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Beschreibung

Die Zukunft der Friedensethik steht auf dem Spiel: Der Krieg in Europa und asymmetrische Konflikte weltweit bringen das Konzept in Bedrängnis. Die Beiträger*innen stellen sich dieser Herausforderung und entwickeln Entwürfe für ein positives und umfassend formuliertes Friedensverständnis. Sie beleuchten verschiedene Zugänge sowie die gegenwärtige Entwicklung der Friedensethik und diskutieren aktuelle Probleme. Anhand des Israel-Palästina-Konflikts, des Kriegs in der Ukraine, der europäischen Asyl- und Migrationspolitik sowie konkreter Praktiken der regionalen Friedensarbeit im deutschsprachigen Raum wird deutlich: Eine neue Friedensethik ist nötig und möglich.

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Seitenzahl: 335

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Alois Halbmayr, Josef P. Mautner (Hg.)

Friedensethik der Zukunft

Zugänge, Perspektiven und aktuelle Herausforderungen

Die Print-Ausgabe dieser Publikation wurde gefördert durch die Österreichische Forschungsgemeinschaft, den Förderverein zur wissenschaftlichen Forschung an der Universität Salzburg sowie die Stadt Salzburg, MA 2 Kultur, Bildung und Wissen.

 

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.dnb.de/ abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-ShareAlike 4.0 Lizenz (BY-SA). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für beliebige Zwecke, auch kommerziell, sofern der neu entstandene Text unter derselben Lizenz wie das Original verbreitet wird.

https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/

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Erschienen 2024 im transcript Verlag, Bielefeld

© Alois Halbmayr, Josef P. Mautner (Hg.)

Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld

Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar

Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar

https://doi.org/10.14361/9783839468463

Print-ISBN: 978-3-8376-6846-9

PDF-ISBN: 978-3-8394-6846-3

EPUB-ISBN: 978-3-7328-6846-9

Buchreihen-ISSN: 2702-9050

Buchreihen-eISSN: 2702-9069

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.

Inhalt

 

Vorwort

Zugänge

Wege aus dem Dunkel des Krieges?Überlegungen zu einer Ästhetik von Krieg und FriedenJosef P. Mautner

»Er muss also gestiftet werden…«Frieden als ein denkerisches Projekt und eine praktische AufgabeAlois Halbmayr

Perspektiven

Menschenrechte, Theologie und KirchenWerner Wolbert

Friede – ein Menschenrecht?Heiner Bielefeldt

Der zweite Lungenflügel?Orthodoxie und Friedensethik in Russlands KriegRegina Elsner

Feministische Politiken in Zeiten von Krieg und darüber hinausAnnemarie Sancar

Aktuelle Herausforderungen

Der Krieg gegen die UkraineFriedensethische Orientierung und DilemmataMartina Fischer

Die Wahrnehmung des Israel-Palästina-Konflikts aus friedensethischer PerspektiveDorthe Siegmund

Flüchtlingsaufnahme und Asylgewährung – ein Beitrag zum Frieden?Ursula Liebing

Friedensaufbau und Konfliktbearbeitung in der ZivilgesellschaftUte Finckh-Krämer

Anhang

Autor:innen

Vorwort

Der völkerrechtswidrige Überfall der Russischen Föderation auf die Ukraine im Februar 2022 markiert einen tiefen Einschnitt nicht nur in Bezug auf die europäische Sicherheitsarchitektur und Nachkriegsordnung, sondern er hat auch zu einer Infragestellung vieler der bisher breit geteilten Überzeugungen in Bezug auf Krieg und Frieden geführt. Das gängige Wort von der »Zeitenwende« macht deutlich, dass sich mit diesem Angriffskrieg die Wahrnehmung grundlegender Parameter im politischen und ökonomischen Bereich, aber auch im gesellschaftlichen Kontext und intellektuellen Diskurs verschieben. Doch bereits vor dem Beginn dieser kriegerischen Auseinandersetzung, die im Grunde schon mit der Annexion der Krim im März 2014 angefangen hatte, fanden weltweit zahlreiche Kriege und kriegerische Auseinandersetzungen (»neue Kriege«) statt, die eine kritische Ausdifferenzierung überkommener Wahrnehmungsmuster von Krieg und Frieden notwendig machten.

Davon ist insbesondere auch die Friedensethik betroffen. Diese versucht seit jeher, ein normatives Fundament für gerechtes Handeln zu legen und Orientierung zu bieten. In den letzten Jahrzehnten hat sich ein Friedensverständnis entwickelt, das umfassende Sicherheit, Gewaltverbot, soziale Gerechtigkeit, Menschenrechtsschutz, Asylrecht, Gendergerechtigkeit, fairen wirtschaftlichen Austausch und die Weiterentwicklung internationalen Rechts und internationaler Institutionen beinhaltet. Es ist getragen von langfristigen Perspektiven sowie einem Weg der kleinen Schritte. Mit dem Angriffskrieg Russlands, aber auch bedingt durch andere Entwicklungen wie asymmetrische Konflikte oder sogenannte »failed states«, in denen das staatliche Gewaltmonopol verfiel, und bedingt durch unzählige latente Kriege weltweit, ist dieses Friedensverständnis kritisch hinterfragt und ausdifferenziert worden.

Vor diesem Hintergrund möchte der vorliegende Band zunächst einen Einblick in das weite Feld gegenwärtiger friedensethischer Debatten liefern und daran anschließend zentrale Herausforderungen einer zukünftigen Friedensethik erörtern.

Im ersten Teil geht es um grundlegende Fragestellungen: Welche »ästhetischen« Muster führen zu einer fundamentalen Verunsicherung der Wahrnehmung in Gesellschaften, die von Kriegen betroffen sind? Wie und wodurch werden unsere Wahrnehmungen und unser Verständnis von Krieg und Frieden geprägt? Wie verlief die Entwicklung von der klassischen Lehre vom »gerechten Krieg« hin zur Ethik eines »Friedens durch Gerechtigkeit«? Welche sind gegenwärtig die gängigsten friedensethischen Ansätze? Worin liegen ihre Vorzüge und wo bestehen offene Fragen?

In einem zweiten Teil möchte der Band beispielhaft einige konkrete Brennpunkte gegenwärtiger friedensethischer Diskussionen vorstellen: Worin liegt die grundlegende Bedeutung der Menschenwürde für ein umfassendes friedensethisches Verständnis? Inwieweit begründet das komplexe Verhältnis von menschenrechtlichen Grundnormen und Prinzipien eines demokratischen Rechtsstaats den Frieden? Was sagt die Russisch-orthodoxe Kirche zu Krieg und Frieden? In welcher Weise ist ihr Handeln durch die der Orthodoxen Theologie eigentümliche »Symphonie« mit dem Staat bestimmt? Was kann eine feministische Friedenspolitik sowie die praktische Kooperation zwischen Frauenorganisationen in der Schweiz und in der Ostukraine in der Friedensarbeit zur Weiterentwicklung friedensethischer Positionen beitragen?

Im dritten Teil geht es um ausgewählte Beispiele zu aktuellen Brennpunkten, die Herausforderungen für die Weiterentwicklung der Friedensethik darstellen. Dabei spannt sich der Bogen vom Krieg in der Ukraine über den Israel-Palästina-Konflikt bis zu Fragen der Asyl- und Migrationspolitik sowie der Flüchtlingsaufnahme in Europa.

Abschließend wird noch der Frage nachgegangen, welchen Beitrag zivilgesellschaftliche Gruppen, Organisationen und Einrichtungen für die Deeskalation von Konfliktsituationen auf unterschiedlichen Ebenen und für die Gewinnung eines gerechten sowie umfassenden Friedens leisten können.

Die vielen friedensethisch inspirierten Initiativen und Institutionen, im Großen wie im Kleinen, die verschiedenen Stiftungen, Thinktanks, die intellektuellen Debatten auf medialer wie akademischer Ebene und die zahlreichen zivilgesellschaftlichen Bewegungen zeigen auf eindrückliche Weise, wie lebendig und produktiv das friedensethische Denken nach wie vor ist. Neue Herausforderungen verlangen nach einem konstruktiven Diskurs, der zu Weiterentwicklung und Ausdifferenzierung führt. Und es zeigt sich: Eskalierende Konfrontation und generalisierende (Vor)Urteile werden dem Anspruch einer friedensethischen Grundorientierung praktischen Handelns nicht gerecht. Trotz aller Rückschläge bleiben der grundlegende Wunsch sowie die Sehnsucht nach einem fairen und gerechten Frieden unvermindert bestehen. Das friedensethische Denken und Handeln bleiben ihm auch in Zukunft verpflichtet.

Wir danken den Autor:innen für ihre engagierten Beiträge sowie folgenden Institutionen dafür, dass sie das Zustandekommen dieser Publikation ermöglicht haben: Österreichische Forschungsgemeinschaft; Förderverein zur wissenschaftlichen Forschung an der Universität Salzburg; Stadt Salzburg, MA 2 Kultur, Bildung und Wissen. Ein großer Dank gilt schließlich Johanna Voithofer für die Unterstützung bei der Erstellung des Manuskripts sowie dem transcript Verlag für die gute und verlässliche Zusammenarbeit.

Salzburg, im Januar 2024Alois Halbmayr/Josef P. Mautner

Zugänge

Wege aus dem Dunkel des Krieges?

Überlegungen zu einer Ästhetik von Krieg und Frieden

Josef P. Mautner

»Als menschliches Wesen glaube ich, dass wir jede Krise oder Notlage, die andere Menschen erleben, so betrachten sollten, als wäre es unsere eigene.«Ai Weiwei1

Ästhetik hat sich mit einer grundlegenden narzisstischen Kränkung der Menschen auseinanderzusetzen: mit der Tatsache, dass die sogenannte »Wirklichkeit« unseren Sinnen nicht unmittelbar zugänglich ist, sondern es der Krücke einer fortlaufenden Reflexion bedarf, um sich ihr in kleinen, unsicher tastenden Schritten anzunähern.

Das Nachdenken über menschliche Wahrnehmung wird zunächst mit zwei wesentlichen Begrenzungen konfrontiert: zunächst mit der subjektiven Grenze des individuellen Standortes, von dem aus ich Wirklichkeit wahrnehme; diese Grenze des eigenen Standortes macht Wahrnehmung perspektivisch, d.h. sie erfasst von einem bestimmten Punkt weg nur den Ausschnitt eines potentiell unbegrenzten Raums, der Wirklichkeit ausmachen könnte. Die zweite Grenze menschlicher Wahrnehmung ist die ihres Eingebundenseins in soziale und gesellschaftliche Netze, die sie kontextbezogen sein lassen; im übertragenen Sinn könnte man von einem sozialen oder gesellschaftlichen Standort sprechen, der uns wiederum nur eine begrenzte Zahl in einer potentiell endlosen Menge von möglichen Kontexten wahrnehmen lässt.

Ästhetische Reflexion macht jedoch nicht nur die Grenzen des Wahrnehmens bewusst, sondern erfasst ebenso dessen grenzüberschreitende Möglichkeiten, ihre potentielle Offenheit. Denn ästhetische Reflexion verhält sich kritisch gegenüber der sogenannten »Wirklichkeit«, indem sie immer wieder neue Möglichkeiten ihres Wahrnehmens erschließt, den »Möglichkeitssinn« schärft – gemäß dem Verständnis von Robert Musils Mann ohne Eigenschaften:

»Wenn es aber Wirklichkeitssinn gibt, und niemand wird bezweifeln, daß er seine Daseinsberechtigung hat, dann muß es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann. Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muß geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müßte geschehen.«2

Traditionelle Ästhetik geht von einer Fokussierung der Wahrnehmung auf das »Schöne« aus. Die Betrachtung einer Landschaft etwa konzentriert sie auf die Wahrnehmung der schönen Natur, und das Hässliche wird nur wahrnehmbar im Kontrast zum Schönen: Es ist definiert als Negation, als das »Nicht-Schöne«. Diese Brennpunktbildung in der europäischen Wahrnehmungstradition von Wirklichkeit im Medium der Kunst wurde immer wieder hinterfragt, relativiert oder verneint; gebrochen ist sie spätestens seit der Moderne, in der »zur Selbstverständlichkeit wurde, daß nichts, was die Kunst betrifft, mehr selbstverständlich ist, weder in ihr noch in ihrem Verhältnis zum Ganzen.«3 Sie bildet jene Ambivalenz, die der menschlichen Existenz und ihrem Verhältnis zum gesellschaftlichen Ganzen inhärent ist. In besonderem Maße gilt diese ästhetische Voraussetzung der Moderne für die Wahrnehmung von Krieg und Frieden.

Ästhetische Wahrnehmung von Krieg und Frieden4

Die ethnischen Konflikte in seinem Land hatten schon lange geschwelt, dann explodierten sie in einem der vielen Bürgerkriege Zentralafrikas. Jene paramilitärische Einheit, die seine Eltern ermordet hatte, rekrutierte den vierzehn Jahre alten Clément als Kindersoldat. Zwei Jahre später desertierte er – trotz des Risikos, wieder gefangen genommen und wegen seiner Desertion ermordet zu werden. In diesen beiden Jahren hatte Clément eine Unzahl an Kriegsverbrechen gesehen und viele selbst begangen. Beim Erzählen seiner Geschichte meinte er: »Ich hätte keine einzige weitere Vergewaltigung einer Frau mehr ertragen. Ich hätte jemanden von uns erschossen.« Er wird bis zu seinem Tod die Bilder seiner toten Eltern und die Bilder der Toten aus jenen zwei Jahren in sich tragen.5

Diese Geschichte ist nur eine Momentaufnahme aus einem lang andauernden Prozess von ethnischen Konflikten, Bürgerkrieg und Gewalt. Dennoch zeigt sie: Krieg und Frieden sind keine eindeutig abzugrenzenden Ereignisse. Vielmehr bezeichnen die beiden Worte Prozesse, die viele Stationen durchlaufen, ehe sie die Gestalt eines manifesten »Zustandes« annehmen. Eine Vielzahl an Eskalationsstufen von Konflikten ist nötig, bevor ein Konflikt in direkte Gewalthandlungen übergeht.6 In ähnlicher Weise ist Friede ein Prozess, der mehr bedeutet als die Abwesenheit oder die Beendigung von Krieg, wie mehrere Autor:innen dieses Bandes betonen.7 Friede definiert sich keineswegs nur im Kontext von Krieg oder Gewalt; Friedenshandlungen werden in den unterschiedlichsten Konfliktsituationen gesetzt und deshalb finden sich im Deutschen auch die unterschiedlichsten Verknüpfungen mit dem Wort8: sozialer Friede, Friedenspflicht (bei Tarifverhandlungen), Seelenfrieden, Friedensengel, Zufriedenheit, einfrieden, zufrieden sein, zufriedenstellend etc. Dementsprechend ist Friedensaufbau (»peace building«) ein Prozess, der in verschiedensten Situationen und auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen geschieht – vor, während und nach Konflikten.9 Friedensaufbau geschieht – oft unbemerkt, weil weniger spektakulär als kriegerische Gewalthandlungen – im Mikrokosmos sozialer Beziehungen.

Fragen einer ästhetischen Wahrnehmung mit dem Erleben und der Bewertung von kriegerischen Handlungen sowie einer ethischen Friedensperspektive zu verknüpfen, erscheint zumindest paradox. Es wird jedoch schlüssig, wenn man Ästhetik aus ihrer üblich gewordenen Verengung auf die Reflexion des »Schönen« oder gar nur der Künste herauslöst und sie als Reflexion aller möglichen Formen von Wahrnehmung betrachtet.10 Ihr Ziel ist dann nicht die verfeinernde Wahrnehmungsschulung im Aneignen »schöner« Erscheinungen, sondern konkrete und sinnlich geleitete, ganzheitliche Wahrnehmung von Wirklichkeit, die diese als vorläufige, von Ambivalenzen und Widersprüchen durchzogene zu begreifen vermag. Die innere Logik eines Zusammenhangs zwischen ästhetischer Wahrnehmung und der Auseinandersetzung mit Krieg sowie Frieden zeigt sich, wenn wir z.B. die literarische Auseinandersetzung berücksichtigen, die bis in die Anfänge schriftlicher Zeugnisse zurückreicht. Ein erstes, die weitere Entwicklung der abendländischen Literatur prägendes Zeugnis ist die Ilias.11 Sie handelt in hoch differenzierter Weise von einer kriegerischen Auseinandersetzung und entwirft im Rahmen der Darstellung eines »Krieges um Troia« ein elaboriertes Bild der »conditio humana«. Ebenso ist das »Buch der Bücher«, der Kanon der jüdischen Bibel, angefüllt mit Schilderungen, Erzählungen, Reflexionen von Gewalthandlungen und Krieg.

Ihrem inneren Widerspruch folgend sind solche ästhetischen Darstellungen von Situationen extremer Gewalt häufig mit Sollensurteilen verknüpft. Ein viel diskutiertes Beispiel dafür sind die Arbeiten des chinesischen Künstlers Ai Weiwei aus der Phase, als er begann, sich intensiv mit den globalen Flüchtlingsbewegungen zu beschäftigen.12 Die verschiedensten Verhältnisbestimmungen zwischen ästhetischer Wahrnehmung und ethischen Urteilen zeugen von einer Ambivalenz, die nicht einfach aufgelöst werden kann: weder durch einen Primat des Ästhetischen – etwa eine Ästhetisierung der Gewalt, wie sie z.B. in der Rezeption der Filme von Quentin Tarantino wahrgenommen wird.13 Noch lässt sich diese Ambivalenz durch einen Primat der ethischen Sollensziele auflösen – etwa im Sinne eines vorschnellen Überspringens der Zwangslogiken kriegerischer Gewalt.14

Eine ästhetische Wahrnehmung kriegerischer Auseinandersetzungen reflektiert die engen Grenzen, die eskalierte Gewaltsituationen dem Erkennen ihrer Ursachen, Dynamiken und Akteure setzen. Sie wird die Vorläufigkeit, Fehleranfälligkeit und den Fragmentcharakter des Wahrnehmens anerkennen und dem ethischen Urteil vermitteln. Auf der einen Seite kann das am ethischen Ziel orientierte Wollen, Frieden zu machen, nicht die Wahrnehmung des kruden Faktums kriegerischer Gewalt vernachlässigen und realitätsvergessen pazifistische Normen »herunterbeten«15. Sonst würde es zumindest in Gefahr geraten, objektiv zynisch zu werden. Auf der anderen Seite kann die ästhetische Wahrnehmung von Ambivalenz und Sinnlosigkeit des Krieges nicht in einer reinen »l’art pour l’art«-Ästhetik des Krieges versinken und das ethische Ziel eines Lebens in einem gerechten Frieden aus dem Auge verlieren.16

Eine ästhetisch reflektierende Wahrnehmung von Krieg und Frieden wird jedoch nicht dabei stehen bleiben. Denn ihr Ziel ist es nicht, die grundsätzliche Möglichkeit von Wahrnehmung im Krieg, die die Grundlage für ethische Urteilsfähigkeit bildet, infragezustellen. Vielmehr ist es ihr Ziel, die vielfältigen Illusionen und Täuschungen, denen die Wahrnehmung von Krieg und Frieden unterliegen kann, zu analysieren und sie somit überwindbar zu machen. Erst die Dekonstruktion einer verzerrten Wahrnehmung im Krieg führt dazu, sich Elementen von Wahrheit anzunähern. Nichts anderes sagt das Wort »wahr-nehmen« aus, das als Tätigkeitswort aussagekräftiger ist als das Hauptwort.

Was nehmen wir wahr, wenn wir uns »im Krieg« befinden?

»Im Krieg ist die Wahrheit das erste Opfer«. Dieser zum Allgemeingut gewordene Aphorismus ist keinem Sprecher, keiner Sprecherin eindeutig zuordenbar. Er ist fälschlich sowohl Aischylos als auch Rudyard Kipling oder Winston Churchill sowie dem kalifornischen Politiker Hiram Johnson zugeschrieben worden. Was ihn für eine große Mehrheit so plausibel macht, ist die Erfahrung, dass in Kriegssituationen Lüge und Täuschung Teil der strategischen Kriegsführung sind.17 Dabei gilt es zu beachten, dass Lüge und Täuschung nicht nur moralische Defizite von Individuen sind, die zu ethisch fragwürdigen Handlungen führen. Sie entfalten in letzter Konsequenz ein Universum vollkommen verzerrter Wahrnehmung, die zu keiner erfassbaren Realität mehr durchzudringen vermag und dies umso mehr in einem durch soziale Medien und digitale Kommunikation komplexer gewordenen Wahrnehmungsraum. Ein Beispiel dafür sind die Manipulations- und Desinformationskampagnen im Rahmen der sogenannten digitalen Kriegsführung, die integraler Bestandteil der Militärkonzepte verschiedener Staaten geworden sind.18

Der Spiegel ist in der Geschichte der Kunst wie der Philosophie eine der am häufigsten auftauchenden Metaphern für Fragestellungen menschlicher Wahrnehmung – und nicht zuletzt für ihre Begrenztheit und Ambivalenz.19 Ich möchte diese Metapher anwenden, um die Struktur des Diskurses über den Krieg im Krieg darzustellen. Durch die sich verselbständigenden Strategien von Lüge und Täuschung wird der Diskurs über Vorgänge und Handlungen während eines Kriegsgeschehens zu einer Art Spiegellabyrinth, das eine feststehende Subjekt-Objekt-Beziehung in der Wahrnehmung aufhebt. Die Wahr-nehmung der eigenen Position wie der einer gegenüberliegenden Wirklichkeit gehen darin verloren. Ein Spiegellabyrinth ist in der Regel ein kleiner, geschlossener Raum. Aber darin täuschen großflächige, meist in einem Winkel von 60 Grad zueinander gestellte Spiegel den Blick in ein riesiges labyrinthisches Gebäude vor.

Zwei Bereiche, in denen die Metapher vom Spiegellabyrinth Mechanismen einer verzerrten Wahrnehmung im Krieg verdeutlichen kann, möchte ich beispielhaft herausgreifen:

Erstens: Vervielfältigung der Bilder ins Unendliche: Der ukrainische Dokumentarfilmer und Arzt Yuriy Hrytsyna zitiert im Zusammenhang des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine den Zwischentitel aus einem anonymen Montagefilm über die erste Phase des Krieges: »Dieser Krieg wurde begonnen, um gesehen zu werden.«20 Was mit dieser Aussage gemeint war: Zielsetzung der Kriegshandlungen war nicht nur die angestrebte und erfolgte Okkupation von Gebieten im Osten der Ukraine, sondern genauso die Produktion von Bildern, mit denen eine Objektivierung des eigenen Blicks, eine Vervielfältigung des eigenen Standpunkts ins Unendliche realisiert werden kann. Kriege erzeugen eine unendliche Flut von Bildern, insbesondere seit es digitale Kommunikation gibt; mehr als wir jemals aufnehmen können. Zeugen des Kriegsgeschehens (Zivilist:innen wie Soldat:innen, Opfer wie Täter:innen) fotografieren mit ihren Smartphones, Fotojournalist:innen »schießen« professionelle Fotos, Überwachungskameras laufen am Ort des Geschehens, Drohnen, Flugzeug- und Satellitenkameras filmen von oben, usf. Erst der mediale Kontext oder das politisch-ideologische »framing« erzeugen schließlich die Botschaft, die die Bilder transportieren: Zeugnisse von völkerrechtswidrigen Bombardements von zivilen Gebäuden in der Ukraine durch die russische Artillerie oder ein verdeckt durchgeführter Sabotageakt gegen Treibstofflager der russischen Armee auf der Krim. Alle diese Bilder werden zu Instrumenten einer globalen diskursiven Kriegsführung.

Ebenso können aber die vielfältigen technischen Möglichkeiten von Bildherstellung und verbreitung auch zum Bekanntmachen verdeckter menschenrechtswidriger Gewalthandlungen in Konfliktregionen führen. So hat der österreichische Flüchtlingshelfer Fayad Mulla mithilfe einer Bildfalle ein Video über die Entführung von Flüchtlingen von der Insel Lesbos sowie deren Aussetzen durch die griechische Küstenwache auf Life-Boats in türkischen Hoheitsgewässern gedreht. Die Geflüchteten werden mittels Wärmebildkameras von vermummten Sondereinheiten aufgespürt, festgenommen, in anonymen Kastenwagen gewaltsam Richtung Küste transportiert und von einem Schiff der griechischen Küstenwache aufs Meer verbracht. Mittels einer Kamerafalle, Handykamera und Dash-Cam konnte Mulla den Transportweg lückenlos dokumentieren.21

Zweitens: Projektion eines bestimmten Geschichtsbildes in die Zukunft: Ein Beispiel für eine solche Projektion, die zu wesentlichen politischen Weichenstellungen führte und auch ein Faktor für die Kriege auf dem Balkan wurde, ist der sogenannte »Amselfeldmythos« in Serbien. Er bezieht sich auf die historische Schlacht auf dem Amselfeld, einer ausgedehnten Beckenlandschaft im heutigen Kosovo. Die Schlacht wurde während des Zerfallsprozesses des multiethnischen Selbstverwaltungsstaates unter Tito zu einer quasi-historischen Rechtfertigung für den nationalistischen Aufbruch in Serbien. Eine solche spiegelbildliche Projektion ereignet sich dort, wo das jeweilige Geschichtsbild als Vor-Bild in die Zukunft projiziert wird, wie es Slobodan Milošević in seiner Rede zum 600. Jahrestag der Schlacht auf dem Amselfeld tat:

»Was durch all die Jahrhunderte bis in unsere Zeit feststand, war, dass vor 600 Jahren die Zwietracht das Kosovo heimsuchte. […] Die fehlende Einheit und der Verrat im Kosovo sollten das serbische Volk wie ein grausames Schicksal durch seine gesamte Geschichte verfolgen. […] Dieser Zustand hielt über Jahre und Jahrzehnte hinweg an, doch hier stehen wir nun auf dem Amselfeld, um zu verkünden, dass dies nicht länger der Fall ist.«22

Drei Monate zuvor, im März 1989 hatte Milošević die Autonomie der beiden Autonomen Provinzen Kosovo und Vojvodina aufgehoben, um Serbien »wieder zu vereinen«. Auf diese Maßnahmen spielt er in seiner Rede an, wenn er von der historisch notwendigen Einheit Serbiens spricht. Diese willkürliche Aufhebung der Autonomie per Gesetz setzte eine mehr als zehn Jahre dauernde Kette von teils gewaltsamen Konflikten in Gang, die schließlich zur NATO-Militärintervention und 2008 zur Unabhängigkeitserklärung der Republik Kosovo führten.23

»Was ist Wahrheit?«24

Weit über diese Zerrformen von Wahrnehmung hinaus reicht die Erkenntnis, dass in eskalierten Gewaltsituationen die Fähigkeit zu differenzierendem Wahr-nehmen in extremer Weise eingeschränkt ist. Was Wahrheit ist, was zur (Ver)Fälschung gewordene Teilwahrheiten sind, was Fakten entspricht und was schlicht kontrafaktisch ist – es ist in Kriegssituationen für alle Beteiligten wie auch für die nicht direkt Beteiligten schwer zu unterscheiden.

Eine der destruktivsten Formen der verzerrenden Wahrnehmung in Situationen eskalierter Gewalt ist das Konstrukt eines Selbst, das in der Verneinung der anderen besteht: »Jeder Russ’ ein Schuss!« – »Die Ukraine ist ein Nazistaat.« – »Schwule sind abartig.« – »Radikale Muslime gehören ausgewiesen.« Es ließen sich noch viele Beispiele anfügen. Die Entwicklung »kontradistinktiver Identitäten«25 ereignet sich nicht erst im Moment der Eskalation. Sie baut sich langsam und in mehreren Schritten innerhalb einer Gesellschaft auf. Keine Gesellschaftsform ist vor ihr gefeit. Auch in demokratischen Staaten mit einer strikten Teilung und Eingrenzung der Gewalten kann eine solch schleichende Auslöschung des Respekts vor Menschen mit verschiedenen Identitätsmerkmalen zu einer Atmosphäre struktureller wie direkter Gewalt führen. Diese Gewalt richtet sich sowohl gegen die als »Andere« markierten Menschen selbst als auch gegen jene, die sich öffentlich mit ihnen solidarisch erklären.

Eine der Aufgaben von Kunst ist es, lineare, distinktionsfeindliche Identitätserzählungen zu durchkreuzen. Es ließe sich eine Unzahl an Kunstwerken benennen, die solche Tendenzen zu gewaltförmigen Differenzwahrnehmungen in ihren Gesellschaften sichtbar und somit veränderbar machen.26 Gleichzeitig werden häufig jene Künstler:innen, die in ihren künstlerischen Produkten die Ambivalenzen kollektiver Identitätskonstrukte erfahrbar machen, selbst zu Objekten des »othering«, der Ausgrenzung und Herabwürdigung. Ein aktuelles Beispiel dafür sind die Reaktionen auf Agnieszka Hollands Film Die grüne Grenze (Zielona granica), in dem sie pushbacks der polnischen Grenzschützer:innen gegen Geflüchtete schildert, die aus Belarus über die polnische Grenze geschleust wurden. Was in diesem Zusammenhang interessiert, ist nicht der Film selbst, sondern die Reaktionen der Politik darauf: Hochrangige Vertreter des polnischen Staates sahen in dem Film eine »Herabwürdigung« Polens; Staatspräsident Andrzej Duda zitierte den Slogan polnischer Widerstandskämpfer gegen NS-Propagandafilme: Nur Schweine säßen im Kino. Jaroslaw Kaczynski, Chef der Regierungspartei PiS, sprach von einem »widerlichen Pamphlet« und der Justizminister verglich den Film ebenfalls mit NS-Propagandafilmen, in denen die Polen als »Banditen« dargestellt wurden.27

Die Ebenen von Sehen und Be- bzw. Verurteilen sind in der Gefahr zu verschwimmen. In der durch eskalierte Gewaltsituationen verkürzten Wahrnehmung tendiert das Urteilen dazu, vorschnell zu werden und einen ganzheitlichen Blick auf das Geschehen zu verhindern. Denn wie nirgends sonst wird unser Wahrnehmen im Krieg bis ins Extrem von perspektivischen Ausrichtungen oder auch Verkürzungen bestimmt. Das banale Faktum, dass der Standort der Wahrnehmenden ihre Perspektive bestimmt und diese Perspektive die Wahrnehmungsform des zu Sehenden, kann im Kriegsgeschehen existentiell sein: Die in den umkämpften Gebieten der Ukraine verbliebenen Bewohner:innen haben eine radikal andere Perspektive auf den Krieg als wir, die wir ihn von unserem sicheren Wohnzimmer aus verfolgen. Bürger:innen in Grenzregionen der Republik Moldau sind in ganz anderer Weise Beobachtende des Kriegsgeschehens als es beispielsweise Studierende der Universität Oxford sind.

Beteiligte wie Beobachter:innen verfallen allzu leicht dem durch ein Vor-Urteil verkürzten Sehen, das die Uneinsehbarkeit kriegerischer Ereignisfolgen verleugnet. Wahrnehmung im Kontext eskalierter Gewalt tendiert dazu, ambivalenzfeindlich zu werden. Dabei geht es nicht nur um die vielfach beschworene »Ambiguitätstoleranz«. Was eine möglichst der Wirklichkeit gemäße Wahrnehmung des Krieges von uns fordert, ist mehr als nur das Aushalten vorläufiger Widersprüche, von denen wir zu wissen glauben, dass sie sich irgendwann doch wieder auflösen werden. Die Wirklichkeit aller Kriege zeugt von der Armut unseres Wissens. Wir erhalten über Postings, Instagram, Telegram-Videos, Pushnachrichten etc. Bilder, Worte und Töne des Krieges in Echtzeit. Jedoch: Durch diese Flut an Information können wir auch unseres Wissens beraubt werden, statt dass es vermehrt, v.a. vertieft würde. Außerdem gehört es zum Wesen kriegerischer Gewalt, dass sie kulturelle Deutungen, Muster und Gewissheiten zerstört. Sie erzeugt einen leeren Raum, in dem nichts mehr wächst als Angst, Ohnmacht, Unsicherheit und Wut. Krieg ist ein Raum überwältigender Sinnvernichtung, unauflösbar gewordener Ambivalenzen, die sich auch erzählerisch nicht an ein er-lösendes Ende bringen lassen. Kriege machen keine Geschichte, sie vernichten die Geschichte von Menschen und Völkern.

Die Geschichte eines individuellen Schicksals soll dieses sinnvernichtende Potential des Krieges verdeutlichen: Boris Romantschenko ist einer von vielen Zivilisten, die in ihren Wohnungen in Charkiw durch Geschosse der russischen Armee getötet wurden. Er starb im Alter von 96 Jahren, nachdem er im Laufe seines Lebens vier Konzentrationslager der Nazis überlebt hatte. 1942 war er als Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt worden. Nach einem Fluchtversuch kam er ins KZ Buchenwald sowie in drei weitere KZs. Während seines ganzen weiteren Lebens engagierte er sich als Zeitzeuge gegen Krieg, Gewalt und Faschismus. Im April 2015 sprach Romantschenko auf dem Gelände des ehemaligen KZ Buchenwald das Gelöbnis der Überlebenden in russischer Sprache: »Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ideal.«28

Das Sprechen über den Krieg ist vielfach nichts anderes als ein »Plappern«29, ein Ausdruck von Sprachlosigkeit. Ein Geschehen wie Krieg, dem sich kein Sinn zuschreiben lässt, weil es diesen Sinn in seinem Fortlauf wieder vernichtet oder Lügen straft, lässt sich nicht besprechen. Und dennoch ruft das Vakuum des Krieges, sein sinnentleerter Raum einen mächtigen Sog an Sinnzuschreibungen hervor: solche, die versucht sind, ihn zu legitimieren, wie auch solche, die versuchen, ihm jede Legitimation zu entziehen. Die Leere des Krieges ruft immer wieder die großen »Antwortmaschinen« der Menschheit auf den Plan: Weltanschauungen, Ideologien und Religionen werden aufgerufen oder fühlen sich berufen, dieses Sinnvakuum mit Antworten zu füllen. Eine Vielzahl von Geistes- und Sozialwissenschaftler:innen, Philosoph:innen, Theolog:innen etc. verfertigen Antwortversuche, Theoriefragmente oder Analysetools, um das Unerklärliche zu erklären.

Hier können wir nochmals auf den anfangs zitierten Aphorismus von der Wahrheit als erstem Opfer des Krieges zurückkommen: Er offenbart seine Zwiespältigkeit nicht nur durch seine fälschliche Zuschreibung an Klassiker oder Politiker als dessen Autoren, sondern er führt auch einen inneren Widerspruch in seiner bloßen Aussage mit. Denn nicht erst im Krieg stirbt die Wahrheit. Die »Wahrheit« als einheitliches, stringentes Attribut von Wirklichkeit gibt es auch vor und außerhalb von Kriegen nicht.

Darüber hinaus existiert eine Art perverser ästhetischer Anziehungskraft des Krieges. Als scheinbar reines Erleben gibt er vor, die unverstellte Existenz zum Vorschein zu bringen: töten oder getötet werden.30 In Wahrheit jedoch ist er die Vernichtung jeglicher Voraussetzung von Existenz: von Leben, Zärtlichkeit, Zuwendung oder Fürsorge. Darüber hinaus gibt es im Feld der sogenannten »Realpolitik« eine Tendenz zu »faustischen Pakten«. In der eskalierenden Bipolarität kriegerischer Vorgänge geht nicht selten der Kompass für ethisch richtiges Handeln verloren und mit ihm die moralischen Schranken in der Wahl von Kampfmitteln und Verbündeten. Dazu lassen sich zahllose Beispiele anführen; nur wenige seien genannt: der Einsatz von Streubomben oder Cargomunition, einer international geächteten Waffe, auf beiden Seiten im Ukrainekrieg.31 »Saddam ist ein Hundesohn, aber er ist unser Hundesohn«, schrieb der Repräsentant der CIA im Irak im Juli 1979 nach Washington.32 Solche dem »Wir« zugeordnete »Hundesöhne« gab es in der Geschichte der USA und ihrer Verbündeten viele: von den lateinamerikanischen Diktatoren über Saddam Hussein bis zu den Taliban und darüber hinaus. In dem durch den russischen Überfall auf die Ukraine veränderten internationalen Koordinatensystem ist die Allianz der NATO-Staaten auf Gefälligkeiten der Regierung des polnischen Staates angewiesen, dem vor kurzem wegen massiver Verstöße gegen rechtsstaatlich-demokratische Prinzipien der Zugang zu EU-Mitteln gesperrt wurde. Die neue Annäherung an ein autoritäres Regime wird dessen »postdemokratisches« Selbstverständnis nicht verändern, sondern nur bestärken: »Am 10. März erklärte der Verfassungsgerichtshof, eine mit Kaczyńskis Loyalisten besetzte Scheininstitution, wichtige Regeln der Europäischen Konvention für Menschenrechte für verfassungswidrig. So wurde Polen – neben Russland – zum einzigen europäischen Land, das gegen das wegweisende europäische Menschenrechtsabkommen von 1950 verstieß«, stellt Maciej Kisilowski, Professor für Rechtswissenschaften an der Central European University, in aller Nüchternheit fest.33

Kriege werden von den Außenstehenden in der Regel durch ein Fernglas betrachtet. Durch dieses Fernglas lässt sich – wie im Fall der Ukraine – eine (über)große mediale Nähe erzeugen. Durch das Fernglas der Betrachter:innen kann ein Krieg aber auch weit, weit weggerückt werden – wenn man es verkehrtherum hält; so geschieht es regelmäßig im Fall der vielen »außereuropäischen« Kriege. Eine vergleichgültigende Wahrnehmung von Kriegen wird sowohl durch zu große Nähe als auch durch Distanz hervorgerufen. Wer hat im Schatten des »europäischen« Krieges in der Ukraine die sogenannten »vergessenen Kriege« und deren Opfer wahrgenommen? Etwa: Bandengewalt und kriege in Haiti und Burkina Faso, der gescheiterte Waffenstillstand von 2022 im Jemen, die Kämpfe von mehr als 100 bewaffneten Gruppen im Ostkongo, um nur einige wenige zu nennen.34 Es käme einer nicht nur wahrheitswidrigen, sondern auch gefährlichen Vereinfachung gleich, sich in der habituell gewordenen eurozentrischen Verengung unserer Wahrnehmung nur auf den einen »europäischen« Krieg zu konzentrieren und die anderen abzutun, als gingen sie uns nichts an, als beträfen sie uns nicht. Im Kontext einer spätkapitalistischen Welt hat jeder regionale bewaffnete Konflikt wie auch jeder »klassische« Krieg zwischen Nationen eine globale Dimension. Eine Szene am Ende des Romans Den Sturm ernten von Phil Klay verdeutlicht diese globalisierte Dimension drastisch:

»Er fragte sich, ob die Männer, die gleich sterben würden, überhaupt ansatzweise ahnten, welcher Aufwand für ihren Tod betrieben wurde. Ein amerikanischer Söldner zielte einen Laser auf Anweisung eines amerikanischen Piloten, der eine chinesische Drohne lenkte. Sie kommunizierten über einen verschlüsselten Kanal, der über ein kanadisches Flugzeug mit schwedischer Überwachungstechnologie lief […]. Der Drohnenpilot kommunizierte wiederum mit einem emiratischen Kampfpiloten in einem amerikanischen Jet.«35

Im Krieg in der Ukraine kämpfen auf russischer Seite neben tschetschenischen Einheiten auch Soldaten aus dem syrischen Bürgerkrieg. Nach Pressemeldungen sollen im Jahr 2022 auf ukrainischer Seite ca. 22.000 Söldner aus 52 Nationen im Einsatz gewesen sein.36 Außerdem kommen FIM-Stinger Flugabwehrraketen aus den USA und aus Deutschland, Kampfdrohnen aus der Türkei sowie Panzerabwehrwaffen, Raketenwerfer Sturmgewehre und Munition aus Schweden, Finnland, Norwegen und Großbritannien zum Einsatz.37

Tastende Schritte hin zu einer Ästhetik des Friedens

Die Geschichte von Clément, die diesen Text eröffnete, ging weiter: Nachdem er von seiner Einheit desertiert war, floh er über die Grenze ins Nachbarland, in dem er sich zwei Jahre lang aufhielt. Da er dort nicht Fuß fassen konnte und ohne Job blieb, war er auf Betteln wie Stehlen angewiesen. Also floh er weiter nach Nordafrika und von dort mit einem Schlepperboot über das Mittelmeer. Schließlich landete er in Österreich und erhielt nach einem lang andauernden Verfahren Asyl. Während des Verfahrens kam er zweimal in Schubhaft und wurde dort von mehreren ehrenamtlichen Helfer:innen betreut. Nachdem er bereits mehrere Jahre als anerkannter Flüchtling in Österreich gelebt hatte, heiratete er eine Asylwerberin aus seinem Heimatland. Die Ehe scheiterte. Er wurde mehrere Male gewalttätig gegen sie, erhielt eine polizeiliche Wegweisung und hätte beinahe seinen Asylstatus verloren. Eine Männerberatungseinrichtung vermittelte ihm einen Platz bei einem Psychotherapeuten, der auf traumatisierte Kriegsflüchtlinge spezialisiert war.

Cléments Geschichte erzählt von einem langen Weg mit vielen tastenden Schritten hin zu einem Leben in Frieden. Sie beginnt mit seiner Erkenntnis: »Ich kann nicht mehr mitmachen!« Weiter führt sein Weg von der Desertion über die Entscheidung, den lebensgefährlichen Fluchtweg über das Mittelmeer zu wagen bis zur Betreuung in der Schubhaft, die ihn vor dem Suizid bewahrte, und – über die Erfahrung einer Beziehung, die er selbst zerstört hat – hin zu einer Traumatherapie, in der er begann, sich ernsthaft mit den internalisierten Erfahrungen erlebter und eigener Gewalthandlungen auseinanderzusetzen.

In den vorangegangenen drei Abschnitten versuchte ich zu zeigen, in welcher Weise durch eskalierte Gewaltsituationen und Krieg individuelle wie kollektive Wahrnehmung verzerrt und begrenzt werden kann; auch umgekehrt: wie Vorstellungen und Bilder von Krieg durch ästhetische Muster und Wahrnehmungsstrukturen geformt werden. Abschließend möchte ich mir in drei Schritten Gedanken machen über die unsicher tastenden Schritte hin zu einer praktischen Wahrnehmung von Frieden. Der zweite Teil der Geschichte von Clément zeigt, wie solche mühsamen, von Retraumatisierung und Scheitern begleiteten Schritte in Richtung Frieden in einer einzelnen Lebensgeschichte aussehen können. Welche Fragen tauchen auf, wenn wir diese individuelle Erfahrung versuchen zu verallgemeinern?

Ohne eine ungeschönte, möglichst genaue Wahrnehmung der Bürgerkriegssituationen in Zentralafrika und insbesondere in der Region, in der die Einheit des Kindersoldaten Clément operierte, kann man seine Geschichte nicht angemessen verstehen. Das bedeutet: Wahrnehmung von Frieden beginnt bei einer möglichst genauen Wahrnehmung von Gewalt- und Kriegssituationen. Und gleichzeitig ist eine kritische Distanz zum eigenen Wahrnehmungsvermögen vonnöten, das – wie ich in den vorigen Abschnitten zu zeigen versuchte – perspektivisch eng begrenzt und kontextbezogen ist. Dieselbe perspektivische und kontextuelle Begrenztheit bestimmt auch unsere Friedenswahrnehmung. Diese Grenzen haben u.a. mit der intergenerationalen Weitergabe von Traumatisierungen und Verlusterfahrungen zu tun – sowohl in der persönlichen Familiengeschichte als auch im historischen Kontext der Gesellschaften, in denen wir leben.

Ich wähle als Beispiel zur Verdeutlichung eigene perspektivische Begrenzungen: 1955 in Österreich geboren, wuchs ich in einer Familie und in einem sozialen Umfeld auf, wo das Ende des Zweiten Weltkrieges und der darauffolgende Friede als »Zusammenbruch« wahrgenommen wurden. Mit der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht zum 7. Mai 1945 endete für meine Eltern und für viele ihrer Schulkolleg:innen, Nachbar:innen, Freund:innen, die sich begeistert dem »Führer« und der NS-Ideologie angeschlossen hatten, ein Lebenstraum. Die Machtübernahme im Gebiet des ehemaligen Österreich durch die Alliierten wurde von ihnen nicht als Befreiung, sondern als Besatzungsregime verstanden. Als Kind erlebte ich in meiner Familie noch die ideologische und emotionale Distanz zu einer demokratischen Nachkriegsordnung wie auch zum österreichischen Staat, der als nicht lebensfähiger, gewaltsam abgetrennter Teil des eigentlich »naturgemäßen Großdeutschen Reiches« verstanden wurde. In diesen Widersprüchen gefangen habe ich während meines weiteren Lebens tastende Schritte auf dem Weg zu einer anderen Wahrnehmung von Frieden unternommen – im Bewusstsein, dass ich die Begrenztheit meiner Wahrnehmung wie die Ambivalenzen konkreter Friedensästhetik nicht aufheben kann.

Ästhetische Medien von Friedenswahrnehmung

Was sind ästhetische Medien, die eine solche, möglichst genaue Friedenswahrnehmung vermitteln können, indem sie die eigenen perspektivischen Grenzen kritisch reflektieren? Ein zentrales Medium ist die Zeugenschaft: das Dokumentieren dessen, was ist.

Der 1860 in Belarus (Weißrussland) geborene Historiker Simon Dubnow trat zur Jahrhundertwende als einer der ersten Erforscher der russisch-jüdischen Geschichte hervor. Sein Wohnort Riga wurde am 1. Juli 1941 beim Überfall auf die Sowjetunion von der Deutschen Wehrmacht eingenommen. Am 12. November 1941 befahl Heinrich Himmler, die etwa 30.000 im Rigaer Ghetto zusammengepferchten Juden und Jüdinnen zu ermorden. Bei der zweiten Massenmordaktion am 8. Dezember wurde Simon Dubnow gefangen genommen und von einem lettischen Bewacher durch einen Schuss in den Hinterkopf ermordet. Gemäß einem Gerücht, das später Legende wurde, soll Dubnow, als er zu seiner Ermordung abgeführt wurde, an die Umstehenden gerichtet gesagt haben: »Schreibt, Leute, zeichnet alles auf!«38

Eben diese Aufforderung begegnet auch heute noch denjenigen, die in der Friedens- und Menschenrechtsarbeit tätig sind. Sie wird von Betroffenen an uns gerichtet – aus dem fundamentalen Bedürfnis heraus, dass jenes Unrecht, das ihnen geschieht, wahrgenommen wird. Es soll nicht untergehen, nicht dem Vergessen anheimfallen. Die Aufforderung bildet ein wesentliches Motiv für die Pflicht zur Dokumentation. Zwei Beispiele von Dokumentationsprojekten: In The Reckoning Project – Ukraine Testifies werden Journalist:innen für ihre Recherchen juristisch ausgebildet, damit ihr Material auch vor Gericht als Beweismittel gegen Kriegsverbrechen verwendet werden kann;39 die »Gacaca«-Gerichtsbarkeit 2005-2012 mit rund 13.000 Gerichten in ganz Ruanda diente der juristischen wie kollektiven Aufarbeitung der Völkermorde, bei denen Opfer und Täter:innen das Geschehen rekonstruierten und das Leid der Opfer öffentlich sichtbar gemacht werden sollte.40

Zeugenschaft als ein Schritt hin zu Friedenswahrnehmung steht vor ähnlichen Problemstellungen, wie ich sie für die Wahrnehmung von Gewalt- und Kriegssituationen geschildert habe. Ein wichtiges Problemfeld ist die Frage einer notwendigen Auswahl, also der Prioritätensetzungen und der damit verbundenen Nichtwahrnehmung von Friedens- und Menschenrechtsverletzungen. In der Dokumentationsarbeit erzeugt die ungeheure Fülle von potentiell wahrnehmbaren Handlungen ein Problem: Die Akteur:innen stehen vor einem ethischen Dilemma – nämlich der theoretischen Verpflichtung, alles dokumentieren zu müssen, und dem praktischen Problem, niemals alles dokumentieren zu können. Selbst die vorgängige Eingrenzung auf regionale Dokumentationsarbeit befreit nicht aus diesem Dilemma, weil auch in einem einzelnen Land, Gebiet, Bezirk etc. niemals alle Handlungen lückenlos erfasst, dokumentiert und bearbeitet werden können. Im Jahr 2022 wurden – je nach Definition – ca. 40 Kriege sowie über 170 gewaltsam ausgetragene Krisen weltweit erfasst.41 Eine mögliche Schwerpunktsetzung ist – neben der regionalen Eingrenzung – die Fokussierung auf Handlungen, die besonders verletzliche Gruppen von Menschen oder Einzelpersonen wie z.B. Kinder und Jugendliche, Frauen, alte oder kranke Personen, Menschen mit Behinderungen oder Angehörige von Minderheiten betreffen.

Ein weiteres Medium unverstellter Friedenswahrnehmung ist die Beschreibung konkreten Handelns im sozialen Nah-raum. Denn die Abstraktion und Verallgemeinerung vonhäufig wiederkehrendenGewalt- und Kriegssituationenin Statistiken oder in einer abstrakten Begrifflichkeit lässt die betroffenen Menschen dahinter verschwinden. Friedenswahrnehmung bedeutet auch, »darüber [zu] sprechen, auf welchem Weg sich eine Tragödie für uns in eine Statistik verwandelt«.42 Die Reduktion komplexer Ursachen oder Folgephänomene von Gewalt und Krieg wie Hunger, Armut und/oder Ausbeutung auf einen Begriff erzeugt zudem den Schein von rascher und voraussetzungsloser Erfassbarkeit. Damit macht sie solche Phänomene medial darstellbar.43 Begriffe wie »Bürgerkrieg«, »völkerrechtswidriger Überfall«, »Kriegsverbrechen« etc. erlauben scheinbar, die Gesamtdimension solcher Ereignisse darzustellen, ohne ihre heil-lose Komplexität erfassen zu müssen. Außerdem bleibt der Schock vertausendfachter konkreter Einzelerfahrungen aus: Die Luftaufnahme mit der Totale eines Massakers ist leichter zu ertragen als eine Kamerafahrt mit Nahaufnahmen tausender von toten Gesichtern.

Unter dem Raster einer solchen »Vogelperspektive« auf Kriegsereignisse gehen konkrete, begrenzte Friedenshandlungen, die sich auf der Ebene eines Mikrokosmos abspielen, leicht verloren: Die Autorin und Verlegerin Kateryna Mishchenko erzählt in ihrem Bericht über den russischen Überfall auf die Ukraine von den sogenannten »Punkten der Unbeugsamkeit«. Das sind öffentlich zugängliche Orte, die eingerichtet wurden, nachdem die gezielten Angriffe des russischen Militärs immer wieder die Infrastruktur lahmlegten. An diesen Orten gibt es, für alle zugänglich, Lebensmittel, Strom, Wasser und Wärme in kalten Zeiten: ein einfacher Akt der Weitergabe von Energie und Überlebensmitteln, ein Realisieren von Frieden mitten im Krieg.44 Annemarie Sancar beklagt in ihrem Beitrag im Buch zurecht, dass die Schilderungen von Frauen, die das Überleben im Krieg organisieren, in den politischen Debatten kaum wahrgenommen werden: Die Lebensbedingungen von Frauen in der Ostukraine waren und sind äußerst prekär. Sie schreibt: »Die Armut ist groß, und viele Frauen haben Gesundheitsprobleme. Sie leiden unter fehlendem Einkommen und ausbleibenden Renten. Wer kann, geht – noch heute – in den Westen. Zurück bleiben alte, gebrechliche Menschen, Frauen mit Care-Pflichten.«45 Nach Schätzungen des Welternährungsprogramms der UN haben im syrischen Bürgerkriegsgebiet über 12 Millionen Menschen nicht ausreichend zu essen; etwa 360.000 Kinder sind mangelernährt. Was bedeuten diese Zahlen für betroffene Menschen? Vielfach sind es die Mütter, die mit ihren Kindern vor Bombardements aus Flüchtlingslagern flüchten müssen, nicht ausreichend Nahrung für sie finden und miterleben, wie die Mangelernährung und der Hunger sie zerstören. Sie sind auf der permanenten Suche nach Nahrung und nach Stationen, wo Konvois der internationalen Organisationen Hilfsgüter verteilen.46 Eine solche Station ist das Nachbarschaftszentrum des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes (Jesuit Refugee Service, JRS) in Jaramana, einem vornehmlich von Drusen bewohnten Stadtviertel in Damaskus, das täglich bis zu 700 Kinder betreut.

Ein letztes Beispiel für ein Medium von Friedenswahrnehmung: Vertrauen bilden in einem Kontext des Misstrauens. Was die Kommunikation in der Friedens- und Menschenrechtsarbeit oft erschwert, ist die unheilvolle Zirkelbewegung wechselseitigen Misstrauens. Sie resultiert nicht zuletzt aus dem Zusammentreffen zweier Welten: aus der Differenz zwischen denjenigen, die in der Situation des persönlichen Erlebens von Gewalterfahrungen stehen, und jenen, die außerhalb solcher Erfahrungen geblieben sind. Diese Dialektik zwischen Vertrauen und Misstrauen zeigt sich auch bei den zeitgenössischen Zeugenberichten zu Gewalt- und Unterdrückungsvorgängen, Massenmorden oder verbrecherischer Kriegsführung. Erst in einem längeren Prozess schälten sich über die Augenzeugenberichte von Überlebenden die eigentlichen Dimensionen des Massakers von Srebrenica heraus, und bis in die Gegenwart hinein wurden von großserbisch orientierten Apologeten die Authentizität und Objektivität der Zeugenberichte wie auch die festgestellten Dimensionen des Massakers angezweifelt. In einem groß angelegten Projekt der Genocide Film Library Bosnia and Herzegovina wurden diese Zeugnisse öffentlich und bisher tausende Zeug:innen zum Massaker von Srebrenica interviewt.47

Diese Kluft kann das Verhältnis zwischen Betroffenen und Friedensakteur:innen problematisch werden lassen: Kann ich als Mitarbeiter:in einer NGO oder als Sozialarbeiter:in nachvollziehen, was eine junge afghanische Frau zu der mühsamen und gefahrvollen Flucht nach Österreich bewogen hat? Kann ich als betreuender Menschenrechtsarbeiter verstehen, warum ein junger somalischer Mann zu sporadischen, scheinbar unkontrollierbaren Wutausbrüchen neigt? Aus eigener Erfahrung mit solchen Begegnungen vermute ich: Wir können es manchmal nicht, manchmal nur äußerst begrenzt. Denn wir erleben nur die Existenz dieser Menschen in ihrer Zeit »danach«,