Mutter-Mund und gegen die Mutter-Scheide drückt.«

 

Aus der Medicina forensis von Physicus und Chirurgicus Theophil Pontus

2.23. März 1800

Sibylle unterdrückte mühsam ein Beben. Der Raum, in dem sie sich befand, war klein und kalt. Beide Luken waren mit dicken Balken zugenagelt, nur eine Tranfunzel spendete jetzt, mitten in der Nacht, ein fahles, flackerndes Licht. Es malte unruhige Schatten auf die Wände und auf das Gesicht der Frau, die sich vor Sibylle auf der dünnen Strohmatte wand. Ihre Züge waren schmerzverzerrt, der Blick glasig, der Mund weit geöffnet, und dass keine spitzen, durchdringenden Schreie zu vernehmen waren, lag einzig an dem Knebel, der zwischen ihren Lippen steckte. Die arme Frau stand Höllenqualen aus, und das war kein Wunder.

Schließlich war der brutalste Folterknecht am Werk, den man sich vorstellen konnte. All seine teuflischen Kniffe schien er ausprobieren zu wollen, um immer mehr Schweiß auf die Stirn der Frau zu treiben, sämtliche Muskeln verkrampfen und die Augäpfel hervortreten zu lassen.

»Schsch«, flüsterte Sibylle dicht am Ohr der Frau. »Halte durch.«

Die Gequälte schien ihre Stimme nicht zu hören, auch nicht, dass sich soeben die schmale Tür öffnete. Eine alte Frau mit grauem, gefurchtem Gesicht erschien auf der Schwelle, sie wirkte ebenso müde wie hoffnungslos.

»Ist es denn immer noch nicht vorbei?«

Sibylle fröstelte im kalten Luftzug. Ihre blutbesudelte Leinenbluse klebte ihr klamm am Leib.

»Bald«, sagte sie. »Bald.«

Das behauptete sie schon seit Stunden. Doch der Folterknecht, der am Werk war, war nicht nur außergewöhnlich sadistisch, er hatte auch einen langen Atem. Es handelte sich um die Natur höchstselbst, die die Frau mit schlimmen Geburtswehen beutelte.

Die Alte trat näher. Am Vormittag hatte sie bei Sibylle geklopft und deren Dienste als Hebamme eingefordert, sie zugleich aber beschworen, dass dieser Einsatz streng geheim bleiben müsse. »Niemand darf dich hier sehen, wenn du das Kind auf die Welt holst. Und erst recht darf niemand die Schreie hören – weder von der Mutter noch vom Kind.«

Die Alte selbst hatte vorhin den Knebel in den Mund der Gebärenden gesteckt, und obwohl der Frau das Atmen immer schwerer fiel, machte die Alte keine Anstalten, sie davon zu befreien. Sie raunte der gepeinigten Frau noch nicht einmal tröstende Worte zu. Stattdessen trat sie an eine der nackten Wände, zog etwas hervor und hängte es auf. Sibylle sah, dass es ein Blatt Papier war, beschrieben mit Zeichen, die sie nicht kannte … nicht ergründen wollte. Sie nur für die Dauer eines Wimpernschlags zu betrachten, konnte gefährlich sein.

»Nicht!«, rief Sibylle bange, und diesmal war es nicht allein die Kälte, die sie erschaudern ließ, sondern tief sitzende Furcht. »Ich will nichts mit euren heidnischen Bräuchen zu tun haben.«

»Der Text des Schir La Ma’alot soll das Erste sein, was der Säugling von dieser Welt sieht. Für unsereins ist das ein wichtiger Brauch.«

Sibylle hatte bislang nur gehört, dass eine Schwangere aufpassen musste, worauf ihr Blick fiel. Einmal, so ging das Gerücht, habe eine einen dressierten Affen gesehen und daraufhin ein behaartes Wesen zur Welt gebracht, das man natürlich sofort erstickt hatte.

»Das fehlte mir noch, einen Fluch auf mich zu ziehen! Du wartest damit, bis ich weg bin.«

Widerwillig nahm die Alte das Blatt wieder von der Wand. Ob sie es auch einsteckte, sah Sibylle nicht, denn eben bäumte sich die Gebärende auf. Sie schien sich gegen unsichtbare Hände zu wehren, die sie festhielten, kämpfte hechelnd gegen den Knebel. War es nun so weit?

Einen Einlauf hatte Sibylle ihr schon vor Stunden verpasst. Viel mehr hatte es danach nicht zu tun gegeben. Eine innerlich wirkende Medizin sei ihresgleichen verboten, hatte die Alte gleich zu Beginn erklärt. Unüblich sei auch der Brauch, der Gebärenden Salzbrocken zu reichen, damit sie diese unter den Wehen zerdrückte und darüber den Schmerz besser ertrug. Und es gab kein Zeichen, dass der Einsatz von Haken und Zangen, die Sibylle in ihrem Hebammenbeutel bei sich führte, notwendig wäre.

»Nimm deine Knie hoch, sodass sie die Ellbogen berühren.«

In dieser Lage konnte Sibylle sie am besten zwischen den Beinen untersuchen. Doch die Gebärende zögerte – weil sie nicht konnte … oder nicht wollte. Eigentlich hatten nur hochwohlgeborene, reiche Frauen das Recht, im Liegen untersucht zu werden. Frauen von geringer Herkunft mussten an die Wand gelehnt stehen bleiben, damit sich eine Hebamme nicht bücken musste. Aber Sibylle verzichtete, darauf zu pochen, zumal Standesunterschiede in diesem Moment ihre geringste Sorge waren. Als sie die Frau vorhin untersucht hatte, hatte sie den Eindruck gehabt, das Kind würde richtig liegen. Doch als sie jetzt das Kleid hochschob und sie zwischen den Beinen betastete, spürte sie nicht die harte Schädeldecke, sondern sah, wie sich ein verklebtes Füßchen durch die nasse Scham zwängte. Wie Sibylle sog auch die Alte scharf den Atem ein – wenngleich nicht das Füßchen sie am meisten entsetzte.

»Sie darf doch nicht entblößt werden!«, rief die Alte und versuchte, das blut- und schweißbefleckte Kleid der Gebärenden wieder über die nackten Beine zu ziehen. »Auch ihre Haare müssen stets bedeckt bleiben.«

»Wie soll ich denn so das Kind holen?«, schimpfte Sibylle ungehalten. »Wenn etwas bei einer Geburt nichts verloren hat, so ist das falsche Scham. Ist es nicht am wichtigsten, dass am Ende Mutter und Kind leben?«

Der Alten entging der leicht panische Unterton in Sibylles Stimme wohl nicht, denn sie wich resigniert zurück. Sibylle umfasste indes dieses winzige Füßchen und schob es mit Gewalt zurück in den Mutterleib, in der Hoffnung, dass an seiner statt der Hintern den Geburtskanal weiten und als Erstes ans Licht streben würde. Die Gebärende ächzte und stöhnte und schlug so heftig mit den Beinen aus, dass ihr Knie Sibylles Bauch traf. Sibylle blieb die Luft weg, der Gebärenden kurz auch. Allerdings hatte sie noch genug Kraft, um den Knebel aus dem Mund zu spucken.

Rasselnd ging ihr Atem, gefolgt von einem hohen spitzen Schrei. Zutiefst erschrocken stürzte die Alte zu ihr und presste ihr die Hand auf die Lippen.

»Nicht!«, rief sie. »Es muss doch ein Geheimnis bleiben, dass …« Ihr Blick richtete sich auf die Tür, in ängstlicher Erwartung, jemand könne nachschauen kommen. Die Tür blieb geschlossen – und Sibylle fortan ausschließlich auf die Gebärende konzentriert.

Zu ihrem Erstaunen ging plötzlich alles schnell. Kein zweites Mal war das Füßchen zu sehen. Als sie danach tastete, spürte sie vielmehr das Becken des Kindes. Ein paar Wehen noch, und immer mehr vom Hintern wurde sichtbar. Nur erfahrene Hebammen kannten die Handgriffe, die nun notwendig waren. Sibylle verrichtete sie angespannt, aber nach den vielen Geburten, die sie hinter sich gebracht hatte, auch routiniert. Ein paar Ermahnungen folgten – erst nicht, dann stark zu pressen –, und schließlich drängte mit einem Schwall bräunlicher Flüssigkeit das Kind auf die Welt. Sibylles Leinenbluse bekam noch mehr Flecken ab, sogar ihr Rock. Dennoch überlief sie kein neuerliches Frösteln, vielmehr stieg heißer Triumph in ihr hoch. Der Folterknecht war bezwungen – und das war allein ihr zu verdanken.

Während Sibylle sich den Schweiß von der Stirn wischte, nahm die Alte endlich die Hand vom Mund der Wöchnerin. Die kaute auf ihren rissigen Lippen, blickte erstaunt auf den roten Wurm zwischen ihren Beinen, als hätte sie nicht damit gerechnet, dass dergleichen aus ihrem Leib kriechen würde.

»Es … es lebt?«

Es war nicht offensichtlich, ob Hoffnung oder Enttäuschung aus der gepressten Stimme sprach.

Rasch band Sibylle die Nabelschnur ab, durchtrennte sie, beugte sich schließlich über das Kind. Sie vernahm zwar kein lautes Schreien, aber einen Ton, als würde Herbstlaub rascheln. Das musste genügen, um sich ihren Lohn verdient zu haben. Während die Gebärende leise weinte, prüfte die Alte, ob das Tuch fest auf dem Kopf der jungen Frau saß und weiterhin ihr Haar verbarg. Erst danach richtete sich ihr Blick auf den roten Wurm.

»Ein Junge«, stellte sie fest, um ihm sodann Worte in einer fremden Sprache zuzuraunen. Es klang wie ein Zauberspruch. Sibylle hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten, damit nichts von diesem heidnischen Gift in ihre Seele dringen konnte, aber stattdessen beeilte sie sich, ihr Schultertuch umzulegen und zur Tür zu hasten.

»Du gehst?«, fragte die Alte.

Sibylle wusste, dass auch nach einer Geburt viele Pflichten auf eine Hebamme warteten: Sie müsste das Neugeborene auf Verletzungen und Muttermale untersuchen, die Nabelschnur ausdrücken und das Kleine baden. Sie müsste es an die Herzseite der Mutter legen, damit der Herzschlag die bösen Geister vertrieb – und sie müsste die Plazenta vergraben, denn warf man diese einfach auf den Misthaufen und wurde sie von einem Hund gefressen, so spürte die junge Mutter jeden einzelnen Bissen am eigenen Leibe. Aber das galt unter normalen Umständen. Unter diesen hier würde ihr niemand einen Vorwurf machen, wenn sie so rasch wie möglich floh.

»Du wolltest doch, dass mich niemand sieht. Und im Augenblick ist es noch stockdunkel. Die Nachgeburt flutscht nach einer Weile von allein heraus.«

Sie bemerkte nicht mehr, ob die junge Mutter das Kind endlich an sich nahm. Die Alte tat es jedenfalls nicht, sondern bestand darauf, Sibylle nach draußen zu geleiten. Als sie vorhin das Haus betreten hatte, war sie in Eile gewesen und hatte nichts von der Einrichtung wahrgenommen. Auch jetzt hielt sie den Blick gesenkt und achtete einzig darauf, nirgendwo dagegenzustoßen.

»Es bleibt dabei«, war das Letzte, was die Alte zu ihr sagte. »Zu niemandem ein Wort.«

Darauf konnte sie sich verlassen. Sibylle wollte mit ihresgleichen gewiss nichts zu tun haben. Sobald sie im Freien war, begann sie mit geducktem Kopf zu rennen.

Wie finster es in dieser Straße war, die für so viele als verflucht galt! Zwar gab es auch im übrigen Frankfurt verwinkelte Gässchen und schiefe Häuser, deren obere Stockwerke über das Erdgeschoss ragten wie ein dickes Glas über einen zu dünnen Stiel. Aber die Franzosen, die vor einigen Jahrzehnten die Stadt besetzt hatten, hatten es zur Pflicht gemacht, dass jeden Abend von zwei Dutzend Lampenfüllern Hunderte von Laternen angezündet wurden, und darum war es dort nie so stockdunkel wie an diesem Ort.

Warum hatte sie bloß nicht daran gedacht, eine eigene Lampe mitzunehmen? Mit dem üblichen Rübenöl ließ sich zwar kein grelles Flämmchen entzünden, aber besser als das Licht des Mondes wäre es allemal gewesen, zumal sich vor dieses immer wieder eine Wolke schob.

So hastig sie fortkommen wollte – um auf dem klebrigen Boden nicht auszurutschen, musste sie ihr Tempo drosseln. Nicht nur der Gestank von Unrat stieg ihr in die Nase, auch der von Kot, wurde die Antauche in dieser Gasse doch nicht ausreichend gespült. Ganz zu schweigen von den Lachen, die entstanden, weil man hier die Tiere nach dem Schlachten ausbluten ließ. Und hinzu kam dieser ätzende Brandgeruch, obwohl vier Jahre vergangen waren, seit die Gasse fast völlig von einem Feuer zerstört worden war. Der Druck auf Sibylles Brust wurde immer größer. In einen Vorhof zur Hölle schien sie geraten zu sein, nur dass dort wohl kein derart kalter Nachtwind wehte. Der einzige Trost war der schwere Sack mit Münzen, der an ihrem Gürtel baumelte. Mit einer Hand umfasste sie ihn, mit der anderen den Beutel mit ihren Instrumenten.

Für gewöhnlich bekam eine Frankfurter Hebamme einen Gulden für eine Geburt. Doch sie war auch für ihr Schweigen bezahlt worden und hatte darum fünf große Münzen kassiert, noch dazu sächsische und österreichische Taler, für die sie ansonsten einen halben Monat hätte schuften müssen. Wenn bloß nicht dieses Unbehagen an ihr gehaftet hätte wie ein Schatten! Wenn sich die Gasse nicht als so endlos erwiesen hätte!

Endlich erreichte sie die Südpforte. Jetzt bei Nacht war sie ebenso wie an den Feiertagen verschlossen, und nur wohlhabende Kaufleute besaßen einen eigenen Schlüssel, um sich während der Schließzeiten frei bewegen zu können. Doch an den Toren, so hatte ihr die Alte erklärt, befanden sich kleine Türen, die während der Frühjahrsmesse offen standen.

Sobald Sibylle durchgetreten war, atmete sie tief durch. Der schlimmste Teil der Strecke war geschafft, und sie war weder ausgerutscht noch bestohlen worden. Jetzt galt es nur noch, ein Stück an der Mauer entlangzugehen, die die Gasse von der übrigen Stadt schied. Dann endlich abzubiegen und zum Main mit seinen breiten, offenen Kais und all den Wirtshäusern zu gelangen, die auch spät in der Nacht belebt waren. Die finsteren Ecken zu meiden, wo man besonders viele Bettler und Diebe antraf. Und schließlich nach Hause zu kommen, in ihre vertraute, wohlige Welt, in die Wärme, in ihr weiches Bett. Allein beim Gedanken daran entspannte sie sich ein wenig. Doch plötzlich hielt sie abrupt inne, sog scharf die Luft ein. Da war ein fremder, rauer Atem. Und Schritte. Langsame Schritte, gefolgt von einem schleifenden Geräusch, als zöge einer sein steifes Bein hinter sich her. Ihr Herz schien tiefer zu rutschen, wummerte in ihrem Gedärm. Gebannt starrte sie auf die schmale Gasse vor ihr, deren Dächer über dem Boden nahezu zusammenzuwachsen schienen, glaubte einen Schatten zu sehen, presste sich unwillkürlich an eine Hauswand.

Aber es half alles nichts. Sie musste hier entlang. Und sie war nicht unbewaffnet. Noch fester umklammerte sie mit der einen Hand den Geldbeutel, während sie mit der anderen ihre Geburtszange hervorholte. Die hatte keine scharfen Kanten, aber im Mondlicht glitzerte sie silbrig wie die Klinge eines Messers.

Ihre festen Schritte übertönten dieses Schleichen, dann lachte sie erleichtert auf. Wer da gerade an ihr vorbeihuschte, von der Begegnung mit ihr noch mehr verschreckt als sie selbst, war nur ein Kübelweib. Rasch hastete es davon, weil es wohl nicht wollte, dass Sibylle ihm ins Gesicht sah. Kübelweiber gingen frühmorgens von Haus zu Haus, um die Nachttöpfe der reichen Leute zu leeren und den Inhalt in den Main zu schütten. Früher waren sie in der Nähe des Stadtzentrums unterwegs gewesen, doch seit die Weinhändler vom Leonhardstor protestiert hatten, mussten sie mit ihrer stinkenden Last große Umwege machen.

Die Nacht war offenbar weiter fortgeschritten als gedacht. Und tatsächlich: Als Sibylle den Kopf hob, nahm sie milchiges Licht wahr. Die grauen Fäden der Dämmerung sickerten in die Ränder der Nacht, ließen in der Ferne ein paar von den fünfzig Türmen Frankfurts erahnen. Nicht mehr lange, dann wären sie in rostiges Rot getaucht. Ihr Atem beschwichtigte sich ebenso wie der Herzschlag.

Sie hatte dem Kübelweib nachgeblickt. Hob jetzt den Fuß für den nächsten Schritt.

Die Hände kamen wie aus dem Nichts. Eine umfasste ihre Taille, die andere legte sich auf ihren Mund. Der Mann hatte sich ihr völlig lautlos genähert, ihr eigener Schrei klang erstickt wie der der Gebärenden. Noch fester presste sich die schwielige Hand auf ihre Lippen, wand sich der Arm um ihren Bauch wie eine Schlange. Die Zange … sie sollte mit der Zange nach ihm schlagen! Sie versuchte es, glaubte, ihn zu treffen. Doch der Körper war nicht warm, weich, verletzlich, sondern eisig kalt, als flösse schon seit Jahren kein Blut mehr durch die Adern. Klirrend fiel die Zange zu Boden. Den Geldbeutel … den hatte sie noch. Und den durfte ihr Angreifer nicht bekommen. Sie ballte die freie Hand, um zuzuschlagen. Fühlte vernarbtes Gewebe. Das … das war doch kein Mensch!

Zumindest war es kein schwacher Mensch, den sie mit einem Schlag bezwingen konnte. Ehe sie noch einmal mit der Faust ausholen konnte, presste er ihr die Luft ab.

Jetzt war nicht länger der Beutel ihr kostbarstes Gut. Ihr eigenes nacktes Leben war das. Und wenn sie ihm eine der Münzen anbot? Würde er sich vielleicht damit begnügen und sie laufen lassen?

Doch wie sollte sie ihm das vorschlagen, wenn er die Hand weiterhin auf ihren Mund presste, schlimmer noch, sie ein wenig höher schob, ihr nun auch die Nase zudrückte. Sie trat mit den Beinen um sich, aber traf kein Schienbein. Sie versuchte die Fingernägel in sein Fleisch zu treiben, aber fühlte nur Leder. Verzweifelt japste sie nach Luft. Erst jetzt nahm sie wahr, dass es nicht mehr nach Verbranntem oder Exkrementen roch.

Es stank nach altem, verfaultem Fisch.

»Leichenschauen dienen nicht nur Forschungszwecken. Sie sind ferner üblich auf dem Felde der medicina forensis specimen, will heißen, der gerichtlichen Medizin. Erforderlich ist eine Examinierung beim kriminellen Abort, der Unfruchtbarmachung, Verletzungen mit Todesfolge und beim schlimmsten Frevel, dem Mord.

Auch vorliegender totgeschlagene Mann wurde medizinisch besichtigt und auf gerichtliche Art zergliedert. Man hat sodann gefunden, dass Kopf und Hirnschale auf einer Seite eingeschlagen wurden. Darüber hinaus wurde eine noch gravierendere Blessur festgestellt, die er unmöglich zu überleben imstande war.«

 

Aus der Medicina forensis von Physicus und Chirurgicus Theophil Pontus

3.31. März 1800

Manon fühlte sich beobachtet.

Sie war zwar allein in der Bibliothek, denn nachdem ihr Vater bis spät in der Nacht im Theatrum anatomicum des Senckenbergischen Instituts gearbeitet hatte, schlief er noch tief und fest. Doch das hieß nicht, dass sich nicht mancher Blick auf sie richtete.

Kaum hatte sie die erste Sprosse der Leiter erklommen, die sie an das Bücherregal herangeschoben hatte, fand sie sich Auge in Auge mit einem Embryo wieder. Er war vor vielen Jahren von ihrem Vater in einem Glas mit Weingeist konserviert worden und stand neben einem mehrbändigen Lexikon über Missgeburten. Seine Wirbelsäule und die Extremitäten seien nur ansatzweise, die Nieren und das Rectum hingegen schon vollständig angelegt gewesen, hatte Theophil Pontus ihr damals erklärt.

Nie hatte der Vater ihr Märchen erzählt, nie ein neues Kleid bewundert oder nach der letzten Gesangsstunde gefragt, sie jedoch dann und wann an seinen wissenschaftlichen Erkenntnissen teilhaben lassen. Und das geschah, wie sie bald herausgefunden hatte, umso häufiger, je aufmerksamer sie lauschte, je fachkundiger sie Nachfragen stellte und je gründlicher sie sich alles merkte.

Manon nahm die zweite Sprosse. In diesem Regal standen nebst Bernhard Siegfried Albinus’ Buch Tabulae Sceleti diverse Wachspräparate von Magen und Leber sowie ein Kupferstich. Er zeigte die rechte Wand einer Nasenhöhle, über der detailgetreu ein Auge gezeichnet war. Kurz hielt sie dem aufdringlichen Blick stand, stieg dann weiter und fand sich nun drei Totenköpfen gegenüber. Sie waren ebenfalls viele Jahre alt und stammten von drei Neugeborenen, deren Leichen ihr Vater den Familien abgekauft hatte. Er brauchte sie für die Nachstellung von Geburtssituationen mithilfe eines Phantoms, das – wie Manon schon im Alter von fünf Jahren gewusst hatte – ein mit Leder überzogenes und auf einem besonderen Kasten festgeschraubtes Konstrukt war und das weibliche Becken ebenso abbildete wie die Bauchhöhle samt ihren Organen. Solange sie noch nicht verwest waren, wurden tote Kinder hineingelegt, damit Studenten üben konnten, wie man sie bei einer Geburt am besten hinausbeförderte.

Als kleines Mädchen war Manon nachts oft schreiend aufgewacht, weil sie Angst gehabt hatte, die toten Kinder könnten sie in ihrem Bett heimsuchen. Aber dann hatte sie sich wieder und wieder die Worte ihres Vaters vorgesagt, wonach ein kluger Mensch nicht an Geister glaubte. War überdies zum Schluss gekommen, dass es immer noch besser war, in deren Gesellschaft zu sein als ganz allein. Und hatte es für erträglicher befunden, die Erörterungen ihres Vaters zur menschlichen Anatomie zu rekapitulieren – selbst wenn dabei Blut, Eiter und Exkremente zur Sprache kamen –, als der Stille zu lauschen.

Totenköpfe machten ihr jedenfalls schon lange keine Angst mehr. Bei ihrem Anblick stellte sie sich vielmehr gerne vor, was aus den jeweiligen Menschen hätte werden können. Tüchtige Kaufleute, wie es in Frankfurt so viele gab? Handwerker, auf die man ein wenig hinabsah, obwohl der Reichtum der Stadt auch ihnen zu verdanken war? Gelehrte wie ihr Vater, der seinesgleichen aus Preußen und Sachsen ebenso anzog wie aus der Kurpfalz? Aber vielleicht waren es keine Jungen, sondern Mädchen gewesen, und deren Schicksal war es, bloß eine Tochter oder Gattin zu sein.

Nun, sie wollte mehr, darum stieg sie auf die nächste Sprosse, obwohl das Knarren lauter wurde und die Leiter zu wackeln begann. Sie klammerte sich an das Regal, entdeckte eines der wenigen Bücher in der Bibliothek, die sie noch nicht gelesen hatte und die wie alle, die nichts mit Medizin zu hatten, immer ganz oben verschwanden. Sie nahm es und schlug es wahllos auf. »Ruhm, Freude, Glück und Ruhe eines Frauenlebens hängen ganz von dem Wohlwollen ab, welches die Männer gegen uns empfinden. Aber wir müssen allein stehen lernen. Das Urteil anderer darf uns nicht irre machen.«

Manon wollte weiterblättern, um die Schrift von Emilie Berlepsch zu lesen, nein, regelrecht in sich aufzusaugen. Doch dafür musste sie mit einer Hand das Regal loslassen. Wieder ertönte dieses Knirschen, die Leiter geriet noch stärker ins Wanken. Und kaum hatte sie die nächste Seite aufgeschlagen, störte sie ein lautes Klopfen an der Haustür. Vor Schreck ließ sie das Buch fallen.

Sie hörte Agnes, ihre Dienstmagd, von der Küche in den Vorraum huschen, um dem überraschenden Besucher zu öffnen. Während Manon die Leiter hinunterkletterte und sich nach dem Buch bückte, war eine männliche Stimme zu vernehmen. Sie sparte einen Gruß aus, bestand nur darauf, sofort mit Doktor Theophil Pontus zu sprechen. Es sei überaus dringend, der Arzt müsse mit ihm mitkommen …

Vielleicht ein Notfall im Bürgerhospital, sinnierte Manon. Der Vater war dort zwar offiziell angestellt, aber fast immer nur am Senckenbergischen Institut am Werk, nicht an den Krankenbetten. Von Toten ließ er sich gerne wach halten; von Verletzten um den Schlaf gebracht zu werden, war ihm weniger lieb.

»Es ist etwas Schlimmes geschehen«, die Stimme des männlichen Besuchers überschlug sich erst, um dann ins Flüstern zu verfallen. »Ein schreckliches Unglück … nein, ein Mord … der Leichnam … entstellt … blutbesudelt … brutal …«

Manon ließ das Buch liegen, schob die Leiter in die Ecke und trat in den Vorraum.

»Nun wecke doch endlich Doktor Pontus!«, redete der Mann, der sich auf der Türschwelle aufgebaut hatte, auf Agnes ein. »Man hat den Leichnam an einem recht ungewöhnlichen Ort gefunden … Man mag es gar nicht aussprechen … Wer immer dafür die Verantwortung trägt, er hat …« Er verstummte, als er Manon bemerkte. »Ach, das Fräulein Pontus.« Er bemühte sich um einen gleichmütigen Ton und kämpfte trotz seines Schocks um ein nichtssagendes Lächeln.

»Kriminalrat Pfeiffer!«, erwiderte sie mit einem knappen Nicken.

Er war der Leiter des Peinlichen Verhör- und Kriminalamts und als solcher zuständig für die Aufklärung von Verbrechen wie Mord, Totschlag und Menschenraub. Regelmäßig zog er ihren Vater als Sachverständigen hinzu, so erst kürzlich, als eine junge Frau unter den Verdacht des vorsätzlichen Kindsmords geraten war.

Ein recht langweiliger Fall, hatte Theophil hinterher befunden. Dabei geschah nichts weiter, als dass man dem Leichnam die Lungen entnahm und sie ins Wasser legte. Schwammen sie, waren sie mit Luft gefüllt, was bedeutete, dass das Kind bei der Geburt geatmet hatte. Schwammen sie nicht, dann …

Was Pfeiffer vorhin angedeutet hatte, klang deutlich aufsehenerregender, nur leider starrte er sie lediglich befremdet an, statt endlich ins Detail zu gehen.

»Ich hörte, es gab einen Mord«, sagte sie. »Großartig!«

Sein Mund klappte auf und zu.

Wie dumm von ihr. Wieder einmal hatte sie vergessen, dass alle außer ihrem Vater der Ansicht waren, man könne mit einem zartbesaiteten jungen Frauenzimmer nicht über den Tod und erst recht nicht über dessen mannigfaltige Ursachen sprechen.

»Ich meine nur, dass sich mein Vater freuen wird, eine Leiche untersuchen zu können«, fügte sie beschwichtigend hinzu. »Es ist ja so schwierig, an eine heranzukommen. Und jetzt, Ende März, muss man anders als im Hochsommer nicht fürchten, dass die Zeit im Kampf gegen die Verwesung knapp wird und …«

Wieder klappte Pfeiffers Mund auf und zu.

Hinter dem Ausdruck von Entsetzen über die schreckliche Tat und Befremden über die redselige junge Frau witterte Manon ein wenig Überdruss. Sie versuchte es mit einer anderen Frage.

»Wer ist denn der Tote?«

Endlich presste Pfeiffer ein paar Worte hervor. »Melchior Günderoth.«

Manon sog scharf den Atem ein. Vorzüglich! Melchior Günderoth entstammte einer der namhaftesten Patrizierfamilien Frankfurts und war Mitglied des Frankfurter Rats, der Regierung der Stadt. Was bedeutete, dass sein Leichnam gewiss in besserem Zustand wäre als ein halb verhungerter Bettler, den man aus dem Main gezogen hatte.

»Und wie genau wurde er ermordet?«, fragte sie.

Jetzt wurde der Mund des Kriminalrats schmal. »Ich denke, die Einzelheiten einer solchen Tat sind nicht für Ihre Ohren bestimmt.«

Ob sie erwähnen sollte, dass ihr Vater nie ein Problem damit gehabt hatte, zum Abendmahl einen knusprigen Kapaun zu verspeisen und gleichzeitig zu schildern, wie der Unterarm eines Kutschers in die Speiche eines Rads geraten und in der Mitte entzweigebrochen war?

Am Ende entschied sie sich für eine andere Taktik.

»Ich helfe meinem Vater oft bei der Präparierung eines Leichnams, um die Fäulnis hinauszuzögern. Quecksilber, das man schnell in die Gefäße spritzt, dient der Sache besser als eine Mischung aus rotem Bleimennige und gekochtem Leinöl, weil diese zwar bis in die Arteriolen, nicht aber in die Kapillaren vordringt und …«

Wenn ihr Vater Fachbegriffe fallen ließ, wirkte sein Gegenüber stets eingeschüchtert. Die Miene des Kriminalrats hingegen wurde ungehalten.

»Wenn die Gallenblase oder der Darm durch einen Messerstich verletzt wurden«, fuhr sie umso eifriger fort, »so tut man gut daran, mit Weingeist zu arbeiten, natürlich mit Arsenik oder Terpentin verdünnt, und …«

»Ach Minettchen!«

Nicht nur die Schritte, auch das Schnaufen kündigten ihren Vater an. Sie zuckte zusammen, nannte er sie bei dem verhassten Kosenamen doch nur, wenn er sie für etwas rügte. Und tatsächlich wandte er sich prompt an Kriminalrat Pfeiffer. »Sie müssen meiner Tochter verzeihen.«

Theophil warf ihr einen Blick zu und hob mahnend den Zeigefinger. Die blauen Ringe unter seinen Augen verrieten, dass er höchstens drei Stunden Schlaf gefunden hatte.

»Du hast bei deinen Ausführungen etwas Grundlegendes vergessen, Minettchen! Darm und Gallenblase sind Hohlorgane. Bevor man sie in Weingeist einlegt, gilt es, sie zu reinigen, aufzublasen und im Luftstrom trocknen zu lassen.«

Wie peinlich ihr dieser Fehler war!

»Gewiss«, sagte sie zerknirscht, »und das tut man am besten mit aus Messing gefertigten Röhren.« Selbstbewusster fügte sie hinzu: »Aber als es jüngst darum ging, die Knochen eines Toten vom Fleisch zu befreien, um sein Skelett darzustellen, habe ich alles richtig gemacht. Ich habe sie nämlich in Kalkwasser und Pottasche gelegt, die Knochen poliert und mit einem hellen durchsichtigen Lackfirnis …«

In der Miene des Vaters las sie, dass sie für ihn wieder zu Manon wurde. Kriminalrat Pfeiffer riss hingegen endgültig der Geduldsfaden.

»Ich kann mich auch an einen anderen Mediziner wenden!«, blaffte er.

Manons Mund versiegelte sich augenblicklich, doch das genügte nicht. Erst schüttelte der Kriminalrat finster den Kopf, dann deutete er mit dem Kinn auf sie, und Theophil Pontus begriff. Schulterzuckend wandte er sich an Manon: »Besser, du wartest im Ankleidezimmer auf mich.«

Sie fügte sich, aber konnte nicht verhindern, dass ihre Schultern vor unterdrückter Wut bebten. Und die wurde nicht geringer, als sie beim Verlassen des Raumes noch vernahm, wie Kriminalrat Pfeiffer ihrem Vater zuraunte: »Ich habe noch nie einen so schrecklich zugerichteten Leichnam gesehen wie den von Melchior Günderoth.«

 

Das Ankleidezimmer neben Theophils Schlafgemach war der einzige der fünf Räume ihrer Wohnung in der Großen Eschenheimer Gasse, in dem sich keine Bücher befanden, auch keine Wachspräparate, Totenköpfe oder Embryonen in Weingeist. An der Wand hingen nur ein Spiegel und das Gemälde, das Manons Mutter Louise zeigte. Sie hatte die gleichen dunklen Augen wie sie und ebenso pechschwarzes Haar, nur dass Manon dieses immer zu einem Knoten aufsteckte, während Louise es unter einer weißen Perücke verborgen hatte.

Wenn Manon sich an die Mutter zu erinnern versuchte, fielen ihr nur zwei Dinge ein – der Klang der Stimme, wenn sie ihr französische Lieder vorgesungen hatte, und die Beteuerung, dass die Franzosen keine gottlosen Ungeheuer seien, wie manch Frankfurter dachte, seit ihre Truppen unter der Führung von General Thouranc während des Siebenjährigen Krieges die Stadt besetzt hatten. Theophil hatte das nie geglaubt, sonst hätte er, der er damals in Göttingen Medizin studiert hatte, während seiner Heimatbesuche nicht Freundschaft mit einem französischen Offizier geschlossen. Später hatten ihn die Geschäfte zurück nach Frankfurt geführt, und Theophil hatte um die Hand seiner Tochter angehalten, weil er sonst kaum junge Frauen kannte. Mit Anfang dreißig galt er längst als überreif für die Ehe, insbesondere als Mediziner, der vertrauenswürdig wirken sollte. Und ob Französin oder Frankfurterin, die Niere saß an der gleichen Stelle. Leider konnte sowohl eine Französin als auch eine Frankfurterin von so fragiler Gesundheit sein, dass sie das Kindbett nicht überlebte. Louise hatte das Kind, das sie kurz nach Manons fünftem Geburtstag geboren hatte, um nur zwei Stunden überlebt.

Auf dem Bild wirkte sie so traurig, als wüsste sie, dass ihr nicht mehr viel Zeit bliebe. Aber das hatte nichts zu bedeuten. Es gab noch ein zweites Porträt, auf dem sie eine durch und durch gleichgültige Miene aufsetzte – das hatte Manons ältere Schwester Jeanette in den neuen Haushalt mitgenommen, als sie vor sieben Jahren geheiratet hatte. Sie hätte Manon auch gerne bei sich gehabt, damit diese ihr mit den Kindern half. Bis heute verstand Jeanette nicht, dass Manon unbedingt beim Vater wohnen bleiben wollte. Ihr Misstrauen war unverkennbar, wenn sie sie besuchte und sich argwöhnisch umblickte. »Es ist so still hier ohne Kinder.«

Theophils Blick richtete sich dann immer auf die Totenköpfe der Neugeborenen. Manons Blick folgte seinem.

»Ihr seid ganz und gar unmöglich!«, rief Jeanette dann.

»Warum das denn?«, gab Manon verständnislos zurück. »In Frankfurts Bürgerhäusern ist es eine weit verbreitete Sitte geworden, Pflanzen und Insekten zu konservieren und zu sammeln.«

»Und du erkennst keinen Unterschied zwischen Pflanzen, Insekten und diesen … Mumien?«

Spätestens jetzt runzelte der Vater die Stirn. »Mumien sind etwas ganz und gar anderes. Das sind Überreste von Körpern, die entweder aufgrund natürlicher Gegebenheiten oder gründlicher Präparierung dem Verwesungsprozess entzogen wurden. Die Organe werden ihnen nicht aus wissenschaftlichem Interesse entnommen, sondern weil sie zu leicht verderben. Ich hingegen gehe auf völlig gegensätzliche Weise vor. Mich treibt nicht der Erhalt des Leichnams an, sondern dessen Ergründung. Wofür es wiederum ratsam ist, die Lederhaut vom darunterliegenden Gewebe abzutrennen.«

»Was am leichtesten funktioniert, wenn man den Leichnam zuvor in Milch kocht!«, sekundierte Manon. »Und hinterher muss man die Haut gerben.«

Das genügte meist, um Jeanette in die Flucht zu treiben. Ihr Vater merkte oft gar nicht, dass sie weg war. Er merkte ja auch nicht, dass Manon noch da war, sofern sie sich nicht ausführlich nach der Beschaffenheit von Leichenhaut erkundigte. Auch jetzt, als er ihr ins Ankleidezimmer folgte, wirkte er geistesabwesend.

Für gewöhnlich half ihm ihre Magd Agnes in die Kniestrümpfe, sodann in die Kniehose und die Weste, schließlich in den Rock. Heute übernahm das Ankleiden Manon in der Hoffnung, mehr über den Leichnam zu erfahren. Doch während sie ihm den Kamm reichte, damit er sein Haupthaar in Ordnung brachte, und ihm die Schnallenschuhe schloss, blieb der erhoffte Monolog, in dem er sich gerne verlor, leider aus.

»Wie ist Stadtrat Günderoth denn nun zu Tode gekommen, sodass die Leiche derart schrecklich zugerichtet ist?«, fragte sie schließlich ungeduldig. »Und was ist damit gemeint, dass man ihn an einem recht ungewöhnlichen Ort gefunden habe?«

Sie kniete noch vor ihrem Vater, und mit einem Ausdruck von Verwunderung starrte er auf sie herab, als nähme er ihre Anwesenheit erst jetzt wahr.

»Kriminalrat Pfeiffer will doch nicht, dass ich mit dir darüber rede«, sagte er bedauernd.

Manons Kiefer mahlte. Ihr Vater hatte nie beanstandet, dass sie vor Jahren auf der Quartierschule beim Tanzen, Klavierspielen und Handarbeiten versagt hatte. Es nie eigens erwähnt, dass sie sich das Lesen und Schreiben schon vor der Schule selbst beigebracht hatte – nicht nur auf Deutsch, sondern auch Französisch und Englisch. Und sich nie darüber gewundert, dass sie die Extraktionszange, den Wundspreizer und die Pinzette, die er häufig blutbesudelt nach Hause brachte, korrekt benennen konnte, bevor sie diese mit Essigwasser reinigte. Aber manchmal fiel selbst ihm auf, dass dieses Verhalten von Zeitgenossen als ungebührlich aufgefasst werden mochte.

»Kriminalrat Pfeiffer hat Ihnen gedroht, Herr Vater, nicht wahr?«, entfuhr es ihr.

»Gedroht, was für ein Wort! Er hat mich nur darauf aufmerksam gemacht, dass das Kriminalamt ausschließlich mit akademischen Ärzten zusammenarbeitet, nicht – wie es in anderen Städten oft geschieht – mit Feldscherern, Barbieren, Badern, Apothekern und …«

»… Frauen.«

»Mit dem Geschlecht hat das nichts zu tun, nur mit der Ausbildung an der Universität.«

»Die mir ja wegen meines Geschlechtes verwehrt bleibt.«

»Ach Minettchen …«

»Ich heiße Manon.«

»Manon«, sein Blick glitt unruhig durch den Raum wie eine Fliege, die nach einem Ausweg suchte. »Das weibliche Gehirn, das ich kürzlich untersucht habe, war zwar nicht kleiner als das männliche, wie oft behauptet wird. Aber man kann nicht ausschließen, dass Wucherungen im ganzen Leib drohen und man Frauen zu monströsen Zwitterwesen macht, wenn man sie mit Wissen überfrachtet. Das wollen wir nicht, nein, das wollen wir nicht.«

Nein, dachte sie. Was er nicht wollte, war, seine Stellung beim Kriminalamt zu riskieren. Sie wiederum wollte nicht betteln müssen.

»Erzählen Sie mir hinterher alles«, war das Letzte, was sie ihm nachrief, als er sich zum Gehen wandte.

»Auf das Frühstück werde ich heute verzichten müssen, auf das Mittagsmahl wohl auch«, gab er zurück. »Sorg dafür, dass mir zumindest ein üppiges Abendbrot aufgetischt wird.«

Das Frühstück bestand nie aus mehr als Suppe und Brezeln. Das Mittagessen auch. Und was er als üppiges Abendessen bezeichnete, waren in Wahrheit einfache Gerichte – Eier auf Butter geschlagen oder gebratene Tauben. Nichts, was zu planen den ganzen Tag in Anspruch nahm.

Sie könnte das Buch von Emilie Berlepsch weiterlesen, um sich die Zeit zu vertreiben, aber die Neugierde, was Melchior Günderoth zugestoßen war, würde das nicht befriedigen. Während sie lauschte, wie sich die Schritte ihres Vaters entfernten, kam ihr eine Idee, was sie stattdessen mit ihrer Zeit anfangen könnte.

***

Die Zeil – ein breiter Gürtel, der die ummauerte Innenstadt und den südlichen Teil der Neustadt trennte – war nicht nur die einzige gerade Straße Frankfurts, sondern auch die vornehmste. In den letzten Jahren hatten zahlreiche Patrizierfamilien den dortigen Bauern ihren Besitz abgekauft und anstelle von Feldern und Ställen Villen und große Gärten anlegen lassen.

Auf der Rückseite eines solchen Palastes stand Johann, um erst prüfend an der Fassade hinaufzublicken, dann auf den Kiesweg zu seinen Füßen.