Regatta in den Tod - Bengt Thomas Jörnsson - E-Book

Regatta in den Tod E-Book

Bengt Thomas Jörnsson

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Beschreibung

Ein fesselnder, pointiert und witzig erzählter Ermittlerkrimi. Feiger Mord beim neuen deutsch-dänischen "Glücksburg Trimarthon", einer Kombination aus verschiedenen Wassersportdisziplinen: Eine Stand-up-Paddlerin treibt vergiftet in der Förde. Die Kommissare Paul Beck und Nick Harder ermitteln und stoßen auf exzessiven sportlichen Ehrgeiz und erbitterte Konkurrenz, aber auch auf alte Geheimnisse, die plötzlich an die Oberfläche gespült werden. Und dann entwickelt sich der Fall auch noch zur Zerreißprobe für Becks junge Liebe...

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Bengt Thomas Jörnsson, geboren 1969 in Bremerhaven, ist Pädagoge, Germanist und promovierter Psychologe. Bevor er sich ganz dem Schreiben widmete, war er einige Jahre in der Wissenschaft tätig. Jörnsson ist verheiratet und lebt und arbeitet in Kiel.www.joernsson.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

©2018 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: mauritius images/imageBROKER/ Michael Dietrich Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer Umsetzung: Tobias Doetsch Lektorat: Carlos Westerkamp eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-96041-337-0 Förde Krimi Originalausgabe

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1

Watson würde sich totlachen, wenn er ihn so sah.

Paul Beck hockte auf allen vieren auf dem weißen Brett und fühlte sich, als würden ihn unzählige Hände umklammern. Dabei war es nur der Anzug, in den er sich gezwängt hatte. Schwarzes Neopren, das enger am Hals lag als jede Krawatte und einen unangenehmen Geruch nach Gummi absonderte. Das Material heizte sich in der Julisonne auf und grillte ihn wie ein Backofen.

Zum Glück war der Kater zu Hause geblieben. Das hätte ihm noch gefehlt, dass er hier saß, den Kopf schief legte und ihn aus seinen grünen Augen spöttisch anfunkelte.

»Na los. Stell dich hin«, verlangte Nick Harder. »Erst den einen Fuß aufsetzen, dann den anderen. Und langsam aufrichten.«

Beck blickte zu seinem Freund und Kollegen. Auch dieser trug einen schwarzen Neoprenanzug mit kurzen Ärmeln und Beinen. Im Gegensatz zu ihm selbst sah er darin allerdings ausgesprochen gut aus. Das eng anliegende Material betonte seinen durchtrainierten Körper, und mit dem Dreitagebart und den dunklen, modisch geschnittenen und gerade jetzt vom Wind zerzausten Haaren wirkte er selbstbewusst und verwegen zugleich. Was er ja auch war.

Beck versuchte, die Anweisungen zu befolgen, und kam wackelig auf die Beine.

»Prima«, kommentierte Nick und reichte ihm das Paddel.

Beck ruderte mit den Armen und klammerte seine Finger um das Aluminiumrohr. Da Nick es festhielt, fühlte er sich sicher, doch schon im nächsten Moment ließ dieser los, und Beck hatte das Gefühl, das Paddel zöge ihn nach vorn. Eilig riss er es näher zu sich heran und spürte, wie er seine Stabilität wiederfand. Soweit man so etwas auf einem wackeligen Paddle-Board überhaupt empfinden konnte.

»Wenn du fahren willst, solltest du das Paddel vielleicht auch benutzen«, schlug Nick vor. Beck meinte, eine Spur von Ungeduld in seiner Stimme wahrzunehmen.

Er ließ das Paddel vorsichtig sinken und tauchte das Ruderblatt ein. Irgendwo draußen rauschte ein Motorboot vorbei.

Ein paar flache, sanfte Wellen rollten vom Meer an den Strand von Holnis Drei. Das Brett unter Pauls Füßen bewegte sich leicht.

Er versuchte sich auszubalancieren, doch sein Körper gehorchte ihm nicht. Das Paddelbrett glitt unter seinen Füßen davon, und er stürzte ins flache Wasser. Wie schon bei den drei– oder waren es zehn?– Versuchen zuvor. Wenigstens war das Wasser weich und angenehm warm, fast zu warm für den Neoprenanzug, zu dem Nick ihn gedrängt hatte.

Nick Harder rettete das Paddel, das er verloren hatte, und schob ihm das Brett wieder hin.

»Los. Noch mal.«

Beck kletterte wieder auf den aufblasbaren Schwimmkörper, setzte die Füße auf und stellte sich vorsichtig hin.

»Steh nicht so steif«, befahl Nick. »Bleib locker in den Knien.«

Beck beugte die Knie und streckte den Arm aus, um das Paddel entgegenzunehmen. Sein Blick glitt über die blaue Ostsee, die im Sonnenlicht glitzerte.

Bei den anderen Stand-up-Paddlern sah es ganz leicht aus. Sie standen entspannt auf ihren Brettern, tauchten abwechselnd rechts und links das Paddel ein und glitten zügig über die Wasserfläche.

Beck umfasste mit beiden Händen das nasse Aluminiumrohr und stieß das Ruderblatt ins Wasser. Entschlossen drückte er es nach hinten, und das Brett setzte sich in Bewegung.

»Na also. Geht doch«, freute sich Nick, und Paul Beck verspürte plötzlich ein köstliches Triumphgefühl. Er tauchte das Blatt wieder ein und schob sich ein Stück weiter. Das Paddelbrett gewann an Fahrt. Zu viel, wie er fand. Das Brett zog seine Füße nach vorn, während sich sein restlicher Körper gefährlich weit nach hinten neigte. Im nächsten Moment verlor er das Gleichgewicht und knallte auf das Brett. Das Paddel entglitt ihm, das Board kippte zur Seite, und Beck rutschte ins Wasser.

Nick Harder verschränkte die Arme und stöhnte.

»Also, ganz ehrlich, Paul«, sagte er, nachdem Beck sich wieder aufgerappelt hatte. »Ich fürchte, damit wirst du Lotta nicht beeindrucken.«

2

Rechts und links von ihnen zogen baumbestandene Wiesen vorbei. Über ihnen erstreckte sich der weite azurblaue Himmel, unter ihnen plätscherte das tiefblaue Wasser. Graue Wolken trieben am Horizont, formierten sich zu seltsamen Gebilden und trennten sich wieder.

Am linken Ufer des Koldingfjords tauchte das Hotel mit seiner imposanten roten Backsteinfassade und den weißen Sprossenfenstern auf, doch die Frau am Paddel hatte keinen Blick für die Schönheiten der Landschaft. Sie hielt die Augen fest auf die Fahrrinne gerichtet und konzentrierte sich vollkommen auf das, was sie tat.

»Wie eine Kriegerin«, dachte Lotta Lundkvist. Sie saß mit dem Rücken zum Bug des Kanus und vervollständigte mit ein paar Bleistiftstrichen das Porträt ihrer Freundin.

Grit Larsen stand aufrecht vor der zweiten Sitzbank und stieß das lange Paddel abwechselnd rechts und links ins Wasser. Das Boot glitt zügig durch die Wellen. Grit hatte Schweiß auf der Stirn, doch ihr Atem ging ruhig und gleichmäßig, und sie ließ nicht nach.

Lotta arbeitete mit dem weichen Stift die weiblichen Linien von Grits Körper nach, die sich unter dem hautengen Neoprenanzug abzeichneten. Anschließend widmete sie sich dem Gesicht, skizzierte mit feinen Strichen die langen blonden Haare, die schmale Nase und den energischen Mund. Für die Augen hätte sie eigentlich ein schimmerndes Blau benötigt. Da sie aber ausschließlich Bleistifte benutzte, deutete sie das Leuchten stattdessen mit einem winzigen Strahlenkranz in den Augenwinkeln an.

Schließlich betrachtete sie ihr Werk und nickte zufrieden. Sie hatte nicht nur Grits außergewöhnliche Schönheit eingefangen, sondern auch etwas von der unbändigen Tatkraft, die sie ausstrahlte. Lotta hielt ihr die fertige Zeichnung hin, und Grit nahm das Paddel aus dem Wasser und setzte sich Lotta gegenüber auf die Bank.

»Du hättest das wirklich studieren sollen«, erklärte sie ernst. »Anstatt dein Leben im Staatsdienst zu verschwenden.«

Es war einer der wenigen Punkte, über die sie sich nie einig wurden.

»Mir gefällt die Sicherheit«, erwiderte Lotta wie jedes Mal, wenn sie auf dieses Thema kamen. »Und das Gefühl, etwas Bedeutsames zu tun. Für ein bisschen mehr Gerechtigkeit in der Welt zu sorgen.«

»Ha.« Grit Larsen stand abrupt wieder auf und rammte ihr Paddel so heftig ins Wasser, dass es aufspritzte. »Gerechtigkeit! Ich bitte dich. Du dienst nur dem Gesetz. Und das ist etwas vollkommen anderes.«

Lotta hielt eilig ihre Zeichnung hoch. Beinahe wäre sie von dem Wasserschwall getroffen worden. Stattdessen waren jetzt ihre Jeans nass, doch die würden wieder trocknen. Sie steckte das Bild in eine Plastiktüte und verstaute es zusammen mit den Stiften in der wasserdichten Tonne, die hinter ihr im Boot stand.

»Tut mir leid«, sagte sie. Sie hatte sich geschworen, diese Diskussion zu vermeiden. Aber wenn Grit ihren Beruf in Frage stellte, konnte sie sich einfach nicht zurückhalten.

Grit paddelte verbissen weiter. Lotta begann zu frösteln. Sie zog ihre Windjacke enger um die Schultern.

»Grit. Ich verstehe deine Wut«, versuchte sie es erneut. »Mir ist klar, dass es nicht dasselbe ist, ob man recht bekommt oder ob einem Gerechtigkeit widerfährt. Trotzdem muss man es doch wenigstens versuchen. Auch wenn man scheitert.«

Ihre Freundin hörte auf zu paddeln.

»Du hast keine Ahnung, wie sich das anfühlt.«

»Nein. Aber ich habe gesehen, was es mit dir gemacht hat.«

Grit sank zurück auf die Bank.

»Du bist die Einzige, die mich nicht im Stich gelassen hat«, sagte sie, die Stimme weicher, aber auch brüchiger als zuvor. »Glaub mir: Ich weiß das zu schätzen.«

Lotta legte ihre Hand auf die der Freundin. Es war ihr in den letzten beiden Jahren nicht immer leichtgefallen, ihr die Treue zu halten. Grit hatte sich verändert. Von ihrer alten Leichtigkeit und Fröhlichkeit war nicht viel geblieben. Stattdessen war sie immer vergrämter und verbissener geworden. Doch das war ja auch kein Wunder.

»Ich kann nachvollziehen, dass es nicht einfach für dich ist«, sagte Lotta. »Aber es hat keinen Sinn, mit dem zu hadern, was war. Du hast getan, was du konntest.«

»Ja. Und was hat es genützt? Dieser Verbrecher läuft weiterhin frei herum und genießt sein Leben«, erwiderte Grit bitter.

»Ich hätte mir auch gewünscht, dass sie ihn schuldig sprechen«, bestätigte Lotta, und die Bilder der Gerichtsverhandlung, der sie im Publikum beigewohnt hatte, zogen wie ein Film vor ihrem geistigen Auge vorbei. Sie hatte Grits Schmerz und ihre Verzweiflung gesehen, als das Urteil verkündet worden war. Sie selbst hatte sich in diesem Moment vollkommen taub gefühlt, obwohl sie den Ausgang des Verfahrens bereits vorhergesehen hatte. Spätestens nachdem das ärztliche Gutachten verlesen worden war. Sie war erst wütend gewesen und dann maßlos enttäuscht, und sie konnte erahnen, wie erschüttert Grit gewesen sein musste.

»Aber selbst wenn sie ihn verurteilt hätten…«, gab Lotta zu bedenken,»…hätte es Pia nicht wieder lebendig gemacht.«

Grit presste die Kiefer zusammen. Sie umklammerte ihren eigenen Oberkörper, als könne sie auf diese Weise Halt finden. Sie zitterte und krümmte sich, und ihre Augen begannen zu schwimmen.

»Sie war erst sechs, Lotta«, stieß sie hervor.

Lotta hockte sich vor sie. Sie schloss ihre Freundin in die Arme und strich ihr beruhigend über den Rücken. Lottas Kehle fühlte sich an, als sei sie geschwollen, und sie musste sich räuspern, um weitersprechen zu können.

»Und trotzdem hast du nicht aufgegeben. Du hast ein neues Lebensziel gefunden.«

Grit richtete sich auf und wischte sich energisch die Tränen aus dem Gesicht.

»Ja. Du hast recht.« Sie befreite sich aus Lottas Umarmung. »Ich lasse mich nicht unterkriegen.« Sie stand wieder auf und nahm das Paddel zur Hand. »Ich werde kämpfen und siegen. Und wehe den Deutschen, die mir im Weg stehen.«

3

Die Luft in der Schwimmhalle war warm und feucht, kein Wunder bei einer Wassertemperatur von sechsundzwanzig Grad. Julia Richter warf einen sehnsüchtigen Blick durch die hohen Fenster des Sportbads auf den Außenbereich der Glücksburger Fördelandtherme mit den Kinderbecken und der Leuchtturmrutsche. Sie hätte es vorgezogen, sich den sanften Wind um die Nase wehen zu lassen, der dort den Strandhafer streichelte. Seit man im vergangenen Jahr die Palmen und Papageien durch ostseetypische Symbole und Pflanzen ersetzt hatte, mochte sie das Bad noch lieber. Doch heute war sie nicht hier, um sich im Meerwasserbecken von den Massagedüsen die Muskeln durchkneten zu lassen.

Stattdessen stand sie mit verschränkten Armen am Beckenrand und sah zu, wie ihre Sportkameradinnen durch das Wasser pflügten. Alle vier trugen die dünnen und hautengen Schwimmanzüge des deutschen Teams und die schwarzen Kappen mit der aufgeprägten Deutschlandflagge. Sie zogen ihre Bahnen, getrennt durch die Schnüre mit den roten und weißen Schwimmkörpern, wendeten und kraulten in die entgegengesetzte Richtung, ein ums andere Mal.

Julias Ehemann Heiko, der neben ihr stand, hielt die Stoppuhr hoch.

»Letzte Bahn«, kündigte er an.

Julia nickte, schaute aber nicht zu ihm hinüber. Ihre Aufmerksamkeit galt ausschließlich dem Wettstreit im Becken. Sie fühlte sich angespannt. Und mit jeder Minute, die sie den Schwimmerinnen zusah, sank ihre Laune.

Die Frauen waren alle zeitgleich gestartet, doch das Feld hatte sich auseinandergezogen. Susanne Holst, die erst vor einigen Wochen zum Verein dazugestoßen war, lag deutlich vorn. Friederike Niehaus, eigentlich gesetzt als Schwimmerin in Team eins, fiel immer weiter zurück.

Julia presste ärgerlich die Lippen aufeinander. Friederike hatte in den letzten Monaten um einiges zugelegt, wie der Blick in das kristallklare Wasser über den blauen Bodenkacheln deutlich zeigte. Der dünne Neoprenanzug konnte kaum noch verhüllen, dass sie Speck angesetzt hatte. Und zugleich hatte sie offenbar ihr Training vernachlässigt. Als Julia sie darauf angesprochen hatte, hatte sie irgendetwas von Kinderkrankheiten gemurmelt, doch darauf konnte Julia keine Rücksicht nehmen. Auch wenn Friederike ihre Freundin war und in der schweren Zeit zu ihr gestanden hatte. Doch hier ging es nicht um Freundschaft. Hier ging es um den Sieg.

Susanne Holst schlug als Erste am Beckenrand an und reckte den Arm in die Luft. Ein paar Sekunden später folgten die beiden anderen Schwimmerinnen, die für die Teams zwei und drei vorgesehen waren. Erst als Letzte langte Friederike Niehaus am Ziel an.

Heiko Richter drückte den Knopf seiner Stoppuhr und verzog den Mund.

»Das war nichts, Friederike«, bekundete er. »Deine schlechteste Leistung seit Monaten.«

Friederike Niehaus stemmte sich aus dem Becken und nahm die schwarze Badekappe ab. Ein Schwall brauner Locken ergoss sich über ihre Schultern. Julia fühlte einen heißen Stich und fuhr sich unwillkürlich mit der Hand über ihre eigenen stoppelkurzen Haare.

»Ich bin nicht gut vom Block weggekommen«, rechtfertigte sich Friederike. »Und bei der zweiten Wende habe ich mir den Fuß gestoßen.«

Heiko Richter setzte eine bedenkliche Miene auf und sah zu seiner Frau. Auch die Schwimmerin wandte sich ihr zu.

»Morgen läuft das anders«, versicherte Friederike. »Im Meer kann ich mich nicht stoßen, und es gibt auch keinen Startblock. Und überhaupt: Du weißt doch, dass ich diese Chlorbrühe nicht leiden kann. Wenn ich im Salzwasser bin, schwimme ich wie ein Fisch.«

Heiko wechselte einen unsicheren Blick mit Julia. So bullig er mit seinen breiten Schultern und den militärisch kurzen dunklen Haaren wirkte, so weich war sein Herz. Auch wenn man ihm das nur selten anmerkte.

»Na ja…«

»Nein.« Julia schüttelte den Kopf. In den letzten beiden Jahren hatte sie gelernt, hart zu sein. Gegen sich selbst, aber auch gegen andere.

Heiko hob die Arme, und seine kräftigen Muskeln wölbten sich. »Tut mir leid.«

Friederikes braune Augen begannen zu glänzen.

»Das kannst du nicht machen. Ich trainiere seit einem Jahr für diesen Wettbewerb. Und es war immer klar, dass ich in Team eins schwimme.«

»Sofern du deine Leistung bringst«, schränkte Heiko Richter ein, die Stimme jetzt eine Spur ungeduldig. Er war es gewohnt, dass man seinen Befehlen Folge leistete, und Widerspruch ertrug er nicht gut. »Aber das hast du nicht. Und wenn Julia Zweifel hat…«

Friederike ballte die Fäuste. »Ich denke, du bist hier der Trainer.«

Heiko Richter machte eine abweisende Geste, ein deutliches Signal, dass für ihn die Diskussion beendet war. Jede weitere Nachfrage würde unweigerlich einen Wutausbruch zur Folge haben.

»Ich kümmere mich bei diesem Wettbewerb um alle deutschen Sportlerinnen«, sagte er. »Aber über die Besetzung der einzelnen Mannschaften entscheiden die Teamleaderinnen.«

»So?« Friederike wandte sich von ihrem Trainer ab und funkelte Julia an. »Und was bedeutet das?«

Julia erwiderte ihren Blick leidenschaftslos. Es fiel ihr nicht leicht, doch sie hatte gar keine andere Wahl.

4

Watson saß auf dem Schreibtisch und glotzte ihn an. Natürlich konnten Katzen weder grinsen noch jemanden auslachen. Dennoch war es genau das, was Watson tat. Der Kater hatte seinen rotbraunen, fast orangefarbenen Kopf mit dem ausgefransten linken Ohr zur Seite geneigt, und seine smaragdgrünen Augen blitzten.

»Ich kann nichts dafür«, verteidigte sich Paul Beck. »Die Sachen hat Lotta ausgesucht.«

Mit Unbehagen dachte er daran, wie sie ihn durch die Flensburger Einkaufsmeile geschleppt hatte. Damit er sich endlich einmal vernünftig anzog, wie sie gemeint hatte. Wahrscheinlich war es ihr peinlich, einen Mann an ihrer Seite zu haben, der sich kleidete wie sein eigener Großvater. Bei den ersten zwei, drei Geschäften hatte er sich noch drücken können. Doch vor dem Kaufhaus hatte es kein Entkommen mehr gegeben.

Also hatte er sich gehorsam auf die Suche nach ein paar Hosen und einer neuen Jacke gemacht. Lotta hatte ihm eine Weile zugesehen und dann eingegriffen. Ganz offensichtlich war sie mit seinen Bemühungen nicht zufrieden gewesen. Beharrlich hatte sie ihn von den Ständern weggezogen, die er angesteuert hatte, hier und da ein paar Stücke von den Stangen geangelt und ihn mit einem Armvoll Klamotten in eine der Kabinen gedrängt. Durch einen Spalt im Vorhang hatte sie die ganze Zeit zu ihm hereingesehen und nicht lockergelassen, bis er schließlich ein Outfit gewählt hatte, das ihr passend erschien.

»Sie sagt, ich blamiere mich, wenn ich in den alten Sachen mit Nick zum Glücksburg Trimarthon gehe.«

Der Kater fixierte ihn.

»Du willst wissen, was das ist?« Beck hob müde die Mundwinkel. »Ich hatte auch keine Ahnung. Eine Werbeagentur hat sich das Ganze ausgedacht. Die Stadt Glücksburg hat sie beauftragt. Sie wollten etwas, um den Tourismus weiter anzukurbeln. So wie die Kieler Woche, nur spektakulärer. Und innovativ.« Er schnitt eine Grimasse. »Also haben sie den Trimarthon erfunden. Einen Wassersportwettbewerb. Fünf Teams aus jeweils drei Frauen treten gegeneinander an. Wenn das Konzept einschlägt, wollen sie das Ganze auch mit Herrenmannschaften und gemischten Teams etablieren, aber für die Premiere haben sie sich für einen Damenwettbewerb entschieden. Zunächst einmal mit Teilnehmerinnen aus der Region und zwei Gastmannschaften, einer dänischen und einer holländischen, damit es einen Anstrich von Internationalität bekommt. Die Frauen haben die Aufgabe, die Förde zwischen Glücksburg und Sønderhav zu überqueren– das sind ungefähr vier Kilometer. Eine schwimmt, eine surft mit dem Kite, und die dritte fährt mit einem Stand-up-Paddle-Board.«

Kurz dachte er an seinen Versuch vom Vortag, unter Nicks Anleitung die Fortbewegung auf einem solchen Brett zu erlernen. Dann schüttelte er die Erinnerung schnell wieder ab.

»Dem Gewinnerteam winkt ein Preisgeld von zehntausend Euro. Die Hälfte stellt das Tourismusbüro, den Rest ein Sportausrüster, der dafür seine Werbelogos überall anbringen darf.«

Watson schnupperte. Wahrscheinlich rechnete er aus, wie viele Schalen seines bevorzugten Futters man für diese Summe erwerben könnte.

»Nick meint, ich müsse mir das unbedingt ansehen. Weil ich doch ein Faible für Schiffe habe.« Sein Blick wanderte zu den Rumflaschen, die in einem Regal an der Wand aufgereiht waren. Ein Großteil von ihnen stand aufrecht und enthielt, was das Etikett versprach. Ein kleinerer Teil lag auf winzigen Holzböcken, und in jeder dieser Flaschen befand sich ein Buddelschiff, das Beck selbst in geduldiger Bastelarbeit gefertigt hatte. Auch der Kater nahm die Sammlung in Augenschein. Seine Schnurrhaare sträubten sich.

»Ich weiß, dass du sie nicht magst«, sagte Beck warnend. »Aber du lässt die Pfoten davon. Das ist mein Hobby.«

Der Kater zog den Kopf zwischen die Vorderläufe, als wolle er gelangweilt mit den Schultern zucken.

»Gut.« Beck drehte sich zum Spiegel und betrachtete sein neues Erscheinungsbild.

Die Bluejeans saßen eng und betonten seine langen Beine. Die blauen Turnschuhe wirkten dagegen übertrieben wuchtig. Und das weiße Hemd mit den flatternden Ärmeln hätte seiner Ansicht nach wenigstens eine Nummer kleiner ausfallen dürfen. Wie ein Storch, der sein Gefieder aufplustert, dachte er. Aber Lotta und die emsige Verkäuferin, die nach einer Weile dazugestoßen war, hatten beteuert, dass ihm die Sachen gut standen.

Beck griff nach der Windjacke, die über einem Bügel am Schrank hing, und schlüpfte hinein.

Watson schnaubte und sträubte sein Fell.

»Hör auf«, drohte Beck und warf erneut einen Blick in den Spiegel. Aber der Kater hatte ja recht. Die Jacke saß zwar gut, doch die Farbe war eine Zumutung. »Signalrot«, hatte auf dem Schild gestanden, und die Beschreibung war mehr als zutreffend.

Paul Beck schnalzte unzufrieden mit der Zunge. Er sah aus, als hätte er sich in die schleswig-holsteinische Landesflagge gewickelt. Blau-weiß-rot… Und dazu noch diese alberne Schirmmütze, die Lotta ausgesucht hatte. Dunkelblau, mit einem seltsamen chinesischen Schriftzeichen in Weiß auf der Vorderseite.

Der Kater warf sich auf die Seite, streckte alle vier Beine von sich und machte seltsame Geräusche. Vermutlich kugelte er sich vor Lachen.

»Nein.«

Beck nahm die Mütze ab. Zusammen mit seinem schmalen Gesicht und den halblangen blonden Haaren sah sie einfach nur grotesk aus. Dann zog er Jacke, Hemd, Hose und Schuhe wieder aus und verstaute alles im Schrank. Er öffnete die andere Tür und griff nach den Sachen, die er zum Glück noch nicht in die Altkleidersammlung gegeben hatte, auch wenn das Lottas Wunsch gewesen war.

Er verspürte ein schlechtes Gewissen. Lotta würde das nicht gefallen, und er wollte sie nicht enttäuschen. Die Lebensfreude, die sie versprühte, tat ihm gut, auch wenn er sich manchmal von ihrer Emotionalität überrollt fühlte. Lotta war eine tolle Frau, und Beck konnte es noch immer nicht so recht glauben, dass sie sich für ihn entschieden hatte. Er sehnte sich plötzlich danach, ihre Stimme zu hören. Auch wenn sie ihm angesichts seiner modischen Entscheidung sicher den Kopf waschen würde. Doch er konnte nicht anders.

»Tut mir leid«, sagte er laut. »Aber wenn sie mich liebt, muss sie mich so nehmen, wie ich bin.«

5

Nick Harder winkte.

»Hey! Paul! Hier drüben!«

Beck schob sich zwischen den Menschen hindurch, die sich am Glücksburger Strand drängten, direkt vor dem Strandhotel, dem imposanten »Weißen Schloss von Glücksburg«, wie es genannt wurde. Natürlich hatte Nick einen Platz in der ersten Reihe ergattert. Beck wurde mehrfach angerempelt und beschimpft, während er sich zu ihm durcharbeitete. Als er es endlich geschafft hatte, atmete er erleichtert auf und zog seine Pfeife aus der Manteltasche.

Nick Harder kniff die Augen zusammen und musterte Becks Stoffhose, das Hemd, den Sommermantel und den Bowler, alles in Schwarz.

»Ist das dein neues Outfit?«, erkundigte er sich. »Sieht aus wie immer, finde ich.«

»Nein.« Beck begann seine Pfeife zu stopfen, um sein Unbehagen zu verbergen, vor Nick ebenso wie vor sich selbst. »Ich habe Watson die neuen Sachen gezeigt. Er fand sie schrecklich.«

»Soso.« Nick grinste. »Und was sagt Lotta, wenn dir die Meinung deines Katers wichtiger ist als ihre?«

»Keine Ahnung«, gestand Beck, der lieber nicht darüber nachdenken wollte. Lotta war impulsiv und machte aus ihrem Herzen keine Mördergrube. Das war es ja, was ihn so an ihr anzog, ihre direkte, ehrliche und kompromisslose Art. Lotta schaffte es, ihn zu berühren. Doch ihr Temperament hatte auch seine Nachteile. Vermutlich würde sie aus der Haut fahren, wenn sie entdeckte, dass er ihre Liebesbemühungen in Sachen Kleidung einfach so zurückwies und keinen Schritt auf sie zukam– und mit so etwas konnte er überhaupt nicht umgehen. »Aber sie sieht mich ja nicht.«

»Tja. Das ist wohl dein Glück«, entgegnete Nick und zog die unvermeidliche Tüte mit Pistazien aus der Jackentasche. Beck betrachtete ihn mit leisem Neid.

Wie er selbst trug auch Nick Harder Schwarz. Allerdings waren es bei ihm figurbetonte Jeans und Sneakers. Die Jacke war eine anthrazitfarbene Motorradjacke aus Canvas mit zahlreichen Taschen, das Polohemd, das darunter hervorschaute, war gelb und hatte auffällige Applikationen. Wie immer sah Nick auf lässige Weise männlich und bestechend attraktiv aus.

»Hm.« Beck beschloss, sich nicht länger mit dem Thema Mode zu beschäftigen. Er wandte seine Aufmerksamkeit dem Wasser zu und zündete die Pfeife an.

In der für den Wettbewerb abgesteckten Zone machten sich fünf Frauen bereit. Sie alle trugen Neoprenanzüge, drei von ihnen in Schwarz mit einer kleinen Deutschlandfahne auf der Brust, eine in Rot und Weiß mit der dänischen Flagge und eine in Knallorange, mit der Fahne, die dieselben Farben hatte wie die schleswig-holsteinische, nur in umgekehrter Anordnung: rot-weiß-blau. Die Paddle-Boards der Deutschen waren weiß, das Brett der Dänin rot, und das der Holländerin war im selben Oranje gehalten wie ihr Dress.

Hinter den Frauen befand sich ein langer Tisch, auf dem fünf Wettbewerbsuhren aufgereiht waren, verbunden mit einer kompliziert aussehenden Computeranlage. Ein ernst dreinblickender Mann betätigte die Apparatur. Ein zweiter, korrekt im Anzug gekleidet, stand direkt an der Wasserkante und hielt eine Startschusspistole in der Hand. Am Strand entlang zogen sich bunte Verkaufsstände, an denen man Getränke, Waffeln und Würstchen, Lenkdrachen, Sonnenschirme und Kappen und alle möglichen maritimen Andenken erwerben konnte. Das Publikum war bunt gemischt. Beck sah Familien mit kleinen Kindern, junge Leute in kurzen Hosen und Sandalen und eine Reihe älterer Herrschaften, die sich größtenteils in dichte Windjacken gehüllt hatten. Die Stimmung war ausgelassen, Lachen, Rufe und Musikfetzen mischten sich mit dem leisen Rauschen der Wellen und dem Geschrei der Möwen. Beck, der kein Freund von Volksfesten und ähnlichen Veranstaltungen war, bemerkte zu seiner Erleichterung, dass er sich nicht so unwohl fühlte, wie er befürchtet hatte. Er ließ den Blick über die blau schimmernde Ostsee gleiten und betrachtete dann die letzten Vorbereitungen.

Mehrere Fernsehteams hatten sich rund um den Startbereich aufgestellt und richteten ihre Kameras jetzt auf den Anzugträger.

Paul Beck zog an seiner Pfeife. »Und wie geht das nun? Ich dachte, jedes Team besteht aus drei Frauen?«

Nick Harder kaute eine Pistazie und rollte mit den Augen.

»Hast du den Flyer nicht gelesen? Nur die Frau mit dem Paddle-Board fährt hin und zurück. Sie ist die wichtigste Person im Rennen, weil sie zwei Zeiten in das Gesamtresultat einbringt– die für den Weg nach Sønderhav und die für den Weg zurück. Die beiden anderen– die Schwimmerin und die Kite-Surferin– fahren nur eine Zeit ein. Sie starten drüben in Dänemark und laufen hier ein. Deswegen sind sie jetzt dort, genau wie die Trainer.«

»Aha.« Paul verdichtete den Tabak im Pfeifenkopf mit dem entsprechenden Werkzeug.

Nick gestikulierte in Richtung der gegenüberliegenden Uferseite.

»Die Paddlerinnen gehen in Sønderhav an Land. Die haben dort genauso eine Messstation wie hier. Die Zeiten werden einzeln erfasst. Und die Paddlerinnen starten drüben erst neu, wenn sie alle angekommen sind. Schließlich wollen die Veranstalter ja hier in Glücksburg den spektakulären Zieleinlauf haben.«

Beck warf seufzend einen Blick auf seine Armbanduhr. Fünf vor elf, noch fünf Minuten bis zum geplanten Start. Nach dem, was Nick ihm soeben erklärt hatte, würde wahrscheinlich der halbe Tag für die Sache draufgehen, und bis er wieder daheim in Kappeln war, wäre nicht mehr viel davon übrig. Ein eigentlich wunderschöner arbeitsfreier Sonntag, den er damit hätte verbringen können, sich auf seine Terrasse mit Blick auf die Schlei zu setzen und mit dem Bau eines neuen Buddelschiffs zu beginnen oder etwas mit Lotta zu unternehmen.

»Das heißt, wir müssen warten, bis sie wieder zurück sind?«

Harder schlug ihm auf die Schulter und grinste.

»Ja«, erwiderte er. »Aber du wirst sehen: Es lohnt sich.«

***

Auf der anderen Seite der Flensburger Förde, im dänischen Sønderhav, hob ein Startrichter die Pistole, der weitaus weniger steif wirkte als sein Glücksburger Pendant. Er trug einen schlichten dunkelblauen Trainingsanzug und Flip-Flops. Auch wenn hier genau wie in Glücksburg zahlreiche Zuschauer und Medienvertreter erschienen waren, verstand man das Event eher sportlich als kulturpolitisch.

Die fünf Kite-Surferinnen hatten ihre Lenkdrachen steigen lassen und in den Wind gedreht. Ihre Bretter lagen an der Wasserkante im Sand. Genau wie am gegenüberliegenden Ufer war auch hier ein langer Tisch mit Wettbewerbsuhren und einer Computeranlage aufgebaut worden. Der Mann, der davorsaß, trug ebenfalls einen Trainingsanzug. Er machte seinem Kollegen ein Zeichen, und der Mann mit der Startschusspistole bedeutete den Sportlerinnen, sich bereitzuhalten.

Theresa Vestergaard zog die Ärmel ihres langen grün-grau gemusterten Wollpullovers weiter nach unten und ließ ihre Finger darin verschwinden. Lotta Lundkvist, die der dänischen Kite-Surferin mit erhobenen Daumen ihren Zuspruch signalisierte, warf ihr einen kurzen Seitenblick zu.

»Sag nicht, du frierst.«

Theresa hob die Schultern. »Der Wind ist frisch, oder?« Sie stülpte eine farblich passende Wollmütze über ihre langen dunklen Haare. »Und für Anfang Juli ist es eindeutig zu kalt.«

»Stimmt«, entgegnete Lotta. »Aber ich finde es schön.«

Der Himmel war von einem intensiven, satten Blau. Die dichten weißen Wolken, die sich immer wieder vor die Sonne schoben, verhinderten, dass es zu heiß wurde. Die Luft duftete herrlich, und der Wind war perfekt. Sobald sie Grit nach ihrer ersten Etappe in Empfang genommen und ihr Glück für das zweite Stück gewünscht hatte, würde Lotta nach Sønderborg fahren. Dort lag ihr Segelboot, die »Lydløst«, eine Ypton22 von 1984 mit Kajüte, Schlafcouch und Küchenblock. Damit würde sie, genau wie die Sportlerinnen, die Förde überqueren und hoffentlich rechtzeitig in Glücksburg sein, um Grit zu beglückwünschen. Falls ihr Team den ersehnten Sieg schaffte.

Der Startrichter stellte sich in Position, und alle Blicke richteten sich auf die Athletinnen.

»Auf die Plätze! Fertig! Los!«, rief der Startrichter und feuerte seine Pistole ab.

***

Im exakt selben Augenblick, um Punkt elf, fiel auch der Startschuss in Glücksburg. Die fünf Sportlerinnen nahmen ihre Paddel in die Hand, liefen zu ihren Brettern, schoben sie ins seichte Wasser und kletterten hinauf. Genauso, wie Nick Harder es Paul Beck am Tag zuvor beigebracht hatte: Sie suchten auf allen vieren den geeigneten Standpunkt, setzten erst den einen, dann den anderen Fuß auf, stellten sich hin und stießen das Ruderblatt ins Wasser. Anders als Paul benötigten sie für diesen Vorgang allerdings nur wenige Sekunden. Im nächsten Moment glitten alle fünf hoch aufgerichtet auf die Ostsee hinaus und steuerten dem dänischen Ufer entgegen.

Eine der Sportlerinnen kam jedoch schon nach den ersten fünfzig Metern ins Schwanken. Sie stand nicht fest. Ihre Füße bewegten sich auf dem Brett, als tasteten sie nach Halt. Sie tauchte ihr Paddel nicht wieder ein, sondern hielt es mit beiden Händen vor der Brust wie ein Balancekünstler seine Stange. Trotzdem pendelte ihr Körper leicht von einer Seite auf die andere.

Beck kniff die Augen zusammen.

»Was ist denn mit der los? Ist die betrunken?«

»Wohl kaum. Das ist Julia Richter. Die absolute Topfavoritin.« Harder deutete auf den Schriftzug auf der Rückenfläche des schwarzen Neoprenanzugs der Sportlerin. »GER1«, stand dort.

»Hm«, machte Paul und beobachtete, wie sie weiter um ihr Gleichgewicht kämpfte. Ihre Füße fanden nicht den richtigen Standpunkt und vollführten einen beinahe grotesk wirkenden Tanz. Julia Richter ließ ihr Paddel fallen und ruderte mit den Armen, doch sie geriet immer weiter aus der Mitte. Im nächsten Moment neigte sich das Paddelbrett zur Seite, und die Sportlerin stürzte ins Wasser. Die vier Konkurrentinnen zogen davon.

»Da stimmt doch was nicht.« Nick Harder warf seine Jacke beiseite und riss sich die Kleider vom Leib. Die Schuhe trat er einfach von den Füßen, die Hose schüttelte er ab, das Polohemd zog er mit einer Hand über den Kopf, während er mit der anderen die Socken von den Füßen zupfte.

Dann lief er, nur noch mit seinen schwarzen Boxershorts bekleidet, ins Wasser.

***

Lotta Lundkvist und Theresa Vestergaard sahen den Kite-Surferinnen hinterher, die sich rasend schnell vom Ufer entfernten. Die Lenkdrachen blähten sich im Wind, und an den Spitzen der Surfbretter spritzte Gischt auf. Zwei der Teilnehmerinnen, die eine in Rot-Weiß, die andere in Schwarz, hatten sich bereits ein Stück von den anderen abgesetzt. Erwartungsgemäß waren es die Dänin und die Surferin aus dem favorisierten Team Deutschland eins.

Aus dem Augenwinkel bemerkte Lotta eine Bewegung und wandte sich zu dem langen Tisch, auf dem die Messinstrumente standen. Die beiden Männer in den Trainingsanzügen diskutierten aufgeregt. Der eine deutete immer wieder auf die Geräte. Der andere fuchtelte in besorgniserregender Weise mit seiner Startschusspistole.

»Verdammt«, fluchte er, nicht besonders laut, doch so, dass Lotta es verstehen konnte.

Sofort erwachte ihre professionelle Neugier. Sie stieß Theresa sacht mit dem Ellenbogen an und wies sie mit einer knappen Kopfbewegung an, ihr zu folgen. Dann schlüpfte sie unter dem rot-weißen Flatterband hindurch, das den Startbereich vom restlichen Strand abteilte, und ging zu den Männern am Tisch.

»Hej«, grüßte sie. »Gibt es ein Problem?«

Der Startrichter wehrte ab.

»Nichts, das Sie interessieren müsste.«

»Ach so?« Lotta wollte sich nicht so einfach abspeisen lassen. Sie lächelte ihn an. »Ich hatte einen anderen Eindruck.«

Der Mann hinter dem Messpult erhob sich.

»Gehen Sie bitte hinter die Absperrung«, verlangte er. »Dies hier ist der Platz für die Sportler und die Wettbewerbsleitung.«

Lotta wollte weiter diskutieren, doch Theresa kam ihr zuvor.

»Ja. Natürlich«, sagte sie höflich und zupfte Lotta am Ärmel. Sie strebte zurück zum Publikumsbereich und zog Lotta mit sich, die ihr nur unwillig folgte. In der Hoffnung, doch noch etwas aufzuschnappen, ging sie absichtlich langsam.

Der Mann am Tisch wartete, bis sie sich ein Stück weit entfernt hatten. Dann sagte er leise zu seinem Kollegen: »Ich fürchte, wir müssen die Polizei einschalten.«

Lotta blieb stehen. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Sie griff nach Theresas Arm und bedeutete ihr, umzukehren. Dann lief sie zurück zu den beiden Männern und zog schwungvoll ihren Ausweis aus der Tasche.

6

Das Wasser war herrlich, wärmer, als er angenommen hatte, und der leichte Wind verwirbelte die Oberfläche zu kleinen Wellen, die einen frischen und salzigen Duft an seine Nase trugen. Leider blieb ihm keine Zeit, diesen Umstand zu genießen, denn die gestürzte Stand-up-Paddlerin trieb reglos auf dem Wasser. Doch Müßiggang gehörte ohnehin nicht zu Nick Harders Leidenschaften. Er liebte Abenteuer und Action. Und genau das bot sich ihm hier.

Er kraulte zügig auf das führerlose Paddelbrett zu. Da es über eine Leine mit Julia Richters Fuß verbunden war, war es nicht abgetrieben. Das Paddel allerdings schaukelte einsam auf dem Wasser und wurde mit jeder Welle ein Stück weiter fortgespült.

Nick erreichte die Sportlerin und griff nach ihrem Handgelenk. Sie lag auf dem Rücken, entspannt, wie es schien. Nick konnte keine Anzeichen dafür entdecken, dass Wasser in Mund, Nase oder Lungen gelangt war, dennoch war die Frau offenbar bewusstlos. Nick meinte, einen schwachen Puls zu spüren, war sich aber nicht sicher. Die rhythmischen Bewegungen des Wassers, das über sie hinwegschwappte, machten es schwierig, das Pulsieren der Haut von jenem des Seegangs zu unterscheiden.

Er betrachtete Julia Richters Gesicht, das ihm gleichermaßen blass und ungewöhnlich gerötet vorkam. Sonderbar, denn von der im Vergleich zum Körper niedrigen Temperatur des Wassers konnte dies eigentlich nicht herrühren. Die Paddlerin schwamm erst seit ein paar Minuten darin, und sie trug außerdem den schützenden Neoprenanzug. Doch darüber konnte er sich Gedanken machen, wenn sie sicher an Land war.

Nick holte das Paddelbrett zu sich heran, stützte sich mit beiden Händen darauf und stemmte sich nach oben. Er kniete sich hin und zog die Sportlerin an der Fußleine zu sich. Dann griff er nach ihren Armen und zerrte ihren leblosen Körper auf das Brett. Es war mühsam, seine Finger fanden keinen rechten Halt auf dem glatten, nassen Neopren. Er rutschte ab und hätte sie beinahe verloren, bekam sie aber doch noch zu fassen. Entschlossen umklammerte er das nachgiebige Material und zog. Das Neopren dehnte sich, und Nick fürchtete schon, es könnte reißen, doch es hielt.

Als sie sicher auf dem Brett lag, glitt er wieder ins Wasser. Er schaute sich nach dem Paddel um, konnte es aber nicht mehr entdecken. Da er keine Zeit mit Suchen vergeuden wollte, schwamm er ans Heck des Paddelbretts. Er umfasste es mit beiden Händen und vollführte mit den Beinen kräftige Schwimmzüge.

Das Brett setzte sich langsam in Bewegung. Dann nahm es Fahrt auf, und Nick schob es eilig über die Wasseroberfläche in Richtung Strand, der aufgeregten Menschenmenge und dem »Weißen Schloss von Glücksburg« entgegen.

***

Der Mann hinter dem Messpult in Sønderhav warf einen Blick zu den Zuschauern und Fernsehleuten, doch die interessierten sich zum Glück nicht für sie. Sie schauten den Surferinnen hinterher oder beobachteten, wie sich die Schwimmerinnen bereit machten. Etliche der Betrachter schossen Fotos oder filmten die Startvorbereitungen mit ihren Handys. Trotzdem senkte der Mann die Stimme.

»Ich fürchte, wir haben es hier mit einem Fall von Wettbewerbsverzerrung zu tun. Meiner Ansicht nach hat jemand die Messvorrichtung manipuliert.«

»Ah ja?« Theresa Vestergaard, die sich bisher im Hintergrund gehalten und ihr Gesicht hinter ihrem langen Pony versteckt hatte, trat vor. »Darf ich mir das mal ansehen?« So scheu sie im Umgang mit Menschen war, so sehr liebte sie alles, was mit Technik zu tun hatte.

»Bitte«, sagte der Mann und begann ihr das Funktionsprinzip der Anlage zu erläutern. Lotta Lundkvist wandte sich derweil an den Startrichter. Sie verabscheute jede Form von Betrug, doch beim Sport, wo es vor allem um Fairness gehen sollte, erschien er ihr hässlicher als irgendwo sonst. Und nun war auch noch ausgerechnet der Wettbewerb betroffen, der für ihre Freundin Grit so wichtig war.

»Wer hätte denn die Möglichkeit gehabt, eine Veränderung an den Geräten vorzunehmen?«, erkundigte sie sich.

Der Mann ließ seine Augen nachdenklich über den weißen Strand wandern.

»Eigentlich niemand«, erwiderte er nach einem Moment. »Wir haben die Anlage erst heute Morgen um neun, zwei Stunden vor dem geplanten Start, aufgebaut. Seitdem war die ganze Zeit einer von uns hier. Wir hätten es bemerkt, wenn sich ein Unbefugter innerhalb der Absperrung aufgehalten hätte.«

»Und was ist mit den Sportlerinnen und ihren Trainern? Die waren doch sicher in diesem Bereich?«

»Natürlich.« Der Startrichter gestikulierte ungeduldig. »Aber denken Sie wirklich, es wäre nicht aufgefallen, wenn sich einer von denen an den Geräten zu schaffen gemacht hätte?«

»Das heißt, es ist überhaupt nicht möglich, dass jemand die Messinstrumente manipuliert hat?«, fasste Lotta zusammen und hob die Augenbrauen. »Und trotzdem denken Sie, dass genau das geschehen ist?«

Der Mann machte ein unglückliches Gesicht.

»Ja. Das bringt es ganz gut auf den Punkt«, bestätigte er.

Lotta stöhnte leise. Täuschte sich der Mann, und es gab überhaupt keinen Eingriff in die Zeiterfassung– oder hatten sie es hier mit einem besonders vertrackten Rätsel zu tun? Sie schaute zu Theresa, um zu sehen, wie ihre Kollegin die Lage einschätzte, doch Theresa hob nicht einmal den Kopf. Sie war vollkommen davon absorbiert, irgendetwas mit der Tastatur einzugeben und die Ergebnisse auf dem Monitor zu scannen.

7

Die Zuschauer drängten sich so nah an der Wasserkante, dass der Notarzt mit seinem Team kaum hindurchkam. Paul Beck schwenkte die Arme und rief den Neugierigen zu, dass sie eine Rettungsgasse frei machen sollten, doch kaum jemand reagierte darauf. Alle waren viel zu sehr damit beschäftigt, ihre Smartphones in die Luft zu recken und Nick Harder zu filmen, der die leblose Sportlerin auf ihrem Paddelbrett über das Wasser der Förde in Richtung Strand schob. Die Reporter, weitaus erprobter und skrupelloser im Besetzen der besten Plätze als das einheimische Publikum, kämpften sich rüde mit ihren Schulterkameras in die erste Reihe. Eine junge Frau mit langen blonden Haaren, die kaum älter als achtzehn sein konnte, baute sich vor Beck auf und hielt ihm ihr fellummanteltes Mikrofon vor den Mund.

»Sina Lorenz, SportTV«, rief sie ihm zu. »Sie gehören zu den Organisatoren? Schildern Sie unseren Zuschauern doch bitte, was hier gerade geschieht!«

Beck hob die Hand, um sein Gesicht abzuschirmen.

»Sehen Sie das nicht?«, fragte er ruhig. »Eine Sportlerin ist verunglückt. Mein Kollege versucht, sie zu bergen. Und Sie«, er zielte mit dem Zeigefinger der freien Hand auf die Journalistin, »behindern die Rettungsarbeiten.« Er zog seinen Dienstausweis aus der Tasche. »Machen Sie bitte umgehend den Weg für die Sanitäter frei.«

Die junge Frau warf einen schnellen Blick auf seinen Ausweis. Dann drehte sie sich zu ihrem Kameramann um. Dieser war mindestens doppelt so alt wie sie und hatte eine Schirmmütze mit dem Logo des Senders auf dem Kopf. Hinter seinem Ohr steckte eine Zigarette.

»Wir stehen hier am Ostseestrand, wo soeben der Glücksburg Trimarthon gestartet ist«, sagte die Reporterin in die Kamera. »Ein Ereignis, dem die Region seit Monaten entgegengefiebert hat, doch jetzt ist nur wenige Sekunden nach dem Start ein Unglück geschehen. Eine der Teilnehmerinnen ist von ihrem Paddle-Board gestürzt, und im Augenblick wissen wir nicht, ob sie noch lebt. Die Polizei war sofort zur Stelle. Bei mir ist jetzt der Flensburger Kriminaloberkommissar Paul Beck.« Sie wandte sich halb zu Paul. »Herr Beck. Können Sie uns schon etwas sagen? Haben wir es hier womöglich mit einer Straftat zu tun?«

Beck schaute die junge Frau einen Moment lang fassungslos an.

»Allerdings«, sagte er dann. »Was Sie hier tun, ist ein Verbrechen. Sie verhindern, dass einem Menschen in Not geholfen werden kann.«

Damit drehte er sich um und schwenkte seinen Dienstausweis in Richtung der Zuschauer.

»Polizei«, rief er. »Machen Sie Platz für den Notarzt. Wenn Sie nicht sofort aus dem Weg gehen, lasse ich Sie verhaften.«

Die Zuschauer murrten ein wenig, wichen aber ein paar Schritte zurück. Der Notarzt und die beiden Sanitäter langten endlich bei Paul an. Im selben Moment erreichte auch Nick Harder mit dem Paddelbrett den Strand. Die Sanitäter liefen ihm entgegen, um die bewusstlose Sportlerin vom Brett auf ihre Trage zu hieven. Der Arzt blieb neben Paul Beck stehen.

»Die Leute sind krank«, bemerkte er.

Hinter sich hörte Beck die Stimme der Reporterin.

»Keine Sorge«, verkündete sie. »Das können wir später rausschneiden.«

***

Im obersten Stockwerk des Strandhotels standen vier Männer in anthrazitfarbenen Anzügen am geöffneten Fenster und starrten nach draußen auf den Strand. Alle vier trugen Krawatten mit dem eingeprägten Emblem, das für den Glücksburg Trimarthon entworfen worden war. Einer von ihnen hielt ein Fernglas auf die Menschentraube gerichtet, die sich um die Trage der Sanitäter mit der Sportlerin aus dem deutschen Team eins gebildet hatte. Das Ansteckschild an seinem Anzug wies ihn als »Friedrich Ernst, technischer Leiter« aus.

»Ist sie tot?«, fragte ein Zweiter, auf dessen Schild der Name »Sebastian Schön« zusammen mit der Funktionsbezeichnung »sportlicher Leiter« stand.

»Das kann ich von hier nicht sehen«, erwiderte Ernst. »Zu viele Leute.«

»Was machen wir denn jetzt?«, fragte der Dritte: Jakob Wolff, Marketing. »Abbruch?«

Der vierte Mann, dessen Krawatte im Gegensatz zu den anderen zusätzlich von dünnen Goldstreifen geziert war, zupfte nervös an seinem Kinnbart. Es war Rudi Hager, Vorsitzender des Tourismusverbandes und Schirmherr des Wettbewerbs.

»Eine Katastrophe«, murmelte er.

»Vielleicht ist es ja nichts Ernstes«, beschwichtigte Schön, der sportliche Leiter. »Die Richter hat trainiert wie besessen. Könnte doch sein, dass es einfach nur ein Schwächeanfall war.«

»Dein Wort in Gottes Ohr«, sagte Ernst, der immer noch versuchte, mit dem Feldstecher etwas zu erkennen.

»Rudi«, drängte Marketing-Leiter Wolff. »Was ist denn nun? Wir müssen irgendetwas tun, sonst wird man am Ende uns an den Pranger stellen.«

»Nicht irgendwas«, bemerkte Ernst. »Wir müssen das Richtige tun.«

»Und das wäre?«, gab Wolff bissig zurück.

»Wir warten«, entschied Rudi Hager und gestikulierte in Ernsts Richtung. »Funk den Startrichter an. Er soll herausfinden, was mit der Frau los ist. Falls es nur ein Schwächeanfall ist, machen wir weiter. Wenn sie tot ist…«, seine Mundwinkel sanken herab, und seine Stirn umwölkte sich,»…müssen wir abbrechen.«

***

Die Sanitäter setzten die Trage mit der bewusstlosen Frau ein Stück von der Wasserkante entfernt ab. Der Notarzt kniete sich in den Sand und öffnete seinen Koffer. Er legte einen Finger erst auf das Handgelenk der Sportlerin, dann an ihren Hals.

»Sauerstoff«, ordnete er an. »Und eine Infusion. Schnell.«

Die beiden Sanitäter rannten zum Rettungswagen, um das Gewünschte herbeizuholen. Der Notarzt hängte sich sein Stethoskop um und öffnete den Neoprenanzug, um den Oberkörper der Sportlerin abzuhorchen. Er löste den Klettverschluss in ihrem Nacken und zog den Reißverschluss auf der Rückseite so weit nach unten, dass er den Anzug über Schultern und Arme herunterziehen konnte. Paul Beck stellte erleichtert fest, dass die Sportlerin unter dem Neopren einen einteiligen Badeanzug trug, ebenfalls in Schwarz mit einer kleinen aufgeprägten Deutschlandfahne. Es hätte ihm nicht gefallen, wenn der Arzt unter den Blicken der Schaulustigen ihre Brust hätte entblößen müssen.

»Sie lebt noch«, konstatierte der Notarzt und streifte sich ein Paar hellblaue Latexhandschuhe über. »Aber die vitalen Zeichen sind sehr schwach. Wir müssen sie schnellstens stabilisieren. Und herausfinden, was ihr fehlt.«

Nick Harder, von dessen schwarzen Boxershorts das Wasser tropfte, trat neben Beck.

»Ich hatte den Eindruck, dass ihr Gesicht eine komische Farbe hat.«

Der Notarzt nickte, ohne ihm den Kopf zuzuwenden.

»Irgendetwas stimmt mit ihrer Atmung nicht.« Er nahm eine kleine Taschenlampe zur Hand, öffnete den Mund der Sportlerin und tastete vorsichtig darin herum. Anschließend begutachtete er ihre Nase und befühlte ihren Hals.

»Die Atemwege sind frei«, stellte er fest. »Keine Fremdkörper und anscheinend auch kein Wasser in Mund, Rachen und Nase. Und mit der Lunge scheint auch alles in Ordnung zu sein.«

Die beiden Sanitäter kehrten zurück, und der Arzt nahm die Sauerstoffmaske entgegen, während der zweite Sanitäter den Ärmel des Neoprenanzugs vom linken Arm der Paddlerin zerrte und einen Zugang für die Infusion legte.

Im selben Moment bäumte sich der Körper der Frau auf, und ein Schwall weißen Schaums quoll aus ihrem Mund. Einige der Schaulustigen, die sich nach vorn gedrängt hatten, keuchten erschrocken auf.

Der Notarzt befreite rasch die Mundhöhle vom Schaum und presste der Frau die Sauerstoffmaske aufs Gesicht. Das Beatmungsgerät fing an zu pumpen. Der Arzt spritzte irgendein Mittel in die Infusionslösung und begann, rhythmisch auf den Brustkorb der Frau zu drücken. Nach einem Moment fühlte er nach dem Puls, und seine Miene verzog sich bedenklich.

»Defi«, verlangte er, und die Sanitäter schleppten eilig einen tragbaren Defibrillator heran. Der Notarzt presste die Pads des Geräts auf die Brust der Frau.

»Zurück.«

Der Stromstoß jagte durch den Körper der verunglückten Sportlerin, und dieser bäumte sich auf. Paul Beck spürte, dass sich seine Hände, die er in die Hosentaschen gestopft hatte, verkrampften. Er warf einen schnellen Blick zu Nick und sah, wie dessen Kiefermuskeln mahlten. Zugleich drückte sein Kollege beide Daumen, doch die Frau im Sand rührte sich noch immer nicht.

Der Notarzt erhöhte die Stromstärke und aktivierte erneut den Defibrillator, ein zweites, drittes, viertes Mal. Beck atmete durch den Mund und murmelte leise vor sich hin: »Komm schon. Bitte.« Doch die erhoffte Reaktion blieb aus.

Der Notarzt legte der Sportlerin noch einmal einen Finger an die Halsschlagader und leuchtete ihr mit seiner Taschenlampe in die Augen. Dann seufzte er und drückte ihr die Lider zu. Ein wenig mühsam kam er auf die Füße und drehte sich zu Paul Beck um. Die Betroffenheit stand ihm ins Gesicht geschrieben.

8

»Bluetooth«, sagte Theresa Vestergaard und blickte auf. Lotta und die beiden Männer in den Trainingsanzügen schauten sie verständnislos an. Theresa lächelte.

»Diese Anlage hier«, erklärte sie, »kommuniziert mit jener am anderen Ufer in Glücksburg. Das muss auch so sein, schließlich müssen die Start- und Zielzeiten abgeglichen werden. Das Problem ist, dass man dafür eine Funkverbindung benötigt. Ich will euch nicht mit Details langweilen, aber Fakt ist, dass es eine offene Bluetooth-Schnittstelle gibt. Und über die hat sich jemand eingewählt und eine kleine Veränderung vorgenommen.« Ihr Gesichtsausdruck trübte sich. »Leider habe ich bisher nicht herausgefunden, was diese Person genau getan hat, deshalb kann ich auch noch nicht sagen, zu wessen Gunsten die Manipulation erfolgt ist. Aber dass da jemand versucht hat, den Ausgang des Rennens zu beeinflussen, ist absolut sicher.«

»Scheiße«, sagte der Mann, der für die Zeitmessung zuständig war. »Was machen wir denn jetzt?«

Der Startrichter blies die Backen auf. »Tja. Die Verantwortlichen sitzen alle drüben in Glücksburg.« Er schaute von seinem Kollegen zu den fünf Schwimmerinnen, die an der Wasserkante standen und auf ihren Start warteten. »Soll ich sie trotzdem losschicken?«, überlegte er laut. »Oder warten, bis wir herausgefunden haben, was hier los ist?«

Die vorläufige Antwort erschien in Gestalt dreier Männer, die mit entschlossenen Schritten auf die kleine Gruppe am Tisch mit der Messvorrichtung zukamen, unschwer zu erkennen als die Trainer der am Wettbewerb beteiligten Teams. Auch sie trugen Trainingsanzüge, einer in Rot-Weiß, einer in Bundeswehrgrün und einer in Orange.

»Warum geht das hier nicht weiter, verdammt?«, polterte der Mann in Nato-Oliv auf Deutsch. Er war groß und breitschultrig und hatte eine dunkle, militärische Kurzhaarfrisur. »Wenn die Schwimmerinnen nicht bald starten, kommen sie den Stand-up-Paddlerinnen auf dem Rückweg in die Quere.« Er tippte auf seine klobige Armbanduhr. »Die Wettbewerbsleitung hat einen präzisen Zeitplan ausgearbeitet. Warum haltet ihr euch nicht daran? Ist Disziplin hier in Dänemark ein Fremdwort?«

»Also bitte.« Sein Kollege in Rot-Weiß schaute ihn ärgerlich an. Hier im deutsch-dänischen Grenzgebiet gab es kaum Verständigungsprobleme, die meisten Bewohner sprachen oder verstanden beide Sprachen, und der Däne hatte offensichtlich sehr genau mitbekommen, was sein Gegenüber gesagt hatte. Er war fast genauso groß wie der Deutsche, wirkte mit seinen halblangen semmelblonden Haaren und dem deutlichen Bauchansatz allerdings viel weniger sportlich als dieser. »Aber in der Sache hat er recht«, erklärte er anschließend auf Dänisch. »Wenn wir den Plan nicht einhalten, gerät alles durcheinander.«

»Und die Sportlerinnen werden kalt«, fügte der orange gekleidete Trainer hinzu. In makellosem Dänisch, allerdings mit einem lustigen niederländischen Akzent, wie Lotta fand. So wie auch der ganze Mann heiterer und gelassener wirkte als seine beiden Kollegen. Er war deutlich jünger als diese, höchstens Mitte zwanzig, und seine schwarzen Haare standen in alle Richtungen vom Kopf ab, als wäre er eben erst aus dem Bett gekrochen.

»Es gibt ein Problem mit den Geräten zur Zeiterfassung«, erläuterte sie, erst auf Dänisch, dann auf Deutsch.

»So?« Der Mann im Bundeswehrtrainingsanzug funkelte sie an. »Dann beseitigen Sie es. Und zwar schleunigst. Sonst reiche ich Beschwerde bei Ihrem Vorgesetzten ein.«

Lotta verschränkte die Arme. Männer, die glaubten, sie könnten mit Frauen umspringen wie mit Untergebenen, konnte sie auf den Tod nicht leiden.

»Das wäre sicher über alle Maßen vergnüglich«, gab sie zurück. »Wenn Sie sich darüber bei der dänischen Reichspolizei beklagen.«

»Polizei?« Der deutsche Trainer kniff die Augen zusammen. »Was hat die Polizei mit technischen Schwierigkeiten bei der Zeitmessung zu tun?«

»Nun ja.« Lotta war es plötzlich unangenehm, dass sie sich so in den Vordergrund gedrängt hatte, doch jetzt blieb ihr nichts anderes übrig, als die Sache auch zu Ende zu bringen. Der Mann am Messpult und der Startrichter machten jedenfalls keine Anstalten, ihr zu Hilfe zu kommen. »Tatsächlich scheint es sich nicht um ein Problem mit der Technik zu handeln, sondern um einen ungeplanten Eingriff in den Messvorgang«, erläuterte sie.

Der deutsche Trainer war vielleicht ein Choleriker, doch schwer von Begriff war er nicht.

»Manipulation?«, fauchte er. »Jemand verfälscht die Messergebnisse?« Er wartete ihre Antwort nicht ab, sondern wandte sich an den dänischen Trainer und packte ihn am Kragen. »Das kannst doch nur du gewesen sein. Weil du genau weißt, dass meine Mädels besser sind als dein dänischer Hühnerhaufen.«

Der Hüne mit den semmelblonden Haaren versuchte vergeblich, sich zu befreien.

»So?«, gab er zurück. »Du glaubst, das hätten wir nötig?« Er lachte verächtlich. »Dabei weiß doch jeder, dass du es bist, der um den Sieg bibbert. Deswegen hast du an den Stoppuhren gedreht. Und jetzt willst du es mir in die Schuhe schieben, um von dir abzulenken.«

»Das ist der größte Schwachsinn, den die Welt je gehört hat«, knurrte der Deutsche. Er zog seinen dänischen Widersacher mit einer Hand zu sich heran und ballte die andere zur Faust.

»Meine Herren, bitte«, mischte sich Lotta ein, doch die beiden beachteten sie nicht.

Der Deutsche hielt dem Dänen drohend die Faust unter die Nase.

»Na los. Gib schon zu, dass du es warst!«

»Von wegen.« Der Däne packte den Deutschen mit beiden Händen am Kopf und drückte ihn von sich weg. Er mochte zwar nicht so durchtrainiert sein wie dieser, doch seine Hände waren groß wie Schaufeln und kräftig. »Ich gebe gar nichts zu. Weil ich es nämlich nicht war. Du hast das getan.«

Die beiden gifteten sich weiter lautstark an und begannen, aufeinander einzuprügeln. Der holländische Trainer stand mit gekreuzten Beinen daneben. Er war klug genug, sich aus dem Streit herauszuhalten. Seine Kollegen dagegen veranstalteten einen derartigen Wirbel, dass das Klingeln von Theresas Telefon beinahe untergegangen wäre.

Als sie das kurze Gespräch beendet hatte und sich erhob, war ihre Stimme so dünn wie immer, und doch drang sie auf wundersame Weise zu den Streithähnen durch.

»Sie können aufhören, sich die Köpfe einzuschlagen«, sagte sie. »Das Rennen ist abgebrochen worden.«

»Was?« Nicht nur der deutsche und der dänische, auch der holländische Trainer gafften sie ungläubig an. »Aber… warum denn das?«

»Hat da drüben vielleicht auch jemand an den Messgeräten herumgespielt?«, riet der Deutsche.

»Nein.« Theresa räusperte sich und blickte hilfesuchend zu Lotta, doch die konnte ihr nicht beispringen. Sie wusste ja nicht, worin die Nachricht bestand, die ihre Kollegin erhalten hatte.