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Edition Philosophie Magazin: Eine exklusive Auswahl zentraler philosophischer Texte durch das »Philosophie Magazin«. Mit den ungekürzten Dialogen in der klassischen Übersetzung von Schleiermacher sowie - einer sachkundigen Einführung von Rafael Ferber - einer Zeitleiste zu Leben und historischem Kontext - Erläuterungen der Grundbegriffe Platons - mit Beiträgen von Michael Hampe, Ekkehard Martens sowie Jochen Schmidt zur bleibenden Bedeutung des Werks Platon ist Beginn der Philosophie. Seine Figur des Sokrates ist der exemplarische Philosoph, den Platon in seinen frühen Dialogen im Gespräch mit der Athener Jugend porträtiert, Sokrates' zentraler Satz lautet: »Ich weiß, dass ich nichts weiß.« Die Gespräche drehen sich um wichtige philosophische Themen wie z.B. ›Schönheit‹, ›Rhetorik und Gerechtigkeit‹ sowie um Sokrates' Einstellung zu seiner Verurteilung. Folgende Dialoge sind enthalten: Apologie / Kriton / Protagoras / Gorgias / Hippias I
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Seitenzahl: 473
Platon
Frühe Dialoge
Mit einer Einführung und begleitenden Texten
Herausgegeben von Edition philosophie Magazin
FISCHER E-Books
Von Cécilia Bognon-Küss
Von dem historischen Sokrates wissen wir nur wenig, die Zweifel beginnen schon bei seinem Geburtsdatum. Vermutlich wurde er 470 v. Chr. geboren, vielleicht aber auch im Jahr darauf. Der Geburtsort war jedenfalls Athen, sein Vater ziemlich sicher Steinmetz, seine Mutter Hebamme. Über sein Todesjahr ist man sich einig: 399 v. Chr. wurde Sokrates hingerichtet. Er trank, umgeben von seinen Schülern, den tödlichen Schierlingsbecher. Ausgerechnet sein Meisterschüler Platon, der die letzten Stunden des Sokrates im Dialog »Phaidon« beschreibt, befand sich nicht unter den Getreuen in der Todeszelle.
Sokrates war ein Zeitgenosse des Perikles, jenes griechischen Staatsmanns, der Athen zum politischen und kulturellen Zentrum Griechenlands machte. In der damals demokratisch regierten Polis herrschten die besten Entfaltungschancen für neue geistige Strömungen. Der junge Sokrates greift zunächst begierig die Naturphilosophie des Anaxagoras, der seit 460 in Athen lebt, auf, später widmet er sich ganz dem Studium des Menschen.
Mit Beginn des Peloponnesischen Krieges im Jahre 431 zieht er mehrfach gegen die Spartaner ins Feld. In Platons »Gastmahl« hält Alkibiades eine schwärmerische Lobrede auf seinen Kampfgenossen Sokrates, der Kälte und Hunger trotzte, ohne Schlaf auskam und den Feinden in der Schlacht von Delion so stolz und trotzig entgegenmarschierte, dass diese gar nicht erst wagten, ihn anzugreifen.
Sokrates ist eine ungewöhnlich eindrucksvolle Erscheinung und das, obwohl er als ausgesprochen hässlich gilt: eine viel zu kurze, viel zu fleischige Nase, Glubschaugen, wulstige Lippen, auch sein gedrungener Körperbau entspricht keinesfalls griechischen Idealmaßen. In gewisser Weise verkörpert Sokrates die Opposition von Schein und Sein, jenen Gegensatz, den sich die Metaphysik in späteren Jahrhunderten zu einem ihrer Hauptprobleme machen sollte. Der unansehnliche Meisterdenker schart lauter schöne, junge Männer um sich, allen voran den offenkundig in ihn verliebten Alkibiades. Nietzsche, der sich in unstillbarer Hassliebe an Sokrates abarbeitete, sah in ihm den »großen Erotiker« der Geistesgeschichte. Und abgesehen von seiner kratzbürstigen Frau Xanthippe, die unter lautem Gezeter bisweilen einen Nachttopf über dem Denkerhaupt ihres Gatten leerte, schlug Sokrates fast jeden in seinen Bann. Als subtiler Verführer umwarb er seine Beute beharrlich, er mimte so lange den sehnsuchtsvoll Verliebten, bis die Zielperson entflammt war. Dann allerdings zog sich Sokrates schlagartig zurück, eindeutige Avancen wehrte er ab.
Vor allem aber war Sokrates für seine Fragetechnik berüchtigt. Auf den Straßen und Plätzen der Stadt praktizierte und lehrte er seine Philosophie in Form eines Frage-Antwort-Spieles. Er wendet sich an Politiker, Priester, Heerführer, Handwerker. Worin besteht eure Aufgabe, was ist der Sinn eurer Tätigkeit?, fragt er. Der eine beruft sich auf die Gerechtigkeit, der andere auf die Beförderung der Frömmigkeit. Doch keiner vermag ihm diese Begriffe klar zu umreißen. Sokrates deckt schonungslos die Selbstwidersprüchlichkeit ihrer Meinungen auf. Auf den ersten Blick benimmt er sich wie einer der damals einflussreichen Sophisten, die ihrem Gegenüber jedes Wort im Munde herumdrehen, alles anzweifeln und sich dafür auch noch bezahlen lassen. Doch während diese nach Reichtum und Erfolg streben, geht es Sokrates einzig um Erkenntnis. Die Tugend will er auf das Fundament des Wissens stellen. Deswegen demaskiert er vermeintliche Gewissheiten seiner Gesprächspartner, um neuen, gesicherten Einsichten ans Tageslicht zu verhelfen. Mäeutik, Hebammenkunst, heißt dieses Verfahren – das Talent dafür hatte Sokrates von seiner Mutter. Von sich selbst sagte er: »Ich weiß, dass ich nichts weiß.« Das war seine Ironie, sein philosophisches Heilmittel für all jene, die sich der Illusion hingeben, im Besitz der Wahrheit zu sein. Diese Ironie regte an, doch sie regte auch auf.
Im Jahr 399 muss sich der siebzigjährige Sokrates zum ersten Mal vor Gericht verantworten. »Gottlosigkeit« und »Verführung der Jugend« lauten die Vergehen, deren er sich schuldig gemacht haben soll. Der antike Historiker Diogenes Laertios überlieferte den Wortlaut der Anklageschrift: »Sokrates tut Unrecht, weil er nicht an die Götter glaubt, denen die Stadt ihren Kult erweist, vielmehr andere neue göttliche Wesen einführt. Ferner tut er Unrecht, weil er die Jugend verdirbt. Antrag: Todesstrafe.«
Bei den Klägern handelt es sich um den einflussreichen ehemaligen Militärbeamten Antyos, den jungen, mäßig erfolgreichen Poeten Meletos und einen weiteren jungen Mann namens Lykon. Die Anklagen wegen Gottlosigkeit (Asebie) ist keine Neuheit im Athen des ausgehenden fünften Jahrhunderts. Bereits vor Beginn des Peloponnesischen Krieges war dies eine beliebte Methode, um sich unbequemer Intellektueller zu entledigen. In den Jahren zuvor hatte man die Asebie-Klage unter anderem gegen den Naturphilosophen Anaxagoras und den Sophisten Protagoras erhoben.
Kurz bevor Sokrates vor Gericht zitiert wurde, war die attische Demokratie zutiefst erschüttert worden. Nach der desaströsen Niederlage gegen Sparta im Jahr 404 v. Chr. kam es zu einem Sturz der demokratischen Regierung. Acht Monate lang tyrannisierten dreißig Oligarchen das antike Athen. Als die Demokraten nach einer Revolte wieder an die Macht kamen, scheuten sie nicht vor politischen Säuberungsaktionen zurück. Absurderweise galt Sokrates schon länger als heimlicher Wortführer der Aristokraten. Verdächtig machte er sich bereits durch einige seiner Gefolgsleute, Adlige wie Xenophon oder der antidemokratische Charmides oder gar Kritias, der als einer der 30 aristokratischen Tyrannen gewütet hatte. Von Letzterem hatte sich Sokrates allerdings schon früh distanziert, und obgleich er sich nicht zugunsten eines bestimmten Verfassungstyps ausgesprochen hat, meint heute so mancher in dem gerechtigkeitsliebenden Wahrheitssucher Sokrates einen Förderer der Demokratie zu sehen. In jedem Fall war er kein Sympathisant der Tyrannis. Doch die von Demagogen infiltrierte, krisengeschüttelte attische Demokratie fühlte sich durch den unbequemen Fragensteller bedroht. An Sokrates wurde ein Exempel zur Abschreckung aller Regime- und Machtkritiker statuiert.
Der Prozess findet vor einem Tribunal von 501 Geschworenen statt. Den drei Anklägern wird als Erstes das Wort erteilt. Zum Wohle der Polis, so die Forderung, müsse Sokrates mit dem Tod bestraft werden. Daraufhin beginnt der Angeklagte seine Sache selbst zu verfechten. In der »Apologie des Sokrates«, einem der Haupttexte der Philosophie, hat Platon die Verteidigungsrede seines Lehrers literarisiert. Mit Empörung, Spott und überlegener Gedanken- und Redekunst weist Sokrates die Vorwürfe zurück. Doch diejenigen, die sich von seinem Plädoyer überzeugen lassen, werden von jenen, die sich taub stellen, überstimmt. So plädieren in einem ersten Entscheidungsgang 280 Stimmen auf »schuldig«, 221 halten Sokrates für »nicht schuldig«. Doch noch ist nicht alles verloren. Sokrates erhält die Gelegenheit, ein anderes Strafmaß als den von Meletos und Co. geforderten Tod vorzuschlagen. Anstatt zerknirscht um Gnade zu flehen, macht er sich jedoch einen provokanten Spaß daraus. Sokrates bittet das Gericht, ihn ob seiner Verdienste mit einem opulenten Mahl im Rathaus von Athen zu ehren. Erwartungsgemäß wird ihm dies übelgenommen. Bei der endgültigen Abstimmung schließen sich nun deutlich mehr Geschworene der Forderung des Meletos an. Der Philosoph wird zum Tod durch den Schierlingsbecher verurteilt.
Als der Getreue Kriton ihm die Flucht vorschlägt, lehnt Sokrates ab. Er, der beschuldigt wird, die gesellschaftliche Ordnung zu zersetzen, die Götter und die Gesetze der Polis zu missachten, geht also aus Treue zum Gesetz in den Tod. Wollte Sokrates womöglich sterben? Für Nietzsche lag dies auf der Hand. Sokrates lieferte jedoch auch selbst eine Erklärung für sein Verhalten. So sagt er mit Blick auf seine unausweichliche Hinrichtung: »Offenbar ist das, was mir zugestoßen ist, etwas Gutes, und es ist unmöglich, dass wir richtig urteilen, wenn wir glauben, das Sterben sei ein Übel.« Wie kein anderer vor oder nach ihm demonstrierte er den Satz: Philosophieren bedeutet sterben zu lernen.
Übersetzt von Marianna Lieder
Von Rafael Ferber
Im Jahr 399 v. Chr. wurde Sokrates im Alter von 70 Jahren wegen Gottlosigkeit und Verführung der Jugend zum Tode verurteilt. Die »Apologie« gibt die Verteidigungsrede des Sokrates vor Gericht wieder. Diese gilt als eines der Hauptzeugnisse der sokratischen Philosophie und bringt historische Wahrheit in literarischer Form zum Ausdruck. An zwei Stellen erwähnt Platon sich beiläufig als Zuhörer, ansonsten tritt seine Erzählerstimme ganz hinter die seines Lehrers zurück.
Gegliedert ist die »Apologie« in drei Reden. Die 1. Rede enthält die eigentliche Verteidigung des Sokrates (17a–35d). Darauf folgt die Entscheidung des Gerichts, ein Schuldspruch. Die 2. Ansprache (35e–38b) enthält den Gegenantrag des Sokrates: Er schlägt vor, man möge ihn mit einer lebenslänglichen Speisung im Rathaus Athens, dem Prytaneion, ehren. Allenfalls könne er eine geringe Geldstrafe entrichten. Der Antrag auf Speisung wird als Provokation aufgefasst, daraufhin wird über Sokrates das Strafmaß des Todes verhängt. In der 3. Rede (38c–42a) wendet sich der Verurteilte nochmals an seine Richter.
Im Folgenden werden zwei Abschnitte aus der 1. Rede und die 3. Rede untersucht: Im 1. Abschnitt versucht Sokrates, das Bild, das sich die Athener von ihm gemacht haben, zu korrigieren. Sie halten ihn nämlich für einen »Weisen« in der Art eines Naturphilosophen oder eines Sophisten. Sokrates dagegen erklärt, dass er mit diesen »Weisen« nichts zu tun habe. Vielmehr sei er damit beschäftigt, die Weisheit zu suchen. Ähnlich reagierte er bereits, als sein Jugendfreund Chairephon sich veranlasst sah, das Orakel von Delphi aufzusuchen. Keiner, so der Orakelspruch, sei weiser als Sokrates. Dieser allerdings war sich einzig sicher, »weder im Großen noch im Kleinen weise« zu sein. Um sich einen Reim auf die Aussage des Orakels machen zu können, begann Sokrates, die als »weise« geltenden Staatsmänner, Dichter, Handwerker und Künstler auf die Probe zu stellen. Er entwickelte dabei den »Elenchos«, ein Verfahren, das ihm dazu diente, die Widersprüchlichkeit der verbreiteten Meinungen offenzulegen. Als Resultat zeigte sich, dass viele der von ihm Befragten verworrene und fehlerhafte Auffassungen vertraten – insbesondere hinsichtlich der »wichtigsten Dinge« (»ta megista«), die die Fragen nach den Tugenden, dem Guten oder dem Endzweck des menschlichen Handelns betreffen. Was ihre Weisheit anbelangte, erlagen die sogenannten Weisen also einer Selbsttäuschung.
Für Sokrates konnte es daher nur eine richtige Interpretation des delphischen Orakelspruchs geben: Demnach ist derjenige der Weiseste unter den Menschen, der wie Sokrates selbst erkannt hat, dass »er in Wahrheit hinsichtlich seiner Weisheit nichts wert ist« und dass ihm deshalb nichts anderes übrig bliebe, als sie zu suchen. Mit dem sokratischen Nichtwissen ist also das menschliche Nichtwissen um die wichtigsten Dinge gemeint. Nach diesem »delphic turn« empfand Sokrates seine Art des Philosophierens als Tätigkeit in göttlichem Auftrag.
Trotz des Eingeständnisses der Unwissenheit gibt es für Sokrates dennoch eine Sache, deren er sich völlig sicher ist: So heißt es im 2. Abschnitt der 1. Rede: »Unrecht handeln aber und dem Besseren, sei es ein Gott oder ein Mensch, ungehorsam sein, davon weiß ich, dass es übel und verwerflich ist.« Es geht hierbei also nicht um eine theoretische Gewissheit, sondern um eine praktische: um die Erkenntnis einer Pflicht.
In der 3. Rede spricht Sokrates nochmals die Richter an. Denjenigen, die ihn verurteilt haben, prophezeit er, dass ihnen eine schwerere Strafe bevorstehe als jene, die sie über ihn ausgesprochen hätten. Es würden nämlich Jüngere kommen, um sie zur Rechenschaft zu ziehen. Auch an die Richter, die für seinen Freispruch plädiert haben, wendet er sich und redet mit ihnen über den Tod. Dieser sei entweder ein Zustand der völligen Empfindungslosigkeit, vergleichbar einem traumlosen Schlaf, oder »eine Veränderung, nämlich ein Wegzug der Seele von dem Ort hier an einen anderen Ort«. In beiden Fällen aber wäre der Tod kein Übel. Getreu seiner Maxime, nicht vorzugeben, etwas zu wissen, was er nicht weiß, lässt Sokrates offen, welche der beiden Alternativen zutrifft. Er hofft allerdings auf die zweite.
Die wohl wichtigste philosophische Bedeutung der »Apologie« besteht darin, dass Sokrates hier eine grundlegende begriffliche Neubestimmung vornimmt. Denn »Philosophie«, wie Sokrates sie verstanden wissen will, meint nun nicht mehr, die Weisheit zu besitzen, sondern sie zu suchen.
Von Cicero stammt der Ausspruch, Sokrates habe die Philosophie vom Himmel auf die Erde geholt. Der Sohn einer Hebamme, von dem keine eigene Zeile überliefert ist, gilt als Gründerfigur des abendländischen Denkens. Philosophie fasst er als »Suche nach Weisheit« und revolutioniert damit alles, was man zuvor darunter verstand. Er stellt die Tugend auf das Fundament der Vernunft und behauptet von sich selbst: »Ich weiß, dass ich nichts weiß.« Nichtsdestotrotz zeigt er sich jedem seiner Gesprächspartner haushoch überlegen. Platon hat in seinen Schriften der Person und dem Denken seines Lehrers ein unvergleichliches Denkmal gesetzt.
Sokrates wird als Sohn eines Steinmetzes und einer Hebamme in Athen geboren
–431Er nimmt an der Belagerung der Stadt Potidaia teil
–424Sokrates nimmt am Feldzug gegen die Stadt Delion teil, zwei Jahre später kämpft er in der Schlacht bei Amphipolis
–423Bei der Uraufführung der Komödie »Die Wolken« von Aristophanes wird Sokrates zur Zielscheibe des Spotts. In dem Stück wird ihm u.a. Gottlosigkeit vorgeworfen
–416Sokrates erscheint als Ehrengast beim legendären Gastmahl des Tragödiendichters Agathon. Platon hat dieses Ereignis später in seinem Dialog »Symposion« aufgegriffen
–407Der 20-jährige Platon schließt sich Sokrates als Schüler an
–406Sokrates nimmt als Vorsitzender des Volksrats am Prozess gegen die Feldherrn der Arginusenschlacht teil
–403Während der »Herrschaft der Dreißig« leistet Sokrates Widerstand gegen die mordlüsternen Anordnungen der Tyrannen
–399Sokrates wird wegen Gottlosigkeit zum Tod durch den Schierlingsbecher verurteilt. Folgt man Platons Schilderung im »Phaidon«, starb er umgeben von seinen Getreuen
Entmachtung des Areopags. Einführung der Demokratie in Athen
ab –443Perikles wird zum einflussreichsten Politiker der attischen Demokratie. Athen erlebt eine kulturelle und machtpolitische Blütezeit
–431Beginn des Peloponnesischen Krieges. Der attische Seebund kämpft unter Führung Athens mit Unterbrechungen fast 17 Jahre gegen Sparta
–430Die Pest wütet für einige Monate in Athen
–429Tod des Perikles. Er wurde zum Opfer der Seuche
–427Geburt Platons
–404Ende des Peloponnesischen Krieges. Athen kapituliert gegen Sparta
–404/03»Herrschaft der Dreißig«. Nach einer Revolte gegen die Oligarchen kommen die Demokraten wieder an die Macht
Von Rafael Ferber
Sokrates gab dem Begriff Philosophie eine neue Bedeutung: Suche nach Weisheit. In unermüdlichen Dialogen mit seinen Mitbürgern, die er auf den Straßen und Plätzen seiner Heimatstadt Athen ansprach, strebte er nach wahrer Erkenntnis. Als Großmeister der Ironie beschämte er jene, die sich im Besitz der Weisheit wähnten.
Die Griechen vor Sokrates verstanden unter einem Philosophen nicht zuletzt einen Weisen, also jemanden, der im Besitz der Weisheit ist. Sokrates hingegen unterscheidet zwischen dem Weisen im herkömmlichen Sinne und dem Philosophen. Demnach ist Letzterer keineswegs im Besitz der Weisheit, sondern befindet sich unermüdlich auf der Suche nach ihr. In der Bedeutung von »Suche nach Weisheit« taucht das Wort Philosophie erstmals in der »Apologie« auf. Sokrates beruft sich auf den Gott Apollon, der ihm »befohlen hat, dass ich philosophierend leben soll, indem ich mich selbst und die anderen prüfe«. Die Suche nach Weisheit vollzieht sich also durch methodische Prüfung im Gespräch. Elenchos, vom griechischen elenchô für »ich beschäme«, nennt man heute dieses philosophisch-dialogische Test- und Prüfverfahren. Und beschämt wird der Überprüfte dadurch, dass ihm öffentlich ein Selbstwiderspruch nachgewiesen wird. Exemplarisch kommt der Elenchos bei Meletos, dem Hauptankläger des Sokrates, zur Anwendung. So verstrickt sich Meletos ganz offenkundig in Widersinn, wenn er Sokrates des Atheismus’ bezichtigt, ihm jedoch im selben Atemzug vorwirft, »neue göttliche Wesen« eingeführt zu haben. Allerdings werden mit der Elenchos unsere Meinungen nicht nur auf innere Stimmigkeit und Widerspruchsfreiheit hin überprüft. Sokrates liegt daran, jene »wahren Meinungen« hervorzuholen, die ein jeder in sich trägt und die deshalb wahr genannt werden, weil sie mit der Wirklichkeit außer uns übereinstimmen. Denn, wie es im Dialog »Menon« heißt, »die Wahrheit der Dinge« ist »immer in unserer Seele«.
Der Ausdruck Arete wird oft mit Tugend, bisweilen auch mit Tüchtigkeit oder Vortrefflichkeit übersetzt. Allerdings geben die deutschen Begriffe nur Teilaspekte dessen wieder, was die Griechen meinten. Arete steht ursprünglich für die einem jeden Wesen innewohnende Anlage. So spricht Sokrates auch von der Tugend des Fohlens, das zum Pferd heranwächst, oder von der Tugend des Kalbs, das zur Kuh werden kann. Vor allem aber geht es ihm mit Arete um die menschlichen und bürgerlichen Tugenden und darum, wie der Mensch sie entfalten könne. Die herrschende Auffassung, dass Tugend durch bloße tätige Nachahmung erlernt werden könne, gibt Protagoras in dem nach ihm benannten platonischen Dialog wieder. Demnach sind »alle Lehrer der Tugend, soweit es ein jeder kann«. Als Sophist teilt Protagoras diese Überzeugung jedoch nicht, sondern meint, dass die Tugend ebenso von Experten gelehrt werden müsse wie eine Handwerkskunst. In diesem Punkt stimmt Sokrates ihm zu, allerdings hält er wenig von den sophistischen Methoden, die Tugenden zu lehren, wie etwa gegen Entgelt die Jünglinge in der Redekunst zu unterrichten. Zudem vertritt Sokrates im Unterschied zu Protagoras die Ansicht, man müsse sich zunächst unbedingt theoretisch darüber im Klaren sein, was Tugend sei, um sie vermitteln zu können. Tugendhaftigkeit ist für Sokrates in erster Linie eine Frage des Wissens. Das allgemeine Wissen davon, was gut ist, konkretisiert sich in dem spezifischen Wissen über bestimmte Tugenden wie Besonnenheit, Tapferkeit, Gerechtigkeit. Folglich resultiert die Untugend aus Unwissen. Feiges Verhalten etwa beruht für Sokrates auf Unkenntnis dessen, was tatsächlich zu fürchten ist.
Wenn Tugend Wissen ist, stellt sich damit die Frage, was Wissen ist. Auch hier gibt Sokrates dem Wort eine neue philosophische Bedeutung. Umgangssprachlich verwendeten die Griechen den Ausdruck episteme, ohne ihn eindeutig von doxa (Meinung) zu unterscheiden. Sokrates indes differenziert streng zwischen beiden Begriffen. Denn während die Meinung lediglich ein persönliches Für-wahr-Halten ist, lässt sich das Wissen im Sinne der Episteme für alle nachvollziehbar begründen und rechtfertigen. Wenn man zum Beispiel wirklich weiß, dass einen nach dem Tod kein Übel erwartet, so kann man nach Sokrates auch die Meinung begründen, dass man den Tod nicht zu fürchten brauche. Und genau diese Fähigkeit des Begründens vermisst Sokrates bei den von ihm befragten Staatsmännern, Dichtern und Handwerkern. Sie mögen zwar Meinungen, sogar richtige Meinungen äußern, doch können sie sich dabei nicht auf das Fundament des Wissens stützen.
Folgt man dem antiken Historiker Diogenes Laertios, lautet die Anklage gegen Sokrates: »Sokrates tut Unrecht, weil er nicht an die Götter glaubt, denen die Stadt ihren Kult erweist, vielmehr andere neue göttliche Wesen einführt. Ferner tut er Unrecht, weil er die jungen Menschen verdirbt. Antrag: Todesstrafe.« Sokrates soll also die Jugend verderben, weil er »neue göttliche Wesen« (daimonia kaina) einführt. Vermutlich spielt der Ankläger mit den daimonia kaina auf das von Sokrates erwähnte Daimonion an. Es steht für »das Zeichen des Gottes«, bisweilen spricht Sokrates auch nur von »dem Zeichen«, nicht zuletzt meint er damit eine »Art von Stimme«. Allerdings gehört zu der Eigentümlichkeit dieser Stimme, dass sie niemals zu etwas rät, sondern stets nur abrät.
Im Wandel der Epochen wurde diese Stimme unterschiedlich interpretiert. Cicero verstand darunter ein »unbestimmtes Göttliches«. Zwei Jahrtausende später deutete Walter Burkert die Einflüsterungen des sokratischen Daimonion als »ein an der Grenze des Pathologischen stehendes Erlebnis«. Vielleicht kann »die Stimme« tatsächlich nur vernehmen, wer an einer fast schon krankhaften Hellhörigkeit leidet? Am sinnvollsten scheint nach wie vor die Deutung Hegels. Ihm zufolge ist das Daimonion ein »inneres Orakel«, eine letzte Instanz in allen Fragen des religiösen, moralischen und alltäglichen Handelns. So ist gerade etwas Persönliches und Überrationales die höchste Autorität für den »Rationalisten« Sokrates. Das Daimonion stellt er nicht nur über die Götter der Stadt, sondern sieht darin neben der Vernunft eine zweite Erkenntnisquelle.
Auch wenn das deutsche Wort Ironie vom griechischen eironeia (Verstellung) stammt, geht die gebräuchliche Definition auf einen römischen Rhetoriker aus dem ersten Jahrhundert n. Chr. zurück. Für Quintilian bedeutet Ironie, »dass man das Gegenteil von dem, was gesagt wird, verstehen muss«. Bei der rhetorischen Ironie handelt es sich also um eine Verstellung, die als Verstellung erkannt werden will. Damit hat die Ironie, für die Sokrates bekannt war, wenig zu tun. Denn diese zielte zunächst tatsächlich darauf ab, einen sich überlegen wähnenden Gesprächspartner zu täuschen. Sokrates’ Ironie bestand darin, sich zu Beginn dumm zu stellen, um in einem zweiten Schritt seinem Gegenüber die eigene Unzulänglichkeit vor Augen zu führen. Damit wurde der Mitdiskutant zur Erkenntnis der Widersprüchlichkeit seines Denkens gebracht. Der dänische Philosoph Søren Kierkegaard interpretiert die sokratische Ironie als »unendliche absolute Negativität« und versteht darunter eine niemals abschließbare Annäherung an die Wahrheit, die immer wieder neu in Frage gestellt werden müsse.
Von Sokrates selbst sind keine Schriften überliefert, vermutlich hat er zu Lebzeiten überhaupt nichts geschrieben, sondern sich ganz dem philosophischen Gespräch gewidmet. Zu den wichtigsten, teilweise widersprüchlichen Zeugnissen seines Denkens gehören die Schriften dreier seiner Zeitgenossen. So verspottet Aristophanes ihn in der Komödie »Die Wolken« als spitzfindigen, gottlosen Sophisten. Xenophon hingegen hinterließ die »Memorabilia«, in denen Sokrates als vergleichsweise biederer Tugendapostel und Erzieher auftritt. Das mit Abstand einflussreichste und umfassendste Bild stammt vom Meisterschüler des Sokrates – Platon. Dessen Werke, in denen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, Sokrates als Protagonist auftritt, liegen heute in verschiedenen Übersetzungen vor. Friedrich Schleiermacher schuf zu Beginn des 19. Jahrhunderts heute nach wie vor lesenswerte Übersetzungen. Ferner sei verwiesen auf: »Platon – Sämtliche Dialoge«. Hrsg. v. Otto Apelt, Nachdruck der Ausgabe von 1920/22, 7 Bde. (Meiner, 2004) sowie auf die Übersetzung von Rudolf Rufener (»Platon: Jubiläumsausgabe sämtlicher Werke«, 8 Bde., Artemis, 1974).
Unbedingt lesenswert ist die Sokrates-Einführung von Ekkehard Martens (Reclam, 2004). Empfohlen sei ebenso die Monographie von Günter Figal (»Sokrates«, Beck, 1995), ferner Gernot Böhmes essayistische Darstellung »Der Typ Sokrates« (Suhrkamp, 1992) sowie das »Sokrates«-Buch von C.C.W. Taylor (Herder, 1999).
Zusammengestellt von Marianna Lieder
Sokrates löcherte seine Mitbürger unermüdlich mit Fragen. Über zwei Jahrtausende suchte das abendländische Denken nach Antworten – einig ist man sich noch immer nicht geworden
Sokrates, der im »Phaidros« erklärt, Bäume und Felder interessierten ihn nicht, seine Aufmerksamkeit gelte den Menschen in der Stadt, führte eine begriffliche Trennung in die Geisteswelt ein: Er lehrte, den Bereich der Natur von der Sphäre des Moralischen und Politischen zu unterscheiden.
Das abendländische Denken hielt sich an diese Grenzziehung, erlaubte sie doch, viele Dinge klarer zu sehen. So nützlich diese Einteilung in die Abstrakta Natur und Kultur scheint, heute stößt sie an ihre Grenzen. Es lässt sich in den seltensten Fällen klären, ob wir es mit einem Problem zu tun haben, zu dessen Bewältigung wir wissenschaftliches Know-how über Tatsachen benötigen, oder ob die Lösung durch politische Konsensbildung über Normen herbeigeführt werden soll. Wenn Politiker über den Bau eines Atomkraftwerks zu entscheiden haben, kommen sie nicht ohne wissenschaftliche Expertise aus. Gleichwohl sind hier letztlich nicht die Ansichten der Kernphysiker und Ökologen maßgeblich.
Die Trennung von Natur und Kultur hat weitgehend ausgedient. Wir stehen am Ende der Ära des sokratisch-platonischen Denkens in abstrakten Allgemeinbegriffen. Dass es bei Erkenntnis um stets neu entstehende konkrete Sachverhalte geht, betonten schon Wittgenstein und Heidegger. An dieses Denken, das den Ereignis- und Prozesscharakter der Wirklichkeit anerkennt, sollten wir anschließen. Falsch wäre es, an die Stelle ausgedienter begrifflicher Großkonstellationen neue Abstraktionen zu setzen.
Michael Hampe lehrt als Philosophieprofessor an der ETH Zürich. Mit den aus der »sokratischen Trennung« von Natur und Kultur resultierenden Schwierigkeiten befasste er sich in seinem unlängst erschienenen Buch »Tunguska – oder das Ende der Natur« (Hanser, 2011).
Platon zeichnet in seinen Schriften bekanntlich zwei unterschiedliche Bilder des Sokrates: Zum einen lässt er den eigentlichen, den »sokratischen Sokrates« zu Wort kommen, zum anderen legt er seinem Meister Versatzstücke der platonischen Lehre in den Mund. Allerdings wurde der Unterschied zwischen den beiden Sokrates-Bildern im Lauf der vergangenen zweieinhalb Jahrtausende stark übertrieben und verzerrt dargestellt:
So gilt als Inbegriff des »sokratischen Sokrates« jener aus der »Apologie«. Platon lässt hier seinen Lehrer als Philosophen des Diesseits und des Konkreten auftreten, als Sokrates, der »weiß, dass er nichts weiß«, und der unentschieden lässt, ob es ein Leben nach dem Tod gibt. Als Gegenstück gilt der Sokrates im Dialog »Phaidon«. Große abendländische Denker – nicht zuletzt Kant, der Platon übrigens vermutlich nie gelesen hat – stilisierten den Sokrates des »Phaidon« zum Erzmetaphysiker. Angeblich, so die einflussreiche Deutung, soll er in seiner Todeszelle platonischer als Platon selbst gewesen sein und sich darangemacht haben, die Unsterblichkeit der Seele zu »beweisen«. Dies ist allerdings ein horrendes Missverständnis. Sieht man nämlich genau hin, sind die sogenannten Unsterblichkeitsbeweise im »Phaidon« alles andere als ernst gemeint. Umgeben von Freunden, die als Anhänger des jenseitsgläubigen Pythagoras auftreten, bleibt Sokrates letztlich auch im Angesicht des Todes ein Großmeister der philosophischen Ironie: »Weshalb weint ihr denn, wenn ihr doch sicher seid, dass meine Seele unsterblich ist?«, tröstet er mit mildem Spott seine Gefährten. Glücklicherweise setzt sich heute diese Lesart mehr und mehr durch – und damit auch die Lesart eines sokratischen Platon.
Ekkehard Martens ist emeritierter Professor für Didaktik der Philosophie und Altphilologie an der Universität Hamburg. 2004 erschien seine Einführung »Sokrates« (Reclam).
Es hat mich immer beschäftigt, mir vorzustellen, was der Erfinder des Klettverschlusses, der Tetris-Weltmeister oder Arnold Schönberg vor 3000 Jahren getan hätten, in einer Zeit, als ihre Talente nicht zu den materiellen Gegebenheiten passten. Mit der Komik ist das genauso. Im Film »Am Anfang war das Feuer« lässt ein Urmensch, der auf einem Baum sitzt, einem anderen einen Stein auf den Kopf fallen und lacht sich darüber kaputt. Seitdem hat die Menschheit ihren Humor verfeinert, auch wenn die Mehrheit der Menschen diesen Prozess individuell gar nicht mitmacht. Sokrates hat sich, im Gegensatz zu seinen Schülern, nicht ernst genommen, und das war offenbar damals schon sensationell. Er hat ja etwas Unvergleichliches erreicht, nämlich dass man alle Philosophen, die ihm vorausgingen, »Vorsokratiker« nennt. Die sokratische Ironie aus den Dialogen hat mich nie sehr überzeugt, dieses Sich-dumm-Stellen – es dann aber doch wieder besser zu wissen, wie beim Politkabarett. Wir haben aber keine Ahnung von Sokrates’ Wirkung, weil wir ihn nicht hören können. Ein typischer Fall bei Komikern. Karl Valentin, Loriot, Helge Schneider, deren Texte kann auch niemand anders sprechen, und aufschreiben geht eigentlich nicht. Sie sind im Ton viel zu genau für die Schrift. Ihre Werke werden nicht als hohe Kunst bewertet, weil sie nicht von ihnen zu trennen sind, dabei kann man, verglichen mit den Valentin-Dialogen, viel von Brecht in die Tonne treten, Loriot war einer der genauesten literarischen Beobachter der Bundesrepublik, und Helge Schneider ist unter anderem ein genialer Sprechakt-Dekonstruktivist. Komiker werden unterschätzt, weil man über sie lacht. Dabei gibt es keine Komik ohne Abgrund. Das »Gastmahl« endet damit, dass Sokrates seine Zuhörer überzeugen will, dass »der Tragödiendichter, der sein Handwerk verstehe, auch Komödiendichter sei«. Und sind Loriots Ehesketche nicht die besseren Strindberg’schen Dramen? War Karl Valentin nicht eine tragische Gestalt? Sind nicht die meisten Komiker Hypochonder? Vielleicht war Sokrates deshalb doch eher Philosoph als Komiker, weil er viel zu glücklich war.
Jochen Schmidt ist Schriftsteller, Humorist und Gründungsmitglied der Berliner Lesebühne »Chaussee der Enthusiasten«. Zuletzt erschien von ihm »Weltall, Erde, Mensch« (Voland & Quist, 2010).
Was wohl euch, ihr Athener, meine Ankläger angetan haben17a, weiß ich nicht: ich meines Teils aber hätte ja selbst beinahe über sie meiner selbst vergessen; so überredend haben sie gesprochen. Wiewohl Wahres, daß ich das Wort heraussage, haben sie gar nichts gesagt. Am meisten aber habe ich eins von ihnen bewundert unter dem vielen, was sie gelogen, dieses, wo sie sagten, ihr müßtet euch wohl hüten, daß ihr nicht von mir getäuscht würdet, weil ich gar gewaltig wäre im Reden. Denn daß sie sich nicht schämenb, sogleich von mir widerlegt zu werden durch die Tat, wenn ich mich nun auch im geringsten nicht gewaltig zeige im Reden, dieses dünkte mich ihr Unverschämtestes zu sein; wofern diese nicht etwa den gewaltig im Reden nennen, der die Wahrheit redet. Denn wenn sie dies meinen, möchte ich mich wohl dazu bekennen, ein Redner zu sein, der sich nicht mit ihnen vergleicht. Diese nämlich, wie ich behaupte, haben gar nichts Wahres geredet; ihr aber sollt von mir die ganze Wahrheit hören. Jedoch, ihr Athener, beim Zeus, Reden aus zierlich erlesenen Worten gefällig zusammengeschmückt und aufgeputzt, wie dieser ihre waren, keineswegsc, sondern ganz schlicht werdet ihr mich reden hören in ungewählten Worten. Denn ich glaube, was ich sage, ist gerecht, und niemand unter euch erwarte noch sonst etwas. Auch würde es sich ja schlecht ziemen, ihr Männer, in solchem Alter gleich einem Knaben, der Reden ausarbeitet, vor euch hinzutreten.
Indes bitte ich euch darum auch noch sehr, ihr Athener, und bedinge es mir aus, wenn ihr mich hört mit ähnlichen Reden meine Verteidigung führen, wie ich gewohnt bin auch auf dem Markt zu reden bei den Wechslertischen, wo viele unter euch mich gehört haben, und anderwärtsd, daß ihr euch nicht verwundert noch mir Getümmel erregt deshalb. Denn so verhält sich die Sache. Jetzt zum erstenmal trete ich vor Gericht, da ich siebzig Jahre alt bin; ganz ordentlich also bin ich ein Fremdling in der hier üblichen Art zu reden. So wie ihr nun, wenn ich wirklich ein Fremder wäre, mir es nachsehen würdet, daß ich in jener Mundart und Weise redete, worin ich erzogen worden18a: eben so erbitte ich mir auch nun dieses Billige, wie mich dünkt, von euch, daß ihr nämlich die Art zu reden überseht – vielleicht ist sie schlechter, vielleicht auch wohl gar besser – und nur dies erwägt und acht darauf habt, ob das recht ist oder nicht, was ich sage. Denn dies ist des Richters Tüchtigkeit, des Redners aber, die Wahrheit zu reden.
Zuerst nun, ihr Athener, muß ich mich wohl verteidigen gegen das, dessen ich zuerst fälschlich angeklagt bin, und gegen meine ersten Ankläger, und hernach gegen der späteren Späteresb. Denn viele Ankläger habe ich längst bei euch gehabt und schon vor vielen Jahren, und die nichts Wahres sagten, welche ich mehr fürchte als den Anytos, obgleich auch der furchtbar ist. Allein jene sind furchtbarer, ihr Männer, welche viele von euch schon als Kinder an sich gelockt und überredet, mich aber beschuldigt haben ohne Grund, als gäbe es einen Sokrates, einen weisen Mann, der den Dingen am Himmel nachgrüble und auch das Unterirdische alles erforscht habe und Unrecht zu Recht mache. Diese, ihr Athenerc, welche solche Gerüchte verbreitet haben, sind meine furchtbaren Ankläger. Denn die Hörer meinen gar leicht, wer solche Dinge untersuche, glaube auch nicht einmal Götter. Ferner sind auch dieser Ankläger viele, und viele Zeit hindurch haben sie mich verklagt und in dem Alter zu euch geredet, wo ihr wohl sehr leicht glauben mußtet, weil ihr Kinder wart, einige von euch wohl auch Knaben, und offenbar an leerer Stätte klagten sie, wo sich keiner verteidigted. Das übelste aber ist, daß man nicht einmal ihre Namen wissen und angeben kann, außer etwa, wenn ein Komödienschreiber darunter ist. Die übrigen aber, welche euch gehässig und verleumderisch aufgeredet und auch die, selbst nur überredet, andre Überredenden, in Absicht dieser aller bin ich ganz ratlos. Denn weder hierher zur Stelle bringen noch ausfragen kann ich irgendeinen von ihnen: sondern muß ordentlich wie mit Schatten kämpfen in meiner Verteidigung und ausfragen, ohne daß einer antwortet. Nehmt also auch ihr an, wie ich sage, daß ich zweierlei Ankläger gehabt habe, die einen, die mich eben erst verklagt haben, die andern, die von ehedem, die ich meine; und glaubte, daß ich mich gegen diese zuerst verteidigen muß. Denn auch ihr habt jenen, als sie klagten, zuerst Gehör gegeben, und weit mehr als diesen späteren.
Wohl! Verteidigen muß ich mich also, ihr Athener, und den Versuch machen, die verkehrte Meinung19a, die ihr in langer Zeit bekommen habt, euch in so sehr kurzer Zeit zu benehmen. Ich wünschte nun zwar wohl, daß dieses so erfolgte, wenn es so besser ist für euch sowohl als für mich, und daß ich etwas gewönne durch meine Verteidigung. Ich glaube aber, dieses ist schwer, und keineswegs entgeht mir, wie es damit steht. Doch dieses gehe nun, wie es dem Gott genehm ist, mir gebührt, dem Gesetz zu gehorchen und mich zu verteidigen.
Rufen wir uns also zurück von Anfang her, was für eine Anschuldigung es ist, aus welcher mein übler Ruf entstanden ist, worauf bauend auch Meletos diese Klage gegen mich eingegeben hatb. Wohl! Mit was für Reden also verleumdeten mich meine Verleumder? Als wären sie ordentliche Kläger, so muß ich ihre beschworene Klage ablesen: »Sokrates frevelt und treibt Torheit, indem er unterirdische und himmlische Dinge untersucht und Unrecht zu Recht macht und dies auch andere lehrtc.« Solcherart ist sie etwa: denn solcherlei habt ihr selbst gesehen in des Aristophanes Komödie, wo ein Sokrates vorgestellt wird, der sich rühmt, in der Luft zu gehen, und viel andere Albernheiten vorbringt, wovon ich weder viel noch wenig verstehe. Und nicht sage ich dies, um eine solche Wissenschaft zu schmähen, sofern jemand in diesen Dingen weise ist – möchte ich mich doch nicht solcher Anklagen von Meletos zu erwehren haben! –, sondern nur, ihr Athener, weil ich eben an diesen Dingen keinen Teil habed. Und zu Zeugen rufe ich einen großen Teil von euch selbst und fordere euch auf, einander zu berichten und zu erzählen, so viele euer jemals mich reden gehört haben. Deren aber gibt es viele unter euch. So erzählt euch nun, ob jemals einer unter euch mich viel oder wenig über dergleichen Dinge hat reden gehört. Und hieraus könnt ihr ersehen, daß es ebenso auch mit allem übrigen steht, was die Leute von mir sagen.
Aber es ist eben weder hieran etwas, noch auch wenn ihr etwa von einem gehört habt, ich unternähme es, Menschen zu erziehen, und verdiente Geld damite; auch das ist nicht wahr. Denn auch das scheint mir meines Teils wohl etwas Schönes zu sein, wenn jemand imstande wäre, Menschen zu erziehen, wie Gorgias der Leontiner und Prodikos der Keier und auch Hippias von Elis. Denn diese alle, ihr Männer, verstehen es, in allen Städten umherziehend die Jünglinge – die dort unter ihren Mitbürgern zu wem sie wollten sich unentgeltlich halten könnten – diese also überreden sie20a, mit Hintansetzung jenes Umgangs sich Geld bezahlend zu ihnen zu halten und ihnen noch Dank dazu zu wissen. Ja es gibt auch hier noch einen andern Mann, einen Parier, von dessen Aufenthalt ich erfuhr. Ich traf nämlich auf einen Mann, der den Sophisten mehr Geld gezahlt hat als alle übrigen zusammen, Kallias, den Sohn des Hipponikos. Diesen fragte ich also, denn er hat zwei Söhne: Wenn deine Söhne, Kallias, sprach ich, Füllen oder Kälber wären, wüßten wir wohl einen Aufseher für sie zu finden oder zu dingenb, der sie gut und tüchtig machen würde in der ihnen angemessenen Tugend, es würde nämlich ein Zureiter sein oder ein Landmann: nun sie aber Menschen sind, was für einen Aufseher bist du gesonnen ihnen zu geben? Wer ist wohl in dieser menschlichen und bürgerlichen Tugend ein Sachverständiger? Denn ich glaube doch, du hast darüber nachgedacht, da du Söhne hast. Gibt es einen, sprach ich, oder nicht? O freilich, sagte er. Wer doch, sprach ich, und woher ist er und um welchen Preis lehrt er? Euenos der Parier, antwortete er, für fünf Minen. Da pries ich den Euenos glücklich, wenn er wirklich diese Kunst besäßec und so vortrefflich lehrte. Ich also würde gewiß mich recht damit rühmen und großtun, wenn ich dies verstände: aber ich verstehe es eben nicht, ihr Athener.
Vielleicht nun möchte jemand von euch einwenden: Aber Sokrates, was ist denn also dein Geschäft? Woher sind diese Verleumdungen dir entstanden? Denn gewiß, wenn du nichts Besonderes betriebest vor andern, es würde nicht solcher Ruf und Gerede entstanden seind, wenn du nicht ganz etwas anderes tätest als andere Leute. So sage uns doch, was es ist, damit wir uns nicht aufs Geratewohl unsere eigenen Gedanken machen über dich. Dies dünkt mich mit Recht zu sagen, wer es sagt, und ich will versuchen, euch zu zeigen, was dasjenige ist, was mir den Namen und den üblen Ruf gemacht hat. Hört also, und vielleicht wird manchen von euch bedünken, ich scherzte: glaubt indes sicher, daß ich die reine Wahrheit rede. Ich habe nämlich, ihr Athener, durch nichts anderes als durch eine gewisse Weisheit diesen Namen erlangt. Durch was für eine Weisheit aber? Die eben vielleicht die menschliche Weisheit ist. Denn ich mag in der Tat wohl in dieser weise sein; jene aber, deren ich eben erwähnte, sind vielleicht weise in einer Weisheit, die nicht dem Menschen angemessen ist; oder ich weiß nicht, was ich sagen soll, denn ich verstehe sie nicht, sondern wer das sagt, der lügt es und sagt es mir zur Verleumdung.
Und ich bitte euch, ihr Athener, erregt mir kein Getümmel, selbst wenn ich euch etwas vorlaut zu reden dünken sollte. Denn nicht meine Rede ist es, die ich vorbringe; sondern auf einen ganz glaubwürdigen Urheber will ich sie euch zurückführen. Über meine Weisheit nämlich, ob sie wohl eine ist und was für eine, will ich euch zum Zeugen stellen den Gott in Delphoi. Den Chairephon kennt ihr doch. Dieser war mein Freund von Jugend auf21a, und auch euer, des Volkes, Freund war er und ist bei dieser letzten Flucht mit geflohen und mit euch auch zurückgekehrt. Und ihr wißt doch, wie Chairephon war, wie heftig in allem, was er auch beginnen mochte. So auch, als er einst nach Delphoi gegangen war, erkühnte er sich, hierüber ein Orakel zu begehren; nur, wie ich sage, kein Getümmel, ihr Männer. Er fragte also, ob wohl jemand weiser wäre als ich. Da leugnete nun die Pythia, daß jemand weiser wäre. Und hierüber kann euch dieser sein Bruder hier Zeugnis ablegen, da jener bereits verstorben ist.
Bedenkt nunb, weshalb ich dieses sage; ich will euch nämlich erklären, woher die Verleumdung gegen mich entstanden ist. Denn nachdem ich dieses gehört, gedachte ich bei mir also: Was meint doch der Gott und was will er etwa andeuten? Denn das bin ich mir doch bewußt, daß ich weder viel noch wenig weise bin. Was meint er also mit der Behauptung, ich sei der Weiseste? Denn lügen wird er doch wohl nicht; das ist ihm ja nicht verstattet. Und lange Zeit konnte ich nicht begreifen, was er meinte; endlich wendete ich cmich gar ungern zur Untersuchung der Sache auf folgende Art. Ich ging zu einem von den für weise Gehaltenen, um dort, wenn irgendwo, das Orakel zu überführen und dem Spruch zu zeigen: Dieser ist doch wohl weiser als ich, du aber hast auf mich ausgesagt. Indem ich nun diesen beschaute, denn ihn mit Namen zu nennen ist nicht nötig; es war aber einer von den Staatsmännern, auf welchen schauend es mir folgendermaßen erging, ihr Athener. Im Gespräch mit ihm schien mir dieser Mann zwar vielen andern Menschen und am meisten sich selbst sehr weise vorzukommen, es zu sein aber nicht. Darauf nun versuchte ich ihm zu zeigen, er glaubte zwar, weise zu sein, wäre es aber nicht; wodurchd ich dann ihm selbst verhaßt ward und vielen der Anwesenden. Indem ich also fortging, gedachte ich bei mir selbst, als dieser Mann bin ich nun freilich weiser. Denn es mag wohl eben keiner von uns beiden etwas Tüchtiges oder Sonderliches wissen; allein dieser meint etwas zu wissen, obwohl er nicht weiß, ich aber, wie ich eben nicht weiß, so meine ich es auch nicht. Ich scheine also um dieses wenige doch weiser zu sein als er, daß ich, was ich nicht weiß, auch nicht glaube zu wissen. Hierauf ging ich dann zu einem andern von den für enoch weiser als jener Geltenden, und es dünkte mich eben dasselbe, und ich wurde dadurch auch ihm und vielen andern verhaßt.
Nach diesem ging ich schon nach der Reihe vor, bemerkend freilich und bedauernd, und auch in Furcht darüber, daß ich mich verhaßt machte; doch aber dünkte es mich notwendig, des Gottes Sache über alles andere zu setzen; und so mußte ich denn gehen, immer dem Orakel nachdenkend, was es wohl meine, zu allen, welche dafür 22agalten, etwas zu wissen. Und beim Hunde, ihr Athener, – denn ich muß die Wahrheit zu euch reden – wahrlich, es erging mir so. Die Berühmtesten dünkten mich beinahe die Armseligsten zu sein, wenn ich es dem Gott zufolge untersuchte, andere, minder Geachtete aber noch eher für vernünftig gelten zu können. Ich muß euch wohl mein ganzes Abenteuer berichten, mit was für Arbeiten gleichsam ich mich gequält habe, damit das Orakel mir ja ungetadelt bliebe. Nach den Staatsmännern nämlich ging ich zu den Dichternb, den tragischen sowohl als den dithyrambischen und den übrigen, um dort mich selbst durch die Tat zu überführen als unwissender denn sie. Von ihren Gedichten also diejenigen vornehmend, welche sie mir am vorzüglichsten schienen ausgearbeitet zu haben, fragte ich sie aus, was sie wohl damit meinten, auf daß ich auch zugleich etwas lernte von ihnen. Schämen muß ich mich nun freilich, ihr Männer, euch die Wahrheit zu sagen: dennoch soll sie gesagt werden. Um es nämlich geradeheraus zu sagen, fast sprachen alle Anwesenden besser als sie selbst über das, was sie gedichtet hatten. Ich erfuhr also auch von den Dichtern in kurzem dieses, daß sie nicht durch Weisheit dichteten, was sie dichten, sondern durch eine Naturgabe und in der Begeisterung, eben wie die Wahrsager und Orakelsänger. Denn auch diese sagen viel Schönes, wissen aber nichts von demc, was sie sagen; ebenso nun ward mir deutlich, erging es auch den Dichtern. Und zugleich merkte ich, daß sie glaubten, um ihrer Dichtung willen auch in allem übrigen sehr weise Männer zu sein, worin sie es nicht waren. Fort ging ich also auch von ihnen mit dem Glauben, sie um das nämliche zu übertreffen wie auch die Staatsmänner.
Zum Schluß nun ging ich auch zu den Handarbeitern. Denn von mir selbst wußte ich, daß ich gar nichts weiß, um es geradeheraus zu sagen, von diesen aber wußte ich dochd, daß ich sie vielerlei Schönes wissend finden würde. Und darin betrog ich mich nun auch nicht; sondern sie wußten wirklich, was ich nicht wußte, und waren insofern weiser. Aber, ihr Athener, denselben Fehler wie die Dichter, dünkte mich, hatten auch diese trefflichen Meister. Weil er seine Kunst gründlich erlernt hatte, wollte jeder auch in den andern wichtigsten Dingen sehr weise sein; und diese ihre Torheit verdeckte jene ihre Weisheit. So daß ich mich selbst auch befragte im Namen des Orakels, welches ich wohl lieber möchte, so sein wie ich war, gar nichts verstehened von ihrer Weisheit und auch nicht behaftet mit ihrem Unverstande, oder aber in beiden Stücken so sein wie sie. Da antwortete ich denn mir selbst und dem Orakel, es wäre mir besser, so zu sein, wie ich bin.
Aus dieser Nachforschung also23a, ihr Athener, sind mir viele Feindschaften entstanden, und zwar die beschwerlichsten und lästigsten, so daß viel Verleumdung daraus entstand, und auch der Name, daß es hieß, ich wäre ein Weiser. Es glauben nämlich jedesmal die Anwesenden, ich verstände mich selbst auf das, worin ich einen andern zuschanden mache. Es scheint aber, ihr Athener, in der Tat der Gott weise zu sein und mit diesem Orakel dies zu sagen, daß die menschliche Weisheit sehr weniges nur wert ist oder gar nichts, und offenbar nicht dies vom Sokrates zu sagen, sondern nur mich zum Beispiel erwählendb, sich meines Namens zu bedienen, wie wenn er sagte: Unter Euch, ihr Menschen, ist der der Weiseste, der wie Sokrates einsieht, daß er in der Tat nichts wert ist, was die Weisheit anbelangt. Dieses nun gehe ich auch jetzt noch umher nach des Gottes Anweisung zu untersuchen und zu erforschen, wo ich nur einen für weise halte von Bürgern und Fremden; und wenn er es mir nicht zu sein scheint, so helfe ich dem Gott und zeige ihm, daß er nicht weise ist. Und über diesem Geschäft habe ich nicht Muße gehabt, weder in den Angelegenheiten der Stadt etwas der Rede Wertes zu leisten, noch auch in meinen chäuslichen; sondern in tausendfältiger Armut lebe ich wegen dieses dem Gotte geleisteten Dienstes.
Über dieses aber folgen mir die Jünglinge, welche die meiste Muße haben, der reichsten Bürger Söhne also, freiwillig und freuen sich zu hören, wie die Menschen untersucht werden; oft auch tun sie es mir nach und versuchen selbst, andere zu untersuchen, und finden dann, glaube ich, eine große Menge solcher Menschen, welche zwar etwas zu wissen glauben, aber wenig oder nichts wissen. Deshalb nun zürnen die von ihnen Untersuchten mir und nicht sich und sagen, d