Frieden schaffen - Wilfried Loth - E-Book

Frieden schaffen E-Book

Wilfried Loth

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Beschreibung

Churchill, Roosevelt, Stalin und später auch de Gaulle: Wie dachten die Alliierten über die Zukunft Deutschlands und Europas nach dem Sieg über das NS-Imperium? Wie wollten sie den Frieden sichern, der am Ende des Zweiten Weltkrieges stehen würde? Wilfried Loth entwirft ein umfassendes Panorama der Pläne und Verhandlungen der künftigen Siegermächte, das sich nicht nur auf die Frage nach den Ursachen des Kalten Krieges und die Verantwortung für die Teilung Deutschlands beschränkt. Er wertet neues Material insbesondere aus russischen und französischen Archiven aus und bezieht erstmals die Pläne des antifaschistischen Widerstands und Exils in die Nachzeichnung der Kriegszieldiskussion ein. So kann er zeigen, dass es zwischen den Alliierten mehr Gemeinsamkeiten als Gegensätze gab. Die Konferenzen von Jalta und Potsdam bildeten daher die Grundlage für eine Friedensordnung, die erst nach 1989 voll verwirklicht werden konnte. Nicht zuletzt kann die Rückschau helfen, Maßstäbe für Friedensschlüsse heutiger Kriege zu finden.

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Wilfried Loth

Frieden schaffen

Die Alliierten und die Neuordnung Europas (1940–1945)

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

Churchill, Roosevelt, Stalin und später auch de Gaulle: Wie dachten die Alliierten über die Zukunft Deutschlands und Europas nach dem Sieg über das NS-Imperium? Wie wollten sie den Frieden sichern, der am Ende des Zweiten Weltkrieges stehen würde? Wilfried Loth entwirft ein umfassendes Panorama der Pläne und Verhandlungen der künftigen Siegermächte, das sich nicht nur auf die Frage nach den Ursachen des Kalten Krieges und die Verantwortung für die Teilung Deutschlands beschränkt. Er wertet neues Material insbesondere aus russischen und französischen Archiven aus und bezieht erstmals die Pläne des antifaschistischen Widerstands und Exils in die Nachzeichnung der Kriegszieldiskussion ein. So kann er zeigen, dass es zwischen den Alliierten mehr Gemeinsamkeiten als Gegensätze gab. Die Konferenzen von Jalta und Potsdam bildeten daher die Grundlage für eine Friedensordnung, die erst nach 1989 voll verwirklicht werden konnte. Nicht zuletzt kann die Rückschau helfen, Maßstäbe für Friedensschlüsse heutiger Kriege zu finden.

Vita

Wilfried Loth ist emeritierter Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Duisburg-Essen. Er gilt international als einer der führenden Historiker zur Geschichte des Kalten Krieges; hierzu erschien von ihm zuletzt bei Campus »Die Rettung der Welt. Entspannungspolitik im Kalten Krieg 1950–1991« (2016).

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

Inhalt

Impressum

Inhalt

Einleitung

1.

Die Deutschland- und Besatzungsplanung der Alliierten

1.1

Britische Planungen

The finest hour

Europarat oder Vereinte Nationen?

Aufteilung des Deutschen Reiches?

1.2

Sowjetische Planungen

Bündnis mit den Westmächten

Aufteilung Deutschlands und Volksfront in Europa

Reparationen und Demokratisierung

1.3

Amerikanische Planungen

Integration und Kontrolle

Industrielle Entwaffnung?

Direktiven für die Besatzungszeit

1.4

Französische Planungen

Eine westeuropäische Föderation?

Rheinstaatsplanungen

Operative Flexibilität

2.

Die Kriegskonferenzen der Alliierten

2.1

Erste Absprachen

Die Atlantikcharta

Der britisch-sowjetische Beistandspakt

Roosevelts Engagement

2.2

Die Konferenzen von Moskau und Teheran

Verständigung in Moskau

Die »Großen Drei« in Teheran

2.3

Die Arbeiten der European Advisory Commission

Die Kapitulationsurkunde

Die Errichtung von Besatzungszonen

Das Kontrollratsregime

2.4

Konferenzen im Herbst 1944

Neue Konfliktfelder

Treffen in Quebec und Hyde Park

Churchill trifft Stalin

3.

Die Alliierten und das Kriegsende in Europa

3.1

Die Konferenz von Jalta

Deutschland-Regelungen

Frankreich und Polen

Die Vereinten Nationen und der Krieg in Ostasien

3.2

Korrekturen nach Jalta

Einheit statt Dismemberment

Frankreichs Besatzungszone

Korrekturen des US-Programms

3.3

Krise und Kapitulation

Spannungen mit Moskau

Churchills Drängen

Kapitulation unter Vorahnungen

3.4

Die Errichtung des Alliierten Kontrollrats

Hopkins‘ Mission

Die Übernahme der Regierungsgewalt

Gemeinsame Deutschland-Direktiven

4.

Internationale Konflikte und der Weg zum Kalten Krieg

4.1

Amerikanische Vorentscheidungen

Ein Kredit für die Sowjetunion?

Atomare Diplomatie

4.2

Die Konferenz von Potsdam

Ein guter Start

Kompromiss in der Reparationsfrage

Osteuropa-Regelungen

Sowjetische Enttäuschungen

4.3

Hiroshima und der Weg in den Kalten Krieg

Japans Kapitulation

Atomare Ohnmacht

Letzte Kompromisse

4.4

Frankreich und der Weg zur deutschen Teilung

Die Blockierung der Zentralverwaltungen

Saargebiet und Ruhrgebiet

Clays Drei-Zonen-Vorschlag

5.

Europa-Pläne der Widerstandsbewegungen

5.1

Die Europa-Idee im deutschen Widerstand

Der konservative Widerstand

Die sozialistische Linke

Der Kreisauer Kreis

Andere Stimmen

Konvergenzen und Rückschläge

5.2

Die Résistance und die Pläne zu europäischer Einigung

Erfahrungen und Folgerungen

Konsens und Differenzen

Geopolitische Zwänge

5.3

Die Gründung der Union europäischer Föderalisten

Bilanz

Anhang

Anmerkungen

Karten

Nachweis der Erstveröffentlichungen

Abkürzungen

Quellen und Literatur

Zeitgenössische Schriften, Memoiren, Editionen

Darstellungen

Personenregister

Sachregister

Einleitung

Kriege kann man gewinnen und doch den Frieden verlieren. Die »Großen Drei«, die sich 1941 zur Anti-Hitler-Koalition verabredeten, wollten das nicht. Winston Leonard Spencer Churchill, Iosif Vissarionovič Stalin und Franklin Delano Roosevelt wollten über die Verfolgung spezifischer Interessen Großbritanniens, der Sowjetunion und der USA hinaus einen dauerhaften Frieden, der eine Wiederholung des deutschen Angriffs auf ihre Länder für absehbare Zeit und möglichst für immer ausschloss. Wie kann man nach dem militärischen Sieg über das nationalsozialistische Deutschland und seine Verbündeten einen Frieden schaffen, der anders als das Friedenssystem von Versailles nachhaltig ist und das erneute Aufkommen von Revanchismus und aggressivem Nationalismus auf Dauer verhindert? Diese Frage bewegte während des Zweiten Weltkriegs viele Politiker und Experten im Kreis der künftigen Siegermächte, aber auch im demokratischen Widerstand im besetzten Europa und in der deutschen Opposition gegen Hitler. Darum wurde die Kriegsführung der Alliierten von Planungen für die Zukunft Deutschlands und Europas begleitet, und mit dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941 begannen sogleich Verhandlungen über die Friedensordnung, die man nach einem gemeinsamen Sieg über Hitler-Deutschland zu schaffen gedachte. Weil das Deutsche Reich ein Imperium errichtet hatte, das sich praktisch über den gesamten europäischen Kontinent erstreckte, und die Kriegsführung der Anti-Hitler-Koalition darauf gerichtet war, dieses Imperium zu zerschlagen, betrafen diese Verhandlungen zugleich die Neuordnung Europas nach dem angestrebten Sieg und damit die künftige Weltordnung im Allgemeinen.

Die ideologischen und strukturellen Gegensätze zwischen der stalinistischen Diktatur der Sowjetunion auf der einen und den westlichen Demokratien auf der anderen Seite haben nicht nur die Verhandlungen über die Nachkriegsordnung belastet. Sie legen auch die Auffassung nahe, dass das Verhandlungsergebnis wenig tragfähig war, und lassen den Weg zum Kalten Krieg mehr oder weniger vorgezeichnet erscheinen. Die spätere Erfahrung des Kalten Krieges und eine verständliche Tendenz, seine Anfänge möglichst weit zurück zu verfolgen, haben diese Auffassung weiter bekräftigt.

Eine solche Sichtweise ist jedoch tendenziell ahistorisch. Sie verkennt, dass es neben den Gegensätzen auch Gemeinsamkeiten zwischen den künftigen Siegermächten gab, und dass die Erfahrung, bei der Verfolgung ihres Hauptkriegsziels auf die Verbündeten angewiesen zu sein, diese Gemeinsamkeiten nachhaltig verstärkte. Gemeinsam war den Verbündeten der Anti-Hitler-Koalition nicht nur das Ziel, das deutsche Imperium über Europa niederzuringen. Sie stimmten auch dahingehend überein, dass eine vergleichbare Bedrohung nie wieder von Deutschland ausgehen dürfe und dass darum auch die gesellschaftlichen Wurzeln der nationalsozialistischen Bewegung beseitigt werden müssten. Ebenso gehörte zu ihren gemeinsamen Zielen, sich generell für absehbare Zeit vor einer erneuten kriegerischen Bedrohung zu schützen. Die Führungsgruppen der »Großen Drei« wussten, dass beide Ziele noch am ehesten zu erreichen waren, wenn sie ihre Kooperation über den angestrebten vollständigen Sieg über die Achsenmächte hinaus fortsetzten.

Freilich herrschte große Unsicherheit, wie Sicherheit vor Deutschland auf Dauer erreicht werden könnte. Die Erfahrung, dass die Friedensregelungen der Pariser Vorortverträge nach dem Ersten Weltkrieg hierzu nicht gereicht hatten, stand allen Beteiligten eindringlich vor Augen. Welche Schlussfolgerungen daraus zu ziehen waren, in welcher Hinsicht das System von Versailles korrigiert werden sollte, darüber gingen die Auffassungen jedoch beträchtlich auseinander. Gegensätzliche Auffassungen bildeten sich dabei nicht so sehr zwischen den künftigen Siegermächten aus als vielmehr innerhalb der Führungsgruppen der Siegermächte. Gleichartige Auffassungen in unterschiedlichen Lagern wirkten oft unbewusst zusammen, und Entscheidungen für die eine oder andere Lösung fielen in einem komplizierten Wechselspiel zwischen inneren Auseinandersetzungen und Verhandlungen zwischen den »Großen Drei«.

Unterschiedliche strategische Interessen und innenpolitische Rücksichten der drei Siegermächte spielten in dem Entscheidungsprozess ebenfalls eine Rolle, auch wenn sie deutlich hinter den konzeptionellen Gegensätzen zurückstanden. Mit der Entscheidung vom Februar 1945, Frankreich als vierte Besatzungsmacht in Deutschland und Österreich in den Kreis der Siegermächte aufzunehmen, kam noch ein weiterer Interessenkomplex hinzu, der die Suche nach gemeinsam getragenen Lösungen weiter erschwerte. Damit waren die Gegensätze, die auf die Nachkriegsplanung der Alliierten einwirkten, denkbar vielfältig. Dass dennoch Vereinbarungen gelangen, unterstreicht den Entscheidungsdruck, der von den gemeinsamen Interessen ausging. Angesichts der vielen Gegensätze nicht nur zwischen Ost und West, sondern auch zwischen den westlichen Siegermächten und innerhalb der Lager der Siegermächte kann es aber auch nicht überraschen, dass sich diese Vereinbarungen als nur begrenzt tragfähig erwiesen.

Die Anführer der Widerstandsgruppen, die sich in den von Hitler-Deutschland besetzten Ländern und auch im Deutschen Reich selbst herausgebildet hatten, waren an den Entscheidungen der künftigen Siegermächte ebenso wenig direkt beteiligt wie die Politiker der verschiedenen europäischen Länder, die vor der nationalsozialistischen Herrschaft ins Exil geflohen waren. Beide Gruppen versuchten aber durchaus, auf die Positionen der Siegermächte Einfluss zu nehmen, wenn auch mit unterschiedlichem Erfolg. Und da sie über nationale und weltanschauliche Grenzen hinweg oft zu gleichartigen Schlussfolgerungen im Hinblick auf eine dauerhafte Friedensordnung gekommen waren, entwickelten sie sich zu einer realen politischen Kraft, der bei der Umsetzung der Vereinbarungen der Alliierten eine Schlüsselrolle zukam.

Mit den militärischen Entscheidungen des Krieges wandelte sich das internationale System. Die USA stiegen zur ersten Weltmacht auf und wurden damit zu einer Macht, die die Verhältnisse in den übrigen Teilen der Welt nicht mehr sich selbst überlassen konnte. Die Sowjetunion entwickelte sich zur stärksten Militärmacht des europäischen Kontinents. Dessen Zukunft und damit auch die Zukunft Deutschlands wurde in erster Linie vom Verhältnis dieser beiden Haupt-Siegermächte abhängig. Großbritannien und die kleineren Staaten des westlichen Europas mussten notgedrungen lernen, ihre Interessen mit den Bedürfnissen der amerikanischen Vormacht abzustimmen. Die Vereinbarungen über die Zukunft Deutschlands wurden zu einem zentralen Bindeglied im Verhältnis zwischen den USA und der Sowjetunion; sie gerieten in Gefahr, sobald sich dieses Verhältnis verschlechterte.1

Der Gang der Diskussion und der Verhandlungen über einen Frieden nach dem Zweiten Weltkrieg soll im Folgenden bis zu ihren Hauptergebnissen an der Jahreswende 1945/46 nachgezeichnet werden. Die Darstellung stützt sich auf die bisherigen Forschungen zur alliierten Kooperation und zur Deutschland- und Besatzungsplanung der Alliierten und des Widerstands und führt sie in Teilbereichen fort, insbesondere im Hinblick auf die Haltung des sowjetischen Verbündeten und die Rolle der vierten Siegermacht Frankreich. Darüber hinaus wird zum ersten Mal die Diskussion im Widerstand und im Exil in die Rekonstruktion des Entscheidungsprozesses miteinbezogen. Auf diese Weise soll deutlich werden, dass die Nachkriegsordnung Europas, die aus dem Zweiten Weltkrieg hervorging, nicht einfach nur eine Ordnung des Kalten Krieges war. Sie enthielt wesentliche Elemente, die auf der übereinstimmenden Deutung der Siegermächte beruhten, und bot darum Ansatzpunkte zu ihrer Bekräftigung nach dem Ende des Ost-West-Konflikts.

Eine erste Fassung dieser Darstellung, noch ohne Einbeziehung des Widerstands und des Exils, wurde im Rahmen des Schlussbandes des Grundlagenwerks Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, herausgegeben vom Militärischen Forschungsamt der Bundeswehr, veröffentlicht.2 Für diese Buchausgabe wurde sie aktualisiert und erweitert. Die erweiterte Fassung soll nicht nur das Verständnis für Neuordnung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg fördern, die, wie zu zeigen sein wird, in ihren Grundzügen über das Ende des Kalten Krieges hinaus Bestand hatte. Sie soll auch Orientierung in einer Zeit bieten, in der die europäische Ordnung erstmals wieder durch einen Angriffskrieg bedroht wird. Wie man nach dem Krieg in der Ukraine einen dauerhaften Frieden schaffen kann, dafür bietet die Geschichte des Friedensschlusses nach dem Zweiten Weltkrieg keine fertigen Rezepte. Aber sie liefert Anregungen, wie man Sicherheit auf Dauer gewährleisten kann.

1.Die Deutschland- und Besatzungsplanung der Alliierten

1.1Britische Planungen

Unter den künftigen Siegermächten war Großbritannien nicht nur diejenige, die am längsten im Krieg gegen Hitler-Deutschland stand. Die erste Führungsmacht der Anti-Hitler-Koalition war auch führend bei den Kriegszielplanungen: Hier wurde länger und systematischer als bei den Verbündeten darüber nachgedacht, was nach einem Sieg aus Deutschland werden sollte. Parallel dazu ergriff die britische Regierung die Initiative für eine gemeinsame Kriegszielplanung der Alliierten. Sie hat die Kriegszieldiskussion damit vorstrukturiert und, was bei der Konzentration auf die beiden Hauptsiegermächte des Krieges für gewöhnlich nicht ins Auge fällt, ihr Ergebnis auch maßgeblich beeinflusst.

The finest hour

Zentrales Kriegsziel war seit der Beteiligung der Labour-Party an einer von Winston Churchill geführten Regierung der nationalen Einheit im Mai 1940 die Niederringung des Hitler-Regimes. Einen Kompromissfrieden sollte es nicht mehr geben. Er wäre, davon waren Churchill und eine wachsende Mehrheit der Briten überzeugt, auf eine Versklavung Europas hinausgelaufen und damit nicht nur auf die Etablierung einer gefährlichen Konkurrenzmacht, sondern auf einen Verrat an Allem, was der britischen Zivilisation heilig war. »Wir werden niemals kapitulieren«, erklärte Churchill am 4. Juni 1940, »und selbst wenn, woran ich nicht für einen einzigen Moment glaube, diese Insel oder ein großer Teil von ihr unterjocht und ausgehungert werden sollte, dann würde unser Übersee-Empire, bewaffnet und bewacht von der britischen Flotte, den Kampf übernehmen, bis, zu Gottes guter Zeit, die neue Welt mit all ihrer Kraft und Macht sich an die Rettung und Befreiung der alten macht«.3

Der Sieg um jeden Preis, für den zu kämpfen Churchill seine Landsleute in trotzig-heroischer Pose aufforderte, bestand damit nicht nur in der Sicherung der Freiheit der eigenen Nation; er war untrennbar mit der Befreiung des europäischen Kontinents vom nationalsozialistischen Imperium verbunden und mit einer weltgeschichtlichen Entscheidung zwischen Zivilisation und Barbarei. Mit der britischen Entscheidung zum Widerstand erlebte das Jahrhundert seine größte Stunde, »their finest hour«, wie Churchill in seiner berühmten, später im Rundfunk wiederholten Unterhausrede vom 18. Juni 1940 erklärte4. Das erfüllte die Nation mit Stolz, stärkte in der Tat den Widerstandswillen und förderte auch den Konsens bei den Planungen für die Zukunft Deutschlands und Europas. Ein Kriegsziel-Ausschuss des Kabinetts, im August 1940 auf Drängen der Labour-Vertreter in der Regierung eingerichtet, konzentrierte sich auf die Formulierung von allgemeinen Prinzipien, die für das befreite Europa gelten sollten. »Wir sichern daher allen Menschen das Recht zu«, hieß es in dem Draft Statement on War Aims, das am 13. Dezember 1940 angenommen wurde, »im Rahmen der Gesetze frei zu denken, zu sprechen und zu handeln und freien Zugang zu dem Denken anderer zu haben; das Recht zu freier Vereinigung auf nationaler und internationaler Eben; das Recht, ohne Angst vor Unrecht oder Mangel zu leben; das Recht, zu glauben und zu verehren, wie es das Gewissen befiehlt«.5

Kampf bis zum Sieg – das hieß, ohne dass dies gleich explizit so gesagt wurde, bedingungslose Kapitulation der Deutschen, Beseitigung des Hitler-Regimes und seiner Grundlagen, dauerhafte Entwaffnung und deren Kontrolle durch die Siegermächte.6 Nur ein Teil der Öffentlichkeit und kaum jemand in der politischen und administrativen Führung ging dabei soweit wie Robert Vansittart, zu Beginn des Krieges leitender Staatssekretär im Foreign Office, der den Deutschen in Rundfunkbeiträgen, die dann auszugsweise in der Presse nachgedruckt und als Buch veröffentlicht wurden, einen zutiefst aggressiven und barbarischen Volkscharakter unterstellte, der gründlicher Umgestaltung bedurfte – »a fundamental change of soul«7. Vansittart wurde nach der Veröffentlichung seiner pauschalen Vorwürfe aus dem Regierungsdienst entlassen und durch Verleihung der Peerswürde politisch kaltgestellt.8 Dass es so etwas wie einen »teutonischen Herrschaftstrieb« gebe, den es auszurotten gelte, davon war aber auch die überwiegende Mehrheit des politischen Establishments und der öffentlichen Meinung überzeugt. »Nazi-Tyrannei und preußischer Militarismus«, so brachte das Churchill in einer Unterhaus-Erklärung am 21. September 1943 auf den Punkt, »sind die beiden Hauptelemente deutschen Lebens, die vollkommen zerstört werden müssen. Sie müssen vollständig ausgerottet werden, wenn Europa und der Welt ein dritter und noch schrecklicherer Konflikt erspart bleiben soll«.9

Die Ausrottung des deutschen Militarismus – häufig wurde er wie bei Churchill mit der Vorherrschaft Preußens in Deutschland gleichgestellt – schloss über die dauerhafte Abrüstung hinaus die Beschränkung des industriellen Rüstungspotentials und die Umerziehung der Deutschen ein, nicht aber eine generelle wirtschaftliche Schwächung. Bei seiner ersten Begegnung mit dem amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt am 26. August 1941 führte Churchill dazu aus: »Wir müssen die Deutschen und ihre Komplizen entwaffnen, dürfen ihnen aber keine Zusicherung geben, die sie später ausnützen können, dass wir ihnen in absehbarer Zeit irgendeine Art von Waffengleichheit zubilligen werden. Im Gegenteil: Wir müssen darauf achten, dass wir stark genug bewaffnet sind, um einer Wiederholung dieser Katastrophen in Europa oder in der Welt vorzubeugen. Auf der anderen Seite sind wir jetzt der Ansicht, dass verarmte Nachbarn dazu bestimmt sind, schlechte Nachbarn zu sein, und wir wünschen, jedermann wohlhabend zu sehen, die Deutschen eingeschlossen. Kurz gesagt, unser Ziel ist, Deutschland ›fett, aber impotent‹ zu machen« – »fat but impotent‟.10

Churchill stand hier unter dem Einfluss von John Maynard Keynes, der nach Kriegsbeginn wieder in den Dienst des britischen Schatzamtes getreten war und von dieser Position aus eindringlich auf die ausschlaggebende Bedeutung der deutschen Volkswirtschaft für die Prosperität Europas hinwies: Angesichts des Umfangs der deutschen Produktionskapazität und des Ausmaßes der Verflechtung der deutschen Wirtschaft mit den Nachbarländern würde eine politisch verfügte deutliche Absenkung dieser Kapazität den gesamten europäischen Kontinent einschließlich Großbritanniens in Mitleidenschaft ziehen. Wirtschaftliches Elend galt zudem seit der Erfahrung mit der Weltwirtschaftskrise als Nährboden für radikale Agitatoren jedweder Art. Mit einer künstlich herbeigeführten Verelendung Deutschlands würde man also nur einem neuen Hitler den Weg bereiten. Manche dachten auch an einen bolschewistischen Umsturz, der Deutschland in das Lager der Sowjetunion führen würde, und sahen ähnliche Entwicklungen auch auf die anderen europäischen Länder zukommen.

Europarat oder Vereinte Nationen?

Wie zwischen der Eindämmung deutscher Macht und der Sicherung wirtschaftlicher Entwicklung die notwendige Balance gehalten werden sollte, war damit noch nicht gesagt und sollte zum Gegenstand von anhaltenden Meinungsverschiedenheiten werden. Generell gehörte zu den britischen Nachkriegsplanungen aber die Vorstellung, dass das besiegte Deutschland von stärkeren Machtakkumulationen auf dem europäischen Kontinent eingehegt werden sollte. Im Osten, soviel war den Planern in London auch schon vor dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion klar, würde das der sowjetische Machtbereich sein. »Der Rückzug Deutschlands aus Polen dürfte wohl den Einzug Russlands bedeuten«, schrieb der für Deutschland zuständige Unterstaatssekretär des Foreign Office, William Strang, in einem Memorandum vom 31. Oktober 1939. »Jedenfalls würden die Gebietsregelungen in Osteuropa nach Deutschlands Niederlage wahrscheinlich nicht der Kontrolle der Westmächte unterliegen.« Im Süden und Westen aber sollten föderative Zusammenschlüsse für das nötige Gegenwicht zu Russland sorgen – »eine oder zwei geschlossene Gruppen (politische und wirtschaftliche föderale Einheiten) als Vorposten des westeuropäischen Systems«, wie Strang weiter ausführte.11 Besonders häufig wurde in diesem Zusammenhang der Gedanke an »die eine oder andere Form einer süddeutschen und Donau-Föderation« (Strang) artikuliert, der auch Churchill sehr am Herzen lag. Im Westen dachte man an eine Restituierung und Stärkung Frankreichs und dessen organisatorische Verflechtung mit den kleineren westeuropäischen Staaten.

In einem sogenannten »Vier-Mächte-Plan« zur Nachkriegsordnung, den das Foreign Office im Herbst 1942 auf der Grundlage eines Entwurfs des Leiters der Wiederaufbau-Abteilung, Gladwyn Jebb, erstellte, war eine Union zwischen Polen und der Tschechoslowakei vorgesehen sowie eine Balkanföderation, die zunächst aus Jugoslawien und Griechenland bestehen sollte. Die Föderation im Osten sollte bei der Abwehr der deutschen Gefahr eng mit der Sowjetunion zusammenarbeiten. Im Westen sollte Großbritannien die Schutzfunktion übernehmen und dazu das Recht erhalten, Luft- und Flottenstützpunkte entlang der Atlantikküste zu errichten12. Churchill sah darüber hinaus eine gesamteuropäische Integration vor. »So schwierig das auch jetzt zu sagen ist«, führte er in einem eher abschätzigen Kommentar zum Vier-Mächte-Plan aus, »ich vertraue darauf, dass die europäische Familie gemeinschaftlich wie unter einem Europarat [»Council of Europe«] handelt. Ich erwarte Vereinigte Staaten von Europa, in denen die Grenzen zwischen den Nationen erheblich an Bedeutung verloren haben und Reisen ohne Behinderungen möglich sein wird. Ich hoffe, dass Europas Wirtschaft als Ganzes in den Blick genommen wird. Ich hoffe einen Rat zu sehen, der vielleicht aus zehn Einheiten besteht, unter Einschluss der früheren Großmächte und mit mehreren Konföderationen – einer skandinavischen Konföderation, einer Donau-Konföderation, einer Balkan-Konföderation usw. – einen Rat, der über eine internationale Polizei verfügt und den Auftrag hatten, Preußen unbewaffnet zu halten«.13 Vor allem, fasste er gegenüber Außenminister Anthony Eden zusammen, »muss Europa eine sich selbst regierende Einheit sein, die in der Lage ist, ihre eigenen Angelegenheiten zu regeln«.14

Ob und wieweit ein besiegtes Reich oder seine Nachfolgestaaten ebenfalls zu den »Vereinigten Staaten von Europa« gehören sollten, dazu hat sich Churchill nicht klar geäußert. Andere taten dies – so Stafford Cripps vom linken Flügel der Labour Party, der als Botschafter in Moskau dem Foreign Office im August 1941 einen Plan zur Bildung von fünf europäischen Föderationen vorlegte, der eine »germanische Föderation« aus Deutschland und Österreich einschloss. Indienminister Leopold S. Amery plädierte wiederholt für ein »europäisches Commonwealth«, das auch einem geschlagenen und geschwächten Deutschland »einen Markt für sein Wirtschaftsleben und für die Ausübung eines friedlichen Einflusses in einem frei geteilten ›Lebensraum‹« bieten würde, »der allein es über seine Niederlage hinwegtrösten kann«. Richard Crossman, einer der intellektuellen Wortführer der Labour Party, forderte in einer Stellungnahme zum ersten Deutschland-Plan des Foreign Office Anfang März 1943 die Einbindung Deutschlands in das westeuropäische Staatensystem: »Der effektivste Weg, um Deutschland auf Dauer zu immunisieren, würde sicherlich darin bestehen, eine europäische Struktur zu schaffen, die so stark ist, dass Deutschland sie niemals niederbrechen kann«.15

Dem Foreign Office und auch der Mehrheit des Kabinetts gingen solche Überlegungen jedoch zu weit über das vertraute Instrumentarium britischer Großmachtpolitik hinaus. Statt zu überlegen, wie die Deutschen für eine Friedensordnung gewonnen werden könnten, begnügten sie sich mit der Feststellung, dass dies wohl nicht einfach sein würde. Im ersten Memorandum zur »Zukunft Deutschlands«, das Eden dem Kabinett vorlegte (am 8. März 1943) hieß es gleich zu Beginn mit resignativem Unterton: »In diesem Papier wird nicht der Versuch unternommen, einen Vorschlag zu machen, wie die Beziehung eines künftigen Deutschlands zu seinen Nachbarn aussehen soll oder wie es in die europäische und globale Organisation passen soll. Auf diese Frage ist keine Antwort möglich, solange es nicht klarer ist, welche Art von Weltorganisation entstehen wird«.16

Breite Übereinstimmung gab es hingegen hinsichtlich der Notwendigkeit, für den Sieg über Hitler-Deutschland die Unterstützung der USA und, wenn irgend möglich, auch der Sowjetunion zu mobilisieren. Die von Deutschland ausgehende Bedrohung hatte sich als gefährlicher erwiesen als die kommunistische Kampfansage an die »imperialistische« Welt: Dies ließ selbst einen so eingefleischten Anti-Bolschewisten wie Churchill keinen Moment zögern, eine Anti-Hitler-Koalition mit den USA und der Sowjetunion zu schmieden, sobald dies möglich war. Eine Woche vor dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion ließ Churchill Roosevelt wissen, »wir sollten den Russen natürlich jede Ermutigung und jede Hilfe geben, die wir erübrigen können, dem Grundsatz entsprechend, dass Hitler der Feind ist, den wir zu schlagen haben«. Als Roosevelt durch seinen Botschafter antworten ließ, er werde bei einem deutschen Angriff ein Bündnisangebot des britischen Regierungschefs an die Sowjetunion sofort öffentlich unterstützen, war die Anti-Hitler-Koalition praktisch zustande gekommen – noch ehe der deutsche Angriff tatsächlich erfolgt war.17

Dass ein Machtzuwachs der Sowjetunion die Folge dieser strategischen Grundsatzentscheidung sein würde, war allen Beteiligten klar. Indessen beruhte sie auf einer klaren Güterabwägung. »Es ist besser«, schrieb William Strang in einer internen Stellungnahme am 29. Mai 1943, »dass Russland Osteuropa beherrscht, statt dass Deutschland Westeuropa beherrscht. Russlands Vorherrschaft über Osteuropa dürfte auch nicht ganz so leicht zu verwirklichen sein. Und wie stark Russland auch werden mag, es ist unwahrscheinlich, dass es für uns je eine so grauenvolle Bedrohung sein wird wie Deutschland innerhalb weniger Jahre wieder darstellen könnte«.18 Die Zusammenarbeit mit der Sowjetunion erschien umso mehr als unausweichlich, als man sich der Nachhaltigkeit der amerikanischen Unterstützung nach wie vor nicht sicher sein konnte: »Was wir den Vereinigten Staaten nicht zugestehen können,« schrieb Orme Sargent bei der Vorbereitung des Vier-Mächte-Plans, »ist ein rein anglo-amerikanisches System, das die Sowjetunion ausschließt. In unseren gegenwärtigen Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten von Amerika dürfen wir nichts tun, was die Sowjetunion alarmiert oder in einen Gegensatz treibt – damit es uns nicht unmöglich wird, mit der Sowjetunion zusammenzuarbeiten, falls die Vereinigten Staaten uns verlassen«.19

Angesichts der Verabredung zu einem gemeinsamen militärischen Sieg über Hitler-Deutschland war es nur konsequent, auch eine gemeinsame Besetzung Deutschlands vorzusehen. Sie war notwendig, um die Entwaffnung Deutschlands sicherzustellen, und sie bot sich auch an, um die Allianz der Siegermächte über das Kriegsende hinweg aufrecht zu erhalten und so einer Degradierung Großbritanniens zum Juniorpartner der USA vorzubeugen. So sicherte sich Außenminister Anthony Eden schon bei seinem Besuch in Moskau im Dezember 1941 Stalins Zusicherung zur Einrichtung eines »Rats der Siegermächte«, der Deutschland nach dem Ende des Krieges militärisch unter Kontrolle halten sollte. Der Vier-Mächte-Plan zur Nachkriegsordnung, den Eden dem Kabinett am 8. November 1942 vorlegte, ging von dem Grundsatz aus, »dass die zukünftige Weltorganisation auf der engen Zusammenarbeit der Vier Mächte im Rahmen der Vereinten Nationen beruht«.20

Wie es scheint, sperrte sich Churchill zunächst dagegen, diese Konsequenz aus der Verpflichtung auf einen gemeinsamen Sieg mitzutragen. Gegen den Vier-Mächte-Plan brachte er den Einwand vor, »dass ich weiterhin in erster Linie an Europa denke – die Wiederbelebung von Europas Ruhm, des Kontinents, aus dem die modernen Nationen und die Zivilisation hervorgegangen sind. Es wäre ein unermessliches Unglück, sollte die russische Barbarei die Kultur und die Unabhängigkeit der alten Staaten Europas überlagern.«21 Sodann präzisierte er gegenüber Eden, dass sich Russen, Amerikaner und Briten aus dem Europäischen Rat möglichst heraushalten sollten.22 Dies war freilich angesichts der Notwendigkeit, amerikanische und sowjetische Truppen an der Eroberung Deutschlands zu beteiligen, weder praktikabel noch politisch durchsetzbar. Stalin und Roosevelt dachten auch gar nicht daran, die Kontrolle des besiegten Deutschlands den europäischen Nachbarn zu überlassen.

Churchill musste es daher hinnehmen, dass den Alliierten in einem Memorandum vom 1. Juli 1943 die Besetzung des besiegten Kriegsgegners auf der Grundlage eines gemeinsamen Übergabedokuments, die Ausführung der Waffenstillstandsbedingungen durch eine alliierte Waffenstillstandskommission sowie die Einrichtung einer United Nations Commission for Europe vorgeschlagen wurde.23 Ein Kabinettsmemorandum des Foreign Office vom 7. Juli 1943 präzisierte, dass die Commission for Europe aus den Vertretern des Vereinigten Königreichs, der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten bestehen solle, »zu denen, wenn machbar, ein französischer Vertreter gleichberechtigt hinzutreten sollte«. Zu Churchills Vorstellungen von einem Europäischen Rat wurde angemerkt: »Ein Europäischer Rat, in dem das Vereinigte Königreich, die Vereinigten Staaten von Amerika und die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken keine aktive Rolle spielen, könnte im Laufe der Zeit zu einem Instrument werden, mit dessen Hilfe Deutschland jene Hegemonie über Europa friedlich wiedererlangt, welche sie im gegenwärtigen Krieg vorübergehend mit Waffengewalt errichtet hat«.24

Um Auseinandersetzungen der Siegermächte über die Behandlung der Deutschen zu vermeiden, sollten die Waffenstillstandsbedingungen und die Modalitäten für die Okkupationsphase vorab möglichst detailliert festgelegt werden; um sich nicht dem Druck militärischer faits accomplis der stärkeren Siegermächte beugen zu müssen, sollten diese Festlegungen möglichst frühzeitig erfolgen. Nach der Wende von Stalingrad drängten die Beamten des Foreign Office Eden, mit der Sowjetregierung definitive Absprachen zu treffen, bevor durch den Vormarsch der Roten Armee oder einen plötzlichen Zusammenbruch des Reiches irreversible Tatsachen geschaffen wurden. Auf die Übermittlung des Aide-mémoires vom 1. Juli 1943 folgten daher Bemühungen um eine Gipfelkonferenz der »Großen Drei«. Nachdem Stalin einem solchen Treffen endlich zugestimmt hatte, plädierte Eden auf der zur Vorbereitung des Gipfeltreffens anberaumten Konferenz der drei Außenminister vom 19. bis 30. Oktober 1943 in Moskau dafür, eine gemeinsame Beratungskommission ins Leben zu rufen, die sich mit allen Problemen beschaffen sollte, die bei der Beendigung des Krieges auftraten. Als diese European Advisory Commission (EAC) dann zu Beginn des Jahres 1944 zum ersten Mal zusammentrat – Eden hatte London als Tagungsort angeboten, und die Alliierten waren bereitwillig darauf eingegangen –, legte William Strang, nunmehr Leiter der britischen EAC-Delegation, sogleich detaillierte Vorschläge zur Formulierung der Kapitulationsurkunde vor, ebenso Vorschläge zur Einrichtung von Besatzungszonen und zur Gestaltung des Kontrollapparats der Siegermächte in Deutschland.25

Von einem Europäischen Rat ohne Beteiligung der Sowjetunion, wie Churchill ihn vorgesehen hatte, war nach der Festlegung auf die United Nations Commission for Europe nicht mehr die Rede. Stattdessen orientierte sich die britische Politik langfristig mehr und mehr auf die Etablierung eines britisch-sowjetischen Duopols in Europa hin, in dem die beiden verbliebenen europäischen Großmächte ihre jeweiligen Einflusszonen wechselseitig respektierten. In einer Kabinettsvorlage vom 9. August 1944 erklärte Eden: »Die Grundlage unserer europäischen Nachkriegspolitik muss das anglo-sowjetische Bündnis sein«. Entsprechend sollte die britische Position in drei Gruppen von Ländern konsolidiert werden, »mit denen unsere Beziehungen traditionell eng und vertraulich waren«: Frankreich, die Niederlande und die iberische Halbinsel, insbesondere Portugal; dann die skandinavischen Länder; und schließlich »die Mittelmeer-Gruppe mit der Türkei, Griechenland und vielleicht auch Italien.« Demgegenüber hoffte Eden zwar, in den mitteleuropäischen Ländern, die an die Sowjetunion grenzten – dazu zählte er Polen, die Tschechoslowakei, Jugoslawien, Ungarn, Rumänien und Österreich –, den britischen Einfluss ausweiten zu können; die britische Politik sollte hier aber »jede Herausforderung sowjetischer Interessen vermeiden«.26

Aufteilung des Deutschen Reiches?

Noch nicht geklärt war bis zu diesem Zeitpunkt die Frage der territorialen Gestaltung eines befriedeten Deutschlands. Das Foreign Office kam in seinem Deutschland-Plan vom 8. März 1943 zu dem Schluss, dass eine Aufteilung des Reiches in mehrere Staaten aller Voraussicht nach kontraproduktiv sein würde: Sie wäre nur mit Gewalt aufrecht zu erhalten und würde einen nationalen Irredentismus hervorrufen, der nicht kontrollierbar wäre und die gleichen aggressiven Kräfte freisetzen würde wie in der Vergangenheit. Für angemessen hielten die Autoren nur die Abtretung Ostpreußens und Oberschlesiens an Polen; zu erwägen gaben sie darüber hinaus eine internationale Kontrolle des Ruhrgebiets und des Nord-Ostsee-Kanals. Im Übrigen schlugen sie vor, separatistische und partikularistische Tendenzen unter den Deutschen selbst nach Möglichkeit zu fördern, und zwar dadurch, dass bei Kriegsende keine zentrale Regierung in Berlin mehr anerkannt werden sollte und die Besatzungsstreitkräfte mit den lokalen und regionalen Autoritäten arbeiteten. Auf diese Weise, so hofften sie, würde sich noch am ehesten ein dezentraler Neuaufbau Deutschlands ergeben, eine »föderale Lösung«, die durchaus im Einklang mit der historischen Entwicklung Deutschlands stünde und »die beste Chance für die Entwicklung eines stabilen demokratischen Regimes« böte27.

In einer überarbeiteten Fassung der Kabinettsvorlage, die am 8. August 1943 fertiggestellt wurde, wurden zwei weitere Argumente gegen die Teilung vorgetragen: Möglicherweise müsse man die Marionettenregierungen von zwangsweise geschaffenen Staaten gegen den Willen der eigenen Bevölkerung schützen; außerdem müssten mit Blick auf die Lebensfähigkeit der Einzelstaaten die Reparationsleistungen aus Deutschland reduziert werden. Hinsichtlich der abzutretenden Gebiete wurde noch Danzig erwähnt; die Kontrolle von Industrie und Wirtschaft sollte sich jetzt auf ganz Deutschland erstrecken, allerdings zeitlich befristet sein.28 Die Forschungsabteilung des Foreign Office ergänzte diese Vorschläge mit einer Denkschrift, in der die Aufteilung Preußens als Schlüssel zu einer echten Föderalisierung Deutschlands vorgeschlagen wurde. Neben der preußischen Hegemonie sollte so auch die überkommene Klassenstruktur Preußen-Deutschlands beseitigt werden, die der Entwicklung einer stabilen Demokratie im Wege stand.29

Außenminister Eden machte sich die Argumente seiner Berater aber nicht vorbehaltlos zu eigen. Bei seinem Besuch in Moskau im Dezember 1941 hatte er die Überlegungen Stalins zur einer möglichen Aufteilung Deutschlands mit der Bemerkung quittiert, die britische Regierung sei nicht prinzipiell dagegen: »Was die Aufteilung Deutschlands betrifft, hat die Regierung seiner Majestät noch keine Entscheidung in die eine oder andere Richtung getroffen, es gibt da keinen grundsätzlichen Einwand. Es geht um die Frage, was der beste Weg ist, um Deutschland unter Kontrolle zu halten. Wenn wir eine Aufteilung Deutschlands durch Aktionen aus dem Inneren heraus zustande bringen könnten, würden wir, denke ich, einen großen Coup landen«.30 Den Bedenken, die Orme Sargent, der leitende Staatssekretär Alexander Cadogan und andere gegen eine gewaltsame Teilung vorbrachten, konnte er sich nicht ganz verschließen; auf der anderen Seite blieb er aber auch darauf bedacht, sich in dieser Frage mit den Alliierten abzustimmen, und die, vermutete er, favorisierten die Teilung.

Andere Kabinettsmitglieder traten energisch für die Teilung ein. So reagierte Lord Selbourne, Minister für Wirtschaftsfragen, auf die Kabinettsvorlage des Foreign Office vom 8. März 1943 mit einer eigenen Denkschrift, in der er die Aufteilung des Reiches, nach Abtrennung Ostpreußens, Oberschlesiens, des Sudetenlandes und des Saargebietes, als »die einzige Sanktion« bezeichnete, die durchgesetzt werden kann«. Eine dauerhafte Kontrolle der deutschen Wirtschaft, die manche als alternative Lösung der Sicherheitsfrage betrachteten, lief seiner Meinung nach auf eine wirtschaftliche Notsituation hinaus, die den Aufstieg neuer nationalistischer Volkstribune begünstigte. Außerdem hielt er die Deutschen für Meister der Diversion; es mochte also auch sein, dass eine Demontage von Industrieanlagen nur dazu führen würde, dass Deutschland binnen weniger Jahre über modernere Technologien und Anlagen verfügen würde als seine Konkurrenten auf dem Weltmarkt. »Solange Deutschland vereint bleibt, bietet keine der wirtschaftlichen Sicherheitsmaßnahmen, die bislang vorgeschlagen werden konnten, ein vertrauenswürdiges Bollwerk gegen eine Wiederholung der Geschichte von 1919 bis 1939«.31

Churchills Vorstellungen liefen auf eine Dreiteilung Deutschlands hinaus. Zum einen sollte Preußen das rheinisch-westfälische Industriegebiet im Westen und Gebiete im Osten mit nichtdeutschen Bevölkerungsanteilen verlieren. Dieses territorial verkleinerte, auf seine Ursprünge zurückgeführte Preußen – in Churchills Auffassung das Land, von dem der aggressive deutsche Militarismus seinen Ausgang genommen hatte –, sollte vom übrigen Deutschland isoliert unter besonders strenge Aufsicht gestellt werden. Churchill plädierte für vollständige Abrüstung und Überwachung der industriellen Produktion. Zum anderen wollte er Sachsen, Bayern, Württemberg, Baden und die Pfalz einer restituierten Donauföderation mit Österreich und Ungarn anschließen. Die Süddeutschen, meinte er, seien weniger aggressiv und verdienten daher schonendere Behandlung; zusammen mit den Nachfahren der Habsburgermonarchie sollten sie ein Gegengewicht zu Preußen und zu der bisherigen »Waffenschmiede des Reiches« im Nordwesten bilden.32

Welche Haltung die britische Regierung in der Aufteilungsfrage tatsächlich einnehmen würde, blieb danach lange Zeit offen. Das Kabinett befasste sich verschiedentlich mit der Frage, kam aber zu einer klaren Entscheidung. Als sich der neu gebildete Kabinettsausschuss für Fragen des Waffenstillstands, das Armistice and Civil Affairs Committee, am 11. August 1943 mit der überarbeiteten Vorlage des Foreign Office befasste, fanden nur die Vorschläge zur Abtrennung von Ostpreußen, Danzig und Oberschlesien allgemeine Zustimmung. Dem Plädoyer der beamteten Experten gegen eine erzwungene Aufteilung des Reiches wurde das Argument entgegengehalten, »dass sowohl Russland als auch die USA offensichtlich eine solche Maßnahme befürworten«.33 Am 5. Oktober akzeptierte das Kabinett eine abermals überarbeitete Vorlage des Foreign Office, in der über die Gebietsabtrennungen im Osten hinaus nur die vollständige Besetzung und Entwaffnung Deutschlands sowie eine nicht näher präzisierte internationale Wirtschaftskontrolle empfohlen wurde; alles Weitere sollte einem Aufsichtsorgan der Alliierten zur Entscheidung vorbehalten bleiben. Eden wurde beauftragt, bei der bevorstehenden Konferenz mit den Außenministern der USA und der Sowjetunion herauszufinden, wie man bei den Verbündeten über die Aufteilungsfrage dächte34.

Auf der Außenministerkonferenz in Moskau sprach Eden am 25. Oktober 1943 die Meinungsverschiedenheiten im britischen Kabinett offen an. Als sich die »Großen Drei« fünf Wochen später in Teheran trafen, präsentierte Churchill seine Vorstellungen von der Isolierung Preußens und der Bildung einer Donauföderation. Das Ergebnis der Konferenz verstand er so, dass, wie er in einem Memorandum vom 15. Januar 1944 formulierte, »die Regierungen Großbritanniens, der Vereinigten Staaten und Russlands, wie ich verstehen, darin einig sind, dass Deutschland definitiv in eine Reihe separater Staaten entflochten werden soll«.35 Die Planungsstäbe im Foreign Office aber gingen, da ein entsprechender Kabinettsbeschluss fehlte, nach wie vor davon aus, dass Deutschland nicht geteilt werden würde. Alle Vorlagen, die William Strang in den nächsten Monaten in die EAC einbrachte, beruhten auf der Annahme, dass es bei Kriegsende eine für ganz Deutschland verantwortliche Reichsregierung oder doch zumindest eine funktionierende zentrale Verwaltung mit Sitz in Berlin geben würde.

Neuen Zulauf erhielt die Teilungsfraktion, als das Foreign Office im Juni 1944 die Stabschefs um Stellungnahme zu der strittigen Frage bat. Sehr zur Überraschung der Beamten des Außenministeriums plädierten die militärischen Führer ebenfalls für die Aufteilung – mit einem neuen Argument, das die Gewichte in der Debatte merklich verschob. In der Sicht der Stabschefs versprach eine Aufteilung nicht nur größere Sicherheit gegenüber einem Wiederaufleben der deutschen Gefahr; sie bot auch Sicherheit gegen eine Beherrschung ganz Deutschlands durch die Sowjetunion: »Wir kommen zu dem Schluss, dass eine Aufteilung zumindest die Wahrscheinlichkeit verringert, dass sich ganz Deutschland mit der UdSSR gegen uns verbündet, und dass sie als eine Versicherung gegen eine feindliche UdSSR in unserem langfristigen strategischen Vorteil gereicht«. Sie empfahlen daher eine Aufteilung entlang der Grenzen der drei Besatzungszonen, die unterdessen für die Zeit nach der bedingungslosen Kapitulation vorgesehen waren. Der östliche Teilstaat würde dann in den sowjetischen Einflussbereich fallen, während der Nordwest-Staat mit dem Ruhrgebiet den britischen Einflussbereich vergrößern und zusammen mit dem Südwest-Staat eine Barriere gegen ein weiteres Vordringen der Sowjetunion bieten würde36.

Vergeblich suchte Eden dagegen geltend zu machen, dass die Schaffung eines antisowjetischen Blocks unter Einbeziehung der westlichen Teile Deutschlands nicht nur das britisch-sowjetische Bündnis im Kern treffen würde, sondern auch die Entwaffnung Deutschlands »und andere Maßnahmen, die wir als wesentliche Garantien gegen einen künftigen deutschen Angriff betrachten«, in Frage stellte.37 Auf konservative Minister wie Lord Selborne, Lord Cranborne und Leopold Amery machte die Argumentation der Stabschefs durchaus Eindruck, und so verstärkte sich im Armistice and Post-War Committee die Neigung zur Durchsetzung der Aufteilungspläne. Eden hielt es daher für geraten, das Kabinett vorerst gar nicht mit dem Plädoyer des Foreign Office für die Wahrung der deutschen Einheit zu befassen. Der Kommentar zum Memorandum der Stabschefs wurde nach einer Unterredung zwischen dem Außenminister und den Chiefs of Staff am 4. Oktober zurückgezogen, und als am 16. Dezember endlich eine überarbeitete Fassung vorlag, zeigte Eden wenig Neigung, sie unter den Kabinettskollegen in Umlauf zu bringen. Ein weiteres Positionspapier des Foreign Office, das den Einheitsgegnern mit einem Plädoyer für die Aufteilung Preußens und eine föderalistische Neuordnung Deutschlands entgegenkam, versah er mit einer distanzierenden Stellungnahme.38

In der Bevölkerung nahm die Sympathie für eine Aufteilung Deutschlands ebenfalls zu, nicht zuletzt unter dem Eindruck des Schreckens, den die deutschen V2-Raketen seit Anfang September 1944 in London verbreiteten. Nach einer Umfrage des British Institute of Public Opinion, die der News Chronicle am 5. Oktober 1944 veröffentlichte, befürworteten 59 Prozent der britischen Männer und 53 Prozent der Frauen die Teilung Deutschlands – deutlich mehr, als aus einer Umfrage des Gallup-Instituts vom Dezember 1943 zu ersehen gewesen war39. In der Presse überwog dagegen die Ablehnung der Teilungspläne. »Gedankenverwirrung« kommentierte der Manchester Guardian einen Plan zur Bildung deutscher Einzelstaaten, den die konservative Parliamentary Post-War Policy Group am 20. August 1944 veröffentlichte. Die Times, der Observer und der Economist äußerten sich ähnlich. Immer wieder wurde auf die Gefahr verwiesen, dass eine gewaltsame Aufteilung die Deutschen erst recht zu neuen kriegerischen Abenteuern anstacheln könne40.

Angesichts der fortdauernden Gegensätze in der britischen Führung wollte Eden jetzt auch keine Entscheidung im Kreis der »Großen Drei«. »Unsere Aufgabe«, schrieb er am Vorabend der Konferenz von Jalta, „– oder eher Teil unserer Aufgabe – wird es sein, darauf zu achten, dass keine plötzlichen und vorschnellen Entscheidungen in Fragen wie dem Bevölkerungstransfer, Deutschlands Ostgrenzen und der Aufteilung getroffen werden«. Vielmehr sollte in solch grundlegenden Fragen erst nach ausgiebiger Beratung in der EAC entschieden werden.41 Mit dieser Hinhaltetaktik verhinderte er, dass sich die Teilungsfraktion, die offensichtlich über eine Mehrheit verfügte, politisch durchsetzen konnte. Gleichzeitig gab er aber die Gestaltungsfähigkeit, auf die gerade das Foreign Office so großen Wert gelegt hatte, wieder aus der Hand. Der Krieg näherte sich seinem Ende, ohne dass Großbritannien in der zentralen Frage nach der staatlichen Gestalt Deutschlands über eine eindeutige Position verfügte.

1.2Sowjetische Planungen

Die sowjetische Nachkriegsplanung hinsichtlich der Zukunft Deutschlands wurde von zwei Konstanten bestimmt: Einerseits ging es um die Wiederherstellung der Westgrenze der Sowjetunion, wie sie vor dem deutschen Angriff am 22. Juni 1941 bestanden hatte, und damit um die Sicherung der Machtstellung, die die Sowjetunion mit der Verwirklichung des geheimen Zusatzprotokolls zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt vom 24. August 1939 erworben hatte. Andererseits ging es um Begrenzung und Kontrolle der deutschen Macht und damit um dauerhafte Sicherheit vor einem abermaligen deutschen Angriff. Das Trauma des 22. Juni 1941 saß tief, und die Leiden, die der deutsche Vernichtungskrieg verursachte, wogen schwer. Nie wieder sollten die Deutschen in der Lage sein, die Sowjetunion mit einem Vernichtungskrieg zu überziehen.

Bündnis mit den Westmächten

Sicherheit vor Deutschland war nach Lage der Dinge nur auf der Grundlage einer Verständigung mit den westlichen Verbündeten zu erreichen; darum gingen alle Planungen von der Fortdauer des Bündnisses über das Kriegsende hinaus aus und wurden die einzelnen Maßnahmen zur Bändigung des deutschen Potentials auch mit Blick auf die entsprechenden Überlegungen der Verbündeten formuliert. »Das Problem Deutschlands und seiner Satelliten ist eine Frage der großen Politik der Staaten der Antihitlerkoalition«, erläuterte Stalin den Spitzen der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland nach Kriegsende.42

Artikuliert wurde die sowjetische Nachkriegsplanung in ihren Grundzügen von Stalin persönlich. Die Spezialisten des Volkskommissariats für Auswärtige Angelegenheiten steuerten ihre Ausarbeitungen bei, und ab November 1942 wurden auch verschiedene interministerielle Kommissionen eingerichtet, die zu spezifischen Fragen Stellung nahmen. Alle diese Ausarbeitungen wurden jedoch in der Erwartung formuliert, damit die Absichten Stalins zu treffen; der Generalissimus traf sich häufig mit den Kommissionsvorsitzenden und nicht selten griff er auch korrigierend in die Detailplanung ein, was deren Kohärenz meist nicht förderlich war.43

Hinsichtlich der künftigen staatlichen Gestalt Deutschlands orientierte sich Stalin zunächst am Prinzip der Aufteilung. »Was die Absichten Stalins angeht«, teilte Außen-Volkskommissar Vjačeslav M. Molotov dem sowjetischen Botschafter in London, Ivan Michaijlovič Majskij, am 21. November 1941 mit, »so denkt er, dass Österreich als ein unabhängiger Staat von Deutschland abgetrennt werden soll und Deutschland selbst in viele mehr oder weniger unabhängige Staaten aufgeteilt werden soll, um damit eine Garantie für die zukünftige Ungestörtheit der europäischen Staaten zu schaffen«44. Im Gespräch mit dem britischen Außenminister Eden am 16. Dezember 1941 erläuterte Stalin, »dass er die Schwächung Deutschlands für absolut notwendig hält, in erster Linie durch die Abtrennung des Rheingebiets mit seiner Industrieregion vom übrigen Preußen. Wie das weitere Schicksal des Rheingebietes aussehen würde – ob das ein unabhängiger Staat sein soll, ein Protektorat usw. – kann man im Weiteren besprechen. Wichtig ist die Abtrennung an sich.« Nach dem britischen Protokoll fügte er an dieser Stelle hinzu: »Ich denke, dass dies die einzige Garantie ist, die sicherstellt, dass Deutschland auf Dauer geschwächt wird.«

Zur Abtrennung des Rheingebietes und zur Wiederherstellung Österreichs als unabhängiger Staat sollte nach seinen Überlegungen »vielleicht« auch die Errichtung eines unabhängigen bayerischen Staates kommen. Außerdem sollte das ostdeutsche Gebiet »bis zur Oder« an Polen gegeben werden, und das Gebiet um Tilsit und nördlich der Memel sollte an die litauische Sowjetrepublik angegliedert werden. Im Entwurf für ein geheimes Zusatzprotokoll zu dem geplanten britisch-sowjetischen Vertrag hieß es, darüber noch hinausgehend, dass »die Teile Preußens (einschließlich Königsbergs), die an Litauen grenzen, für zwanzig Jahre als eine Garantie für die Wiedergutmachung der Kriegsschäden an die UdSSR gehen.« Edens vorsichtigen Einwand, dass Abtrennungen ohne Unterstützung durch separatistische Bewegungen neuen Irredentismus hervorzurufen drohten, wischte Stalin barsch beiseite: »Gerade solche Überlegungen führten zum Krieg.«

Über die Abtrennungen und Abtretungen hinaus enthielt Stalins erstes Konzept noch zwei weitere Komponenten: Deutschland und seine Satelliten sollten Reparationen leisten für den Schaden, »den sie Großbritannien, der Sowjetunion und anderen Ländern zugefügt hatten«. Diese Reparationen sollten, pflichtete er Eden bei, in Sachleistungen erfolgen, nicht durch Geldtransfer wie nach dem Ersten Weltkrieg. »Das Beste wäre es, Deutschland und Italien die modernsten Anlagen zugunsten der besetzten Länder zu nehmen.« Sodann sei zur »Aufrechterhaltung von Frieden und Ordnung« im künftigen Europa eine »gewisse militärische Kraft« erforderlich. Dazu solle eine »militärische Union der demokratischen Staaten« geschaffen werden, gelenkt von »einer Art Rat«, dem eine »internationale militärische Kraft zur Verfügung« stehen würde.45

Nach dem Besuch Edens begann das Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten, diese Vorstellungen im Kontext der Planungen für die gesamte Nachkriegsordnung weiter auszuarbeiten. Am 28. Januar 1942 setzte das Politbüro dazu eine Kommission unter dem Vorsitz von Molotov ein.46 Die Arbeiten gediehen jedoch vorerst nicht allzu weit. Als hinderlich erwies sich, dass sich die westlichen Verbündeten nicht auf eine vertragliche Fixierung von Kriegszielen festlegen ließen. Außerdem kam die dringend benötige »Zweite Front« zur Entlastung von deutschem Druck auf die Sowjetunion im Laufe des Jahres 1942 nicht zustande; damit entfiel der Druck, rasch zu präzisen Vorschlägen zu kommen.47

Im Zuge der Verschlechterung der Beziehungen zu den Westmächten, die sich aus der Verzögerung der »Zweiten Front« ergab, wandte sich Stalin im November 1942 der Idee zu, die Deutschen zum Sturz Hitlers zu mobilisieren. Bei der Planung eines »deutschen antifaschistischen Komitees ›Freies Deutschland‹« betonte er, »dass es mit Blick auf die Deutschen notwendig sei, auf die Gefahr einer Teilung und Vernichtung Deutschlands hinzuweisen, eine Gefahr, die man nur durch den Sturz Hitlers abwenden könne. Denn mit Hitler-Deutschland werde niemand Frieden schließen. Der Kampf um die Rettung Deutschlands vor dem Untergang, für die Wiederherstellung der demokratischen Rechte und Freiheiten des deutschen Volkes, für die Errichtung einer parlamentarischen Ordnung usw. – das müssten die Aufgaben des antifaschistischen Komitees der deutschen Patrioten sein«.48

Verstärkt wurden solche Überlegungen durch Geheimdienstinformationen vom Dezember 1942, wonach »die höchsten deutschen Offiziere Hitler gegenüber oppositionell eingestellt sind und nach möglichen Wegen suchen, aus dem Krieg auszuscheiden«49. Im Juni 1943 wurde die in Moskau exilierte KPD-Führung zu Verhandlungen mit kriegsgefangenen deutschen Wehrmachtsangehörigen in verschiedene Kriegsgefangenenlager geschickt. Daraus ergab sich die offizielle Gründung des »Nationalen Komitees Freies Deutschland« (NKFD) am 12./13. Juli 1943 im Lager Krasnogorsk bei Moskau. Das Gründungsmanifest, hervorgegangen aus sowjetischer Vermittlung zwischen einem Entwurf von Walter Ulbricht und einem wesentlich »bürgerlicheren« Gegenentwurf von kriegsgefangenen Offizieren, übernahm Stalins Begründung für einen Sturz Hitlers durch die Deutschen. Als Kampfziel nannte es »eine starke demokratische Staatsmacht, die nichts gemein hat mit der Ohnmacht des Weimarer Regimes, eine Demokratie, die jeden Versuch des Wiederauflebens von Verschwörungen gegen die Freiheitsrechte des Volkes oder gegen den Frieden Europas rücksichtslos schon im Keim erstickt.« Neben den bürgerlichen Grundrechten sollten die »Freiheit der Wirtschaft, des Handels und des Gewerbes« garantiert werden, ebenso das Recht auf Arbeit und rechtmäßig erworbenes Eigentum.50

Es erscheint plausibel, dass die Schaffung einer demokratischen Ordnung durch eigene Initiative der Deutschen für Stalin eine akzeptable Alternative zur Aufteilung des Deutschen Reiches gewesen wäre. Zu diesem Zeitpunkt weigerte er sich noch, sich der anglo-amerikanischen Forderung nach »bedingungsloser Kapitulation« anzuschließen. In der Propaganda des Nationalkomitees dominierte bis Ende 1943 die Losung von der Rückführung des deutschen Heeres an die Reichsgrenzen durch verantwortungsbewusste Generäle, die sich den Befehlen Hitlers widersetzten.51 Welche Sicherheitsgarantien die sowjetische Führung darüber hinaus von einem demokratischen Deutschland verlangt hätte, muss offenbleiben. Vermutlich ist darüber nicht systematisch nachgedacht worden, zumal Art und Ausmaß der Sicherheitsgarantien ja auch von den Umständen des Kriegsendes und den politischen Kräfteverhältnissen im befreiten Deutschland abhingen, die man nicht voraussehen konnte. General Vjačeslav Mel’nikov als Beauftragter des Innenkommissariats sicherte den gefangenen Offizieren, die für den Bund Deutscher Offiziere gewonnen werden sollten, Ende August 1943 mündlich zu, dass das Deutsche Reich in den Grenzen von 1938 (d.h. unter Einschluss Österreichs) weiterbestehen würde. Die bürgerlich-demokratische Regierung müsse allerdings »durch Freundschaftsverträge an den Osten gebunden sein«.52 Was eine solche Bindung inhaltlich bedeutete, wurde nicht gesagt.

Ohnehin standen bei dem NKFD-Unternehmen die taktischen Überlegungen einer Schwächung der deutschen Front und des Drucks auf die Alliierten im Vordergrund. Auch galt es, einen separaten Friedensschluss zwischen den Westmächten und den deutschen Generälen zu verhindern. Als die Planungen für eine Landung der westlichen Alliierten an der Atlantikküste endlich konkrete Formen annahmen und Stalin dem Drängen Roosevelts auf ein baldiges Gipfeltreffen nicht mehr ausweichen konnte, wurden auch die Planungen für eine gemeinsam zu verantwortende Friedensordnung der Alliierten wieder intensiviert. Am 4. September 1943 setzte das Politbüro dazu eine neue Kommission zur Beratung der »Friedensverträge und der Nachkriegsordnung« ein, diesmal unter dem Vorsitz des früheren Außenkommissars Maksim M. Litvinov, der dazu von seinem Botschafterposten in Washington zurückberufen worden war. Ebenso wurde eine Kommission zur Vorbereitung der Waffenstillstandsbedingungen gebildet, die unter dem Vorsitz von Marschall Kliment Vorošilov zusammentrat und hauptsächlich aus Vertretern der militärischen Führung bestand. Im November 1943 folgte noch eine Kommission zur Vorbereitung der Reparationsforderungen. Mit ihrer Leitung wurde Majskij beauftragt, der im Juli 1943 seinen Botschafterposten in London verlassen hatte und nun das Amt eines stellvertretenden Volkskommissars für Äußeres bekleidete. Mit Litvinov und Majskij wurden die beiden Diplomaten mit der Ausarbeitung der Pläne für eine Nachkriegsordnung beauftragt, die durch ihre Aufenthalte in Washington bzw. London am besten über die Intentionen der beiden Westmächte informiert waren.53

Aufteilung Deutschlands und Volksfront in Europa

Die Konkretisierung der Planungen begann mit einer Erörterung der Folgen unterschiedlicher Varianten zur Aufteilung Deutschlands, die Eugen S. Varga, Direktor des Instituts für Wirtschaft an der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften und später Mitglied der Reparationskommission, am 27. September 1943 an Litvinov schickte. Varga ging davon aus, dass den Deutschen die Gebietserwerbungen nach 1937 in jedem Fall weggenommen würden, ebenso Ostpreußen und das Saargebiet, das wieder einen besonderen Status als Pufferzone erhalten sollte. Für das verbliebene deutsche Staatsgebiet diskutierte er drei Varianten, die sich an historischen Traditionen orientierten: eine Aufteilung in drei Staaten (Preußen, Süddeutschland mit Österreich und ein Niederrhein-Pufferstaat); die Bildung von vier Staaten (Preußen, Österreich, Süddeutschland mit Sachsen und der Niederrhein-Pufferstaat); schließlich die Bildung von sieben Staaten (Preußen, Österreich, Bayern, Sachsen, Württemberg, Baden und der Niederrhein-Pufferstaat). Eine »starke Reduzierung des jetzigen Kriegspotentials Deutschlands« sah er bei jeder dieser Varianten als gegeben an. Allerdings würde Rest-Preußen ohne Kontrolle fast die militärische Stärke erreichen, die Frankreich vor dem Krieg besessen hatte; und ein vereintes Süddeutschland würde ungefähr halb so stark sein wie das reduzierte Preußen54.

Litvinov versorgte dann Molotov im Hinblick auf die bevorstehende erste Außenministerkonferenz der drei Alliierten am 9. Oktober 1943 mit Informationen über die westlichen Planungen und Überlegungen zur eigenen Positionierung. Nach der Referierung der unterschiedlichen Positionen zur Aufteilungsfrage im Kreis der Westmächte argumentierte er zugunsten der Aufteilungsbefürworter: »Wenn man den Gegnern der Aufteilung dahingehend zustimmt, dass die Idee der Einheit im deutschen Volk so stark ist, dass Deutschland nach einer Reihe von Jahren zur Wiedervereinigung der zerteilten Teile Deutschlands kommt, kann man doch nicht bestreiten, dass das aufgeteilte Deutschland in der gleichen Zeit (und diese Zeit dürfte wahrscheinlich einige Jahrzehnte betragen) doch so geschwächt sein wird, dass es nicht mehr über Revanche und neue Aggressionen nachdenken kann. Außerdem würde ein einheitliches Deutschland trotz aller Maßnahmen der Unschädlichmachung eine neue Gefahr für Europa darstellen.« Sodann betonte er, dass Westfalen und die Rheinprovinz, weil sie »die Hauptgrundlage der Industrie und Kriegsindustrie Deutschlands darstellen«, auf jeden Fall von Preußen abgetrennt werden müssten. Als »Grundlage für die Aufteilung« könne daher die Drei-Staaten-Variante genommen werden, die der amerikanische Präsident Roosevelt Eden gegenüber ins Gespräch gebracht hatte.55

Die Argumente der Aufteilungsgegner aufgreifend betonte der ehemalige (von 1934 bis 1937 amtierende) sowjetische Botschafter in Berlin, Jakov Suritz, in zwei Memoranden für die Litvinov-Kommission, dass die Zerschlagung der deutschen Einheit von einem Teil der Deutschen »höchstwahrscheinlich« auch positiv aufgenommen würde: als »Befreiung von der Hegemonie Preußens.« Um den Gefahren vorzubeugen, die dennoch in der Aufteilung steckten, empfahl er sie so durchzuführen, »dass nach Möglichkeit wenig Gefühle Deutschlands berührt werden.« Folglich sollten »historische Vergangenheit und Traditionen« berücksichtigt werden, ebenso »so weit als möglich das Prinzip der geographischen Einheit« und »wirtschaftliche Überlegungen.« Eine Zerstückelung in ganz kleine Staaten solle vermieden werden, da diese nicht lebensfähig wären und deswegen ganz schnell auf Wiedervereinigung drängen würden. Auf jeden Fall solle aber Preußen in seiner bisherigen Machtstellung beschnitten werden. Neben der Abtrennung von Ostpreußen und Schlesien gehörte für ihn dazu die Separierung Westfalens und der Rheinprovinzen als »Minimum«.56

Nachdem sich Stalin auf der Konferenz von Teheran am 1. Dezember 1943 erneut entschieden für das Prinzip der Aufteilung ausgesprochen hatte57, verteidigte Majskij sie in einem umfangreichen Memorandum, das er am 11. Januar 1944 an Molotov schickte, mit Kopien an Stalin, Kliment Vorošilov, Anastas Mikojan, Lavrentij Berija, Maksim Litvinov und Vladimir Dekanosov (»meine Gedanken zur Nachkriegsordnung«), noch einmal als das geringere Übel. Gleichzeitig plädierte er für weitere Maßnahmen, die zusammengenommen sicherstellen sollten, dass Deutschland wenigstens »für 30 oder 50 Jahre« keine Gefahr mehr darstellt: Besetzung der »strategisch wichtigen Punkte« für mindestens zehn Jahre, militärische und wirtschaftliche Entwaffnung, ideologische Umerziehung, Reparationen und Reparationsleistungen »von einigen Millionen Arbeitskräften jährlich«, harte Bestrafung der Kriegsverbrecher. Majskij machte darauf aufmerksam, dass die wirtschaftliche Entwaffnung ein komplexes Problem darstellen und auch die Umerziehung nicht einfach zu erreichen sein würde. Die Belastungen, die auf das deutsche Volk zukämen, konnten nur allmählich gelockert werden, in dem Maße, wie die Umerziehung erfolgreich sein würde: »Wenn das deutsche Volk auf dem Gleis der Gründung eines sozialistischen Deutschlands sein wird, kann man den Druck ganz abbauen, aber das ist noch Zukunftsmusik.«

Darüber hinaus stellte Majskij die Umgestaltung Deutschlands in den Kontext der allgemeinen Entwicklung in Europa und der Zusammenarbeit der Alliierten. Als Prinzip für die innere Ordnung der Länder des befreiten Europas postulierte er die Orientierung an »den Prinzipien der breiten Demokratie im Geist der Volksfront-Idee.« Für Länder wie Norwegen, Dänemark, Holland, Belgien, Frankreich und die Tschechoslowakei erwartete er die Verwirklichung solcher Demokratien ohne irgendeinen Druck von außen. Dagegen hielt er es nicht nur im Hinblick auf Deutschland für erforderlich, auf die innere Entwicklung von außen Einfluss zu nehmen, sondern auch in Italien, Japan, Ungarn, Rumänien, Finnland, Bulgarien, Polen, Jugoslawien, Griechenland und Albanien. Die Verantwortung für die Demokratisierung dieser Länder würde »in erster Linie« bei der UdSSR, den USA und England liegen. Majskij hielt es für wahrscheinlich, dass die Alliierten diese Verantwortung gemeinsam wahrnehmen würden: »Es gibt Gründe für die Annahme, dass es, was die Demokratisierung der Regime im Nachkriegseuropa betrifft, für die UdSSR, die USA und England möglich sein wird, zusammenzuarbeiten, auch wenn das nicht immer leicht sein wird.«

Weiter verlangte er die »Gründung eines neuen effektiven Sicherheitssystems in Europa und außerhalb Europas.« Wie es aussehen würde, wusste er nicht genau zu sagen, doch betonte er, dass in jedem Fall die »Großen Vier« (also die drei Alliierten plus das von den USA ins Spiel gebrachte China) die entscheidende Rolle spielen müssten. Die zukünftige Friedensorganisation sollte in der Lage sein, »eigene Entscheidungen zu treffen« und, wenn erforderlich, auch mit Zwang durchzusetzen. In Europa sollte nur noch eine starke Landmacht verbleiben, nämlich die UdSSR, und eine starke Seemacht, England. Gegen britische Militärstützpunkte in Belgien und Holland hätte die UdSSR nichts einzuwenden; britische und möglicherweise auch amerikanische Militärstützpunkte in Norwegen sollten dagegen nach Möglichkeit vermieden werden. Frankreich sollte als eine »mehr oder weniger große Macht« wiederentstehen. Polen sollte strikt nach dem Prinzip der Ethnizität wiederhergestellt werden, wobei der überwiegende Teil Ostpreußens und »ein Teil Schlesiens« dem polnischen Staat zugeordnet werden sollten.

Abschließend stellte Majskij die angestrebte »Stärkung der freundschaftlichen Beziehungen zu den USA und England« in einen Zusammenhang mit dem absehbaren Aufstieg der USA und der Schwächung Großbritanniens: Die wirtschaftliche Expansion der USA werde »weitgehend an uns vorbeigehen«, und zumindest in der ersten Nachkriegszeit sei die UdSSR noch außerhalb der Reichweite der amerikanischen Luftwaffe. Gleichzeitig würden sich die USA zum »mächtigsten Feind Englands auf dem Weltmarkt« entwickeln, und das werde England »immer mehr« an die Seite der UdSSR führen. Da die Briten ein Gegengewicht zu dem »dynamischen Imperialismus« der USA bildeten, müsse die UdSSR daran interessiert sein, »England als Großmacht zu erhalten.« Daraus folgte auch die Empfehlung, die britischen Interessen, etwa im Mittelmeerraum, zu respektieren: »An Griechenland ist die UdSSR weit weniger interessiert als an den anderen Balkanstaaten, während England hier ganz außerordentlich interessiert ist.«

Die Aussicht, dass »Europa sozialistisch werden« könnte, fehlte in diesem Szenario nicht ganz. Es war dies allerdings eine Perspektive für eine ferne, ganz unbestimmte Zukunft nach der Phase der Kooperation der Siegermächte. »Vorzeitige« Revolutionen erschienen im Hinblick auf die angestrebte lange Friedensperiode von 30 oder 50 Jahren geradezu als kontraproduktiv: »Sollte die unmittelbare Nachkriegsperiode zur Entfesselung proletarischer Revolutionen in Europa führen, werden die Beziehungen zwischen der UdSSR auf der einen und den USA und England auf der anderen Seite sicher durch Spannungen und sogar scharfe Spannungen belastet werden. Wenn jedoch in der unmittelbaren Zukunft keine proletarische Revolution in Europa stattfindet, gibt es keinen Grund für die Erwartung, dass diese Beziehungen schlecht sein werden.« Majskji unterstrich, dass sein Konzept auf der Annahme beruhte, »dass der Krieg zu keiner wirklichen proletarischen Revolution in Deutschland führen wird.« Sollte sich diese Annahme als falsch erweisen, müsste auch das Konzept überarbeitet werden.58

Die Notwendigkeit zu einer solchen Überarbeitung sah er freilich nicht. Nachdem Stalin Anfang Mai 1943 abrupt die Auflösung der Komintern verfügt hatte, hatte der damalige sowjetische Botschafter in London nicht ohne Bedauern in seinem Tagebuch vermerkt: »Das ist eine wichtige Angelegenheit – nicht nur für die UdSSR, sondern für die gesamte Welt. Sie bedeutet, dass wir auf die Revolution nach dem Krieg keine Hoffnung setzen. Natürlich könnte und wird es im Ergebnis des Krieges in den verschiedensten Ländern allerlei Unruhen, Streiks und Aufstände geben, doch das ist etwas anderes. Es gibt keine Hoffnung auf eine echte, vollkommene proletarische Revolution«.59

Hinsichtlich der »militärischen Union der demokratischen Staaten« Europas, von der Stalin im Gespräch mit Eden im Dezember 1941 gesprochen hatte, legte Boris E. Štejn als Mitglied der Litvinov-Kommission in einem Memorandum vom 22. September 1943 dar, dass die »überwiegende Mehrheit der Mitglieder der europäischen Föderation« nach dem Krieg wieder verstärkte »Feindseligkeit gegenüber der UdSSR« zeigen würde. »Unter diesen Bedingungen wird sich die europäische Föderation zunehmend zu einem Werkzeug der antisowjetischen Politik entwickeln.« Angesichts dieser Gefahr plädierte er dafür, dass sich die Sowjetunion an der europäischen Föderation beteiligt. Sollte sie ihr fernbleiben, würde das unvermeidlich die antisowjetischen Tendenzen verstärken und deren Bekämpfung erschweren.60

Während in Majskijs Memorandum vom 11. Januar 1944 noch überhaupt kein prinzipieller Unterschied zwischen dem westlichen und dem östlichen Europa gemacht wurde, sah eine Ausarbeitung der Litvinov-Kommission »Über die Aussichten und möglichen Grundlagen der sowjetisch-britischen Kooperation«, die am 15. November 1944 fertiggestellt wurde, eine Verständigung mit Großbritannien über die »freundschaftliche Abgrenzung von Sicherheitssphären in Europa« vor. Als »maximale Interessensphäre für die Sowjetunion« wurden »Finnland, Schweden, Polen, Ungarn, Tschechoslowakei, Rumänien, die slawischen Balkanländer und auch die Türkei« genannt, als »Länder der britischen Sphäre« Holland, Belgien, Frankreich, Spanien, Portugal und Griechenland. Die Abgrenzung wurde dahingehend definiert, dass niemand in der Sphäre des Anderen militärische Stützpunkte oder »enge Beziehungen« gegen den Willen des anderen unterhalten sollte. Darüber hinaus sollte es aber auch noch eine »dritte, neutrale Sphäre« geben, »die Norwegen, Dänemark, Deutschland, Österreich und Italien umfasste.« Hier sollten »beide Seiten [die britische und die sowjetische] auf der gleichen Grundlage und in regelmäßiger wechselseitiger Konsultation zusammenarbeiten«.61 In einer weiteren Ausarbeitung »zur Frage der Blöcke und der Einflusssphären vom 11. Januar 1945 wurde Norwegen zur sowjetischen Interessensphäre gerechnet, während die neutrale Zone um die Schweiz ergänzt wurde.62

Hinsichtlich der Aussichten auf die Verwirklichung der Kooperation mit den Westmächten setzten die sowjetischen Spitzendiplomaten zum Teil unterschiedliche Akzente. Andrej Gromyko, Litvinovs Nachfolger als Botschafter in Washington, betonte in einem ausführlichen Schreiben an Molotov am 14. Juli 1944, die USA würden »die Errichtung bürgerlich-demokratischer Regime in Westeuropa und insbesondere in Deutschland unterstützen« und »zumindest für eine gewisse Zeit Regierungen faschistischen Typs bekämpfen.« Da er zudem ein genuines Interesse der USA an Friedenssicherung und eine wechselseitige Ergänzung der amerikanischen und sowjetischen wirtschaftlichen Interessen ausmachte (letzteres ein Argument, das Litvinov teilte), glaubte er insgesamt feststellen zu können, dass »trotz möglicher Schwierigkeiten, die von Zeit zu Zeit in unseren Beziehungen zu den Vereinigten Staaten auftreten können, die notwendigen Bedingungen für eine Fortsetzung der Zusammenarbeit zwischen unseren Ländern in der Nachkriegszeit zweifellos gegeben sind«.63 Majskij betonte, »die Vereinigten Staaten und England könnten eine entscheidende Hilfe für den Wiederaufbau unserer Nationalökonomie nach dem Krieg leisten«.64

Dagegen wies Litvinov bei einer Diskussion der Ausarbeitungen zur Kontrolle Deutschlands am 15. März 1944 auf die »Möglichkeit des Auseinandergehens« der drei Großmächte hin, zumindest im Hinblick auf die militärische und wirtschaftliche Entwaffnung Deutschlands. Daraus resultierte nach seiner Überzeugung die Gefahr einer Lockerung der Kontrolle, vielleicht sogar der »aktiven Förderung der Aufrüstung und Reindustrialisierung Deutschlands« durch die Westmächte65. In einem Memorandum vom 10. Januar 1945 warnte er vor »Missverständnissen und Spannungen«, die aus den »Unterschieden im Zugang zur Errichtung von Ordnungs- und Regierungssystemen in einigen Ländern Europas« resultierten konnten.66

Die Gefahr, dass die Westmächte von den Prinzipien der Entwaffnung und wirtschaftlichen Abrüstung wieder Abstand nahmen, ließ ihn allerdings umso entschiedener für die Aufteilung Deutschlands plädieren. Gegen die Einwände des Alt-Diplomaten Štejn, der in der Kommissionssitzung vom 14. März 1944 erneut auf die Widerstände bei den Deutschen und die Bedenken in den Reihen der Westmächte hinwies, argumentierte er, dass eine Aufteilung eventuelle Versuche zur Wiedererrichtung der deutschen Militär- und Wirtschaftsmacht zumindest erschweren würde: »Ein in viele unabhängige Staaten aufgeteiltes Deutschland wieder aufzurüsten und wieder in einen starken Industriestaat zu verwandeln, ist die Sache vieler und vieler Jahrzehnte, und nur darin sehe ich den Sinn der Aufteilung«.67 Mit Blick auf die historischen Traditionen plädierte er jetzt für die Sieben-Staaten-Variante: Preußen unter Abtretung von Ostpreußen, Oberschlesien und Schleswig; ein zweiter »Nordstaat« aus Hessen-Nassau, Hannover, Oldenburg und Bremen; ein neu gebildeter Rheinisch-Westfälischer Staat; dazu dann Sachsen, Bayern, Württemberg und Baden als eigenständige Staaten im Süden. Eine Vereinigung der vier Südstaaten lehnte er als ersten Schritt zu einer Wiedervereinigung ganz Deutschlands ab. Sollten, wie er befürchtete, die Westmächte auf einem größeren süddeutschen Staat bestehen, empfahl er, diesen wenigstens mit »maximaler Autonomie« seiner historischen Bestandteile zu organisieren (»eher Staatenbund als Bundesstaat«).68

In dieser Form wurden die Empfehlungen der Kommission zur Aufteilungsfrage verabschiedet. Sie stellten bis zum Beginn des Jahres 1945 die verbindlichste Planungsgrundlage hinsichtlich der territorialen Neugestaltung Mitteleuropas dar.69 Bei der Vorbereitung der Konferenz von Jalta äußerte Molotov allerdings Bedenken, ob eine solche rigide Aufteilung bei den Westmächten durchzusetzen wäre. Litvinov empfahl daraufhin, »von der Anfangsposition der maximalen Aufteilung auszugehen und später so weit wie erforderlich nachzugeben«. Als Auffangposition schien ihm eine Vier-Staaten-Lösung vertretbar zu sein, die sich aus der Zusammenlegung nichtpreußischer Gebiete ergab. Der Nordweststaat sollte mit dem rheinisch-westfälischen Staat zusammengelegt werden, Sachsen mit Bayern, Württemberg mit Baden; dazu sollten diesem Südweststaat auch noch Hessen-Darmstadt und Hessen-Nassau angegliedert werden. Abschließend betonte Litvinov, dass »natürlich auch andere Varianten möglich« seien.70