An der Förde singt der Tod - Bengt Thomas Jörnsson - E-Book

An der Förde singt der Tod E-Book

Bengt Thomas Jörnsson

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Beschreibung

Ein gelungener Mix aus Spannung, Action und Ostseeflair. Bei den Dreharbeiten zur neuen Castingshow "Damp sucht den Topstar" wird die Moderatorin Lydia Kayser brutal erwürgt. Der Fall führt Paul Beck und Nick Harder in eine Welt voller Geheimnisse und Intrigen, talentierter Zweifler und selbstverliebter Egozentriker. Als die Ermittlungen ins Stocken geraten, entschließen sich die Beamten zu einem riskanten Schritt: Sie schleusen Becks Freundin Lotta Lundkvist undercover als neue Moderatorin ein. Eine folgenschwere Entscheidung ...

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Bengt Thomas Jörnsson, geboren 1969 in Bremerhaven, ist Pädagoge, Germanist und promovierter Psychologe. Bevor er sich ganz dem Schreiben gewidmet hat, war er einige Jahre in der Wissenschaft tätig. Jörnsson ist verheiratet und lebt und arbeitet in Kiel.

www.joernsson.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

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© 2019 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: ndanko/photocase.de

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Carlos Westerkamp

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-462-9

Originalausgabe

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To dream the impossible dream …

… This is my questTo follow that starNo matter how hopelessNo matter how far …

»Man of La Mancha«, Joe Darion & Mitch Leigh

1

Das Panorama war ein Traum. Der Blick über den endlos langen weißen Strand und die türkis schimmernde Ostsee in den hohen sattblauen Julihimmel, an dem ein paar weiße Möwen vorbeizogen. Davor die Bühne, ein großer, nach vorn offener Kasten mit einer Reihe von Scheinwerfern an der Front. Die Zuschauertribüne, eine futuristische Metallkonstruktion mit Sitzreihen, die sich in Stufen nach oben zogen und insbesondere in den letzten Reihen eine grandiose Aussicht boten, war gut gefüllt.

An dem breiten, zur Seeseite hin verkleideten und mit den geschwungenen Buchstaben »DSDT« beschrifteten Tisch, der sich zwischen Zuschauern und Bühne befand, saßen drei Personen, die Gesichter zum Podium gewandt. Ihre Aufmerksamkeit richtete sich auf die Sängerin, die dort gerade den Ohrwurm »Atemlos« vortrug. Sie war hübsch, sehr groß und schlank und sonnengebräunt. Blonde Locken ergossen sich über ihre Schultern. Das Kleid, das sie trug, war ein pinkfarbener Hauch, der gleichfarbige Lippenstift vielleicht eine Spur zu dick aufgelegt. Um sie herum bemühten sich einige gut gebaute Männer in ebenfalls pinkfarbenen Kostümen um eine tänzerische Interpretation des Liedes.

Als die letzten Takte verhallt waren, erklang Applaus. Die Sängerin verbeugte sich. Die Tänzer verschwanden in den Kulissen. Dafür betrat eine weitere Frau die Bühne. Sie sah beinahe wie eine Zwillingsschwester der Sängerin aus, ebenso groß und schlank und braun gebrannt und gelockt. Statt platinblond waren ihre Haare allerdings dunkel, fast schwarz, und der rote Lippenstift war deutlich dezenter.

Sie hob ihr Mikrofon an den Mund und streckte den anderen Arm in Richtung der Sängerin aus.

»Chantale Hellweger«, rief sie, und das Publikum klatschte erneut.

»Eine tolle Songauswahl«, sagte die Moderatorin. »Danke, Chantale. Ich fand es super, aber die Frage ist natürlich, was die Profis sagen.« Wieder eine große Geste, untermalt von einem blauen Streiflicht von einem der Spots und einer Fanfare, die aus den Lautsprechern ertönte. »Chantale, hier ist dein Juryurteil.«

Die Scheinwerfer richteten sich auf die drei Personen an dem langen Tisch.

»Vivienne. Wie hat es dir gefallen?«

Die Frau, die von der Bühne aus gesehen auf der linken Seite saß, richtete sich ein wenig auf. Sie war klein und schmal und hatte kurze dunkle Haare.

»Das war eine gute Leistung, Chantale«, verkündete sie. »Sehr sicher, auch wenn ich den einen oder anderen schiefen Ton gehört habe. Aber deine Interpretation war schön. Und du siehst toll aus.«

»Danke, Vivienne«, rief die Moderatorin. »Kristian?«

Der Mann auf dem Platz in der Mitte rührte sich. Auch im Sitzen erkannte man, dass er sehr groß war, außerdem dunkelhaarig und ausgesprochen gut aussehend.

»Du hast schön gesungen. Und du hast ein gutes Timing«, erklärte er. »Die Choreografie war geschickt gewählt. Du kannst dich toll bewegen. Da kommt was rüber, auch wenn du an einigen Stellen nicht ganz im Takt warst.«

»Danke, Kristian.« Die Moderatorin applaudierte und wandte sich an den zweiten Mann, der rechts am Tisch saß. »Dann hören wir jetzt, was unser Pop-Gigant zu deinem Auftritt sagt. Dennis!«

Der Angesprochene grinste. Er war mittelgroß und blond, die Haare an den Seiten kurz, oben länger, mit einer angedeuteten Tolle, die ihm in die Stirn fiel. Er trug ein blaues Camp-David-Poloshirt, das über seinem runden Bauch spannte.

»Meine Kollegen haben wie immer nicht richtig hingehört und hingesehen«, erklärte er mit einer Stimme, die hoch und ein wenig quäkend war. »Da war kein einziger falscher Ton und auch kein falscher Takt. Du hast das Lied großartig gesungen. Helene macht das nicht besser. Und du siehst top aus. Bei dir stimmt das Gesamtpaket. Dein ganzer Auftritt war der Hammer.«

Sängerin Chantale und die Moderatorin lächelten strahlend, das Publikum spendete enthusiastisch Beifall.

»Haben die denn Tomaten auf den Ohren?« Nick Harder schlug mit der flachen Hand auf die Sofalehne und deutete auf den Fernseher. »Die kann doch überhaupt nicht singen.«

Watson, der schwergewichtige orangebraune Kater, der zu Harders Füßen saß, hob ihm den Kopf entgegen und wimmerte.

»Hörst du?« Nick zeigte auf den Kater. »Er gibt mir recht. Aber diese sogenannte Jury …«

Paul Beck, der im Wohnraum seiner kleinen Kate am Herd stand und sich eine Tote Tante mixte – Kakao mit Sahne und einem Schuss Rum –, schaute mäßig interessiert zum Fernseher. Dort lief gerade eine Folge von »Damp sucht den Topstar – DSDT«. Wie Nick ihm erklärt hatte, die norddeutsche Variante von »Deutschland sucht den Superstar«, DSDS, der Nachwuchstalent-Suche eines sehr bekannten deutschen Plattenproduzenten auf einem noch bekannteren Privatsender. Ein ähnlicher Sender war es auch, der die neue Show ausstrahlte, die gerade im Ostsee-Resort Damp gedreht wurde.

Beck war das alles herzlich egal. Er mochte klassische Musik und alte französische Schwarz-Weiß-Filme, und weder das eine noch das andere gab es auf diesem Sender, deshalb schaltete er ihn nie ein. Nick zuliebe hatte er eine Ausnahme gemacht.

Er nahm seinen Kakaobecher und ließ sich in den Fernsehsessel sinken. Nach Chantale kamen noch ein paar weitere Kandidaten. Die Jury hob einige in den Himmel und bedachte andere mit vernichtenden Kommentaren, allen voran der Produzent Dennis Boland: »Deine Stimme klingt wie eine Klospülung« oder »Wenn ich furze, hört sich das besser an als dein Gesang« waren noch die geistreicheren davon. Beck leerte seinen Kakaobecher und stemmte sich wieder hoch. So gemütlich der Sessel auch war, diese Sendung war unerträglich.

»Ich gehe noch eine Runde mit Watson um den Block«, sagte er.

Nick, der gebannt am Bildschirm hing, schaute ihn irritiert an.

»Watson ist kein Hund, sondern ein Kater. Der geht allein raus.«

»Tut er eben nicht.« Beck deutete auf seinen Hausgenossen, der sich auf dem Teppich vor dem Sofa räkelte und mit der Pfote über sein ausgefranstes linkes Ohr strich. »Er frisst nur noch und bewegt sich ansonsten nicht von der Stelle.«

Paul griff zu und klemmte sich den Kater unter den Arm. Nick zeigte auf den Fernseher.

»Du willst doch nicht jetzt gehen? Gerade wo es spannend wird? Das sind die Live-Shows. Da fliegen jedes Mal zwei raus. Und das Voting der Zuschauer, die darüber entscheiden, kommt gleich.«

Beck öffnete die Terrassentür.

»Ich nehme nicht an, dass es deswegen Mord und Totschlag gibt«, bemerkte er und trat hinaus, den strampelnden Kater fest an sich gepresst. Anscheinend hätte der die Publikumsentscheidung auch gern gesehen. Doch Beck hatte nicht die Absicht, sich umstimmen zu lassen.

»Du kannst ja tun und lassen, was du willst«, sagte er zu Harder. »Aber ich schaue mir diesen Schwachsinn nicht eine Sekunde länger an, das verspreche ich dir.«

***

Lorenzo Cattaneo sah zu, wie Nino und Angelo ihre Sachen packten. Nino war immer noch weiß wie eine Wand, und außerdem hatte ihm das Voting der Zuschauer offenbar endgültig die Stimme verschlagen. Jedenfalls hatte er keinen Ton mehr von sich gegeben, seit Lydia Kayser, die Moderatorin der Show, das Urteil verkündet hatte. Angelo dagegen konnte nicht eine Sekunde lang den Mund halten, er fluchte unablässig auf Italienisch. Lorenzo, selbst Halbitaliener, war zwar zweisprachig aufgewachsen, verstand aber trotzdem nur die Hälfte. Wahrscheinlich weil Angelo aus Sizilien kam oder weil seine Großmutter Kroatin war und die Teile, die Lorenzo nicht einordnen konnte, gar kein Italienisch, sondern Kroatisch waren.

Nachdem seine fremdsprachigen Vokabeln aufgebraucht waren, wechselte Angelo ins Deutsche. »Die Jury, diese Pisser! Diese verdammten Arschgeigen! Die haben das Publikum doch manipuliert. Dass man ja schließlich keine drei Italiener im Finale haben will. Nur deswegen haben sie Nino und mich rausgewählt.«

»Kann sein.« Lorenzo zog die rechte Schulter nach oben, eine blöde Angewohnheit von ihm. Es sah nämlich, wie ihm der Spiegel in einer der Schranktüren verriet, irgendwie spastisch aus. Als könnte er die andere Schulter nicht mit anheben, weil er behindert war. Er musste sich das unbedingt abgewöhnen. Als Topstar musste man cool und souverän rüberkommen, nicht debil.

Diese Sache mit den drei Italienern war in den letzten Wochen schon öfter Thema gewesen. Am Anfang der Show hatten es alle krass gefunden, die drei Jungs mit den dunklen Locken und den schmachtenden Stimmen. Das »Trio Infernale« hatte man sie genannt, und sie hatten in jeder Castingrunde die besten Bewertungen abgeräumt. Darüber hinaus hatten sie sich einfach großartig verstanden. Obwohl sie Konkurrenten waren, waren sie Freunde geworden. Doch mit den Live-Shows wurde die Luft dünn. Jetzt hieß es: Jeder gegen jeden. Bei der ersten Live-Sendung am letzten Donnerstag waren es noch zehn Kandidaten gewesen, bei der zweiten Live-Show am heutigen Samstag acht. Am nächsten Donnerstag würden sie nur noch zu sechst sein. Wenn man wollte, dass die Zuschauer – nicht nur die in Damp, sondern auch die vor den Bildschirmen – bei der Stange blieben, musste für jeden etwas dabei sein. Drei Italiener waren eben bloß … drei Italiener. Wer sich nichts aus Schmalz und Amore machte, war da schnell raus, wenn sie alle drei die letzten Shows bestritten. Und da es dem Sender nicht um Qualität, sondern um die Einschaltquote ging, war man darauf sicher nicht erpicht.

Angelo hatte also vermutlich recht. Die Jurymitglieder hatten den Ausgang der Entscheidung durch ihre Kommentare maßgeblich forciert, damit unter den verbliebenen sechs Teilnehmern der nächsten Runde nur noch ein Italiener war.

Für Nino und Angelo tat ihm das echt leid. Doch andererseits …

Die Zimmertür flog auf, und die Moderatorin stürmte herein, gefolgt von einem Kameramann und einem Beleuchter, beide mit ihrem schweren Arbeitsgerät beladen. Der Scheinwerfer blendete Lorenzo. Trotzdem erkannte er an der roten Leuchte neben der Linse, dass die Kamera bereits lief.

Angelo fuhr wütend herum. »Haut ab!«, fauchte er. »Lasst uns in Ruhe. Wir sind raus, reicht das nicht?«

Lydia Kayser, die Moderatorin, lächelte falsch. »Nur ein paar Worte zum Abschied.«

Sie wussten ja, wie das Spiel lief. Jetzt kam die Leichenfledderei. Das war es, was die Zuschauer sehen wollten. Die Sieger, die trunken vor Glück durchs Bild taumelten. Und die Verlierer, die am Boden lagen und heulten.

»Angelo.« Die Moderatorin, die aussah wie ein Topmodel und den jungen Italiener um gut einen Kopf überragte, neigte sich ihm zu. Ihre Augen, die so grün waren wie ein Smaragd – Lorenzo tippte auf gefärbte Kontaktlinsen –, funkelten. »Bei der letzten Show hat Dennis Boland noch gesagt, du seist einer der Top-Titelkandidaten, und heute hieß es, deine Stimme hätte einen Sound wie eine Bratröhre und dein Outfit hätte den Charme einer Wurstpelle. Wie kannst du dir das erklären?«

Angelos dunkle Augen blitzten kaum weniger als die der Moderatorin. Er hob die Hand, und sein Zeigefinger bebte.

»Das war ein abgekartetes Spiel. Die wollten uns raushaben. Zu viele Italiener.«

»Du meinst also nicht, dass du schlecht gesungen hast?«

»Nein, habe ich nicht. Ich war gut.«

»Hm, hm.« Lydia Kayser schnalzte leise mit der Zunge. »Das haben wir ja auch schon öfter gehört, nicht wahr? Du nimmst dir Kritik nicht zu Herzen. Du lernst nichts daraus. Hat Dennis dir nicht immer wieder gesagt, du solltest weniger Party machen und mehr üben?«

»Hörst du mir nicht zu? Ich war gut. Ich habe geübt. Der Song war perfekt.«

»Die Zuschauer haben das offenbar anders gesehen.«

»Die werden doch manipuliert. Die machen, was die Jury will.« Angelos Stimme schraubte sich immer weiter nach oben. Lorenzo ging auf Distanz, weil er es kaum aushielt. Lydia Kayser dagegen schien gegen die Lautstärke immun. Sie rückte Angelo noch dichter auf den Pelz.

»Du bist ein schlechter Verlierer, Angelo. Kann das sein?«

»Fick dich!« Angelo drehte sich abrupt um, warf die letzten Sachen in seinen Koffer und knallte ihn zu. Dann schnappte er sich das Gepäckstück und drängte sich an der Moderatorin vorbei zur Tür.

Der Beleuchter streckte den Arm aus und hielt ihn fest. »Du kannst nicht weg. Wer ausgeschieden ist, läuft nicht mehr im Haus herum.«

Angelo ließ den Koffer fallen, lehnte sich an die Wand und verschränkte die Arme. »Dann bleibe ich eben hier. Aber ich sage nichts mehr.«

Lydia Kayser lächelte katzenhaft in die Kamera. »Dann fragen wir doch Nino, wie er sich fühlt.« Sie machte ein paar Schritte auf den Angesprochenen zu. »Nino. Auch für dich endet die Reise heute. Wie geht es dir damit?«

Nino stand wie versteinert neben seinem Koffer, in den er wahllos all seine Besitztümer geworfen hatte. Obenauf lagen ein blau-gelb gestreiftes Badehandtuch und ein iPod mit großen Kopfhörern, bis vor ein paar Stunden die Dinge, die er am dringendsten gebraucht hatte, jetzt vollkommen nutzlos. Er starrte in die Kamera, öffnete den Mund und schloss ihn wieder, ohne einen Ton herauszubringen.

»Nino?«

Nino zupfte an seinem Bärtchen, rieb sich mit dem Finger über die Lippen, schob seinen Daumennagel zwischen die Zähne. Im nächsten Moment fing er an zu heulen. Dicke Tränen liefen über seine Wangen, und er schluchzte auf.

Die Augen der Moderatorin leuchteten vor Begeisterung. Das war es, was sie einfangen wollten. Unverstellte Emotionen. Die bittere Enttäuschung, wenn der Lebenstraum, die Seifenblase geplatzt war. Mit großer Geste reichte sie Nino ein Taschentuch.

Der schnäuzte sich, schluckte, versuchte zu sprechen, doch es gelang ihm nicht.

Lydia Kayser tätschelte ihm die Schulter.

»Ja, unser Nino ist ein ganz Sensibler, das wissen wir ja. Deswegen haben ihn die Zuschauer geliebt. Sogar Dennis Boland hat schon gesagt, er wäre der neue Eros Ramazzotti. Aber was ist heute passiert? War es die Songauswahl? Oder die Aufregung?«

Lorenzo Cattaneo hatte die Schnauze voll. Er wollte der Hinrichtung nicht länger beiwohnen. Stück für Stück schob er sich zur Tür, doch ehe er sie erreicht hatte, drehte sich Lydia Kayser plötzlich zu ihm um. Sie hatte wohl gespürt, dass er sich davonstehlen wollte.

»Lorenzo! Der letzte der drei kleinen Italiener. Du hast es geschafft, du bist in der nächsten Runde. Wie fühlt sich das an?«

Lorenzo setzte ein nichtssagendes Lächeln auf. Er würde den Teufel tun und Lydia, diese Hexe, einen Blick in seine Seele werfen lassen.

»Ich freue mich«, sagte er. »Aber ich bin auch traurig. Nino, Angelo und ich sind gute Freunde geworden in den Wochen hier. Sie werden mir fehlen.«

Gut, dachte er. Sympathisch, professionell und außerdem wahr.

Lydia Kayser hatte sich wohl mehr Emotionen gewünscht.

»Findest du, die Jury war gerecht? Sie haben dich gelobt, aber Dennis Boland hat deine beiden Freunde heute Abend komplett zerstört.«

Lorenzo hob die rechte Schulter. Nicht gut. Er ließ die linke folgen. »Dennis ist der Produzent. Er macht mit dem Sieger die Platte. Er muss wissen, was ihm gefällt.«

»Also hatte er recht? Nino und Angelo haben schlecht gesungen?«

Oh, oh. Ganz dünnes Eis. Wenn man die Show gewinnen wollte, zog man die Kompetenz des Chef-Jurors besser nicht in Zweifel. Auf der anderen Seite würde er vor den Zuschauern als Arschloch dastehen, wenn er seine beiden Landsleute schlechtmachte. Man würde ihm unterstellen, der eigene Sieg sei ihm wichtiger als die Freundschaft. Was natürlich bei allen Teilnehmern so war, doch laut aussprechen durfte man es nicht. Das Publikum verzieh es nicht, wenn man ihm die Illusionen raubte.

»Dazu kann ich nichts sagen«, erwiderte er und grinste in sich hinein, weil er ein Schlupfloch entdeckt hatte. »Ich war bei ihren Auftritten hinter der Bühne. Da ist die Akustik total mies.«

Lydia ließ nicht locker. »Ihr habt doch dort einen Monitor, auf dem ihr die Auftritte der anderen verfolgen könnt.«

»Ja.« Lorenzo hielt ihrem Blick stand. »Aber der Lautsprecher hat eine Macke. Der scheppert. Da klingt sogar das Playback vom Band schief.«

»Hm. Danke, Lorenzo.« Lydia Kayser war sichtlich unzufrieden, doch sie sah wohl keine Möglichkeit, weiter in ihn zu dringen. Stattdessen schaute sie wieder zu Nino und Angelo. »Ihr dürft euch noch von den anderen verabschieden. Danach müsst ihr gehen. Der Wagen, der euch heimbringt, wartet schon.«

Sie machte dem Kameramann ein Zeichen, die Aufnahme zu unterbrechen.

»Ich will die letzte halbe Stunde der beiden komplett auf Band. Und natürlich die Abreise. Bleibt so dicht es geht an ihnen dran. Lasst sie keine Sekunde aus den Augen. Ich will Gefühle.« Sie bedeutete ihm, die Kamera wieder einzuschalten. Das rote Lämpchen neben der Linse leuchtete auf. Lydia wandte sich an Lorenzo.

»Du begleitest deine beiden Freunde vor die Tür?«

»Klar.«

»Also dann. Ich habe leider noch zu tun und kann nicht dabei sein. Gute Reise. Und viel Erfolg bei eurer weiteren Karriere. Oder bei dem, was ihr stattdessen tut.«

Angelo löste sich von der Wand und machte einen Schritt auf sie zu.

»Ich höre bestimmt nicht auf zu singen«, fuhr er sie an. »Ich weiß, dass ich gut bin, egal, was dieser Arsch Dennis Boland sagt.«

Lydia Kayser lächelte breit und zeigte dem Kameramann heimlich den erhobenen Daumen. Das war genau das, was sie auf dem Film haben wollte. Beschwingt verließ sie den Raum und eilte davon, wahrscheinlich, um einen Plan zu entwickeln, wie sie das nächste Leben in Trümmer legen konnte.

***

Als Paul Beck zurück in sein Haus kam, lümmelte Nick auf dem Sofa und vertilgte einen Eiweißriegel. Ein paar Schokosplitter krümelten auf sein lindgrünes Poloshirt, und Harder tupfte sie vorsichtig mit dem angefeuchteten Zeigefinger auf.

»Du hast was verpasst«, sagte er zu Beck.

»So?« Paul setzte den Kater, den er sich erneut unter den Arm geklemmt hatte, auf den Boden, und Watson fegte durch das Wohnzimmer zu seinem Fressnapf. Als er feststellte, dass sich kein Futter darin befand, fauchte er.

Beck öffnete den Kühlschrank, holte eine Schale Katzenfutter mit Huhn hervor und leerte den Inhalt in Watsons Napf. Der Kater stürzte sich darauf, als hätte Paul ihn eine Woche lang fasten lassen.

»Zwei von den drei Italienern sind rausgeflogen«, erläuterte Harder. »Dabei waren die alle drei richtig gut. Viel besser als diese Chantale Hellweger. Aber an der hat Dennis Boland einen Narren gefressen.«

»Boland?« Beck schenkte sich ein Wasser ein und ließ sich in seinen Relax-Sessel sinken. Harder verdrehte die Augen.

»Dennis Boland, der Chef-Juror. Boland-Records, nie gehört? Der ist seit ein paar Jahren richtig dick im Geschäft. Hat ein paar Nummer-eins-Hits produziert. Nicht so erfolgreich wie Dieter Bohlen natürlich, aber dem hat er den Kampf angesagt. Neulich in einer Talkshow. Boland meint, Bohlen hat seine besten Tage hinter sich. Und er selbst, Boland, hat sie vor sich.«

»Aha.« Paul, der Nicks Begeisterung für dieses Metier nicht so recht nachvollziehen konnte, schaute auf den Fernsehschirm. Dort war gerade zu sehen, wie zwei junge Männer ihre Koffer zu einem Kleinbus trugen. Ein dritter, ohne Koffer, begleitete sie. Der letzte Lichtstreifen der Dämmerung, die sich herabsenkte, verlieh der Szene eine melancholische Note.

Harder deutete auf den Fernseher.

»Das sind die drei. Nino, Angelo und Lorenzo. Man hat sie das ›Trio Infernale‹ genannt. Die wären perfekt als italienische Boygroup. Und sie sind während des Wettbewerbs echte Freunde geworden.«

»So?« Paul schaute genauer hin. Moderne Popmusik war nicht sein Feld, aber wie man richtige Freunde fand, hätte er schon gern gewusst. Bis auf Nick hatte er keine. Und ob der sich mit ihm abgeben würde, wenn sie keine Kollegen wären? Wahrscheinlich nicht. Nick Harder war ein richtig cooler Typ. Er selbst dagegen war im Umgang mit anderen eher unbeholfen. Zu verkopft, wie seine Freundin Lotta immer wieder betonte.

»Nino und Angelo sind raus«, erläuterte Nick. »Und die sind beide total fertig mit der Welt. Erst recht, nachdem Lydia noch mal so richtig in der Verletzung herumgestochert hat.«

»Lydia?« Hatte Nick den Namen schon erwähnt?

»Die Moderatorin«, sagte Harder. »Du hast sie vorhin gesehen.«

Beck erinnerte sich. Eine groß gewachsene, schlanke Frau mit langen dunklen Locken.

»Sie macht auch die Interviews mit den Kandidaten«, erklärte Nick. »Aber sie stellt nicht nur Fragen. Sie tut alles, damit die Leute die Fassung verlieren. Ausflippen oder in Tränen ausbrechen. Und bei Nino und Angelo ist ihr das ziemlich gut gelungen.« Er schnalzte mit der Zunge. »Diese Lydia Kayser ist eine richtige Schlange. Widerlich.«

Paul Beck griff nach der Fernbedienung.

»Dagegen weiß ich ein einfaches Mittel.«

Er wollte den Fernseher ausschalten, doch ehe er den Knopf gedrückt hatte, war Nick vom Sofa hochgeschnellt und sprang auf ihn zu. Behände riss er ihm das Gerät aus der Hand.

»Bist du verrückt? Ich will das sehen.«

Watson hob den Kopf und blinzelte. Wahrscheinlich bewunderte er Harders Geschmeidigkeit. Beck konnte sich nicht daran erinnern, wann sich der Kater zuletzt auch nur annähernd so schnell bewegt hatte.

2

Lorenzo Cattaneo schloss Nino in die Arme und klopfte ihm auf den Rücken.

»Ich melde mich bei dir, wenn der Zirkus hier vorbei ist«, versprach er und versuchte, die Tränen, die in seiner Kehle aufstiegen, zurückzudrängen. Es reichte ja, dass Nino heulte und Lorenzos Hemd durchnässte. Er selbst wollte den Zuschauern nicht die Genugtuung liefern. Und Lydia Kayser erst recht nicht. Gerührt durfte er sein, ja. Vielleicht auch eine einzelne Träne verdrücken. Aber nicht schluchzen und mit den Zähnen klappern. Damit würde er vom italienischen Herzensbrecher im Nullkommanichts zum sentimentalen Jammerlappen werden. Und dann würde keine Sau mehr für ihn anrufen.

Er befreite sich aus Ninos Klammergriff und wandte sich Angelo zu. Der kochte immer noch und hatte kein Interesse an einer Umarmung. Stattdessen hieb er mit der Faust gegen das Blech des Kleinbusses.

»Sag denen, ich komme zurück«, trug er Lorenzo auf. »Und dann werden die sich alle noch umsehen.«

»Klar. Mach ich.« Lorenzo schlug Angelo kameradschaftlich auf die Schulter. »Ich glaube an dich.«

Der Fahrer des Busses betätigte ungeduldig die Hupe. »Los, einsteigen«, rief er. »Wir haben noch ein gutes Stück zu fahren. Bremen und Dortmund, richtig?«

Nino schnappte nach Luft. »Ich dachte … wir fahren nach Hamburg ins Hotel, nicht gleich nach Hause.«

Der Fahrer lachte. »Nee. Mit dem Luxusleben ist es jetzt vorbei. Ihr geht auf direktem Weg dahin zurück, wo ihr hergekommen seid.«

Nino sackte noch weiter in sich zusammen. Wortlos kletterte er in den Bus. Angelo blieb an der offenen Tür stehen.

Der Fahrer beugte sich aus dem Fenster. »Nu mach hinne, Jung.«

Angelo wimmerte leise. »Ich will nicht. Mein Alter. Der macht mich fertig.«

»Was sagst du?« Der Fahrer ließ den Motor aufheulen. »Ich versteh dich nicht.«

Lorenzo konnte sich das Drama nicht länger mit ansehen. Er drängte Angelo in den Wagen.

»Macht’s gut«, brüllte er und schob die Seitentür zu. Der Bus brauste davon.

»Prima. Das war’s.« Der Kameramann schaltete seine Kamera aus, der Beleuchter sein Flutlicht, und plötzlich stand Lorenzo im Dunkeln. Es dauerte einen Moment, bis sich seine Augen auf die veränderten Lichtverhältnisse eingestellt hatten. Gegen die Beleuchtung für die Kamera war das Licht, das aus der Hintertür der luxuriösen Villa fiel, schwach und funzelig, genau wie der Schein der Laternen, die den Weg zur Wohnanlage und zur Promenade säumten.

Der Kameramann tippte sich mit zwei Fingern an die Stirn. »Ciao, Amigo. Ruh dich ein bisschen aus. Morgen wird wieder ein harter Tag.«

Er schleppte sein schweres Arbeitsgerät zum Hintereingang der Villa, und der Beleuchter folgte ihm mit dem seinigen. Im nächsten Moment waren die beiden verschwunden, und Lorenzo stand allein in der kühlen Nacht.

Erst jetzt realisierte er, was geschehen war.

Nino und Angelo waren raus. Aber er war noch dabei.

»Ja, Mann!« Lorenzo ballte die Faust. Er war unter den letzten sechs. Und so leid es ihm tat, dass seine Freunde hatten gehen müssen, so gut war das für ihn. Bisher hatten sich die Stimmen der Zuschauer, die auf italienische Schnulzen standen, auf drei Sänger verteilt. Nino, Angelo und er waren heute die Kandidaten mit den wenigsten Anrufen gewesen. In Zukunft jedoch würden alle Italien-Fans allein für ihn voten. Und es waren nur noch sechs Teilnehmer. Er könnte richtig weit kommen. Auch wenn ihm der Abschied von Nino und Angelo im Magen lag – das musste gefeiert werden.

Lorenzo betrat die Villa. Er hatte keine Ahnung, was die anderen gerade taten. Die Küche war dunkel. Wahrscheinlich saßen die Mädels bei Chantale im Zimmer, und Kjell und Ruben machten ihr eigenes Ding. Er hatte auf keine der beiden Gruppen Lust und die vermutlich auch nicht auf ihn. Also würde er seine Party eben allein machen.

Er schaltete das Licht in der Küche an und zog sein Smartphone aus der Tasche. Ein Clip seines Auftritts heute Abend war bereits im Netz, und Lorenzo nickte zufrieden im Takt, während er sich seine Performance ansah. Er war wirklich gut gewesen.

Mit einem Lächeln öffnete er den Clip von Eileen. Sie hatte bei der Show noch schöner ausgesehen als sonst, und ihre Stimme war so sanft und klar wie die eines Engels. Lorenzo spürte, wie sich auf seinen Armen eine Gänsehaut bildete. Natürlich war er vor allem hier, um die Show zu gewinnen. Aber wenn er es schaffte, Eileen zu erobern, wäre sein Glück perfekt. Sie war einfach etwas ganz Besonderes. Diese dunkelbraunen Augen, in denen man komplett versinken konnte, und dazu der dunkle Teint und die halblangen schwarzen Haare … Er hatte noch nie eine anziehendere Frau getroffen.

Fast hätte er seine Entscheidung revidiert und wäre doch nach oben zu den Mädels gegangen, doch dann dachte er an Chantale, die sicher wieder versuchen würde, alles, was er sagte, ins Lächerliche zu ziehen. Das war nicht das, was er jetzt brauchte. Nein, heute Abend würde er für sich allein feiern und sich für die nächsten Auftritte stärken.

Er schob sein Smartphone zurück in die Tasche, nahm eine Flasche Schampus aus dem Kühlschrank und entkorkte sie. Die hellgelbe Flüssigkeit sprudelte aus dem Flaschenhals, und er schlürfte sie eilig ab. Dann ging er mit der Flasche wieder nach draußen.

Der Himmel war klar, die Sterne funkelten, und es war immer noch nicht richtig dunkel. Der Vollmond stand hoch am Himmel, und das Licht spiegelte sich auf der Ostsee, die leise an den Strand schwappte. Es war wirklich schön hier oben, ganz anders als in der Reihenhaussiedlung in Braunschweig, wo er mit seinen Eltern lebte.

Lorenzo zog seine Schuhe aus, nahm sie in die Hand und lief durch den Sand in Richtung Hafen, wo unzählige Yachten und Sportboote vor Anker lagen. Er konnte noch die Wärme des Tages spüren. Ganz leicht fühlte er sich plötzlich, der zum Greifen nahe Erfolg wie Rückenwind, der ihn beflügelte.

Vor ihm ragte eine dunkle Silhouette auf. Die »Albatros«, das Museumsschiff, das hier in Damp auf dem Sandstrand auf dem Trockenen lag. Gab es einen besseren Ort, um sich gemütlich niederzulassen, den Schampus zu leeren und auf das glitzernde Meer zu schauen?

Im spärlichen Licht, das von den Lampen im Hafen herüberfiel, kletterte er über die Metallleiter auf das Schiff und ging über das dunkle Deck zum Heck. Seine nackten Füße federten auf den Schiffsplanken, und er sang leise seinen Song des Abends. »Caruso«. Ein gewaltiges Lied, alles andere als leicht, aber er hatte es gemeistert. Bei dem Titel schmolzen die Herzen. Er hatte ihn sich eigentlich fürs Finale aufsparen wollen, doch dann hatte er gespürt, dass heute der Tag war, auf den es ankam. Zum Glück war er seiner Eingebung gefolgt.

Lorenzo seufzte zufrieden – und blieb im selben Augenblick mit dem Fuß an irgendetwas hängen.

Er stolperte und riss die Arme nach vorn, um den Sturz abzufangen. Die Schuhe ließ er fallen, die Champagnerflasche glitt ihm aus den Fingern. Sie krachte aufs Deck, rollte über die Reling und klatschte in den Sand. Lorenzo stürzte auf die Schiffsplanken. Er landete schmerzhaft auf seinem rechten Arm und spürte ein Reißen im Handgelenk.

Verdammt. Hoffentlich hatte er sich nichts gebrochen.

Er rappelte sich wieder auf und befühlte seine Hand. Es tat weh, doch ansonsten schien alles in Ordnung zu sein. Lorenzo atmete erleichtert auf. Dann wandte er sich zurück, um herauszufinden, worüber er gefallen war.

Sie hatten die »Albatros« am Tag zuvor besichtigt, und er konnte sich nicht erinnern, dass es auf dem Weg zum Heck irgendwelche Hindernisse gegeben hatte. Er tastete mit den Händen und stieß einen überraschten Laut aus, als seine Finger etwas Weiches berührten.

Was war das?

Lorenzo zog sein Smartphone aus der Hosentasche und aktivierte die Taschenlampen-App.

»O Dio.« Er keuchte. Direkt vor ihm lag ein Mensch auf den Schiffsplanken. Eine Frau. Er sah den kurzen Rock und die langen Beine. Seine Hände begannen zu zittern. Er musste sich zwingen, den Spot des Handys auf den Kopf der Frau zu richten.

»Madonna!« Die Übelkeit kam unvermittelt und schnürte ihm die Kehle zu. In seinem ganzen Leben hatte er noch nie etwas so Schreckliches gesehen.

Das Gesicht der Frau war blau angelaufen, Augen und Mund weit aufgerissen. Er begriff sofort, dass sie tot war. Aber sie sah so verändert aus, dass sein Gehirn etliche Sekunden brauchte, bis er sie erkannte.

Es war Lydia Kayser, die Moderatorin, die vor einer knappen Stunde noch Nino und Angelo das Leben zur Hölle gemacht hatte. Jetzt war sie selbst auf dem Weg dorthin.

3

Paul Beck tauschte eilig Jogginghose und Schlappen gegen Jeans und schwarze Lederschuhe und zog sich den Kapuzenpullover über, der zu seinem neuen Outfit gehörte. Ein verstauchter Knöchel und ein paar Sitzungen bei einem Therapeuten hatten ihm deutlich gemacht, dass er es längst nicht mehr nötig hatte, ein Bollwerk gegen die Welt zu errichten. Den Bowler und den Lodenmantel – bis zum letzten Jahr sein Markenzeichen – hatte er abgelegt und im hintersten Winkel seines Kleiderschranks verstaut. Nur ganz selten holte er die Sachen noch hervor, wenn ihn niemand sah, zum Nachdenken. Um sich seinem großen Vorbild Hercule Poirot näher zu fühlen.

Stattdessen hatte er nach seinem eigenen Stil gesucht und ihn schließlich auch gefunden. Jetzt trug er Jeans und Hoodies, kombiniert mit schicken Schuhen und Hemden. Die Kombination aus Lässigkeit und Eleganz gefiel ihm. Und Lotta auch.

Er fand, dass er noch immer nicht halb so cool ausschaute wie Nick Harder mit seinen Cargohosen, der schwarzen Canvas-Jacke und den modischen Poloshirts, aber zumindest kam er sich neben seinem Kollegen nicht mehr wie ein Dinosaurier vor. Selbst seine Haare besaßen jetzt eine Frisur, die diese Bezeichnung auch verdiente, gar nicht unähnlich der von Nick, an den Seiten kurz, vorn etwas länger. Kurzfristig hatte er sich auch einen Dreitagebart stehen lassen, wie Harder ihn trug, die Stoppeln aber schnell wieder entfernt. Was bei Nick attraktiv und männlich wirkte, sah an ihm selbst einfach nur lächerlich aus.

Beck warf einen schnellen Blick in den Spiegel. Er musterte seine neue Erscheinung und nickte zufrieden. Jetzt konnte man auch erkennen, dass er Mitte dreißig war und nicht schon jenseits der fünfzig. Zum Glück hatte er die Wende rechtzeitig vollzogen.

Seine Hand bewegte sich in Richtung des Garderobenhakens, an dem früher der Bowler gehangen hatte. Die Routinen hatten sich eingegraben und waren nicht so leicht abzulegen. Aber das würde sich auch noch einspielen. Praktischer war es ohne den Hut allemal. Bei dem Wind, der hier an der Ostsee herrschte, hatte er ihn ständig festhalten müssen, damit er ihm nicht davonwehte. Wenn er jetzt kalte Ohren hatte, setzte er einfach die Kapuze seines Hoodies auf.

Er öffnete die Haustür und warf einen Blick auf den Kater.

»Wenn du noch mal rauswillst, nimm die Klappe«, sagte er. »Und lass die Pfoten von den Buddelschiffen.«

In diesem Punkt war er hart geblieben. An der Wand sammelten sich in einem Regal noch immer die Rumflaschen – volle, die aufrecht standen, und leere, die auf der Seite lagen und in die er in mühevoller Kleinarbeit Flaschenschiffe gebaut hatte. Weder Lotta noch Watson hatten für dieses Hobby etwas übrig, obwohl Lotta eine begeisterte Seglerin war. Im Gegensatz zu seinem Kater respektierte sie es jedoch. Watson dagegen zerfetzte mit Begeisterung jedes Schiff, das ihm in die Fänge geriet.

»Sonst gibt es einen Monat lang nur Trockenfutter«, setzte Beck drohend hinzu, ehe er die Wohnung verließ. Sein Fressen war das Einzige, mit dem man dem Kater beikam.

Nick Harder hatte seinen orangefarbenen VW-Bus mit dem umlaufenden schwarz-weiß gewürfelten Rallyestreifen bereits gewendet und wartete mit laufendem Motor im Fischergang, der kleinen Straße, an der Becks Kate lag. Beck kletterte auf den Beifahrersitz und warf noch einen Blick zurück. Sein Haus stand in Kappeln direkt am südlichen Ufer der Schlei, und er sah das Licht des Vollmonds, das sich auf dem Wasser spiegelte.

Lotta, die in Esbjerg in Dänemark wohnte und arbeitete, hatte sich schon oft gewünscht, dass er in ihre Nähe zog. Wenigstens nach Flensburg, wo auch Nick zu Hause war. Lottas Freundin und Kollegin Theresa, die mit Nick zusammen war, hatte einen deutlich kürzeren und schnelleren Weg, wenn sie sich treffen wollten. Doch für Beck war dies der schönste Ort der Welt. Er konnte sich nicht vorstellen, irgendwo anders zu leben.

Harder trat aufs Gas. Der Bus raste durch den Fischergang und bog am Ende schlitternd nach links auf die B 203 in Richtung Eckernförde.

»Sachte«, mahnte Beck, doch Harder ignorierte ihn. Wenn ein neuer Fall wartete, gab es für ihn kein Halten mehr.

4

Die »Albatros« war ein Dampfer mit schwarzem Rumpf, weißem Aufbau und rot gestrichenem Ruderhaus. Sie hatte einen gelben Schornstein mit schwarzem Aufsatz, dazu zwei Masten, einen vorn, einen achtern, für die sogenannten Tag- und Nachtzeichen: bunte Signalkörper oder Lichter, die Länge und Fahrzustand des Schiffs anzeigten, zusammen mit den Positionsleuchten wichtige Informationen für den Schiffsverkehr. Das lang gezogene Heck war offen, aber komplett überdacht, ein geschützter Ort für die Fahrgäste. Eine Leiter, die am hinteren Teil der äußeren Bordwand angebracht war, führte vom Strand auf das Deck. Paul Beck bemerkte, dass das Schiff an einem im Sand stehenden Poller angeleint war, als ob es auf dem Trockenen abtreiben könnte. Schlichte Dekoration, nahm er an. An der Ostsee gab es weder Gezeiten noch Sturmfluten, und wenn, hätte die alberne Leine das schwere Schiff auch nicht gehalten. Beck schätzte die »Albatros« auf etwa vierzig Meter Länge.

Die Kollegen von der Polizeistation Damp hatten um das Schiff herum bereits eine Absperrung aus rot-weißem Flatterband errichtet. Darüber hinaus war noch niemand vor Ort. Beck und Harder hatten von Pauls Kate in Kappeln aus die kürzeste Anfahrt gehabt, und Harder hatte seinen VW-Bus über die B 203 gejagt, als gäbe es noch ein Leben zu retten und nicht den Tod eines Menschen zu untersuchen. Beck, der sich lieber langsamer fortbewegte, hatte versucht, sich sein Unbehagen nicht anmerken zu lassen, hatte aber heimlich aufgeatmet, als sie wohlbehalten im Ostsee-Resort Damp angelangt waren und Nick den Bus auf dem Parkplatz am Yachthafen, gleich neben der »Albatros«, abgestellt hatte.

Eigentlich waren sie für den Fall gar nicht zuständig, Damp gehörte zum Einzugsgebiet des Landeskriminalamtes Kiel, doch dort grassierte seit einigen Tagen die Magen-Darm-Grippe. Man war unterbesetzt, und die wenigen noch gesunden Kollegen waren vollkommen ausgelastet. Deshalb hatte der Leiter der Mordkommission in Flensburg angefragt, ob die Beamten aushelfen konnten. Da bei ihnen zurzeit nicht allzu viel anlag, hatten sie zugesagt.

Mittlerweile war es weit nach Mitternacht. In den Häusern rund um den Hafen war nur noch in wenigen Fenstern Licht zu sehen. Von den Lampen rund um das Hafenbecken ging ein milchiger Schein aus. Der feine Nebel, der über dem Meer lag, zog langsam zum Land. Das hatte den Vorteil, dass keine Passanten mehr unterwegs waren und sich bisher keine Schaulustigen eingefunden hatten. Was sich sicherlich ändern würde, sobald die Kollegen vom Kommissariat 6 für Kriminaltechnik, Erkennungsdienst und IT-Beweissicherung der Bezirkskriminalinspektion Flensburg eintrafen und ihre leistungsstarken Scheinwerfer aufstellten, um an Deck der »Albatros« nach Spuren zu suchen.

Beck und Harder begrüßten die uniformierten Kollegen aus Damp, die sie kurz ins Bild setzten. Sie deuteten auf einen jungen Mann, der auf einem Poller am Hafen hockte und auf die Boote und das Wasser starrte.

»Das ist Lorenzo Cattaneo«, erklärte einer der Uniformierten. »Er hat die Tote entdeckt.«

Nick Harder gab einen seltsamen Laut von sich. »Lorenzo?«

Der Beamte aus Damp schaute verblüfft. »Sie kennen den jungen Mann?«

»Nicht persönlich. Nur aus dem Fernsehen.«

»Ah ja.« Der Uniformierte bemühte sich sichtlich, seine Irritation über Harders Programmauswahl zu verbergen, doch wirklich gut gelang es ihm nicht. »Dann wissen Sie ja Bescheid. Cattaneo ist Teilnehmer bei DSDT, ›Damp sucht den Topstar‹.« Er schnaubte leise, schaffte es nicht, sich länger zurückzuhalten. »Ehrlich. Das hat uns gerade noch gefehlt. Schlimm genug, dass sie uns hier all diese Bettenburgen hingesetzt haben. Jedes Jahr mehr Touristen, aber natürlich keine Aufstockung des Personals in der Polizeistation.« Er hob die Hand. »Ich will nicht klagen. Wir kommen zurecht. Aber seit die hier dieses DSDT drehen, ist die Hölle los. Horden von Teenagern, die sich im Ferienresort breitmachen. Normalerweise ist das hier ein bevorzugtes Urlaubsgebiet für Familien. Viele kleine Kinder und natürlich die Patienten aus der Ostseeklinik. Und jetzt haben wir hier plötzlich diese ganzen hysterischen Jugendlichen, die durchdrehen, wenn einer von den Kandidaten irgendwo auftaucht, und sich Abend für Abend die Birne zuknallen. Das brauchen wir echt nicht.«

»Hm.« Beck verstand den Unmut des Kollegen, doch im Augenblick interessierte ihn etwas anderes. »Haben Sie sich die Tote angesehen? Und was hat der Junge gesagt?«

Der zweite Uniformierte trat einen Schritt näher.

»Ich habe die Leiche in Augenschein genommen«, erklärte er. »War definitiv tot, also haben wir die Kripo benachrichtigt und den Fundort abgesperrt. Wir haben auch die Aussage des jungen Mannes aufgenommen. Er sagt, es war ungefähr Mitternacht, als er die Frau gefunden hat. Er hat sie auch erkannt. Sie heißt Lydia Kayser und ist –«

»Die Moderatorin.« Nick Harder blickte auf seine Uhr, dann zum Museumsschiff. »Aber das kann nicht sein. Ich habe sie doch eben noch gesehen.«

»Ach so? Ich dachte, Sie wären gerade aus Kappeln gekommen?«

»Sind wir auch. Sie war im Fernsehen.«

»Dann war’s wahrscheinlich eine Aufzeichnung«, schlug der uniformierte Polizist vor.

»Nein. Das war live. Vor knapp einer Stunde.«

»Zeit genug, um jemanden umzubringen, meinen Sie nicht?«

»Ja. Sicher.« Nick Harder wirkte dennoch geschockt.

Beck klopfte ihm auf die Schulter. »Komm. Lass uns hören, was der junge Caruso zu sagen hat.«

»Cattaneo«, korrigierte Harder automatisch. Beck zwinkerte ihm zu.

»Das war ein Scherz. Außerdem hat er dieses Lied doch heute Abend gesungen, oder nicht?«

Er hatte Nick ablenken wollen, und es war ihm ganz offensichtlich gelungen.

»Das hast du dir gemerkt?«, fragte der verblüfft. »Du hast doch gar nicht richtig hingeguckt.«

»Ein guter Ermittler besitzt einen Blick für das Wesentliche. Und ein zuverlässiges Gedächtnis«, verkündete Paul Beck und schob Nick in Richtung des Sängers. Den beiden Uniformierten warf er noch einen schnellen Blick zu: »Danke, Kollegen.«

Die beiden tippten an ihre Schirmmützen und wandten sich dem Parkplatz des Yachthafens zu, wo gerade mehrere Kleinbusse vorfuhren. Die Spurensicherung aus Flensburg, wie Beck sofort erkannte. Im vorderen der Wagen saß Jan Böttcher am Steuer, leicht zu identifizieren anhand seiner Brille mit dem leuchtend roten Metallgestell. Beck winkte grüßend und setzte gleich darauf seinen Weg fort.

Nick Harder dagegen blieb stehen. Er befand sich anscheinend in einem Zwiespalt. Normalerweise konnte ihn nichts davon abhalten, gemeinsam mit den Kollegen von der Spurensicherung den Tatort in Augenschein zu nehmen, auch wenn das eigentlich nicht zu seinen Aufgaben gehörte. Doch dieses Mal schien ihm die Vorstellung nicht zu behagen.

»Komm«, sagte Beck. »Ich brauche dich bei der Zeugenvernehmung. Du kennst den Jungen doch schon. Du kannst mir sagen, ob er uns die Wahrheit erzählt oder lügt.«

»Okay.« Harder war offenbar froh, dass Beck ihm die Entscheidung abnahm, und trabte neben ihm her zu dem Poller, auf dem Lorenzo saß.

»Herr Cattaneo«, sagte Paul.

Der junge Mann drehte sich um. Dann stand er langsam auf, mit Bewegungen, die so mühsam wirkten wie die eines alten Mannes. Die Hafenbeleuchtung war nur unzureichend, konnte aber dennoch nicht verhüllen, dass Lorenzo in Wirklichkeit nicht so smart und strahlend aussah wie auf dem Fernsehschirm. Er war kleiner und schmaler, als Paul gedacht hatte, und seine dunklen Haare hatten die Bezeichnung »Schmalzlocken« tatsächlich verdient. Aber vielleicht war das ja in oder hip oder wie immer man heute sagte. Beck hatte keine Ahnung von Mode und Styling, ebenso wenig wie von Jugendsprache. Er würde Nick bei Gelegenheit danach fragen.

»Kriminaloberkommissar Paul Beck, Bezirkskriminalinspektion Flensburg«, stellte er sich vor. »Mein Kollege, Kriminalkommissar Nick Harder.«

»Hi.« Nick hob die Hand. »Ich hab deinen Auftritt vorhin gesehen. Wie du ›Caruso‹ gesungen hast. Der absolute Kracher.«

Lorenzo Cattaneo blinzelte verwirrt. »Was? Ach so, die Show. Ja, danke.« Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. »Kommt mir so vor, als wäre das Lichtjahre her.«

»Erzählen Sie uns doch, was passiert ist. Nach dem Interview, das Lydia Kayser mit Ihnen und Ihren Kollegen Nino und Angelo gemacht hat.«

Cattaneo schluckte. »Keine Ahnung. Ich hab die beiden noch begleitet. Ein Fahrer hat sie abgeholt. Der bringt sie direkt nach Hause. Erst dachte ich, einer von denen hätte Lydia … Aber das kann ja nicht sein. Wir drei waren die ganze Zeit zusammen. Von dem Interview bis zur Abfahrt, meine ich.«

Schade, dachte Beck. Auch ihm waren die beiden Kandidaten, die an diesem Abend ausgeschieden und von der Moderatorin vor laufender Kamera demontiert worden waren, sofort in den Sinn gekommen. Sie hatten ein Motiv, offenbar aber keine Gelegenheit gehabt, Lydia Kayser zu ermorden. Um sicherzugehen, würde er die Kollegen in Flensburg bitten, mit dem Fahrer Kontakt aufzunehmen und die Alibis zu überprüfen.

»Das habe ich auch gesehen«, meldete sich Harder wieder zu Wort. »Die Abfahrt. Aber dann war Schluss. Was hast du danach gemacht? Entschuldigung. Sie. Was haben Sie danach gemacht?« Er lächelte kurz. »Ich habe alle Folgen von DSDT gesehen, deswegen kommt es mir so vor, als würde ich Sie schon lange kennen.«

»Von mir aus sagen Sie ruhig Du. Das machen alle.«

»Nein, nein. Sie sind volljährig, also sprechen wir Sie auch so an.«

Lorenzo grinste matt. »Ja, volljährig bin ich. Schon lange. Ich bin zweiundzwanzig. Aber trotzdem nimmt mich keiner für voll.«

»Helfen Sie uns, dann wird sich das ändern«, mischte sich Beck wieder ein. Er wollte gern auf den Punkt kommen.

Cattaneo strich sich mit der flachen Hand übers Kinn. Paul Beck konnte es im Zwielicht nicht richtig sehen, aber er hatte den Eindruck, dass sein Blick flackerte.

»Ich weiß nicht, ob ich das kann. Ich wollte mich bloß mit einer Pulle Schampus auf das Museumsschiff setzen und ein bisschen feiern. Dass ich noch dabei bin, unter den letzten sechs. Aber dann bin ich gestolpert und hingefallen. Die Flasche ist über Bord gegangen, und ich hab meine Schuhe verloren. Die hatte ich in der Hand, weil ich barfuß durch den Sand gegangen bin. Ich komme aus Braunschweig, da hat man nicht so oft die Möglichkeit.« Er rieb sich die Lippen, als er merkte, dass er den Faden verlor. »Ich hab mit meinem Handy geleuchtet, um etwas zu sehen«, erklärte er dann. »Und da lag sie. Lydia. Tot.« Er schaute zu Beck auf, der ihn um Haupteslänge überragte. »Das hilft Ihnen nicht weiter, oder?«

»Oh doch.« Es war nicht Paul, sondern Nick, der antwortete. »Zum Beispiel wissen wir jetzt, dass es deine Schuhe sind, die an Bord liegen, und dass die Champagnerflasche neben dem Schiff dir gehört. Und dass es sich dabei nicht um die Tatwaffe handelt. Es sei denn, du hast … Pardon, Sie haben Lydia Kayser ermordet.«

»Ich?« Blankes Entsetzen zeichnete sich auf Lorenzos Gesicht ab. »Warum hätte ich das denn tun sollen?«

»Sie hat dir in den letzten Tagen ganz schön die Tour vermasselt, nicht wahr?«

Harder gelang es einfach nicht, beim »Sie« zu bleiben. Beck überlegte, ob es überhaupt klug war, ihn an den Ermittlungen zu beteiligen. Was die Show und deren Teilnehmer anging, war er ja kaum objektiv. Auf der anderen Seite verfügte er natürlich über eine Menge Informationen, die Beck selbst sich erst mühsam erarbeiten müsste.

Er beschloss, Nick einfach machen zu lassen. Harder war ein guter Polizist. Er würde schon wissen, wie er sich zu verhalten hatte.

Cattaneo war ein wenig blass geworden, das blieb Beck sogar im matten Licht der Straßenlaterne nicht verborgen. Er zog die rechte Schulter hoch, eine Marotte, die Beck bereits im Fernsehen bemerkt hatte.

»Keine Ahnung, was Sie meinen«, gab sich der junge Italiener bockig.

Harder schnipste mit den Fingern. »Ach komm. Ruben Rother und du, ihr habt euch beide in dasselbe Mädchen verknallt. In Eileen. Ist ja auch verdammt hübsch, die Kleine.«

Lorenzo blähte die Nase. Witterte er in Nick womöglich einen weiteren Konkurrenten um die Gunst seiner Angebeteten? Aber das Mädchen war doch sicher viel zu jung, oder nicht? Beck hatte keine Ahnung, in welcher Altersgruppe sich die Teilnehmer solcher Sendungen vorrangig bewegten. Doch so oder so war es Unsinn. Nick hatte ja Theresa. Die beiden waren ein Herz und eine Seele und hatten – ganz im Gegensatz zu Lotta und ihm selbst – eine Beziehung, die vollkommen frei von Konflikten schien.

»Ihr habt eine Menge auf die Beine gestellt, um sie auf euch aufmerksam zu machen, Ruben und du«, fuhr Harder ungerührt fort. »Ich dachte, Eileen entscheidet sich für dich. Aber dann hat Lydia Kayser die Pornovideos auf deinem Tablet gefunden. Das war ein ziemlicher Rückschlag, stimmt’s?«

»Das waren nicht meine.« Lorenzo funkelte Harder an. »Die hat Lydia runtergeladen. Und dann hat sie so getan, als ob sie sie entdeckt hätte.«

»So?« Beck beugte sich zu dem jungen Mann hinunter. »Dann hatten Sie ja ein Motiv, sich an ihr zu rächen.«

»Nee, Mann.« Cattaneo wedelte mit beiden Zeigefingern. »Das können Sie mir nicht anhängen. Porca miseria! Ich war das nicht.« Er zielte mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf Beck. »Aber ich war bestimmt auch nicht der Einzige, der einen Grund gehabt hätte. Lydia hat allen hinterhergeschnüffelt. Sie hat überall nach Geheimnissen gesucht, die sie vor die Kamera zerren konnte. Das ist doch das, was die Leute in Wirklichkeit sehen wollen. Klar, auch den Gesang und die Show. Aber vor allem wollen sie deine Seele begaffen.«

»Es waren also doch deine Filmchen«, folgerte Nick Harder kühl.

Lorenzo verdrehte die Augen. »Ja, Mann. Aber das ist Privatsache. Das geht niemanden etwas an.«

»Auch nicht die Frau, die du anbaggerst?«

»Das eine hat doch mit dem anderen nichts zu tun.«

Paul Beck hob die Hand, um der fruchtlosen Diskussion ein Ende zu setzen.

»Sie meinen also, Lydia Kayser hat sämtliche Teilnehmer der Show ausgekundschaftet und vor der Kamera bloßgestellt, um die Einschaltquote anzukurbeln?«

Cattaneo schnaubte. »Nicht nur die Kandidaten. Auch die von der Jury. Die Kayser war verdammt geil darauf, die große Karriere zu machen. Die hatte überhaupt keine Skrupel, die verfluchte puttana.«

Beck seufzte leise.

Er hatte die Hoffnung gehabt, dass sie diesen Fall schnell klären würden, doch die hatte sich soeben in Luft aufgelöst. Wenn sie ein wenig buddelten, würden sie stattdessen wahrscheinlich mehr als genug Verdächtige ausgraben. Irgendeine Leiche hatte schließlich jeder im Keller.

***

Als Paul Beck sich wieder umwandte, hatte sich die Szenerie komplett verändert. Die Kollegen aus Flensburg hatten ihre Scheinwerfer aufgestellt, die das alte Schiff in ein gleißendes Licht tauchten. An Deck und am Strand um den Rumpf der »Albatros« herum bewegten sich die weiß gekleideten Spurentechniker und suchten den Tatort ab. Dank der Kapuzenoveralls wirkte das Ganze wie Dreharbeiten zu einem Katastrophenfilm, »Ausbruch der Killerviren« oder dergleichen.

An der Absperrung hatten sich wie erwartet etliche Menschen versammelt. Beck erkannte Chantale Hellweger und die anderen Kandidaten der Show, außerdem die Jurymitglieder. Ein weiterer Mann hatte eine wuchtige Kamera auf den Schultern und filmte. Auch das noch. Es würde nicht lange dauern, bis die Bilder im Fernsehen und Internet zu sehen waren. Beck blickte noch einmal zu Dennis Boland, dem Produzenten der Show. Er bemühte sich um eine angemessen betroffene Miene, doch seine Augen leuchteten. Wahrscheinlich rechnete er sich bereits aus, wie die Einschaltquoten für seine Sendung angesichts des Mordes in die Höhe schießen würden.

Vom Schiff aus kam ein Mann mit langen Schritten auf Beck zu. Dr. Marten Reimers. Was das anging, war Damp nahezu optimal. Es lag beinahe genau in der Mitte zwischen Flensburg und Kiel, sodass die Flensburger Kriminaltechniker und der Kieler Rechtsmediziner in etwa den gleichen Anfahrtsweg hatten.

»Moin.« Reimers schüttelte erst Beck, dann Harder die Hand. »Was ist nur aus den guten alten Familienstreitigkeiten geworden? Erst der Fernsehkrimi, dann die Förde-Regatta und jetzt die Talentsuche. Sieht aus, als hätten Sie ein Abo auf Fälle im Showbiz.«

»Ich könnte darauf verzichten«, entgegnete Beck. »Haben Sie schon was für uns?«

»Allerdings.« Reimers warf einen Blick zum Schiff. »Die Frau wurde erwürgt. Eintritt des Todes vor maximal einer Stunde.«

»Das wissen wir auch schon«, gab Beck zurück.

»So?« Reimers runzelte irritiert die Augenbrauen.

»Die Tatzeit«, präzisierte Beck. »Wir haben die Frau im Fernsehen gesehen, live. Sie muss unmittelbar nach Ende der Aufzeichnung ermordet worden sein.«

»Das sollte den Kreis der Verdächtigen eingrenzen«, bemerkte der Rechtsmediziner.

»Hm. Es muss irgendjemand sein, der vor Ort war. Jemand, der mit der Show zu tun hat. Aber da bleiben noch genug Kandidaten übrig.«

»Tja.« Reimers hob eine Hand. Nicht meine Baustelle, sollte das wohl heißen.

»Immerhin war nicht die Schampusflasche die Tatwaffe«, klinkte sich Nick Harder ein. »Das spricht gegen Cattaneo als Täter. Warum hätte er Lydia Kayser erwürgen sollen, wenn er einfach nur mit der Pulle zuschlagen musste? Zumal es ja nicht ganz leicht ist, jemanden zu erwürgen. Dafür braucht man Kraft.«

»Gewöhnlich schon.« Wieder zuckten die Augen des Rechtsmediziners in Richtung der »Albatros«. »In diesem Fall kann ich Ihnen allerdings nicht sagen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau gehandelt hat. Wäre beides möglich.«

Beck schaute zu Lorenzo Cattaneo, der wieder auf den Poller gesunken war und ins Wasser des Yachthafens starrte.

»Aber der Täter muss relativ groß gewesen sein«, überlegte er. »Lydia Kayser war keine kleine Frau. Ein körperlich unterlegener Angreifer hätte es wohl kaum geschafft, sie zu würgen.« Womit zumindest Cattaneo als Verdächtiger aus dem Rennen wäre.

»So einfach ist es leider nicht«, entgegnete Reimers. »Die Kollegen von der Spurensicherung haben auf dem Schiffsdeck etliche Büschel ausgerissener Haare entdeckt. Und ich habe am Körper der Toten eine Reihe von Hämatomen gefunden. Zwei davon sind besonders ausgeprägt. Sie befinden sich auf den Innenseiten der Oberarme.«

Beck brauchte nicht lange zu rätseln, um sich das Szenario vorzustellen. »Das heißt, der Angreifer hat Lydia Kayser an den Haaren gepackt und zu Boden gezerrt. Er hat sie niedergerungen, und dann hat er sich auf sie gesetzt. Mit den Knien auf die Oberarme. Sie konnte vielleicht noch mit den Beinen strampeln, aber sie konnte sich nicht effektiv wehren. Und der Täter hat in aller Ruhe zugedrückt.«

Dr. Marten Reimers nickte. »Dazu braucht man eine Menge Entschlossenheit und Skrupellosigkeit, vielleicht auch Wut. Kraft und Körpergröße spielen dagegen eine untergeordnete Rolle. Umso mehr, wenn das Opfer durch den Angriff überrascht worden ist.«

»Kacke«, sagte Nick Harder, und Beck stimmte ihm zu. Einfacher wurde ihre Arbeit dadurch nicht. Und neben allen anderen war auch Lorenzo Cattaneo immer noch im Rennen.

***

Lorenzo legte den Kopf in den Nacken und schaute hinauf in den Sternenhimmel. Viel sehen konnte er nicht, das Licht war milchig wegen der leistungsstarken Scheinwerfer, die die Polizisten rund um das Museumsschiff aufgestellt hatten. Und weil ihm die Erinnerung an Lydias erstarrtes Gesicht immer wieder Tränen in die Augen trieb.

Er hatte sie nicht gemocht. Klar, sie sah gut aus, und sie konnte sehr charmant sein. Wenn sie in die Kamera schaute und mit dem Publikum flirtete. Oder wenn sie einem nach einem erfolgreichen Auftritt freundschaftlich den Arm um die Schultern legte und einen mit Lob überschüttete. Mit Worten konnte sie verdammt gut umgehen. Aber sie war eine Hydra, eine zweiköpfige. Der eine Kopf lächelte. Der andere brütete bösartige Gedanken aus. Sie war einfach falsch. Wie sie Nino und Angelo fertiggemacht hatte … Da hätte Lorenzo ihr gern irgendetwas an den Kopf geworfen. Aber dass jemand sie umgebracht hatte, war trotzdem unbegreiflich.

Natürlich hatte sie sich nicht gerade beliebt gemacht. Aber das hatten die Jurymitglieder, allen voran Dennis Boland, auch nicht. Der hatte einige Kandidaten zum Heulen gebracht. Manch einer hatte von Hass gesprochen. Tatsächlich, dachte Lorenzo, hätte es ihn weniger überrascht, wenn man Boland ermordet hätte.

Er wischte sich über die Augen und entdeckte, dass der Produzent ihm zuwinkte. Mühsam stemmte er sich von seinem Poller hoch und ging zu der Stelle jenseits der Absperrung, auf die Boland deutete, ein Stück abseits des Trubels. Seine Beine fühlten sich weich an, und er wankte ein wenig, als wäre er betrunken. Dabei hatte er nur einen einzigen Schluck aus der Schampusflasche genommen.

Er schlüpfte unter dem rot-weißen Band hindurch und schaute den Produzenten an. Bolands Hand legte sich schwer auf seine Schulter.

»Lorenzo, Lorenzo. Was hast du denn da angestellt?«

»Ich?« Cattaneo blinzelte. »Ich habe überhaupt nichts gemacht. Ich habe sie bloß gefunden.«

Bolands Griff verstärkte sich.

»Wer ist es?«, fragte er. »Die Polizei wollte uns nichts sagen. Ist es …«, ein schneller Blick zu den Leuten, die an der Absperrung standen, »… Lydia?«

Lorenzo schluckte trocken. Er konnte nicht sprechen.

Auch Bolands andere Hand landete auf Lorenzos Schulter, und der Produzent rüttelte ihn durch.

»Rede mit mir, verdammt. Ich muss wissen, was da los ist. Wir machen ein Special. Wir brauchen alle Informationen, die wir kriegen können. Und du musst natürlich ein Exklusivinterview geben.«

»Ich?« Cattaneo spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Sein erster Impuls war, Bolands Hände abzuschütteln und davonzulaufen. Wie pervers war das denn, aus dem Tod der Moderatorin Profit zu schlagen? Damit wollte er nichts zu tun haben. Aber da war noch eine andere Stimme in seinem Kopf, die ihn zurückhielt. Natürlich war es widerlich, aber so war das Showbusiness. Je blutiger das Drama, desto höher die Quote.

Lorenzo wollte sein Leben nicht als Kellner in der kleinen Trattoria seiner Eltern in Braunschweig verbringen. Er wollte Sänger werden, auf der Bühne stehen, Platten verkaufen. Er wollte Erfolg, und hier war seine Chance. Er besaß etwas, das die anderen Kandidaten von DSDT nicht hatten. Er hatte Lydia Kaysers Leiche gefunden. Darüber zu berichten würde ihm reichlich Sendezeit einbringen. Und Sendezeit, das wusste jeder, war der Schlüssel zum Erfolg.

Lorenzo straffte sich und sah Dennis Boland entschlossen an.

»Klar. Mach ich.«

»Gut.« Boland lächelte, doch sein Blick hatte auch etwas Düsteres. Vielleicht, dachte Lorenzo, ging es ihm gar nicht so viel anders als ihm selbst. Auch Dennis Boland musste seine Gefühle beiseiteschieben und den Gesetzen der Branche gehorchen, selbst wenn es ihm persönlich widerstrebte. Womöglich war Boland gar nicht so ein herzloser Zyniker, wie er den Leuten vorgaukelte.

Der Wunsch, dass er, Lorenzo Cattaneo, derjenige sein durfte, der am Ende mit Dennis Boland eine Platte produzierte, wurde noch drängender.

***

Jan Böttcher, der Leiter des Spurensicherungsteams, kam durch den Sand auf Paul Beck und Nick Harder zu. Er hatte ein Tablet in der Hand, auf dem die vorläufigen Ergebnisse der Suche verzeichnet waren.

»Jede Menge Fingerabdrücke an der Leiter, die aufs Schiff führt«, berichtete er. »Darunter auch die der Ermordeten. Dazu noch zwei, drei Dutzend weitere. Mit den Spuren an Deck ist es das Gleiche. Haare von etlichen Personen. Die meisten stammen von der Toten. Der Täter muss kräftig an ihren Haaren gezerrt und ihr dabei ganze Büschel ausgerissen haben. Wir haben auch Faserspuren, die zu ihrer Kleidung passen, außerdem einen ganzen Haufen weitere Fasern. Zu viele, als dass wir daraus auf den Täter schließen könnten. Dieses Museumsschiff ist offenbar gut besucht.«

Beck schaute zur angestrahlten »Albatros«.

»Kampfspuren?«

»Nein. Auf dem Deck befinden sich ein paar bewegliche Sitzbänke aus Holz, alle an der Reling, aber es lässt sich nicht sagen, ob sie schon vorher dort gestanden haben oder bei einer handgreiflichen Auseinandersetzung dorthin geraten sind.«

»Hm.« Beck rieb sich das Kinn. Das war das Problem mit öffentlichen Orten. Die Spuren, die man fand, konnten mit der Tat in Verbindung stehen, ebenso gut aber auch zu einem anderen Zeitpunkt dorthin gelangt sein.