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Eine Boutiquebesitzerin wird tot am Strand aufgefunden, bekleidet mit nichts weiter als einem Nerzmantel. Ein neuer Fall für Kriminalhauptkommissarin Katharina Berg, der sie in die Welt skrupelloser Geschäftemacher und engagierter Tierschützer führt. Der junge Polizeimeister Nils Hansen hingegen präsentiert Regenmode vor der Kamera – und gerät in allerlei erotische Verwicklungen. Mord, Erotik, Meer und mehr: heiße Szenen im kühlen Norden.
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Seitenzahl: 378
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Bengt Thomas Jörnsson, geboren 1969 in Bremerhaven, ist Pädagoge, Germanist und promovierter Psychologe. Bevor er sich ganz dem Schreiben gewidmet hat, war er einige Jahre in der Wissenschaft tätig. Jörnsson ist verheiratet und lebt und arbeitet in Kiel.www.joernsson.de
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2016 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: Montage, fotolia.com/Gabriele Rohde, iStockphoto.com/bobbieo Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Carlos Westerkamp eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-972-1 Erotischer Heimatkrimi Originalausgabe
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1
Die Atmosphäre war perfekt.
Die große Schaufensterscheibe, die mit Brettern vernagelt war. Die schmalen Lichtstrahlen, die zwischen den Ritzen hindurchfielen. Und die chromglänzenden Stangen mit den schwarzen Pelzmänteln.
Das Problem war das Model, das lasziv neben den Garderobenständern an der Wand lehnte. Oder, richtiger gesagt: lehnen sollte. Tatsächlich hatte das Mädchen die sinnliche Ausstrahlung einer Kleiderpuppe.
Dorothea Nissen seufzte. Sie konnte noch immer nicht glauben, dass sie hier gelandet war. Und dass ihr nichts anderes übrig blieb, als mit dieser drittklassigen Darstellerin an dem Projekt zu arbeiten, das ihr letzter Strohhalm war.
Dabei war sie doch schon ganz oben gewesen. Das Ausnahmetalent. Die Jahrhundertbegabung. Das choreographische Genie.
Und nun stand sie hier in Brittas winziger Boutique und versuchte, Vanessa Schultheis zur Hauptattraktion einer erotischen Fotostrecke zu machen.
Dorothea betrachtete das Model mit den aberwitzig hohen Absätzen. Rein optisch war Vanessa mit ihren warmen braunen Augen, dem roten Schmollmund und den wohlgerundeten Brüsten die bestmögliche Besetzung. Aber ihr mangelndes schauspielerisches Talent verdarb die Aufnahmen. So wie jetzt.
Dabei war Vanessas Aufgabe eigentlich ganz einfach: Sie sollte zeigen, wie sie sehnsüchtig dem Treffen mit einem feurigen Liebhaber entgegenfieberte. Vanessa probierte es, indem sie Mund und Augen weit aufriss und die Aufschläge ihres Mantels umklammerte. Was generell kein schlechter Ansatz war, aber bei Vanessa funktionierte es nicht. Sie sah aus wie ein Reh, das vom Scheinwerferlicht eines herannahenden Autos geblendet wurde.
Dorothea Nissen wedelte ungeduldig mit den Händen.
»Nimm die Arme nach oben«, verlangte sie. »Stell dir vor, du stehst mit dem Rücken zum Meer auf einem Schiff und hältst dich an der Reling fest. Und denk daran: Du wartest gerade auf den wunderbarsten Moment deines Lebens. Nicht auf deinen Henker.«
Vanessa nickte und streckte gehorsam die Hände aus. Ihr Nerzmantel klaffte auf und zeigte die Ansätze ihrer weißen Brüste, die einen schönen Kontrast zu dem schwarzen Pelz bildeten. Ihre braunen Locken hingen ihr ins Gesicht.
Trotzdem blieb das Bild schief. So willig das Model auch war, ihm fehlte einfach diese gewisse Ausstrahlung.
»Steh nicht so hölzern«, sagte Dorothea. »Du bist nicht das ›T‹ beim heiteren Buchstabenraten.«
Vanessa kicherte und hob die Arme weiter nach oben.
Dorothea verdrehte die Augen.
»Du bist auch nicht das ›Y‹.« Entnervt ging sie in das Büro hinter dem Laden, um eine Flasche Sekt zu holen. Wenn sie mit den Aufnahmen heute noch fertig werden wollten, musste der Entspannungsprozess ein wenig beschleunigt werden.
Vanessa kippte ein Glas Sekt hinunter und nahm dann ihre Position wieder ein. Es sah immer noch gestellt aus.
Dorothea Nissen schüttelte den Kopf. Warum nur hatten sie von allen Models ihrer Agentur ausgerechnet Vanessa behalten? Aber die Antwort lag ja auf der Hand. Vanessa war die Einzige, die bereit gewesen war, ihre ehemaligen Agentinnen für ein Taschengeld bei ihrem Neustart zu begleiten.
»Und Action!«, rief Dorothea.
Das Model presste sich an die Wand, legte den Kopf in den Nacken und strich mit beiden Händen über den schwarzen Nerzmantel. Eigentlich eine sinnliche Pose, aber Vanessa trug zu dick auf. Mit ihren zum Schmollmund vorgewölbten Lippen sah sie aus wie eine drittklassige Prostituierte in einem Schaufenster auf der Reeperbahn.
Britta Buddenberg, die neben Dorothea stand, stöhnte.
Dorothea warf ihrer Halbschwester einen schnellen Blick zu. Mit ihrem weißen Hosenanzug und ihren streng zurückgekämmten weißblonden Haaren wirkte Britta so kühl wie ein Eisblock. Ihre gesamte Haltung, von den verschränkten Armen bis zu den zusammengepressten Lippen, drückte Verärgerung aus.
»Zumindest haben wir ein wunderbares Setting«, sagte Dorothea und deutete auf die verbarrikadierte Schaufensterscheibe. Sie lachte, um die angespannte Stimmung aufzulockern. »Fast müsste man diesen Leuten von ›Free Nature‹ dankbar sein.«
»Dankbar?« Britta rümpfte die Nase. Trotz des gedämpften Lichts konnte Dorothea das wütende Funkeln in ihren Augen sehen. Sie hob abwehrend die Hände.
»Unter rein künstlerischen Gesichtspunkten natürlich«, versicherte sie eilig.
Britta schnaubte.
»Das ist ja wieder mal typisch. Wir sitzen hier eingemauert wie bei einer Belagerung. Unsere gesamte Existenz steht auf dem Spiel. Und was siehst du? Positionen, Lichteffekte und Arrangements. Als ob du noch immer nicht begriffen hättest, wohin uns deine künstlerischen Visionen gebracht haben.«
Dorothea atmete scharf ein. Am liebsten hätte sie ihrer Halbschwester eine wütende Antwort vor den Latz geknallt. Aber das nützte ja nichts.
»Schau doch hin«, sagte sie stattdessen. »Diese düstere Stimmung. Das hat einen besonderen Reiz. Das schöne reiche Fräulein, das sich heimlich mit dem Geliebten trifft, während draußen der Pöbel wütet. Und wenn die Fotos ein Erfolg werden, rennen dir die Leute die Bude ein.«
Sie sah, wie es in Brittas Gesicht arbeitete. Schließlich nickte die Boutiquebesitzerin.
»Du hast recht«, sagte sie. »Nutzen wir unsere Chance.«
Dorothea verkniff sich ein zufriedenes Lächeln. Mit scheinbarem Gleichmut brachte sie das Stativ in Position und richtete ihre Kamera auf Vanessa, die noch immer in gestelzter Haltung vor den Pelzmänteln posierte. Dorothea hielt ihr die Flasche hin.
»Trink noch ein Glas Sekt«, schlug sie vor und ignorierte die hochgezogenen Augenbrauen ihrer Halbschwester. Lieber ein betrunkenes Model als eines, das so steif wie ein Brett war.
Vanessa schenkte sich ein, und Dorothea tippte ungeduldig mit dem Fuß, während das Model das Glas leerte.
Im selben Moment hörte sie den Krawall. Das Lärmen von Rasseln und Trommeln, die rasch näher kamen. Es klang wie ein Spielmannszug, doch Dorothea und ihre Halbschwester wussten es besser.
»Da hast du deinen Pöbel«, sagte Britta.
Dorothea spürte, wie ihr ein Schauer über den Rücken lief. Ein Szenario, das so echt war, war einfach ein Geschenk des Himmels. Aber das sagte sie lieber nicht, um Britta nicht noch weiter gegen sich aufzubringen. Stattdessen trat sie ans Fenster und spähte zwischen den Brettern der Verdunklung hindurch auf die Straße.
Ein paar Dutzend Leute mit bunten selbst gemalten Spruchbändern und Plakaten marschierten auf die Boutique zu. Thorsten Klinke in seinem weiten Hemd mit den wehenden dunklen Haaren und dem üppigen Bart natürlich vorneweg, Susanne Moll, die dicke Wirtin der »Pension Moll«, und ihre Tochter Lina direkt dahinter. Die Frauen trugen Pappmasken mit aufgemalten Nerzgesichtern und kleinen, pelzigen Ohren, aber Dorothea erkannte sie trotzdem.
Klinke, Mutter und Tochter Moll waren der harte Kern der Tierschutzorganisation »Free Nature«, die sich vehement gegen den Verkauf von Nerzmänteln in ihrem schönen St.Peter-Ording wehrte. Was insbesondere im Fall der jungen Lina ein Jammer war. Ohne ihr albernes Mitgefühl für diese bissigen kleinen Kreaturen wäre sie das perfekte Pelzmodel, mit ihrer knackigen Figur und den langen blonden Haaren, die ihr wie Seide über den Rücken fielen. Auch ihr Gesicht, das sie hinter der Maske verbarg, war ausgesprochen apart. Aber Lina hatte sich ja für die Gegenseite entschieden.
Dorothea Nissen löste sich von der Schaufensterscheibe und sah zu Vanessa Schultheis, die noch immer nach der richtigen Haltung für ihre Rolle suchte. Dorothea gab es auf, auf den Erfolg ihrer Bemühungen zu warten. Vielleicht entwickelte sich ja alles im Miteinander.
»Bleib so«, rief sie dem Model zu und winkte ihrer Halbschwester, in Aktion zu treten. In Ermangelung eines männlichen Darstellers spielte die Chefin selbst den ungestümen Liebhaber, auf den das Model angeblich so sehnsüchtig wartete. Das war natürlich nur eine Notlösung. Aber die Mittel von Dorotheas neuester Produktion waren eben begrenzt.
Britta Buddenberg entledigte sich ihres Hosenanzugs und schlüpfte in einen schneeweißen Pelzmantel mit hohem Kragen. Der Effekt war verblüffend: Binnen Sekunden verwandelte sich die unterkühlte Geschäftsfrau in eine dämonische Königin, die es genoss, wenn ihre Untertanen vor ihr auf dem Boden krochen.
Dorothea richtete ihre Kamera aus und begann zu fotografieren, während ihre Halbschwester auf Vanessa Schultheis zutrat und das Model zu sich heranzog. Britta griff in Vanessas dichte Locken und zerrte ihren Kopf an den Haaren nach hinten. Dann biss sie spielerisch in Vanessas entblößten Hals.
Dorothea zoomte näher heran. Dieses ausdrucksstarke Bild würde den Lesern des Erotikmagazins, für das die Aufnahmen bestimmt waren, sicher gefallen. Auch wenn man natürlich nicht ausschließen konnte, dass der eine oder andere ein Musterexemplar strotzender Manneskraft vermissen würde, mit dem er sich identifizieren konnte. Aber die meisten Betrachter waren vermutlich froh, wenn es keine Konkurrenz gab und sie sich vorstellen konnten, dass gleich zwei attraktive Frauen– die eine brünett im schwarzen, die andere hellblond im weißen Pelz– nur für sie allein da waren.
Was sie zu sehen bekamen, war jedenfalls nicht zu verachten, denn Britta füllte ihre Rolle mit Leidenschaft. Sie trieb das Model zurück, bis es mit dem Rücken an der Wand stand. Ihre Hände strichen über Vanessas Nerzmantel und öffneten wie beiläufig die Knöpfe. Dann stahlen sie sich unter den Pelz. Vanessa begann leise zu stöhnen.
Britta ließ ihre Finger wandern und genoss ganz offensichtlich die Macht, die sie ausübte. Sie berührte Vanessas Brüste, und das Model drängte sich ihr mit glänzenden Augen entgegen.
2
Peer Ruppert spielte nervös mit der kleinen Schachtel in seiner Hosentasche. Schon seit einer Woche wartete er auf eine passende Gelegenheit, Lina sein Geschenk zu geben. Aber er traf sie einfach nie alleine an.
Peer drückte sich hinter die Telefonzelle auf dem Parkplatz vor dem »Bistro Schulz« und spähte zur Boutique »Venus« auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Thorsten Klinke hatte wirklich eine eindrucksvolle Menge von Demonstranten zusammengebracht. Fast alle Geschäftsleute, die ihre Läden in der Einkaufsstraße »Im Bad« hatten, waren dabei. Sogar Gert und Gesine Stöver von der »Segeltruhe«.
Sie trugen natürlich weder Nerzmasken noch Transparente. Aber der Ausdruck ranziger Missbilligung auf Gesine Stövers Gesicht war ohnehin aussagekräftiger als jedes Plakat. Die beiden waren lebende Aushängeschilder ihres Geschäfts für Yachtsportbedarf, Segelkleidung und Andenken. Gerade so, als wäre das Wort »maritim« extra für sie erfunden worden. Sie kämpften seit der Geschäftseröffnung der »Venus« verbissen gegen den Laden. Im Gegensatz zu den Anhängern von »Free Nature« ging es ihnen allerdings nicht um das Schicksal der Nerze. Sie fürchteten um den guten Ruf der Einkaufsmeile. Weil es im Hinterzimmer der »Venus« noch ganz andere Dinge zu kaufen geben sollte als teure Pelzmäntel…
Die Demonstranten begannen laut zu skandieren: »Wir wollen keinen Pelztiermord! Verschwindet hier aus unserem Ort!«
Einige von ihnen hatten Plastiktüten mitgebracht, die sie jetzt öffneten. Sie warfen Farbbeutel, faule Tomaten und Eier gegen das verbarrikadierte Schaufenster.
Peer wagte sich ein Stück aus seinem Versteck hervor, um einen besseren Blick auf das Geschehen zu haben. Dabei stieß er gegen eine Mülltonne, die mit lautem Gepolter umfiel. Bioabfälle ergossen sich vor seine Füße.
Einer der Demonstranten mit den Nerzmasken drehte sich zu ihm um. Es war Stefan Moll, der Besitzer der »Pension Moll«. Peer erkannte ihn an seiner bulligen Statur und dem lichten Haupthaar.
»Feind auf neun Uhr, Leute«, rief Moll. Mutter und Tochter Moll folgten seinem Blick und schauten zu Peer.
»Du Sau!«, brüllte Stefan Moll und feuerte einen Farbbeutel in Peers Richtung.
Peer duckte sich, um dem Geschoss auszuweichen. Er sah Lina bittend an, doch die schüttelte nur stumm den Kopf. Ihren Gesichtsausdruck konnte er hinter der Maske nicht erkennen.
Linas Mutter fuchtelte mit ihrem Plakat mit dem sinnigen Slogan »Ein Herz für Nerz« in seine Richtung.
»Hau bloß ab«, schrie sie, und Peer konnte trotz der Maskerade sehen, wie rot ihr Gesicht war. »Dein Vater und du, ihr seid ja noch schlimmer als die Buddenberg!«
Stefan Moll holte neue Munition aus seinem Plastikbeutel und zielte.
Peer nahm die Beine in die Hand und floh. Das Geschoss traf ihn trotzdem.
* * *
Dorothea Nissen betätigte die Kamera wie im Rausch, und das rasende Klicken des Objektivs untermalte das Szenario wie ein Trommelwirbel, der seinem Höhepunkt entgegenstrebte. Die aufgeheizte Stimmung vor dem Laden übertrug sich auf die beiden Akteurinnen, die sich immer mehr in ihre Rollen hineinsteigerten. Rasch arrangierte die Fotografin ein neues Tableau.
Vanessa Schultheis streckte sich rücklings auf dem Verkaufstresen aus. Ihr Nerzmantel fiel zu beiden Seiten auseinander und entblößte nicht nur ihre vollen Brüste, sondern ihren gesamten Körper. Britta Buddenberg mit ihrem weißen Pelz stand auf ihren hochhackigen Schuhen vor ihr und ließ eine Nerzboa langsam über Vanessas empfindliche Partien streichen. Vanessa legte den Kopf nach hinten. Ihre langen Haare hingen wie ein Vorhang vom Tresen herunter. Ihre Lippen waren leicht geöffnet, und sie stöhnte.
Britta Buddenberg lächelte. Dorothea Nissen drückte auf den Auslöser.
»Und jetzt stell dir vor, dass dich jeder sieht«, sagte sie. »Dass die Leute da draußen die Bretter wegreißen und dir zuschauen.«
Vanessa wand sich. Ihr Gesicht nahm einen entrückten Ausdruck an, und ihr Stöhnen verstärkte sich.
Britta kniete sich über ihre junge Gespielin und ließ die Nerzboa zwischen ihren Beinen auf und ab gleiten.
Draußen vor der Boutique zog Thorsten Klinke einen Hammer aus seinem Gürtel. Er hakte ihn hinter eines der Bretter und zerrte daran, als hätte er die Regieanweisung der Fotografin vernommen und arbeitete nun daran, sie umzusetzen.
Das Holz splitterte, und der Balken löste sich aus der Verrammelung.
Helles Licht flutete in den Laden und auf die im Liebesspiel verschlungenen Frauen.
Durch die Menge der Demonstranten ging ein Aufschrei der Empörung. Auch Vanessa Schultheis schrie. Allerdings aus einem ganz anderen Grund.
3
Britta Buddenberg stakste am Flutsaum entlang wie ein Storch im Salat. Etwas anderes war mit den klobigen pelzbesetzten Stiefeln auch kaum möglich.
Die Protestkundgebung am Nachmittag war beendet worden, als einer der Demonstranten einen Stein in die Schaufensterscheibe geworfen hatte. Das gesamte Polizeiaufgebot von St.Peter-Ording war angerückt und hatte die Störenfriede auseinandergetrieben. Sogar für einen Glaser, der das zerbrochene Schaufenster umgehend ersetzte, hatten die Beamten gesorgt. Auf die Staatsgewalt war eben Verlass. Und »Free Nature« hatte zunächst einmal andere Sorgen, als sich über die Pelzboutique zu echauffieren.
Damit war das eine Problem gelöst.
Das andere würde Britta jetzt aus der Welt schaffen. Und dann konnten sie morgen Abend ganz ungestört ihre Aufnahmen am Strand machen. Die Scheinwerfer hatten sie bereits aufgestellt. Zum Glück, denn vielleicht würde sie sie schon heute Nacht brauchen.
Ganz in der Nähe, auf Höhe des Leuchtturms St.Peter-Böhl, sah sie ein Lagerfeuer am Strand. Obwohl das verboten war, ließen sich einige der jungen Leute aus dem Ort nicht davon abbringen. Vielleicht waren es auch Touristen.
Aber jetzt war nicht der rechte Moment, um die Polizei zu rufen. Vielleicht erhöhte die Gefahr, beobachtet zu werden, sogar noch den Reiz ihrer Verabredung.
Britta Buddenberg erreichte die Stelle, die Dorothea für die Aufnahmen ausgewählt hatte. Am Horizont war ein letzter Schimmer des Lichts zu sehen, das sich langsam zurückzog, ein hellblauer Streifen über dem Meer, darüber das Schwarz der hereinbrechenden Nacht, darunter die dunkle See. Glitzerndes Mondlicht brach sich auf den Wellen.
Britta nickte zufrieden und fuhr mit der Hand über eines der stabilen Stative, auf denen vier mannshoch angebrachte Scheinwerfer thronten. Mit der anderen strich sie über den schwarzen Nerzmantel, den am Morgen noch ihr Model Vanessa getragen hatte. Er war ihr bestes Stück, und er hatte unzweifelhaft eine aphrodisierende Wirkung. Dorotheas gelungene Aufnahmen bewiesen das. Und Britta hatte den Mantel genau deshalb gewählt.
Auch wenn es– zumindest von ihrer Seite aus– ein geschäftliches Treffen war, wollte sie doch etwas davon haben.
Sie zog einen Schlüssel aus der Manteltasche und setzte den Generator in Gang, der die vier Scheinwerfer antrieb. Die Lampen begannen zu glühen, erst schwach, wie Glühwürmchen, die langsam Leuchtstoffe durch ihren Körper pumpten, dann strahlend hell. Der Effekt war dramatisch: Der helle Sand und das anrollende Meer mit den weißen Schaumkronen hoben sich wie eine Filmprojektion aus der Dunkelheit über dem Wasser.
Britta schaltete die Scheinwerfer wieder aus und wandte dem Meer den Rücken zu. Ihr Blick wanderte von der dunklen Silhouette des Leuchtturms über den Deich zu den Lichtern, die von der »Arche Noah« am Ende der Seebrücke aus zu sehen waren.
Trotz der Schwierigkeiten mit den Pelzgegnern war es eine gute Entscheidung gewesen, den Neuanfang in St.Peter-Ording zu wagen. Der Ort hatte einfach ein besonderes Flair. Und der Widerstand gegen ihre Unternehmungen würde früher oder später nachlassen. Und dann…
An der Stelle, an der das Lagerfeuer brannte, leuchtete etwas Rotes auf und schoss wie ein Blitz auf sie zu. Instinktiv drehte Britta sich weg und versuchte, sich zu ducken, aber sie war zu langsam.
Ein harter Schlag traf sie in den Rücken, und plötzlich züngelten heiße Flammen auf dem kostbaren Pelz.
Britta Buddenberg schrie auf. Dann lief sie ins Wasser.
4
Gert Stöver marschierte über den Deich in Richtung Süden. Neben ihm ragte der alte Leuchtturm St.Peter-Böhl auf. Alle fünfzehn Sekunden flammte in der Kuppel das Licht auf, erst weiß, dann rot, das den Schiffen draußen auf der Nordsee als Quermarkenfeuer diente. In einiger Entfernung glaubte Stöver die Lichter der »Seekiste« zu erkennen.
Seine Füße in den Gummistiefeln klatschten auf das Pflaster. Die Arme und Beine seiner Regenkleidung scheuerten und gaben bei jedem Schritt ein leises Quietschen von sich. Stövers Herz hämmerte, doch das lag nicht an der Anstrengung.
Heute Nacht würde er die unsichtbare Grenze überschreiten. Er würde das Tabu brechen. Aber es ging nicht anders. Und vielleicht würde es ja niemals jemand herausfinden.
Stöver bewegte die Finger in den gelben Gummihandschuhen, und ein Gefühl freudiger Erregung durchströmte ihn.
Er rannte fast den langen Weg vom Deich zum Strand entlang. Am Flutsaum leuchteten plötzlich Scheinwerfer auf wie bei einem Fußballspiel. Stövers Herz setzte einen Schlag aus. Was, wenn man ihn beobachtete? Erst jetzt wurde ihm bewusst, in welche Gefahr er sich begab.
Die Scheinwerfer erloschen wieder, und Stöver atmete erleichtert auf. Eine Windbö fuhr unter seine Jacke, und er schauderte. Er war schon jetzt schweißgebadet.
Stöver erreichte den Parkplatz vor der »Seekiste« und ging eilig an dem Pfahlbau vorbei, auf dem sich das Restaurant befand. Hinter den Scheiben der Glasterrasse sah er die Gäste, die dort beim Essen saßen. Wenn sie nach draußen schauten, würden sie vor allem ihr eigenes Spiegelbild in der Scheibe sehen, das wusste er aus Erfahrung. Und selbst, wenn sie ihn entdeckten, sahen sie lediglich eine Gestalt in gelber Regenkleidung. Niemand würde wissen, dass er es war.
Stöver passierte den Übergang zum Strand und stiefelte zur Wasserkante. Dann lief er wieder in Richtung Norden.
In einiger Entfernung konnte er ein Lagerfeuer sehen. Noch mehr mögliche Zeugen. Doch das Risiko musste er eingehen. Eine Gelegenheit wie diese würde sich nicht so schnell wieder ergeben.
Plötzlich blieb Stövers Fuß an irgendetwas hängen, und er stürzte der Länge nach in den nassen Sand. Seine Brille flog ihm von der Nase.
Er richtete sich ächzend wieder auf und zog die Gummihandschuhe von den Fingern. Er tastete im Sand nach der Sehhilfe, berührte aber stattdessen das Ding, über das er gestolpert war. Es war groß und unförmig und hatte einen dichten, nassen Pelz.
War er etwa über einen ausgewachsenen Seehund gefallen?
Endlich fand Stöver seine Brille. Er wischte die feuchten Sandkörner von den Gläsern und setzte sie auf. Dann zog er seine Taschenlampe hervor und schaltete sie ein.
Das Licht flammte auf, und Stöver sah sofort, dass er sich getäuscht hatte. Es war kein Seehund. Es war eine Frau. Sie hatte kurze weißblonde Haare und ein wachsbleiches Gesicht. Ihr Mund und ihre Nase waren voller Sand. Ihre Augen waren geöffnet und starrten blicklos in den Sternenhimmel.
Für einen Moment verspürte er so etwas wie Erleichterung. Er würde die Grenze nicht überschreiten. Aber dann fiel ihm ein, dass er jetzt erst recht in Schwierigkeiten steckte.
5
Nils Hansen schreckte hoch, als das Telefon auf dem Tisch neben ihm zu läuten begann. Einen Moment lang wusste er nicht, wo er war. Dann erkannte er die blank polierten Buchenmöbel und den großen Tisch. Er lag in der guten Stube seiner Eltern auf der Couch. Als das Telefon erneut klingelte, wusste er auch, weshalb. Ein stechender Schmerz schoss durch seinen Kopf. Sie hatten am Abend den frisch aufgesetzten Apfelmost seines Vaters verköstigt. Der mochte zwar biologisch einwandfrei sein, hatte es aber nichtsdestoweniger in sich.
Eilig riss Hansen das Mobilteil aus der Station.
»Hallo?«
»POK Becker von der Polizeistation SPO. Spreche ich mit PMHansen?«
Nils Hansen rappelte sich auf dem Sofa auf. Was wollte die Polizei St.Peter-Ording mitten in der Nacht von ihm? Und dann noch in Gestalt des neuen Dienststellenleiters, der, wie er gehört hatte, ein scharfer Hund sein sollte?
»Am Apparat«, sagte er.
»Können Sie herkommen? Wir haben einen Leichenfund.«
Nils Hansen raufte sich die Haare. Er konnte einfach nicht folgen. Seine Dienststelle war die Polizeistation Garding. Mit St.Peter-Ording hatte er nichts zu tun.
Der Polizeioberkommissar am anderen Ende begriff offenbar seinen Zwiespalt, ohne dass er ihn aussprechen musste.
»Ich weiß, Sie sind nicht zuständig. Aber wir sind voll ausgelastet mit dem Spiel morgen.«
»Hm.«
Langsam kamen die Denkprozesse in Hansens Kopf wieder in Gang. Er hatte beim Abendessen mit seinen Eltern darüber gesprochen. Es war das Ereignis des Jahres. Der TSV St.Peter-Ording hatte es geschafft, den FC Schalke04 einzuladen.
»Der Knaller gegen Schalke«, sagte er. »Da springe ich gern ein.«
»Nee«, erwiderte sein Kollege. »Das könnte Ihnen so passen. Aber daraus wird nix. Sie glauben doch nicht, wir erledigen den öden Papierkram wegen der Wasserleiche, während Sie sich beim Fußball amüsieren?«
Nils wollte protestieren, aber der Kollege aus St.Peter-Ording kam ihm zuvor.
»Das ist alles schon abgesprochen«, erklärte er. »Keine Chance. Und außerdem…«, er machte eine Kunstpause, »…hat man Sie angefordert.«
Nils Hansen kniff die Augen zusammen. Er stammte aus Poppenrade, einem kleinen Dorf zwischen Garding und Westerhever. Er hatte eine Menge Bekannte auf Eiderstedt. Den Kollegen von der Polizei in St.Peter-Ording allerdings war er in seinem ersten Dienstjahr in Garding eher selten begegnet. Und er konnte sich kaum vorstellen, dass er dabei einen bleibenden Eindruck hinterlassen hatte.
»Wer?«, fragte er. »Wer hat mich angefordert?«
»Oh«, sagte Becker, und Hansen glaubte zu sehen, wie er grinste. »Eine sehr energische Kommissarin von der Polizeidirektion Husum. Ihr Name ist Katharina Berg.«
* * *
Nils Hansen war plötzlich hellwach. Er stopfte das Mobilteil zurück in die Ladestation und stürzte ins Bad. Eilig putzte er sich die Zähne und glättete die verstrubbelten Haare mit reichlich Wasser und Gel.
Zum Glück hing bei seinen Eltern eine Reserveuniform im Kleiderschrank. Er zog sie über, strich die Jacke glatt und setzte die Dienstmütze auf. Dann begutachtete er sein Erscheinungsbild im Spiegel. Noch immer erfüllte ihn der Anblick mit Stolz, genauso wie die beiden hellblauen Sterne auf seinen Schulterklappen, die ihn als Polizeimeister auswiesen.
Nun gut. Noch besser hätte es ihm gefallen, wenn es mittlerweile drei Sterne wären. Polizeiobermeister. Das war sein Traum. Aber er war ja erst zweiundzwanzig und seit gut einem Jahr dabei. Er durfte nicht ungeduldig werden. Das musste er sich immer wieder sagen. Und wer weiß… Wenn er jetzt erneut in einem Mordfall ermittelte, und das auch noch an der Seite von Katharina Berg– vielleicht würde er dann ja schneller befördert werden, als er dachte. Hauptsache, er blamierte sich nicht wieder so dermaßen vor der attraktiven Kriminalhauptkommissarin wie bei ihrem letzten gemeinsamen Fall. Dann wäre er vermutlich ein für alle Mal bei ihr untendurch.
Erst als er bereits vor dem Wohnhaus stand, fiel ihm ein, dass er kein Auto hatte. Ein Kollege hatte ihn am Freitagabend bei seinen Eltern abgesetzt und wollte ihn am Montagmorgen wieder abholen. Und der Passat seiner Eltern war in der Werkstatt.
6
Katharina Berg ließ den Wagen rollen. Die B 202 zwischen Tönning und St.Peter-Ording war vollkommen leer. Die Wiesen rechts und links der Straße lagen im Mondlicht. Von den Schafen und Kühen, die bei Tag darauf grasten, war nichts zu sehen.
Katharina hatte das schwarze Verdeck ihres roten Fiat Cabrios zurückgeklappt und ihre dunklen Haare mit einem bunten Tuch zusammengebunden. Es war eine laue Sommernacht, und sie genoss den milden Fahrtwind, der ihr ins Gesicht wehte.
Der Anruf von Polizeioberkommissar Becker, der sie über den Leichenfund am Strand von St.Peter-Ording informiert hatte, war genau im richtigen Moment gekommen. Die ausgelassene Stimmung bei der Feier nach der letzten Vorstellung von Bertolt Brechts »Mann ist Mann« am Hamburger Thalia-Theater war soeben gekippt, und die Darsteller, die sich gerade noch überschwänglich in den Armen gelegen hatten, waren plötzlich wie die Hyänen aufeinander losgegangen. Wie das am Theater eben so war. Statt sich am gemeinsamen Erfolg zu freuen, neidete man den Kollegen den Applaus, der vielleicht eine Nuance euphorischer ausgefallen war als der eigene.
Katharina hatte sich von ihrer Mutter verabschiedet, die bei dem Stück wieder einmal ihre Nachfolgerin bei der Inspizienz vertreten hatte. Obwohl Ellen Berg bereits seit mehr als einem Jahr im Ruhestand war, kam man nicht ohne sie aus. Die Neue war einfach kein Glücksgriff gewesen.
Katharina war durch das nächtliche Hamburg gefahren, in dem das Leben in einer Sommernacht wie dieser pulsierte, und von da über die beinahe leere Autobahn und dieB 5 bis nach Tönning. Seit sie dort auf die B 202 abgebogen war, war ihr keine Menschenseele mehr begegnet.
Katharina durchquerte Garding und gab wieder Gas, als sie das Ortsausgangsschild passierte. Dann trat sie hart auf die Bremse.
Direkt vor ihr zuckelte ein Traktor mit einem Anhänger mit defekten Rücklichtern. Fast wäre sie aufgefahren.
Sie drückte auf die Hupe und überholte den Trecker. Ungeduldig streckte sie den Arm aus und forderte den Fahrer mit einer auf- und abwinkenden Bewegung zum Halten auf.
Sie stoppte, als der Traktor hinter ihr zum Stehen kam und der wummernde Motor mit einem letzten Aufröhren erstarb.
Katharina stieg aus dem Cabrio und ging mit energischen Schritten auf das landwirtschaftliche Gefährt zu. Sie sah, wie der Fahrer aus der Kabine kletterte und verlegen neben dem riesigen Hinterrad stehen blieb.
»Moin«, rief sie. »Wissen Sie, dass Ihre Rücklichter kaputt sind?«
Erst jetzt fiel ihr auf, dass der vermeintliche Bauer eine blaue Uniform samt dazugehöriger Schirmmütze trug. Unter der Mütze sahen strohige rote Haare hervor. Auf den Schulterklappen prangten zwei hellblaue Sterne.
Katharina lachte auf.
Der Treckerfahrer war kein anderer als Polizeimeister Nils Hansen, mit dem sie vor knapp einem Jahr den Fall des ermordeten Pornoproduzenten Ricardo Reiter geklärt hatte. Sein Gesicht hatte wieder die Farbe angenommen, die es schon damals ständig gehabt hatte: Es war knallrot angelaufen.
»Frau Berg«, stotterte Hansen. »Nee. Das wusste ich nicht. Das mit dem Rücklicht, meine ich.«
Katharina legte den Kopf schief.
»Was tun Sie überhaupt mitten in der Nacht mit diesem Gefährt auf der Straße?«
Hansen rückte umständlich seine Dienstmütze zurecht.
»Na ja«, sagte er. »Kommissar Becker von der Polizeistation St.Peter-Ording meinte, ich solle so schnell wie möglich zum Tatort kommen.«
Katharina zog eine Augenbraue hoch.
»Aha. Und da fällt Ihnen kein anderes Fahrzeug ein als ein Traktor mit Anhänger?«
Hansen stemmte die Hände in die Seiten. Er sah ernstlich beleidigt aus.
»Was hätte ich denn tun sollen? Ich war bei meinen Eltern. Ein Kollege hat mich am Freitag nach Dienstschluss da abgesetzt und wollte mich am Montag wieder abholen. Und der Wagen meiner Eltern ist zur Inspektion in der Werkstatt.«
Katharina tat so, als müsse sie nachdenken.
»Hm«, sagte sie dann. »Und Sie sind nicht auf die Idee gekommen, mich anzurufen, damit ich Sie abhole?«
Hansens Mundwinkel sackten nach unten. Er erwiderte nichts. Aber das war auch nicht nötig.
7
Polizeioberkommissar Lutz Becker von der Polizeistation St.Peter-Ording wartete auf dem Parkplatz neben der »Seekiste«. Im Lokal oben auf dem Pfahlbau brannten nur einige wenige gelbliche Laternen. Sie spiegelten sich in den Scheiben der Glasterrasse, die wie ein Gewächshaus aussah. Das Restaurant dahinter lag im Dunkeln.
Katharina Berg stieg aus dem Wagen und klappte das Verdeck ihres Cabrios zu. Sie band das bunte Kopftuch ab, das sie zum Schutz gegen den Fahrtwind getragen hatte, und schüttelte ihre dunklen Haare aus. Auf der anderen Seite schälte sich Polizeimeister Nils Hansen aus dem Sitz.
Katharina warf einen Blick auf das Restaurant. Zum Glück war es bereits geschlossen. Früher am Abend hätten sie vermutlich einen kompletten Zug von der Polizeidirektion für Aus- und Fortbildung in Eutin benötigt, um die Schaulustigen im Zaum zu halten.
Der uniformierte Polizist, der am Strandübergang wartete, war um die fünfzig, groß und hager. Die Haare, die unter der Dienstmütze hervorschauten, waren grau und militärisch kurz geschnitten. Als Katharina den Wagen abschloss, kam er auf sie zu.
»Moin. KHK Berg?«, fragte er und reichte ihr die Hand.
Katharina nickte.
»POK Becker, Polizeistation SPO. Meine Leute haben den Tatort fürs Erste gesichert. Der Auffindungszeuge wartet da drüben.« Er deutete auf einen Mann, der etwas verloren neben einer der Laternen in der Nähe des Strandübergangs stand. In seiner gelben Kleidung war er gut zu sehen.
Becker hob den Arm und tippte auf seine Uhr.
»Meine Leute müssen ins Bett«, erklärte er. »Wir haben morgen das Spiel gegen Schalke.«
Katharina musterte den Kollegen. Ein Leichenfund am Strand schien ihn nicht sonderlich zu beeindrucken.
»Ach so?«, fragte sie scheinheilig. »Ihre Leute spielen Fußball? Und das sogar gegen einen Bundesligisten?«
Polizeioberkommissar Becker verdrehte die Augen. »Nee. Natürlich nicht. Spielen tun die Jungs vom TSV St.Peter-Ording. Meine Männer passen bloß auf.«
»Ach so.« Katharina schenkte ihm ein mädchenhaftes Lächeln. »Aber dieser Interessenkonflikt hat Sie sicher nicht davon abgehalten, im Fall der Wasserleiche alle nötigen Schritte zu unternehmen.«
Becker musterte sie finster.
»Nee. Auch wenn Sie das nicht glauben. Wir sind hier nicht in der Provinz. Wir verstehen unsern Job.«
»M-hm.«
»Wir haben den Tatort weiträumig abgesperrt. Die Spurensicherung vomK6 der BKI Flensburg ist unterwegs. Und der Rechtsmediziner aus Kiel auch.«
»Gut.« Katharina öffnete den Kofferraum ihres Wagens und tauschte ihre bequemen Sneakers gegen ein Paar Gummistiefel. Soweit man ihr berichtet hatte, lag die Leiche halb im Wasser.
»Wissen wir schon, wer die Tote ist?«, erkundigte sie sich.
Kommissar Becker zog einen eng beschriebenen Zettel aus der Jackentasche.
»Britta Buddenberg, zweiundvierzig, wohnhaft in der Schräggeest in St.Peter-Dorf. Lebt aber noch nicht lange dort.«
»Ach ja?«
»Sie ist vor drei Monaten mit ihrer Halbschwester aus Hamburg hergezogen«, erklärte Becker. »Haben hier eine Boutique eröffnet.«
Was in einem Ort wie St.Peter-Ording nicht besonders ungewöhnlich war.
»Hat eine Menge Ärger gegeben deswegen«, fuhr der Kollege fort. »Gerade heute erst hatten wir eine Demo. Wir mussten sie auflösen, weil einer der Teilnehmer einen Stein in die Schaufensterscheibe geworfen hat.«
»Ach.« Katharina sah den Kollegen interessiert an. »Wer hat denn da demonstriert? Und weshalb?«
Becker zuckte mit den Schultern.
»Tierschützer. ›Free Nature‹ heißt die Organisation. Haben zum Protest aufgerufen gegen den Pelzladen von der Buddenberg ›Im Bad‹.«
Katharina runzelte die Stirn. »Das Geschäft heißt ›Im Bad‹?«
Kommissar Becker stöhnte.
»Nee. ›Im Bad‹ ist unsere Hauptgeschäftsstraße. Der Laden heißt ›Venus‹.«
»Soso.« Katharina legte den Kopf schief. »Und was ist der Stein des Anstoßes?«
Der Kommissar bedachte sie mit einem Blick, als hätte er erhebliche Zweifel daran, dass sie geeignet war, einen Kriminalfall zu lösen.
»Pelze. Das sag ich doch.«
Katharina lächelte zuvorkommend. »Verzeihung. Ich wollte nur sichergehen. Bei dem Namen könnte man ja auch an etwas anderes denken.«
Becker sah sie verständnislos an. Offenbar war er nicht besonders bewandert in der romantischen Literatur.
Zwei weiße VW-Busse bogen auf den Parkplatz und unterbrachen das Gespräch. Die Beamten der Flensburger Spurensicherung kletterten heraus und schlüpften in ihre Schutzanzüge.
Max Meier, der Leiter der Kriminaltechnik, blieb vor Katharina stehen und gab ihr lächelnd die Hand. Nils Hansen sah verstimmt zu, wie sich Katharinas Gesicht aufhellte. Dann drehte sich Meier um und begrüßte Hansen und Becker. Seine Stimme war so tief, dass Hansen das Vibrieren beinahe körperlich spürte.
Hansen nickte nur knapp und wandte sich eilig ab, um scheinbar interessiert den Spurensicherern beim Auspacken ihrer Ausrüstung zuzusehen. Neben Männern, die so attraktiv waren wie Meier mit seinen vollen dunklen Haaren und dem kurz gestutzten Bart, fühlte er sich immer unwohl. Wenn sie darüber hinaus auch noch derart sonor und männlich klangen, traute er sich nicht einmal mehr, den Mund aufzumachen.
Polizeioberkommissar Becker setzte Meier mit ein paar kurzen Worten ins Bild. Dann nahmen die Kriminaltechniker ihre Koffer aus den Wagen und marschierten zum Strand, mumienhafte Gestalten, die seltsam unwirklich wirkten.
Katharina schaute zu dem gelb gekleideten Zeugen. »Und wer ist der Mann?«, erkundigte sie sich.
Polizeioberkommissar Becker reichte ihr den Zettel, auf dem er die Daten der Toten und des Auffindungszeugen notiert hatte.
»Gert Stöver. Inhaber der ›Segeltruhe‹. Übrigens…«, Becker beugte sich vertraulich zu Katharina, »…auch einer von denen, die gegen die Boutique von der Buddenberg demonstriert haben.«
»Und Sie meinen, da gibt es einen Zusammenhang?«
Kommissar Becker verzog das Gesicht.
»Nee. Die Stövers sind anständige Leute. Gert hat einen Anwalt eingeschaltet, der gegen die Boutique vorgeht. Der würde sich nicht die Hände schmutzig machen.«
»Immerhin hat er Handschuhe dabei«, bemerkte Nils Hansen.
»Jo.« Becker sah zu dem Zeugen hinüber. »Versteh ich auch nicht. Aber Sie können ihn ja fragen.« Er schaute demonstrativ auf seine Armbanduhr.
»Ja, ja, ich weiß. Ihre Leute müssen ins Bett«, sagte Katharina. »Wir übernehmen.«
Becker nickte zufrieden und zog sein Funkgerät hervor, um seine Kollegen zu informieren.
Katharina sah zu, wie er zu einem der Streifenwagen ging, die auf dem Parkplatz standen.
»Ach ja«, rief sie ihm nach. »Viel Erfolg morgen gegen Schalke.«
Becker hob den Daumen. Dann verschwand er hinter seinem Lenkrad und ließ den Motor an. Der aufflammende Scheinwerfer blendete Katharina.
Sie winkte Nils Hansen, ihr zu folgen, und marschierte zum Strandübergang. Als sich das im Mondlicht glänzende Meer vor ihr auftat, blieb sie stehen.
»Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, dass wir uns um die Wasserleiche kümmern und nicht um den Fußball.«
Nils Hansen seufzte schwer.
»Na ja. Ich hätte das Spiel schon gerne gesehen.« Er deutete zur Wasserkante, wo mehrere hohe Scheinwerfer ein Stück Strand beleuchteten, auf dem sich die weiß gekleideten Beamten der Spurensicherung tummelten. »Aber wir können die Tote ja schlecht bis morgen Abend liegen lassen.«
Was eine– vollkommen richtige– Feststellung war. Und man brauchte schon feine Ohren, um das Fragezeichen zu hören, das Nils Hansen am Ende angefügt hatte. Doch Katharina Berg entging so leicht nichts.
* * *
Die Tote lag auf dem Rücken im Sand. Sie war eine schlanke Frau mit kurzen weißblonden Haaren und trug einen langen schwarzen Nerzmantel und pelzbesetzte Stiefel. Das Wasser hatte die Schminke von ihrem Gesicht gewaschen. Lippen und Augenbrauen waren vom Salz verkrustet. Trotzdem strahlte sie etwas Aristokratisches aus.
Die Kollegen von der Polizeistation St.Peter-Ording hatten den Fundort in der Tat weiträumig abgesperrt. Das rot-weiße Flatterband umfasste ein Areal, das in etwa die Ausmaße eines Fußballfeldes hatte. Viel Arbeit für die Beamten von der Spurensicherung. Und das in einem Fall, bei dem noch nicht einmal sicher war, ob es sich überhaupt um einen Mord oder nur um einen Unfall handelte. Doch das würde sich ja in Kürze klären.
Katharina hob den Blick und betrachtete die vier großen Scheinwerfer, die um den Leichnam herumstanden und das Szenario erhellten. Sie sahen nicht so aus wie die Geräte, die ihre Kollegen für gewöhnlich benutzten.
Einer der Beamten von der Spurensicherung trat neben sie.
»Das nenne ich mal Service«, sagte er und deutete nach oben. »Da hatte jemand schon die Beleuchtung aufgebaut, gleich neben der Leiche. Wir mussten die Scheinwerfer lediglich ein Stück verrücken.«
Katharina runzelte die Stirn. »Sie meinen, das ist eine makabre Inszenierung?«
Der Kriminaltechniker schüttelte den Kopf. »Nee. Die Lampen stehen schon länger, als die Tote hier liegt.«
»Ach so?« Katharina warf einen Blick zu Nils Hansen, der sich ratlos am Kopf kratzte.
Der Mann von der Spurensicherung schmunzelte.
»Diese Art von Scheinwerfern wird gern von Fotografen verwendet«, erläuterte er. »Ich nehme an, jemand hat hier eine nächtliche Session geplant.«
Katharina Berg nickte nachdenklich.
»Die Tote hatte eine Boutique«, erklärte sie. »Sie verkauft Pelzmode. Was offenbar nicht jedem hier im Ort gefällt.«
»Kann ich verstehen«, bemerkte der Kriminaltechniker. Er zeigte auf den Leichnam. »Das ist ein sehr teurer Nerzmantel, den die Tote trägt. Und die pelzbesetzten Stiefel sind ebenfalls von hoher Qualität. Aber das wirklich Interessante kommt noch.«
Er beugte sich zu der Toten hinunter und öffnete den schweren Mantel.
Nils Hansen schluckte. Er spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht schoss.
Unter dem Mantel war Britta Buddenberg nackt.
Hansen bekam weiche Knie. Als er das letzte Mal mit Katharina Berg zusammengearbeitet hatte, war es um einen toten Pornoproduzenten gegangen, und er, Nils, hatte die gesammelten Filme des Ermordeten sichten müssen. Was ihn nicht nur einmal in eine peinliche Situation gebracht hatte. Und nun das. Sollte er etwa schon wieder in einem Fall ermitteln, der ihn an seine persönlichen Grenzen führte?
Katharina Berg beobachtete amüsiert das Mienenspiel auf Nils Hansens erhitztem Gesicht. Auch sie erinnerte sich noch gut an seine Reaktionen auf die Werke des Filmemachers. So, wie es aussah, hatte sich an Hansens verklemmter Einstellung zu diesem Thema im vergangenen Jahr nichts geändert.
»Das muss an Ihnen liegen«, sagte sie.
»Was?« Hansen richtete seine Dienstmütze neu aus.
»Diese erotischen Verwicklungen.« Katharina zwinkerte ihm zu. »Normalerweise sind die Motive bei den Fällen, die ich bearbeite, Neid oder Gier oder Eifersucht. Aber jedes Mal, wenn Sie dabei sind, geht es um Sex.«
8
Der Auffindungszeuge saß im VW-Bus der Spurensicherung. Sein graues Haar war verschwitzt, sein Gesicht gerötet, und auf seiner Stirn standen Schweißperlen. Trotzdem hatte er seine Regenjacke nicht ausgezogen. Nicht einmal den Reißverschluss hatte er geöffnet. Lediglich die Kapuze hatte er abgenommen.
Katharina gab ihm die Hand.
Auch sie war feucht.
Sie setzte sich dem Mann gegenüber und blickte auf den Zettel, den ihr Polizeioberkommissar Becker gegeben hatte. Nils Hansen blieb neben der offenen Wagentür stehen.
»Sie sind Herr Gert Stöver?«, fragte Katharina.
Stöver nickte.
»Sie haben die Tote gefunden?«
Stöver nickte wieder, sah ihr aber nicht in die Augen. Offenbar gehörte er zu jener Spezies wortkarger Menschen, die auf der Halbinsel Eiderstedt reichlich vertreten war. Eine Eigenart, die Katharina als angenehm empfand, wenn sie einen ruhigen und beschaulichen Strandurlaub verbringen wollte. Waren die betreffenden Zeitgenossen in eine Ermittlung verwickelt, fand sie dasselbe Verhalten allerdings ausgesprochen lästig, weil man den Leuten jede Information einzeln aus der Nase ziehen musste.
»Erzählen Sie uns doch bitte, was passiert ist«, bat sie und mahnte sich innerlich zu mehr Geduld.
»Ja«, schnaufte Stöver, »also…«
Nils Hansen zog ein Stofftaschentuch aus der Hosentasche und hielt es dem Zeugen hin. Der nahm es dankbar entgegen und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Ich konnte nicht schlafen«, erklärte Stöver endlich. »Deshalb habe ich einen Spaziergang gemacht. Wir wohnen nicht weit von hier.« Wieder tupfte er an seiner Stirn herum.
Katharina spürte, wie ihr linkes Auge zu zucken begann. Das tat es immer, wenn sie kurz davor war, zu explodieren.
»Warum ziehen Sie nicht Ihre Jacke aus?«, fragte sie gereizt.
Stöver machte ein erschrockenes Gesicht.
»Nein. Danke.« Er wedelte mit den Händen. »Mir ist nicht zu warm.«
Katharina sah bedeutungsvoll auf das feuchte Taschentuch in seinen Fingern.
Stöver folgte ihrem Blick.
»Das… das ist nur… die Aufregung«, stotterte er.
Katharina lehnte sich zurück. »Wie Sie meinen. Bitte. Erzählen Sie weiter.«
»Ich bin oben auf dem Deich langgegangen. Dann durch die Salzwiesen zur ›Seekiste‹ und von dort unten am Wasser entlang zurück.« Stöver lächelte schief. »Ich mag das Mondlicht auf den Wellen.« Für einen Augenblick schienen seine Gedanken abzugleiten. Dann riss er sich wieder zusammen.
»Ich habe Scheinwerfer gesehen, die plötzlich aufleuchteten«, berichtete er. »Aber als ich an der Stelle war, war alles wieder dunkel. Und dann bin ich über etwas gestolpert. Ich habe meine Brille verloren. Als ich sie schließlich wiedergefunden hatte, habe ich gesehen, dass es eine Frau war. Frau Buddenberg.«
»Sie kennen die Tote?«
Stövers Gesicht verzog sich zu einer Grimasse, die Katharina nicht deuten konnte.
»Selbstverständlich«, erklärte er. »Wir sind Nachbarn. Geschäftsnachbarn. Sie betreibt den Laden neben unserem.« Er richtete sich ein wenig auf. »Meiner Frau Gesine und mir gehört die ›Segeltruhe‹«, erklärte er. »Wir führen Yachtsportbekleidung.«
»Ach so?« Katharina musterte Stövers Friesennerz. Er entsprach nur bedingt ihrer Vorstellung von funktionaler Wetterkleidung. Sie konsultierte erneut Polizeioberkommissar Beckers Zettel.
»Hier steht, Frau Buddenberg ist die Inhaberin der Boutique ›Venus‹. Sie verkauft Pelzmäntel.«
Stöver zog am Material der gelben Regenjacke, das an seinem Körper zu kleben schien. Er sah nicht so aus, als fühlte er sich besonders wohl in seiner Haut.
»Wenn es nur das wäre«, beklagte er sich. »Aber sie schadet auch dem Image. Sie vertreibt unsere Kundschaft. Weil sie…«, er hustete, »…Spielzeug verkauft.«
»Spielzeug?«
»Na ja.« Stöver wand sich. »Sie wissen schon. Nicht für Kinder. Für Erwachsene.« Er kniff die Lippen zusammen und schien nicht gewillt, seine Andeutung weiter zu erläutern. Aber das war auch nicht nötig. Katharina konnte sich vorstellen, was er meinte. Zusammen mit seiner sonderbaren Bekleidung ergab sich ein interessantes Bild.
»So«, sagte sie leichthin. »Und Sie waren erstaunt, dass Sie Frau Buddenberg dort gefunden haben?«
Stöver ballte die Fäuste auf dem Tisch. »Natürlich war ich überrascht. Meinen Sie, ich erwarte, am Strand über eine Leiche zu stolpern?«
Katharina lächelte fein. »Nein. Aber womöglich haben Sie damit gerechnet, Frau Buddenberg zu begegnen.«
Stövers Adamsapfel hüpfte auf und ab. »Warum sollte ich?«
»Ich dachte, Sie hatten vielleicht vor, sich mit ihr zu treffen«, sagte Katharina.
Ein Schweißtropfen perlte von Stövers Stirn und tropfte auf seine gelbe Gummihose.
»Meine Frau und ich klagen gegen diese Person, damit der Schweinkram bei uns nebenan aufhört. Glauben Sie im Ernst, da würde ich mich mit ihr verabreden?«
Katharina dachte an die Tote, die unter ihrem langen Pelzmantel nackt gewesen war. Was würden sie wohl zu sehen bekommen, wenn Stöver seine Regensachen auszog?
»Sie haben ein ungewöhnliches Outfit für Ihren Spaziergang gewählt«, bemerkte sie. »Wir hatten heute fast dreißig Grad. Und die Nacht ist sternenklar. Haben Sie befürchtet, es könnte trotzdem regnen?«
Gert Stöver reckte das Kinn. »Nein. Habe ich nicht. Ich wollte bloß meine Frau nicht wecken. Deswegen habe ich angezogen, was gerade greifbar war. Und das sind eben meine alten Segelsachen. Die hängen in der Garage.«
Katharina musterte den Mann. Womöglich war die Lösung des Rätsels tatsächlich so simpel, und Stöver trug unter dem Regenmantel einen abgewetzten Schlafanzug, den zu zeigen ihm peinlich war. Aber ihr Gefühl sagte ihr, dass das nicht der wahre Grund für seinen Aufzug war.
Einer der Spurensicherer steckte seinen Kopf durch die Wagentür.
»Frau Berg?« Er hielt einen großen Plastikbeutel hoch, in dem sich der Nerzmantel der Toten befand. »Ich dachte, Sie wollen sich das vielleicht mal ansehen. Das sind Brandlöcher.«
Katharina zog den Beutel zu sich heran. Auf der Rückseite des Mantels befanden sich mehrere hässliche Flecken, an denen der Pelz versengt war. Ein Indiz dafür, dass der Tod der schönen Boutiquebesitzerin kein Unfall gewesen war.
»Wir müssen natürlich das Ergebnis der kriminaltechnischen Untersuchung abwarten. Aber wenn ich raten sollte, würde ich sagen, die Frau wurde mit einer Leuchtkugel beschossen«, erklärte der Spurensicherer. »Der Pelz ist in Brand geraten, und sie ist ins Wasser gelaufen. Das kann man noch erkennen, auch wenn die Spuren ziemlich verwischt sind. Offenbar ist irgendjemand über die Leiche gestolpert.«
Gert Stöver zog den Kopf ein.
»Der Mantel hat sich mit Wasser vollgesogen und sie nach unten gezogen«, fuhr der Beamte von der Spurensicherung fort. »Möglicherweise hat auch jemand ihren Kopf unter Wasser gedrückt. Der Täter hat wohl gehofft, dass das Meer sie mitnimmt. Aber wir haben Flut. Das auflaufende Wasser hat sie wieder an Land gespült.«
Katharina Berg fixierte Gert Stöver. »Damit haben Sie natürlich nicht gerechnet.«
Stöver riss entsetzt die Augen auf.
»Nein«, stammelte er. »Das war ich nicht. Ich bin doch nur spazieren gegangen.«
Katharina lächelte.
»Dann haben Sie sicher auch nichts dagegen, dass wir Sie durchsuchen.«
Sie winkte Nils Hansen, der den Zeugen aus dem VW-Bus bugsierte. Das war endlich mal etwas, das er im Schlaf beherrschte. Die Ausbildung an der Polizeischule in Eutin war schließlich solide.
»Hände an den Wagen«, befahl er. »Und die Beine auseinander.«
Gert Stöver hob die Arme und stützte sich am Polizeiauto ab. Hansen schob seine Füße auseinander und klopfte ihn von oben bis unten ab, erst den Rumpf, dann die Beine. Es quietschte wie bei einem Spaziergang in nassen Schuhen. Von Stövers Stirn liefen dicke Schweißperlen in den Halsausschnitt seiner Regenjacke. Er sah aus, als würde er keine Luft mehr bekommen.
Schließlich ließ Nils Hansen die Hände sinken.
»Nichts«, sagte er enttäuscht. Er packte Stöver am Kragen und drehte ihn zu sich herum. »Aber Sie hatten ja auch jede Menge Zeit, die Waffe verschwinden zu lassen.«
Möglichkeiten dazu bot der Tatort genug. Stöver konnte die Leuchtpistole ins Meer geworfen oder im Sand vergraben haben. Oder er hatte sie einfach in einen Papierkorb gesteckt.
Stöver wischte sich mit Hansens Taschentuch über das Gesicht und sah Katharina flehentlich an.
»Sie müssen mir das glauben«, beteuerte er. »Ich habe Frau Buddenberg nichts getan. Ich…«
Stöver hielt inne und blickte zum Strandübergang. Er schluckte aufgeregt.
»Da war noch jemand«, berichtete er. »Am Strand. Da hat ein Feuer gebrannt. Ein Stück weiter nördlich. Etwa auf Höhe des Leuchtturms St.Peter-Böhl. Vielleicht ist von dort aus geschossen worden.«
Katharina fixierte Gert Stöver. Er sah nicht so aus, als wäre er noch in der Verfassung, sich Ausflüchte auszudenken. Aber vielleicht war er auch nur ein guter Schauspieler.
Sie stieg aus dem VW-Bus.
»Kommen Sie«, sagte sie zu Nils Hansen. »Das sehen wir uns an.«
Stöver tupfte sich mit dem Taschentuch über die Stirn. »Und ich?«