Friesen Porno - Bengt Thomas Jörnsson - E-Book

Friesen Porno E-Book

Bengt Thomas Jörnsson

3,8

Beschreibung

Mord im beschaulichen Poppenrade auf der Halbinsel Eiderstedt: In einem Kuhstall liegt der Pornoproduzent Ricardo Reiter, aufgespießt mit einer Heugabel. Mit Scharfsinn, Humor und Einfühlungsvermögen macht sich Hauptkommissarin Katharina Berg auf die knifflige Suche nach dem Mörder. Derweil steht ihr junger Kollege, der unbedarfte Dorfpolizist Nils Hansen, vor einer besonderen Herausforderung: Er muss Reiters schlüpfrige Videofilme sichten …

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Bengt Thomas Jörnsson, geb. 1969 in Bremerhaven, ist Pädagoge, Germanist und promovierter Psychologe. Bevor er sich ganz dem Schreiben gewidmet hat, war er einige Jahre in der Wissenschaft tätig. Jörnsson ist verheiratet und lebt und arbeitet in Kiel. www.joernsson.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2015 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: iStockphoto.com/YinYang, iStockphoto.com/querbeet Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Carlos Westerkamp eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-775-8 Erotischer Heimatkrimi Originalausgabe

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1

Sie lagen versteckt im Maisfeld. Um sie herum standen die hohen Halme mit dem dichten Blattwerk und den prallen Maiskolben. Nur zu einer Seite hatten sie eine Lücke geschlagen, durch die sich der Blick öffnete: zu den Stallgebäuden des Hartmann-Hofs– denn dort ging etwas Sonderbares vor sich.

Marco, Laura und Tim hatten von Tims Vater davon gehört. Der war Lehrer im Dorf und außerdem der Spitzenkandidat bei der anstehenden Bürgermeisterwahl.

Unerhört. Unsittlich. Unverschämt. Das waren die Vokabeln, die Tim aufgeschnappt hatte. Aber was sich dahinter verbarg, hatte er nicht herausgefunden.

Deswegen lagen sie jetzt hier, Marco, Laura und er. Sie hatten ein Fernglas dabei, das Marco angestrengt an die Augen presste. Offenbar lohnte es sich.

»Da ist Anna-Lena«, berichtete Marco aufgeregt. »Sie schaufelt nasses Stroh in eine Schubkarre.« Er leckte sich die Lippen. »Und sie hat die hohen Gummistiefel an.«

Tim verstand nicht, was Marco daran fand. Eine Bäuerin, die Stroh schaufelte– was war daran so besonders?

»Und sonst?«, fragte er.

»Nix.« Marco griente.

Tim schüttelte den Kopf. »Wenn da nichts ist, warum glotzt du dann so?«

Marco setzte das Fernglas ab. »Sie hat nix an, du Trottel. Nur die Gummistiefel.«

Tim seufzte. Er hätte sich denken können, dass Marco keine Gelegenheit auslassen würde, ihn zu foppen.

»Das denkst du dir aus.«

»Guck doch selbst.« Marco hielt ihm das Fernglas hin.

Tim nahm es. Er sah die Scheune und den Hof, eine halb volle Schubkarre und ein Stativ, auf dem eine Kamera befestigt war.

»Ich seh nichts.«

Marco riss ihm das Fernglas aus der Hand.

»Hm«, machte er verstimmt und suchte den Hof ab. »Ah!«, sagte er dann. »Da ist sie wieder. Sie nimmt die Schubkarre und schiebt sie über den Hof.« Er runzelte die Stirn. »Da liegt was. Auf dem Boden.«

Er verstellte den Regler am Fernglas. Dann lachte er auf. »Ha! Das glaubst du nicht. Da liegt Malte. Der ist auch nackt. Und sie haben ihn festgebunden, mit Pflöcken im Boden.«

Laura verdrehte die Augen. »Komm schon, Marco. Du verarschst uns.«

»Nee, ehrlich.«

Marco starrte begehrlich durch das Fernglas. Tim zupfte ihn am Ärmel. »Lass mich auch mal.«

»Nee.« Marco stieß ihn unsanft beiseite. »Boah! Jetzt geht sie mit der Schubkarre zu ihm – und jetzt– jetzt– jetzt kippt sie das nasse Stroh über ihm aus. Wie geil!«

Tim griff nach dem Fernglas und versuchte, es Marco zu entwinden. »Das ist meins.«

Marco sprang auf die Füße. Er hielt das Fernglas hoch über seinen Kopf und feixte. »Hol’s dir doch.«

Tim stürzte sich auf Marco. Die beiden rangen miteinander, aber Tim hatte keine Chance. Marco warf ihn auf den Rücken und nagelte ihn auf dem Boden fest.

Tim stöhnte. »Lass mich los.«

Marco schaute zu Laura. »Na ja«, sagte er anzüglich. »Mir wär’s auch lieber, wenn ich eine schöne Frau unter mir hätte.«

Laura verdrehte die Augen. Sie nahm das Fernglas und schaute zum Hof. Dort setzte sich die nackte Bäuerin gerade rittlings auf ihren besudelten Ehemann.

Hinter der Kamera stand ein großer blonder Mann mit einem hübschen Gesicht, neben ihm eine gelangweilte Blondine im weißen Nerz. Laura schluckte: Das war die Hamburger Pornoqueen Izabela Reiter. Und der Mann hinter der Kamera musste Ricardo Reiter sein, Hamburgs erfolgreichster Pornoproduzent.

In Lauras Kopf begann es zu rattern. Vielleicht war das ihre Chance, in die Filmbranche einzusteigen. Natürlich wollte sie keine Pornos machen. Aber auf der anderen Seite: Izabela Reiter war nicht nur in der Erotikszene eine Berühmtheit. Sie hatte auch in einigen ernsthaften Filmen mitgespielt und beinahe den Sprung nach Hollywood geschafft. Und sie war ein gern gesehener Gast auf den Hamburger Promipartys– das wusste Laura aus den Klatschzeitungen, die ihre Mutter so gerne las.

Vielleicht sollte sie einfach mit Ricardo Reiter sprechen. Vielleicht…

»Hey, Laura«, spottete Marco. »Macht dich das an?«

Laura setzte eilig das Fernglas ab.

Marco hatte sich wieder erhoben und grinste sie an. Tim saß neben ihm auf dem Boden und rieb sich die schmerzenden Arme.

Laura hob das Kinn.

»Ich finde das nicht für fünf Cent erotisch«, erklärte sie.

Vom Hof wehte ein lang gezogener Lustschrei herüber.

2

Ricardo Reiter klappte seinen Laptop zu. Diese Anna-Lena war wirklich ein Naturtalent– in jeder Hinsicht. Ein Jammer, dass sie ihr Leben auf diesem Bauernhof vergeudete. Aber vielleicht konnte er sie ja mitnehmen nach Hamburg, wenn sie hier fertig waren. Sie könnte sein neuer Star werden, und er könnte mit ihr auferstehen wie ein Phönix aus der Asche.

Aber erst mal musste der »Friesenporno« in den Kasten. So ein Comeback kostete schließlich auch Geld.

Reiter schloss den Reißverschluss seiner Hose und stand auf. Er nahm sein Hemd von der Stuhllehne, zog es über und knöpfte es zu. Dann schlüpfte er in seine Slipper und ging leise zur Zimmertür.

Er öffnete sie und spähte in den dunklen Flur.

Es war absolut still, eine Stille, wie es sie in Hamburg nicht gab. Als wäre die ganze Welt in Watte gepackt.

Reiter schlich durch den Flur zur Treppe, hinunter in die großzügige Bauerndiele. Im dämmrigen Licht des Mondes, das durch die Haustür hereinfiel, sah er die dunklen Schatten der alten Bauernschränke, die in der Diele standen. Vermutlich waren sie ein Vermögen wert. Und vermutlich hatten Malte und Anna-Lena Hartmann keine Ahnung davon. Vielleicht konnte er sie überreden, ihm die Schränke zu verkaufen. Zu einem günstigen Preis natürlich.

Reiter grinste. Wer hätte gedacht, dass sich das verschlafene Poppenrade auf der Halbinsel Eiderstedt als eine solche Goldgrube entpuppen würde? Nachdem er in Hamburg von einem Flop zum nächsten, von einer Pleite in die andere gestolpert war, eröffneten sich hier plötzlich an jeder Ecke großartige Möglichkeiten. Und er wäre nicht Ricardo Reiter, wenn er nicht jede einzelne davon nutzen würde.

Reiter ging über den Hof zum Kuhstall und zog das schwere Tor auf. Jetzt, im Sommer, standen die Kühe auf der Weide– erst wenn im Herbst die Nächte kalt wurden, würden sie aufgestallt werden, das hatte ihm der Jungbauer Malte Hartmann erklärt.

Reiter betrachtete die Metallstreben der Gatter, die im Mondlicht glänzten. Er dachte an den großartigen Take, den sie vor zwei Tagen gemacht hatten: Anna-Lena war ans Gatter gekettet. Ihr nackter Oberkörper war nach vorn gebeugt, ihre vollen Brüste hingen schwer herunter. Vor ihr standen zwei Kälber, wuschelige hellbraune Wesen mit glänzenden Augen. Sie tasteten suchend mit ihren weichen Lippen an Anna-Lenas Brüsten herum und leckten mit ihren rauen Zungen über ihre Brustwarzen. Anna-Lena stöhnte auf.

Ricardo Reiter sog scharf die Luft ein. Er wurde tatsächlich schon wieder geil.

Hinter ihm klappte leise die Stalltür.

Reiter drehte sich um, aber im selben Moment schob sich eine Wolke vor den Mond und tauchte den Stall in Dunkelheit. Reiter fluchte leise. Warum hatte er keine Taschenlampe mitgenommen?

»Hallo?«, sagte er ungeduldig.

Er hörte einen dumpfen Laut. Dann flammte die Stallbeleuchtung auf.

Reiter hielt geblendet die Hand vor die Augen. Am Rande seines Blickfelds bemerkte er einen Schatten. Dann blitzte etwas Silbernes auf.

»Was…?«

Ein bohrender Schmerz. Aufflammend. Verzehrend. Vernichtend.

3

Über den Feldern stieg langsam die Sonne auf und tauchte die fedrig weißen Wolken in ein strahlendes Rosarot. Zusammen mit dem fast durchsichtigen Hellblau des Himmels sah es beinahe kitschig aus.

Malte Hartmann, der mit seinem Kaffee und seiner Zeitung auf der Eckbank in der großen Bauernküche saß, blickte aus dem Fenster.

»Das wird wieder ein heißer Tag heute.«

Anna-Lena, die am Herd stand und Speck briet, kicherte.

»Oh ja«, hauchte sie. »Bestimmt.«

Malte, der die Anspielung erst mit Verspätung verstand, verdrehte die Augen. Seit dieser aufgeplusterte Pornoproduzent mit seiner abgehalfterten Tussi auf dem Hof war, drehte sich alles nur noch um dieses Thema.

Er war froh, als es an der Tür klopfte und Jörn Andresen den Raum betrat. Andresens graue Haare waren wie immer zerzaust, und sein blauer Overall mit dem Logo der Milchwerke war mit Marmelade bekleckert. Malte wusste, dass Andresen seine dick beschmierten Frühstücksbrote aß, während er den Milchwagen über die Feldwege lenkte– und da ging meistens etwas daneben.

Andresen fuhr sich durch die Haare, ohne die Ordnung auf seinem Kopf ersichtlich zu verbessern.

»Moin«, sagte er.

»Moin«, erwiderte Malte.

»Moin, Jörn«, sagte Anna-Lena.

Andresen legte den Laufzettel vor Malte auf den Tisch.

»Ich hab den Tank schon leer gemacht. Du musst nur noch unterschreiben.«

Malte unterschrieb und gab Andresen den Zettel zurück. Anna-Lena schlug ein paar Eier in die Pfanne. Dann wandte sie sich dem Milchwagenfahrer zu.

»Willst du einen Kaffee?«

Andresen schüttelte den Kopf.

»Nee, danke. Lass mal. Ich muss weiter.« Er faltete bedächtig das Blatt zusammen und schob es in die Brusttasche seines Overalls. »Dann bis übermorgen.«

»Jo«, sagte Malte.

Andresen ging zur Küchentür. Dort blieb er stehen und kratzte sich am Kopf.

»Ach ja«, sagte er und drehte sich noch einmal um. »Fast hätt ich’s vergessen. In euerm Stall liegt einer. Der is dod.«

4

Nils Hansen raste mit hundertvierzig Sachen über die schmale Landstraße von Garding nach Poppenrade. Sein Puls hämmerte, und seine Hände, mit denen er das Lenkrad umklammert hielt, waren feucht vor Schweiß. Über ihm zuckte das Blaulicht des Streifenwagens. Das Heulen der Sirene schmerzte ihm in den Ohren.

Sein erster Toter– und das ausgerechnet in Poppenrade.

Hansen war erst seit zwei Wochen Polizeimeister bei der Polizeistation in Garding. Nach der Schule hatte er es zunächst mit der Landwirtschaft versucht, doch seinen Eltern, Biobauern in Poppenrade, war schnell klar geworden, dass ihr Sohn nicht der Richtige dafür war. Also war er nach Eutin auf die Polizeischule gegangen– das war schon als kleiner Junge sein Traum gewesen: mit dem Stern auf der Brust für Recht und Ordnung zu sorgen. Jetzt hatte er sogar zwei Sterne– allerdings nicht auf der Brust, sondern auf den Schulterklappen. Er trug sie mit Stolz.

Hansen drosselte das Tempo, als der Hartmann-Hof in Sicht kam. Er bog in die Einfahrt, fuhr bis vor das Wohnhaus und bremste in einer Staubwolke.

Malte und Anna-Lena stürzten aus dem Haus.

»Nils«, rief Anna-Lena und fiel ihm um den Hals. »Ein Glück, dass du da bist.«

Nils Hansen machte sich vorsichtig los und gab Malte die Hand.

»Wo?«, fragte er.

Malte deutete mit dem Kopf zum Kuhstall. Hansen nickte und marschierte über den Hof. Malte folgte ihm. Anna-Lena blieb neben der Tür zum Wohnhaus stehen und rang die Hände.

Malte zog die Stalltür auf.

Auf dem strohbedeckten Boden vor den Laufstallboxen lag ein groß gewachsener blonder Mann. Er trug eine goldene Rolex und ein dünnes Goldkettchen um den Hals. In seiner Brust steckte eine Heugabel.

Hansen sah zu Malte Hartmann.

»Ist das…?«

»Ja. Das isser.«

Nils Hansen nickte. Sein Vater hatte ihm von dem Pornoproduzenten und dessen Idee erzählt. Und von Anna-Lenas anderem, nicht weniger schlüpfrigem Projekt. Oder, besser gesagt: Er hatte sich fürchterlich darüber aufgeregt.

»Peinliche Sache«, bemerkte Hansen.

»Jo.«

Hansen dachte nach. Bald würde es hier von Polizisten wimmeln. Und diese Geschichte würde ein schlechtes Licht auf sein Heimatdorf werfen– und damit letztlich auch auf ihn.

»Muss ja vielleicht keiner wissen«, schlug er vor.

»Nee.« Malte Hartmann nickte. »Anna-Lena hat die Schilder schon weggemacht.«

»Und was sagen wir, wer er ist?«

»Urlauber. Gestresster Städter. Sucht Ruhe auf dem Bauernhof. Kuhkuscheln.«

»Kuhkuscheln?«

»Das gibt’s! Hat Anna-Lena im Internet gefunden. Wollten wir auch erst anbieten. Aber dann hat sie doch lieber die Fliesen gemacht.«

»Und die gehen?«

Malte Hartmann zuckte mit den Schultern.

»Na ja«, beruhigte ihn Nils Hansen. »Muss sich ja auch erst rumsprechen.«

Der Bauer nickte bedächtig.

»Und was machen wir mit dem Doden?«

Nils Hansen seufzte. Er betrachtete die Heugabel, die sich tief in die Brust des Toten gebohrt hatte.

»Ein Unfall war das nicht.«

Malte Hartmann nickte.

»Nee. Der is nicht aus Versehen in die Heugabel gefallen.«

Nils Hansen hob die Schultern.

5

Katharina Berg klappte das schwarze Verdeck ihres roten Fiat-Cabrios zurück. Sie knotete das Kopftuch fester, setzte die Sonnenbrille auf und warf einen Blick in den Rückspiegel. Sie nickte zufrieden und brachte den Spiegel zurück in die richtige Position. Dann startete sie den Motor und lenkte den Wagen auf die Straße.

Der Fahrtwind ließ ihre dunklen Haare im Wind flattern. Sie war froh, aus der Stadt herauszukommen. Die Luft in der Polizeidirektion war stickig gewesen. Auf dem Hof in Poppenrade würde es angenehmer sein.

Auf der Landstraße war kaum Verkehr. Katharina ließ den Wagen rollen und genoss den Blick über die Felder, auf denen das Korn schon hoch stand. Nicht mehr lang, dann würden die Bauern mit ihren Erntemaschinen unterwegs sein. Zurückbleiben würden die Stoppelfelder mit den rund gepressten Strohballen. Katharina liebte diese schlichten Vorgänge, die so beschaulich und erdverbunden waren.

Viel zu schnell erreichte sie den Hartmann-Hof in Poppenrade und parkte ihr Cabrio zwischen den VW-Bussen der Spurensicherung und dem Leichenwagen. Vom Kuhstall aus kam ein uniformierter Polizist auf sie zu.

»Entschuldigung.«

Katharina stieg aus dem Wagen. Der Polizist blieb vor ihr stehen. Er hatte ein jungenhaftes Gesicht mit geröteten Wangen. Unter seiner Dienstmütze sahen strohige rote Haare hervor. Die beiden hellblauen Sterne auf seinen Schulterklappen wiesen ihn als Polizeimeister aus.

»Fahren Sie bitte weiter. Das hier ist ein polizeilicher Ereignisort.«

Katharina lächelte ihn an. »Tatsächlich?«

Amüsiert bemerkte sie, dass sich das Rot auf seinen Wangen unter ihrem ironischen Blick noch vertiefte.

»Es tut mir leid«, stammelte er. »Aber Sie können nicht hierbleiben.«

Katharina löste ihr Kopftuch. Ihr dunkles Haar ergoss sich über ihre Schultern. Der Polizist starrte sie fasziniert an.

»Ich würde mir den Toten gerne ansehen.«

Dem Polizisten klappte der Mund auf. Sein Blick wanderte über ihren Körper, über die knallig rote Bluse, die weite schwarze Hose und die modischen Sneakers. Dann sah er ihr wieder ins Gesicht. In seinen Augen sah sie Verwirrung.

»Sie…?«

Katharina beschloss, ihn zu erlösen. Sie zog ihren Dienstausweis hervor.

»Kriminalhauptkommissarin Katharina Berg«, stellte sie sich vor.

Der Polizist starrte auf ihren Ausweis, als sähe er so etwas zum ersten Mal.

»Und Sie sind?«

Der Polizist erwachte endlich aus seiner Starre. Er nahm Haltung an und legte die Hand an den Mützenschirm.

»Polizeimeister Nils Hansen von der Polizeistation Garding.«

»Freut mich.« Katharina hielt ihm die Hand hin.

Nils Hansen ergriff sie. Seine Finger waren feucht und heiß, und er hielt ihre Hand zu lange fest. Katharina entzog sie ihm lächelnd.

»Also. Gehen wir?«

Hansen nickte eifrig.

»Ja. Natürlich.«

***

Der Tote lag vor dem Gatter der Laufstallboxen im Stroh. Die Heugabel hatte ihn aufgespießt und am Boden festgenagelt. Vermutlich war es ein halbwegs schneller Tod gewesen. Allerdings auch ein sehr schmerzhafter.

Der Tote war groß und schlank. Er trug edle Kleidung und teure Schuhe. Im Leben musste er hübsch gewesen sein. Die Falten in seinem gebräunten Gesicht waren nicht besonders tief. Vermutlich hatten sie ihn eher attraktiv als alt gemacht.

»Wer ist der Tote?«

»Ricardo Reiter. Ein Filmproduzent aus Hamburg.«

»Und wie kommt der hierher?«

»Urlaub, nehme ich an.«

»Sie haben mit den Besitzern des Hofs gesprochen?«

Hansen schüttelte den Kopf. »Ich dachte, das machen Sie lieber selbst.«

Katharina nickte. Dann lächelte sie. »Da haben Sie richtig gedacht.«

Eigentlich war es nicht möglich. Aber falls doch, dann wurde das Gesicht von Nils Hansen noch röter, als es ohnehin schon war.

***

Anna-Lena Hartmann, ihr Mann Malte und Izabela Reiter saßen auf der Eckbank in der großen Bauernküche wie Hühner auf der Stange. Katharina betrachtete die drei.

Der Bauer hatte ein breites, gutmütiges Gesicht, schwielige Hände und kurze dunkle Haare, die sich an der Stirn bereits lichteten. Seine Ehefrau war brünett, mit einem hübschen und frischen Antlitz. Die Frau des Toten mit den slawischen Zügen und der dicken Schicht Make-up wirkte neben ihr älter, als sie vermutlich war. Mit der linken Hand hielt sie den Kragen ihres Nerzmantels zusammen, in der rechten hielt sie eine brennende Zigarette. Katharina bemerkte, dass ihre Finger gelb vom Nikotin waren.

Das Gesicht der Frau im teuren Nerz war versteinert, das der jungen Bäuerin bleich und schmerzverzerrt. Nur der Bauer trug eine beherrschte Miene zur Schau. Er schien sich damit abgefunden zu haben, dass es Dinge gab, die man eben nicht ändern konnte.

Katharina stellte sich vor und bat die drei, ihr die Ereignisse der letzten Tage zu schildern. Was sie zu hören bekam, war eher dürftig: Das stressgeplagte Hamburger Ehepaar, das durch eine Zeitungsannonce auf den Hof gelockt worden war. Erholsame Ferien auf dem Bauernhof. Eine neue Geschäftsidee.

»Hm.« Katharina ließ den Blick durch die Küche wandern. »Ich nehme an, Sie haben nichts dagegen, wenn ich mich ein wenig bei Ihnen umsehe?«

Das Bauernehepaar wechselte einen schnellen Blick. »Wozu?«

»Ich möchte mir ein Bild machen.«

Die Bäuerin erhob sich. »Ehrlich gesagt: Nein. Es gibt keinen Grund, in unseren Sachen herumzuwühlen.«

Katharina nickte gleichmütig. »Dann muss ich mit einem amtlichen Durchsuchungsbeschluss wiederkommen.«

Malte Hartmann stellte sich neben seine Frau. »Das wird nicht nötig sein«, erklärte er barsch und machte eine auffordernde Geste. »Sehen Sie sich um.«

***

Katharina ging durch den Flur, die Hände in den Hosentaschen. Das Haus war hell und freundlich, die Räume sauber und ordentlich. Normale, anständige Leute, die hier wohnten. Ein bisschen bieder vielleicht. Aber so war das eben auf dem Dorf.

Ihr Blick blieb an der Bauerntruhe im Flur hängen. Es war eine große, alte Truhe aus dunklem Holz, kunstvoll verziert und mit Mustern in klaren, starken Farben bemalt. Der Deckel war mit einem massiven Vorhängeschloss gesichert.

Katharina rüttelte an dem Schloss und stellte fest, dass es offen war. Neugierig klappte sie den Deckel auf.

Die Truhe war bis oben hin mit Wandkacheln gefüllt. Katharina nahm eine der Kacheln heraus. Sie zeigte das Bild einer nackten Frau, die sich auf einem roten Sofa räkelte. Ein naives und recht stümperhaft gemaltes Bild.

Katharina hob die Augenbrauen. Dann grub sie weiter.

Unter den Fliesen mit den nackten Frauen lagen noch weitere. Sie waren dreidimensional. Jemand hatte auf den Kacheln einzelne Frauenbrüste modelliert. Noch weiter unten stieß sie auf Penisse und Vaginas.

Katharina lachte leise. Das war allerdings alles andere als bieder.

Sie legte die Kacheln zurück in die Truhe und schloss den Deckel. Dann ging sie über die Treppe nach oben.

Sie fand das Zimmer, in dem offenbar Izabela Reiter übernachtete. Über dem Stuhl am Fenster hing ein schmaler schwarzer Rock, darüber eine Nerzstola.

Katharina zog Izabelas Koffer unter dem Bett hervor und öffnete ihn.

Im Inneren befand sich eine repräsentative Auswahl aller möglichen Sexspielzeuge. Katharina identifizierte Dildos und Buttplugs, pelzgefütterte Handschellen und nietenbesetzte Halsbänder, Augenbinden und Knebel. Daneben gab es noch andere sonderbar aussehende Utensilien, von denen Katharina nicht hätte sagen können, wozu sie gedacht waren.

Sie klappte den Koffer zu und schob ihn zurück unters Bett. Dann betrat sie den nächsten Raum. Es war das Schlafzimmer des Toten.

Im Kleiderschrank entdeckte sie ein Stativ und eine teure Filmkamera. Daneben lagen einige Mini-DV-Kassetten für Digitalfilme. Sie waren noch eingeschweißt.

6

»Und?«, fragte Laura. »Was siehst du?«

Marco, Tim und Laura lagen wieder im Maisfeld, und Marco schaute wieder mit dem Fernglas zum Hartmann-Hof hinüber.

»Zwei Männer in schwarzen Anzügen«, berichtete er. »Sie schleppen einen von diesen Metallsärgen.« Er kaute auf der Unterlippe. »Ich wüsste zu gern, wer da drinliegt.«

»Vielleicht sollten wir hingehen und fragen«, schlug Tim vor.

Marco setzte das Fernglas ab. »Klar«, sagte er spöttisch. »Mach doch.«

Laura nahm ihm das Fernglas aus der Hand.

»Das ist ja wie im Fernsehen«, sagte sie. »Diese ganzen Leute in diesen weißen Plastikanzügen.«

»Das ist die Spurensicherung«, erklärte Marco weltmännisch.

»Das weiß ich selbst.« Es war nichts Neues, dass Marco den großen Zampano spielte. Doch heute ging er ihr auf die Nerven.

»Aber…« Tim rieb sich nervös mit der Hand über das Kinn.

»Ja?«

»Wenn da die Spurensicherung ist, dann heißt das doch… das heißt, dass jemand ermordet wurde.«

Marco verdrehte die Augen. »Mann. Du bist vielleicht ein Blitzmerker.«

Tim schob beleidigt die Hände in die Hosentaschen. Laura kniff die Augen zusammen und schaute angestrengt durch das Fernglas.

»Da ist Nils.«

»Nils?«

»Nils Hansen. Vom Hansen-Hof.«

Marco nahm ihr das Fernglas aus der Hand.

»Klar. Der ist ja auch bei den Bullen.« Er spähte durch das Fernglas und beobachtete, wie Hansen mit den Männern sprach, die den Metallsarg in den Leichenwagen schoben.

7

Auf dem Küchentisch lag eine Auswahl an Sexspielzeugen und Erotikfliesen, die Katharina aus Izabelas Koffer und der Bauerntruhe im Flur zusammengestellt hatte. Anna-Lena und Malte Hartmann und Polizeimeister Nils Hansen standen mit betretenen Gesichtern um den Tisch herum. Izabela Reiter lehnte mit scheinbar gleichgültiger Miene an der Wand und rauchte. Sie war offenbar entschlossen, keine Gefühle zu zeigen.

Katharina lächelte. Sie ging zum Küchenschrank, um sich ein Wasserglas herauszunehmen.

»Ich darf doch?«

Anna-Lena Hartmann öffnete den Mund, um zu protestieren, aber es war schon zu spät. Katharina öffnete die Schranktür. Zu ihrer Überraschung enthielt der Schrank keine Gläser. Stattdessen hatte jemand eine Plastiktüte hineingestopft.

Sie war gefüllt mit irgendwelchen eckigen Gegenständen, die sich spitz in das bunte Plastik bohrten. Katharina wollte nach ihr greifen, aber bevor sie dazu kam, neigte sich die Tüte, und Dutzende kleiner, durchsichtiger Plastikverpackungen fielen heraus und landeten in der Spüle.

Katharina nahm eine der Verpackungen in die Hand und betrachtete sie. Es war eine digitale Videokassette. Auf der Hülle stand das Datum des gestrigen Tages, außerdem die Uhrzeit – vierzehn Uhr dreißig– und der Titel des Films: »Reiterspiele mit Zaumzeug«.

Katharina lächelte. Sie nahm die Plastiktüte, stopfte die Mini-DV-Kassetten wieder hinein und stellte die Tüte zu den Erotikfliesen und dem Sexspielzeug auf den Küchentisch. Dann öffnete sie den nächsten Schrank und fand das gesuchte Glas. Sie füllte es mit Wasser aus dem Hahn und setzte sich an den Tisch.

»So«, sagte sie. »Dann fangen wir doch einfach noch mal ganz von vorne an.«

***

Malte Hartmann starrte aus dem Fenster über die Felder. Es dauerte lange, bis er Katharina den Kopf zuwandte und zu sprechen begann.

»Sehen Sie, das ist so: Wir haben hier Milchvieh. Davon kann man leben, aber reich wird man damit nicht. Und das Haus ist alt. Das Dach leckt. Wir müssen dringend renovieren. Und da hatte Anna-Lena eben die Idee mit den Erotikfliesen.«

»Ich habe einen Töpferkurs an der Volkshochschule gemacht«, erklärte die Bäuerin. »Da haben wir gelernt, wie man Ton bemalt und glasiert und brennt. Ich habe einen Brennofen gekauft, und dann haben wir angefangen. Ich meine: Sex geht doch immer.«

Katharina sah zu Izabela Reiter, die an der Wand lehnte und rauchte.

»Und wo kommen Sie und Ihr Mann ins Spiel?«

Izabela drückte die Zigarette mit einer ungeduldigen Bewegung im Aschenbecher aus. Dann hob sie das Kinn und zog ihren Nerzmantel enger.

»Sex geht eben nicht immer. Ricardo war eine große Nummer auf dem Pornomarkt. Aber in letzter Zeit ist er auf seinen Filmen sitzen geblieben.« Sie schluckte. »Wir stehen finanziell nicht besonders gut da. Und dann hat Ricardo in der Zeitung von dieser Sache mit dem Kuhkuscheln gelesen.«

Katharina hob fragend die Augenbrauen.

»Man legt sich zusammen mit einer Kuh ins Heu«, erklärte Malte. »Das entspannt.« Er zuckte mit den Schultern. »Wir haben auch darüber nachgedacht.«

Katharina lächelte. »Und dann hatten Sie die Idee, nicht wahr?« Sie deutete auf die Tüte mit den Videokassetten. »Sie drehen Pornos im Kuhstall.«

Die drei nickten.

»Das war ein super Deal«, erklärte Anna-Lena. »Malte und ich haben in Ricardos Filmen mitgespielt. Und Izabela hat für meine Erotikfliesen Modell gestanden.« Sie schaute sehnsüchtig auf Izabelas Oberkörper. »Sie hat so wunderschöne Brüste.«

Katharina betrachtete die dreidimensionalen Busenkacheln auf dem Küchentisch. Die Schönheit des Vorbilds war irgendwo auf dem Weg in den Brennofen verloren gegangen.

»Die Leute im Dorf«, fragte sie. »Haben die mitbekommen, was Sie hier tun?«

Anna-Lena Hartmann nickte. »Ja. Klar. Wir hatten ja auch ein Schild draußen, wegen der Erotikfliesen.«

»Und die Leute fanden das gut?«

Anna-Lena wand sich ein wenig. »Na ja. Es gab schon mal Ärger.«

Katharina holte tief Luft. Diesem Bauernpärchen eine zusammenhängende Aussage zu entlocken war Schwerstarbeit.

»Mit wem?«

Anna-Lena warf Nils Hansen einen vernichtenden Blick zu. »Der Bauer vom Nachbarhof. Der hat Rabatz gemacht wegen der Kühe.« Sie lachte geringschätzing. »Er ist Tierschützer.«

Katharina Berg wandte sich an Nils Hansen.

»Haben Sie das notiert?«

Der Polizeimeister schaute auf seine Schuhe.

»Muss er nicht«, warf Malte Hartmann ein. »Das ist sein Vater.«

Katharina hob die Augenbrauen.

»Verstehe ich das richtig? Sie haben das die ganze Zeit gewusst? Und Sie sagen kein Wort?«

Nils Hansen wand sich.

»Na ja. Wir dachten… weil es doch irgendwie peinlich ist.«

»Und Ihnen ist nicht in den Sinn gekommen, dass der Mord etwas mit dieser Filmerei zu tun haben könnte?«

»Nein.« Nils Hansen fuhr sich durch die Haare. »Also, ich meine: Ich habe nicht daran gedacht.« Er wurde wieder rot. »Aber mein Vater war es sicher nicht.«

»Er war ja auch nicht der Einzige, der Rabatz gemacht hat«, warf Malte Hartmann ein.

Katharina spürte, wie ihr linkes Auge zu zucken begann. Das tat es immer, wenn sie kurz davor war zu explodieren. Sie lächelte süß.

»Wer denn noch?«

»Unser Dorflehrer.«

»Auch ein Tierschützer?«

»Nee«, sagte Malte Hartmann. »Bei dem war’s wegen der Moral.«

»Er kandidiert für die nächste Bürgermeisterwahl«, erklärte Nils Hansen. »›Bei uns ist die Welt noch in Ordnung‹, heißt sein Wahlspruch, ›und das soll auch so bleiben.‹«

Katharina schnaubte leise.

»Na wunderbar. Haben Sie sonst noch etwas vergessen zu erwähnen? Irgendwelche Streitigkeiten vielleicht?«

Izabela Reiter und die Eheleute Hartmann schüttelten die Köpfe. Katharina legte den Kopf schief.

»Und bei Ihnen? Wenn man gemeinsam Striptease macht, überschreitet man ja schon mal Grenzen.«

Malte Hartmann verschränkte die Arme vor der Brust. »Nee«, sagte er.

»Das war kein Problem«, ergänzte seine Frau.

»Wir haben uns alle prima verstanden«, erklärte Izabela und zündete sich eine neue Zigarette an. »Wir hatten ja auch alle was davon. Ricardo und ich hatten ein tolles Setting für unsere Filme und authentische Darsteller.«

»Und ich hatte ein super Modell für meine Fliesen«, erklärte Anna-Lena Hartmann. »Eine echte Win-win-Situation.« Sie schluchzte auf. »Das hat Ricardo gesagt.«

Katharina Berg seufzte.

»Na schön. Dann werde ich also mit dem Tierschützer und dem zukünftigen Bürgermeister sprechen.« Sie schenkte Nils Hansen ein boshaftes Lächeln. »Und Sie… Sie sehen sich diese Bänder an.«

Sie deutete auf die Tüte mit den digitalen Videokassetten.

»Aber…« Nils Hansen lief puterrot an. »Das sind Pornos!«

Katharina zwinkerte ihm zu.

»Nein. Das ist Beweismaterial. Und es enthält vielleicht einen Hinweis, der uns bei der Aufklärung dieses Verbrechens hilft.«

Nils Hansen schaute zweifelnd auf die bunte Plastiktüte. Er sah nicht so aus, als ob er sich seiner Aufgabe gewachsen fühlte.

8

Katharina Berg ließ ihr rotes Fiat-Cabrio vom Hof der Familie Hartmann rollen. Sie hätte den Weg bis zu Hartmut Hansen auch zu Fuß gehen können, aber sie wollte sich für einen Moment den Wind durch die Haare wehen lassen.

Kurz entschlossen lenkte sie den Wagen auf die Landstraße nach Garding. Rechts von ihr stand goldgelber Weizen auf einem Feld, links kräftiger Mais. Am liebsten hätte sie sich jetzt in eines der Felder gelegt und in den blauen Himmel geschaut, auf die feinen weißen Wolken, die langsam vorbeitrieben, und auf die zerrissenen schwarzen Wolken, die in einer höher gelegenen Schicht der Atmosphäre an den weißen Wolken vorbeirasten.

Aber so viel Zeit hatte sie nicht. Also ließ sie den Wagen nur an den Feldern vorbeirollen und wendete dann. Einen Moment blieb sie auf der einsamen Landstraße stehen und blinzelte in die Sonne. Schließlich gab sie Gas und fuhr zurück nach Poppenrade.

Sie wurde bereits erwartet. Offenbar hatte Nils Hansen seinen Eltern Bescheid gegeben, denn als Katharina die Bauernhausküche auf dem Hansen-Hof betrat, war der Tisch schon mit dem blauweißen Friesengeschirr gedeckt. Drei Tassen und Teller standen bereit. Die bauchige Teekanne thronte auf einem passenden Stövchen. Daneben standen ein kleiner Topf mit Kandiszucker und eine Schale mit selbst gebackenen Keksen.

Marlies Hansen lud Katharina mit einem Lächeln ein, sich zu setzen. Ihr Mann würde sofort kommen.

***

Nils Hansen ging um den großen Milchtank herum und strich mit der Hand über die glatte Oberfläche. Sie war angenehm kühl. Das Metall glänzte im Licht der Scheinwerfer, die überall aufgestellt worden waren, genau wie die Roste am Boden und die Gatter der Boxen. Malte hatte seinen Kuhstall wirklich gut in Schuss.

Die Beamten der Spurensicherung in ihren weißen Tyvek-Anzügen suchten das riesige Gebäude ab. Sie hatten die Stelle markiert, an der der Tote gelegen hatte. Eine dicke weiße Linie, die den Umriss eines menschlichen Körpers nachzeichnete. Dort, wo sich Reiters Oberkörper befunden hatte, war eine gerade Reihe von Blutflecken auf dem strohbedeckten Boden zu sehen. Es waren die Punkte, an denen sich die Heugabel durch Reiters Brust und Rücken gebohrt hatte.

Wenn er doch nur eine Idee hätte, wer das getan hatte. Wenn er den entscheidenden Hinweis fand, der zur Ergreifung des Täters führte. Dann hätte er schnell den dritten Stern auf seinen Schulterklappen. Und er wäre seinem großen Traum einen Schritt nähergekommen: der Versetzung zur Kriminalpolizei.

Hansen kratzte sich unter seiner Dienstmütze am Kopf. Er versuchte sich zu erinnern, was er auf der Polizeischule gelernt hatte. Motiv, Mittel, Gelegenheit. Das waren die drei Variablen, die bei der Aufklärung eines Verbrechens die entscheidende Rolle spielten. Was das Motiv anging, gab es bisher nur zwei Verdächtige, seinen Vater und den Dorflehrer Frank Carstensen. Nils Hansen glaubte nicht, dass einer der beiden in Frage kam. Aber auf der anderen Seite war auch weit und breit kein anderes Motiv in Sicht als der Ärger über die Filmproduktion auf dem Hartmann-Hof.

Hansen fielen plötzlich die Videokassetten wieder ein, die er sich ansehen sollte. Pornos! Er hatte sich in seinem ganzen Leben noch keinen Porno angesehen. So etwas taten doch nur einsame, verklemmte Junggesellen, die nicht wussten, was sie mit ihrer Lust anfangen sollten.

Was ihn selbst, wenn er darüber nachdachte, äußerst zutreffend beschrieb.

Aber das machte die Sache nur noch schlimmer. Was, wenn ihn diese Schmutzfilme tatsächlich anmachten? Auf keinen Fall durfte er beim Ansehen der Filme in Wallung geraten. Aber wie, um alles in der Welt, sollte er das verhindern?

Nils Hansen war so in seine Gedanken versunken, dass er gar nicht bemerkte, dass einer der weiß gekleideten Männer von der Spurensicherung vor ihm stand. Erst als der Mann sich räusperte, nahm Hansen ihn wahr. Er zuckte zusammen.

»Oh. Verzeihung.«

Der weiße Plastikmann grinste.

»Polizeimeister Hansen? Hauptkommissarin Berg hat gesagt, wenn wir etwas finden, sollen wir Ihnen Bescheid geben.«

»Mir?«

»Sie hat gesagt, Sie koordinieren die Ermittlungen vor Ort.«

Stolz stieg plötzlich in Nils Hansen auf. Er. Koordinierte. Die Ermittlungen.

»Ja«, sagte er so lässig, wie er nur konnte. »Was gibt es denn?«

Der Plastikmann hielt ihm seine Digitalkamera hin, sodass Hansen auf den winzigen Bildschirm sehen konnte.

»Wir haben bei der Scheune einen Schuhabdruck gefunden. Einen Teilabdruck, um genau zu sein. Aber das Profil ist recht gut zu erkennen. Wir machen gerade einen Gipsabdruck.«

Hansen nickte beeindruckt.

»Toll!«, sagte er und vergaß dabei, dass er eigentlich souverän und weltgewandt wirken wollte.

Das war etwas anderes, als Falschparker aufzuschreiben und Ladendiebe zu jagen. Das war echte Polizeiarbeit!

***

Der Anblick des Biobauern Hartmut Hansen ließ Katharina Berg spontan an ein Streichholz denken. Das flammende Rot auf seinem Gesicht wetteiferte mit seinen feuerroten Haaren um die Vorherrschaft.

»Diese Leute haben doch nicht mehr alle Tassen im Schrank«, schimpfte er. »Kuhpornos! Da müssen sich die armen Kühe vor laufenden Kameras melken lassen, und diese halbseidenen Darsteller reiben sich gegenseitig mit der Milch ein. Und die Kälber werden nicht von ihrer Mutter gesäugt, sondern müssen am Busen von Anna-Lena Hartmann nuckeln. Das ist doch pervers.«

»Du solltest dich nicht so aufregen, Hartmut«, warf Marlies Hansen ein, die neben ihrem Mann auf der Küchenbank saß. »Denk an dein Herz.«

»Ich rege mich aber auf«, sagte Hansen wütend. »Das sind Hochleistungskühe. Intelligente und sensible Tiere. Die stehen ohnehin unter Stress, weil sie permanent schwanger sind und mit ihren prall gefüllten Eutern herumlaufen. Ständig werden sie besamt, ohne jemals einen Bullen zu Gesicht zu bekommen. Und wenn das Gras auf der Wiese zu dünn wird, werden sie auch noch mit Kraftfutter vollgestopft. Das ist mehr als genug. Da müssen nicht noch irgendwelche hirnlosen Städter kommen und Pornofilmchen mit ihnen machen.«

Seine Frau lächelte.

»Also, ich finde das lustig«, erklärte sie. »Die tun den Kühen doch nichts. Vielleicht macht es den Tieren sogar Spaß.«

Hartmut Hansen sah seine Frau kopfschüttelnd an.

»Ich verstehe dich nicht.«

Marlies Hansen zuckte mit den Schultern.

»Ich denke einfach, man muss nicht alles so bierernst nehmen. Das Leben ist doch ernst genug. Da kann man sich doch auch mal ein kleines Vergnügen gönnen.«

Katharina Berg lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und beobachtete amüsiert das Geplänkel der Eheleute. Sie trank einen Schluck von ihrem Tee. Marlies Hansen, eine dralle kleine Frau mit roten Wangen, schenkte umgehend nach.

»Mein Mann ist sofort zu Malte gerannt, als er von dieser Sache erfahren hat«, erklärte sie. »Die beiden haben sich bestimmt eine Stunde lang angeschrien. Natürlich ohne Erfolg. Malte ist stur. Und mein Mann…«, sie strich ihm zärtlich über die Wange, »…nicht weniger.«

Katharina warf zwei Stücke Kandis in ihren Tee und rührte ihn um.

»Haben Sie auch mit Ricardo Reiter gestritten?«, fragte sie Hartmut Hansen. Der schüttelte den Kopf.

»Der feige Hund hat sich versteckt. Ich habe ihn überhaupt nicht zu Gesicht bekommen.«

Katharina legte den Kopf schief. »Und jetzt ist der feige Hund tot.«

Hansen nickte.

»Ja. Ich weiß. Aber das ändert nichts. Was er da mit den Kühen gemacht hat, war eine Sauerei. Und er war ein feiger Hund.«

Seine Frau strich ihm abwesend über den Arm.

»Sie sind hier, weil mein Mann verdächtig ist, nicht wahr?«

Katharina hob die Hände.

»Er hätte ein Motiv gehabt. Deshalb muss ich natürlich mit Ihnen sprechen.« Sie nippte an ihrem Tee. »Aber ich glaube nicht, dass Ihr Mann der Täter ist, den wir suchen.«

Marlies Hansen lächelte spitzbübisch. »Da hast du aber Glück gehabt, Hartmut.«

Der Biobauer machte ein finsteres Gesicht.

»Warum? Weil mir niemand zutraut, dass ich auch mal etwas tun könnte? Weil Hunde, die bellen, nicht beißen?«

Seine Frau lachte.

»Nein. Weil du einfach ein durch und durch anständiger Mensch bist. Das sieht auch die Kommissarin. Und«, sie blinzelte ihrem Mann zu, »weil du unserem Sohn das nicht antun würdest. Ein Polizist, dessen Vater ein Mörder ist– das geht doch nicht.«

Hartmut Hansen verschränkte die Arme vor der Brust und brummelte etwas Unverständliches.

Marlies Hansen stand auf. Sie füllte eine Tasse mit Kaffee, goss einen ordentlichen Schuss Rum dazu und versah das Getränk mit einer hübschen Sahnehaube. Hartmut Hansen hob das Kinn, als sie die Tasse vor ihn auf den Tisch stellte.

»Spar dir deine Bestechungsversuche«, sagte er. Aber es gelang ihm nicht, seine grimmige Miene aufrechtzuerhalten. Er griff nach der Tasse und schlürfte genüsslich. Die Falten auf seiner Stirn glätteten sich. Er seufzte und legte seiner Frau einen Arm um die Schultern.

»Sie hat natürlich recht«, sagte er. »Selbst wenn mich manchmal die Wut packt: Ich bin Pazifist. Und natürlich würde ich Nils das nicht antun.« Er zwinkerte Katharina zu. »Dass er am Ende seinen eigenen Vater verhaften muss.«

Katharina nickte und erhob sich.

»Vielen Dank für den Tee«, sagte sie.

Marlies Hansen schaute sie neugierig an. »Was werden Sie jetzt tun?«

»Ich spreche mit dem anderen Poppenrader Bürger, dem diese Filme im Kuhstall nicht gefallen haben.«

Marlies Hansen schmunzelte. »Lassen Sie mich raten: Frank Carstensen. Unser hoffnungsvoller zukünftiger Bürgermeister. Der moralische Fels in der Brandung unseres Dorfs.«

Katharina erwiderte das Lächeln.

»Genau der.«

***

Nils Hansen nahm seine Dienstmütze vom Kopf und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Es war wirklich unglaublich, wie heiß die Scheinwerfer der Spurensicherung wurden. Dabei war er nicht einmal in die Nähe des abgesperrten Bereichs um den Fundort der Leiche gekommen. Ohne den vorschriftsmäßigen Tyvek-Anzug hätte er das auch gar nicht gedurft.

Hansen lehnte sich an die Außenwand des Kuhstalls und fächelte sich ein wenig Luft zu. Dann hielt er verwirrt inne. Im Gebüsch neben ihm pfiff ein Vogel. Hansen runzelte die Stirn. Er setzte seine Dienstmütze wieder auf und machte einen Schritt auf den Busch zu. Plötzlich teilten sich die Zweige und gaben den Blick frei auf Marco, Laura und Tim.

»Hey, Nils. Komm mal her.« Marco winkte.

Nils Hansen zögerte. Dann ging er zu den drei Jugendlichen. Die Zweige schlossen sich wieder und verbargen die kleine Gruppe vor Blicken von außen.

Hansen betrachtete die drei: Marco mit seinen engen Jeans, dem eng anliegenden Tanktop und der modischen Haarfrisur, an den Seiten kurz geschoren, in der Stirn eine vorwitzige Tolle. Laura, schlank, mit langen blonden Haaren und einem schmalen und ausgesprochen hübschen Gesicht. Und Tim, der Sohn des Lehrers, mit der runden Brille, den dünnen hellbraunen Haaren und seiner immer irgendwie geduckten Körperhaltung.

»Was macht ihr denn hier?«

»Wir wollen wissen, was los ist«, erklärte Marco.

Hansen hob abwehrend die Hände. »Das darf ich euch nicht sagen.«

»Ach, komm schon, Nils«, drängte Marco. »Irgendjemand ist ermordet worden, stimmt’s?«

Hansen kniff die Lippen zusammen. Woher wussten die drei das?

»Der Leichenwagen. Und die ganzen Leute von der Spurensicherung. Genau wie sonntags abends beim ›Tatort‹.«

Hansen begriff, dass es wenig Sinn hatte, das Offensichtliche zu leugnen.

»Ja. Hier ist ein Mord geschehen. Und das heißt, das hier ist ein Tatort. Ihr solltet besser verschwinden.«

»Sag schon. Wer ist es?« Marco feixte. »Ich wette, es ist dieser Pornofilmer aus Hamburg, stimmt’s?«

Hansen spürte, dass er rot wurde. »Woher wisst ihr das denn?«

»Der hat gefilmt, wie Anna-Lena eine Schubkarre mit nassem Stroh über Malte ausgekippt hat«, berichtete Marco. »Das war total abgefahren.«

Hansen kniff die Augen zusammen. »Habt ihr irgendwas mit der Sache zu tun?«

Marco machte ein verächtliches Geräusch. »So’n Quatsch. Wir haben den ja gar nicht gekannt.«

Hansen bemerkte, dass Laura den Blick senkte.

»Wenn ihr was wisst, müsst ihr das sagen.«

Tim knetete seine Hände. »Letzte Nacht«, sagte er leise. »Da habe ich gesehen, wie sich mein Vater aus dem Haus geschlichen hat.«

Die anderen starrten ihn an.

»Er ist über die Felder gegangen. In die Richtung von Maltes Hof.«

»Und du glaubst, er hat…?«

»Weiß ich doch nicht«, brummte Tim und stopfte seine Hände in die Hosentaschen. »Ich weiß nur, dass mein Vater gesagt hat, dieser Typ ist eine Schmeißfliege. Wühlt in der Scheiße und verdient sich eine goldene Nase damit.«

Hansen sah ihn ernst an.

»Ich muss das melden. Das weißt du, oder?«

Ein leichtes Lächeln huschte über Tims Gesicht. »Ja«, sagte er. Dann schob er die Zweige des Gebüsches auseinander und stiefelte über die Felder davon.

Marco lachte auf.

»Der brave Tim«, spottete er. »Hasst seinen Vater so sehr, dass er ihn ohne mit der Wimper zu zucken ans Messer liefert.«

Laura schüttelte den Kopf.

»Du darfst das nicht glauben, Nils. Herr Carstensen ist ein anständiger Mensch. Der würde niemals irgendjemandem etwas zuleide tun.«

»Er hätte mich fast von der Schule schmeißen lassen«, warf Marco ein.

Laura sah ihn ungeduldig an. »Das war etwas anderes. Du hast sein Auto mit Eiern beschmiert.«

Marco grinste. »Klar. Wegen der Sechs in Mathe. Mein Vater wäre fast ausgerastet.«