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Frühförderung wirksam gestalten, dies ist die zentrale Aufgabe vor dem Hintergrund der individuellen Bedarfe der Familien, der interdisziplinären Zusammenarbeit mit verschiedenen Fachkräften und Institutionen sowie der Finanzierung durch unterschiedliche Rehabilitationsträger. Aktuell fordern politische Veränderungen (u.a. das Bundesteilhabegesetz) sowie gesellschaftliche Entwicklungen (Inklusion und Partizipation im Fokus) ein abgestimmtes Vorgehen aller beteiligten Fachkräfte im Prozess der Frühförderung. Unter dem Motto "Bewährtes erhalten - Neues integrieren" wird in diesem Band die Auseinandersetzung der Frühförderung mit aktuellen Herausforderungen in den Blick genommen. Dabei liegt der Fokus auf Fragen zur Wirksamkeit der Frühförderung, die gleichermaßen für Wissenschaft und Praxis von hoher Bedeutung sind. Hierbei werden vor dem Hintergrund, wie und auf welchen Ebenen Frühförderung diversitätssensibel wirkt, Diskurse über politische und gesetzliche Entwicklungen, die Implementierung der ICF-CY in die Frühförderung, über (forschungs-)methodische Wirksamkeitsnachweise sowie konzeptionelle Entwicklungen der Familien- und Sozialraumorientierung - national wie international - aufgegriffen.
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Die Herausgeber
Prof. Dr. Britta Gebhard ist Diplom-Pädagogin mit dem Schwerpunkt Rehabilitation. Seit 2015 ist sie Professorin für Frühförderung an der Hochschule Nordhausen. Vorher war sie als Juniorprofessorin für chronische und progrediente Erkrankungen sowie körperliche und motorische Beeinträchtigungen an der Universität Oldenburg tätig.
Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind Frühförderung, Psychomotorik und Partizipation mit Fokus auf rehabilitative Prozesse.
Prof. Dr. Sebastian Möller-Dreischer arbeitete zunächst als Sonderpädagoge im Gemeinsamen Unterricht in der Primarstufe sowie in der Sekundarstufe I. Seit 2014 ist er Professor für Inklusive Pädagogik an der Hochschule Nordhausen.
Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind Theorien und Ansätze, die sich im vorschulischen und schulischen Bereich mit einem Umgang mit Vielfalt mit dem besonderen Fokus auf der Umsetzung von Inklusion beschäftigen.
Prof. Dr. Andreas Seidel ist Kinder- und Jugendarzt mit dem Schwerpunkt Neuropädiatrie. Seit 2014 arbeitet er als Professor für Sozialpädiatrie an der Hochschule Nordhausen.
Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind sozialpädiatrische und (altersübergreifend) sozialmedizinische Themen, insbesondere die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der WHO.
Prof. Dr. Armin Sohns ist Diplom-Pädagoge und Diplom-Politologe. Seit 1998 lehrt er als Professor für Sozialpädagogik bzw. Heilpädagogik an den Hochschulen Neubrandenburg und Nordhausen sowie als Gastprofessor an der Medical School in Berlin und Hamburg. Er ist Vorsitzender der »Vereinigung für Interdisziplinäre Frühförderung« in Hessen und Mitglied in zahlreichen Wissenschaftlichen Beiräten zur Frühförderung und Frühen Hilfen.
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1. Auflage 2019
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-033872-2
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-033873-9
epub: ISBN 978-3-17-033874-6
mobi: ISBN 978-3-17-033875-3
In Deutschland erhalten ca. 120.000 Kinder pro Jahr Leistungen der Frühförderung; der Bedarf an pädagogischen und therapeutischen Hilfen für Kinder wird allerdings wesentlich höher eingeschätzt. In über 1.100 interdisziplinären Frühförderstellen und zirka 150 Sozialpädiatrischen Zentren werden Kinder mit besonderen Entwicklungsverläufen und/oder Verhaltensproblemen gemeinsam versorgt. Diese Zahlen spiegeln die große Bedeutung interdisziplinärer früher Förderung, Begleitung und Behandlung in Deutschland wider; und sie belegen auch die dringende Notwendigkeit des weiteren Ausbaus von Angeboten für entwicklungsbeeinträchtigte Jungen und Mädchen und ihre Familien. Um diese Kinder bestmöglich und so früh wie möglich unterstützen zu können, sind ein regelmäßiger, intensiver fachlicher Austausch sowie eine aktive Vernetzung gefordert. Das bundesweite Symposion zur interdisziplinären Frühförderung möchte dazu beitragen diese Anliegen weiter voran zu bringen und Ideen, Erfahrungen sowie zukünftige Ansätze auszutauschen.
Die zweijährlich stattfindenden Bundessymposien der Frühförderung sind somit ein wichtiges Forum, auf dem interdisziplinär tätige Fachkräfte, wie Pädagogen und Pädagoginnen, Ärzte und Ärztinnen und Therapeuten und Therapeutinnen die Möglichkeit erhalten, verschiedenste Themen der Frühförderung zu diskutieren.
Als Thema des Frankfurter Symposions wurde der Titel »Frühförderung von Anfang an – wirkt …« gewählt. Unter dem Motto »Bewährtes erhalten – Neues integrieren« sollte das Symposion Raum für die Auseinandersetzung mit den aktuellen Herausforderungen und die Reflexion von Chancen und Erkenntnissen bieten. In den vielen, langjährig aktiven Frühförderstellen haben die dort tätigen Fachkräfte mit großem Engagement einen Schatz an Erfahrungen gesammelt und zu schlüssigen Arbeitsmodellen weiterentwickelt.
Diese bewährten Konzepte sollten als »Best Practice-Beispiele« stärker kommuniziert und reflektiert werden. Gleichzeitig gilt es neue wissenschaftliche Erkenntnisse und Fragestellungen in diesen Prozess aufzunehmen.
Mit dem Titel »Frühförderung von Anfang an – wirkt …« sollen außerdem nicht nur die große Bedeutung der frühen Lebensphase für die kindliche Entwicklung, sondern auch die einzelnen Wirkfaktoren und Notwendigkeiten fokussiert werden, um die Ansprüche der interdisziplinären Frühförderung und ihrer speziellen Aufgaben dauerhaft verankern zu können.
Wichtige Aspekte sind dabei neben allgemeinen frühen Wirkfaktoren auch Wirkfaktoren im Kontext von Migration, Kultur, Sprache oder im Sozialraum. Beim Blick auf das Wirken der Frühförderung in und mit Familie bleibt die Frage aktuell, wie sich ein direktes Einbeziehen der Bezugspersonen in den Förderprozess im familiären Umfeld von Elternarbeit im Förderort Kita unterscheidet.
Aktuelle politische Herausforderungen sowie gesellschaftliche Entwicklungen erfordern ein abgestimmtes Vorgehen aller beteiligten Professionen im interdisziplinären Arbeitsfeld. Die VIFF-Symposien konnten sich in diesem Zusammenhang als zukunftsweisende Tagungen etablieren, die nicht nur bundesweite, sondern auch europäische Zeichen setzen.
Nachdem vor zwei Jahren erstmalig in enger Kooperation mit Vertretern und Vertreterinnen der Europäischen Vereinigung für Frühförderung – Eurlyaid auch international besetzte Vorträge und Workshops angeboten werden konnten, setzten wir diesen wichtigen Diskurs fort und konnten dazu spannende Vorträge aus den europäischen Nachbarländern hören.
Genauso erfreut hat uns als Veranstalter die erstmalige Gelegenheit auf der Tagung in Frankfurt mit SPZ-Vertretern und -Vertreterinnen einen gemeinsamen Workshop zum Thema ICF durchführen zu können. Hier gab es eine große Nachfrage für dieses interdisziplinäre Angebot, das in angenehmer Atmosphäre eine gute Basis für ein zukünftiges Miteinander schaffen konnte.
Die Themen ICF, Partizipation/Teilhabe und Bundesteilhabegesetz waren insgesamt gut vertreten, führten überall zu lebhaften Diskussionen und werden uns in den nächsten Jahren in deren Implementierung intensiv begleiten. Ein regelmäßiger Austausch unter Vertreterinnen und Vertretern der verschiedenen Berufsgruppen und Institutionen wird auch hierbei unabdingbar sein.
Daher freuen wir uns, dass abschließend wieder viele der vorgetragenen Inhalte in einem gemeinsamen Herausgeberband zur Verfügung stehen.
Hier gilt unser Dank neben den Referentinnen und Referenten natürlich auch dem Herausgeberteam, das in bewährter Weise ein thematisch breit aufgestelltes Werk erstellt hat, indem sowohl aktuelle wissenschaftliche als auch praxiserprobte Erkenntnisse präsentiert werden.
Im Namen des Bundesvorstandes
Prof. Dr. Andrea Caby
Vorsitzende der Bundesvereinigung für Interdisziplinäre Frühförderung
(VIFF) e.V.
Frühförderung wirksam gestalten, dies ist die zentrale Aufgabe vor dem Hintergrund der individuellen Bedarfe der Familien, der interdisziplinären Zusammenarbeit mit verschiedenen Fachkräften und Institutionen sowie der Finanzierung durch unterschiedliche Rehabilitationsträger. Aktuell fordern politische Veränderungen (u. a. das Bundesteilhabegesetz) sowie gesellschaftliche Entwicklungen (Inklusion und Partizipation im Fokus) ein abgestimmtes Vorgehen aller beteiligten Fachkräfte im Prozess der Frühförderung.
Unter dem Motto »Bewährtes erhalten – Neues integrieren« wird in diesem Band die Auseinandersetzung der Frühförderung mit aktuellen Herausforderungen in den Blick genommen. Dabei liegt der Fokus auf Fragen zur Wirksamkeit der Frühförderung, die gleichermaßen für Wissenschaft und Praxis von hoher Bedeutung sind:
Die Beiträge sind diesem Motto folgend gebündelt im Hinblick auf verschiedene Prinzipien der Frühförderung:
• Familienorientierung: Was wirkt im Hinblick auf den Einbezug der Bedarfe von Familien?
• Sozialraumorientierung: Wie können diese Bedarfe mit Blick auf die Rolle der Frühen Hilfen in den Regionen aufgegriffen werden?
• Effektivität und Wissenschaft: Welche wissenschaftlichen Erkenntnisse liegen hinsichtlich ihrer Wirksamkeit vor?
• Diversitätsorientierung: Wie kann Frühförderung den unterschiedlichen Ausgangslagen und Fragestellungen der Familien gerecht werden?
• Interdisziplinarität und Internationalität: Wie lässt sich die Zusammenarbeit unterschiedlicher Fachkräfte in ein gemeinsames Dokumentationssystem überführen und welche internationalen Erfahrungen können die Frühförderung bereichern?
• Notwendige Rahmenbedingungen: Welche strukturellen, rechtlichen und konzeptionellen Faktoren beeinflussen die künftige Frühförderung?
Vor diesem Hintergrund geben die Beiträge Anstöße zu notwendigen politischen und gesetzlichen Entwicklungen, exemplarisch seien eine Vielzahl von Beiträgen zur Implementierung der ICF-CY in die Frühförderung sowie von Beiträgen, die sich mit dem Verhältnis von Frühförderung und Frühen Hilfen auseinandersetzen, genannt. Darüber hinaus werden verschiedene Facetten der Arbeit in der Frühförderung beleuchtet, die die Notwendigkeit einer Diversitätssensibilität, (forschungs-)methodischer Wirksamkeitsnachweise sowie konzeptioneller Entwicklungen der Familien- und Sozialraumorientierung belegen. Abgerundet werden die Beiträge, die sich vorwiegend an nationalen Herausforderungen und Entwicklungen orientieren, durch exemplarische internationale Perspektiven.
Neben der wissenschaftlichen Absicherung des Handelns in der Frühförderung werden so eine Vielzahl von Argumenten für sich abzeichnende und notwendige Entwicklungen im Kontext des BTHG/SGB IX und deren Finanzierung erbracht sowie konkrete Anstöße zu Weiterentwicklungen aber auch zu Entwicklungsnotwendigkeiten gegeben.
In bewährter Tradition baut dieser Herausgeberband auf Beiträgen des bundesweit ausgerichteten 19. Symposions Frühförderung, welches vom 9. bis 11. März 2017 an der Goethe-Universität Frankfurt am Main stattfand, auf. Eine hohe Aktualität der Fachbeiträge, gestaltet durch fachlich interdisziplinäre und internationale Autorinnen und Autoren, trägt zur Erweiterung des ›state of the art‹ in der Frühförderung bei.
Genau diesen Autorinnen und Autoren gilt unser Dank in Bezug auf die eingereichten Manuskripte und ihre Bereitschaft, in einen aktiven Diskurs über ihre jeweiligen Themen zu gehen. Nicht zuletzt sei an dieser Stelle Philipp Hendricks für seine Mitarbeit im Prozess des Redigierens herzlich gedankt.
Nordhausen, im Winter 2017/2018
Britta Gebhard, Sebastian Möller-Dreischer, Andreas Seidel, Armin Sohns
Geleitwort und thematische Einführung
Andrea Caby
Vorwort der Herausgeberin und der Herausgeber
Teil I: Frühförderung wirkt in und mit Familien – Familienorientierung
Kindliche Entwicklungsrisiken – familiäre Erschöpfungszustände: Was heißt das für die Interdisziplinäre Frühförderung von Anfang an?
Hans Weiß
Familienorientierung! Ein empirischer Blick auf die gelebte Praxis
Matthias Lütolf, Christina Koch & Martin Venetz
Familienorientierte Frühförderung in Alltagsroutinen
Steffi Reinders-Schmidt
»Was machen wir eigentlich gerade?« – Diagnose-Vermittlung und Elternarbeit
Thomas Becher
Verhaltensauffällige Kinder – verhaltensauffällige Eltern: zur Dekonstruktion von Verhaltensauffälligkeit
Günther Emlein
Väter im Fokus – auch in der Frühförderung?!
Luise Behringer, Wolfgang Gmür, Gerhard Hackenschmied & Daniel Wilms
Wege für Eltern, die einander nicht (mehr) über den Weg trauen – Frühförderung im Kreuzfeuer elterlicher Konflikte
Gabriele Koch & Anne-Frieda Reinke
Teil II: Frühförderung wirkt im Kontext – Sozialraumorientierung und Frühe Hilfen
Interdisziplinäre Frühförderung und Frühe Hilfen
Armin Sohns & Hans Weiß
Frühförderung im Kontext der Frühen Hilfen – Herausforderungen und Gestaltungsmöglichkeiten von Kooperation und Netzwerkarbeit
Eva Klein
Freiwilliges Engagement in den Frühen Hilfen – auch ein Modell für die Frühförderung?
Melanie Bagola, Luise Behringer & Veronika Beyermann
Frühförderung im Netzwerk Früher Hilfen aus der Sicht eines sektorenübergreifenden Präventionsmodells
Wilfried Kratzsch & Bärbel Dafeld
Teil III: Frühförderung wirkt früh – Effektivität und Wissenschaft
Wirksamkeit von Maßnahmen im Rahmen der Frühförderung evaluieren – Chancen und Herausforderungen kontrollierter Einzelfallstudien
Anna-Maria Hintz, Britta Gebhard & Marianne Irmler
Entwicklung sozial-adaptiver Kompetenzen – Ergebnisse der Heidelberger Down-Syndrom-Studie
Klaus Sarimski
Mentalisierungsbasierte Ansätze in der Frühförderung
Svenja Taubner
Erfahrungen in der Beurteilung sozial-emotionaler Kompetenzen von Kleinkindern mit einer Behinderung
Manfred Hintermair, Klaus Sarimski & Markus Lang
Teil IV: Frühförderung wirkt im Kontext von Vielfältigkeit – Diversitätsorientierung
»Heidelberger Elterntraining zur Förderung von Mehrsprachigkeit«. Zusammenarbeit mit Familien aus dem Migrationskontext im Rahmen interaktiver Elternworkshops
Anke Buschmann
Inklusion gemeinsam weiterentwickeln – Kooperationsmöglichkeiten von Kinderbetreuungseinrichtungen und Frühförderstellen mit besonderem Fokus auf das Angebot der Heilpädagogischen Fachberatung
Marian Kratz & Eva Klein
Früh, früher, viel zu früh …? – Konfrontation von Kindern mit Sexualität
Annette Hartung
Frühe Förderung von Kindern mit Fluchterfahrung
Myriam Kramer
Teil V: Frühförderung wirkt interdisziplinär – internationale und disziplinübergreifende Perspektiven
Einführung in das Arbeiten mit der ICF in Frühförderung und Sozialpädiatrie
Liane Simon & Heike Philippi
Überlegungen und Konzepte zur Implementierung der ICF-CY innerhalb der bayerischen Frühförderung
Hanns-Günter Wolf
ICF-CY basierter Elternfragebogen
Nicole Baden
Die ICF-CY gemeinsam mit Eltern verwenden
Manfred Pretis & Janneke Brandt
»ICF-Mapping« – eine Pilotstudie zur Umsetzung der ICF als gemeinsame »Sprache« in der Praxis der Frühförderung
Liane Simon, Marianne Irmler & Angela Kindervater
Der Wert beziehungsorientierter Pädagogik und »professioneller Liebe« für die Frühförderung und das Wohlbefinden von Kindern mit komplexen Beeinträchtigungen und ihren Familien
Carolyn Blackburn, England (Übersetzung Jürgen Kühl)
Umdenken in der Professionalisierung für eine transkulturelle und inklusive Frühförderung
Ana Teresa Brito, Portugal (Übersetzung Jürgen Kühl)
Familiäre Balance im Zusammenhang mit einer Behinderung: Ko-Konstruktion von Raum und Zeit positiver Lebensqualität (»Bientraitance«) sowohl für Eltern wie für Fachleute
Jean Jacques Detraux, Belgien (Übersetzung Jürgen Kühl)
Gemeinsam Essen als ein Akt der Liebe: Mahlzeiten und Inklusion
Ena Caterina Heimdahl, Norwegen (Übersetzung Jürgen Kühl)
Teil VI: Frühförderung wirkt unter neuen gesetzlichen, konzeptionellen und strukturellen Rahmenbedingungen – Teilhabeorientierung
Das Bundesteilhabegesetz als Rechtsgrundlage der Frühförderung – ein Einblick in wesentliche Veränderungen
Armin Sohns & Torsten Schaumberg
Förderung von Säuglingen und Kleinkindern im Konzept KleineWege® – Wie viel Struktur braucht heilpädagogisches Handeln?
Yvette Schatz & Silke Schellbach
Beobachtungen zum Zusammentreffen von pädagogischem Handeln und Sprachförderhandeln
Simone Kannengieser
Förderung von Verstehen und Sichverständigen in der präverbalen Kommunikation mit kleinen Kindern
Etta Wilken
Früherkennung und Möglichkeiten der frühen Hör- und Kommunikationsförderung bei mehrfachbehinderten Kindern mit einer Hörbeeinträchtigung
Karolin Schäfer
Damit wir uns von Anfang an verstehen: Beratung, Praxis und Grenzen Unterstützter Kommunikation in der interdisziplinären Frühförderung
Andrea Karus
Professionalisierung Unterstützter Kommunikation an Frühförderstellen und in Kindertagesstätten am Beispiel einer Großstadt
Markus Spreer & Michael Wahl
Psychosoziale Beratung im Spannungsfeld von Schwangerschaft und Behinderung: Vorstellung eines Kooperationsmodells einer Schwangerenberatungsstelle und einer Interdisziplinären Frühförderstelle
Gerhard Krinninger
Frühförderung ist bunt – was die Frühförderung in Hessen zusammenhält
Armin Sohns & Eva Klein
Die Autorinnen und Autoren
Zwar hat es – zumindest in den entwickelten Staaten und Regionen – wohl noch kaum eine Zeit gegeben, in der so viele Kinder so große Entfaltungschancen hatten wie heute. Man denke nur an die vielfältigen Möglichkeiten der kulturellen Teilhabe vieler Kinder (z. B. Reisen oder Pflege von Hobbys). Gleichwohl wächst eine eher größer gewordene Zahl von Kindern unter erschwerten Bedingungen auf. Zugleich haben sich Entstehungsbedingungen und Formen von Entwicklungsbeeinträchtigungen einschließlich manifester Behinderungen verändert. Dazu seien Hintergründe aufgezeigt und Konsequenzen für die Interdisziplinäre Frühförderung erörtert, die unter dem Anspruch steht, ›von Anfang an‹ den Bedürfnissen der betroffenen Kinder und ihrer Eltern/Familien im Sinne nachhaltiger Wirksamkeit gerecht zu werden.
Bei den sog. ›klassischen‹, insbesondere genetisch bedingten Behinderungsformen gehen die Zahlen zurück. Dazu gehören die Trisomie 21, Spina bifida oder Muskelerkrankungen wie die Progressive Muskeldystrophie vom Typ Duchenne. So fiel der Anteil von Schülerinnen und Schülern mit Down-Syndrom an Schulen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung von 1960 bis 2010 um rund die Hälfte (Lenhard 2003). Zurückzuführen ist dies vor allem auf die immer feineren Methoden der Pränataldiagnostik mit nachfolgender Abtreibung bei ca. 90 % der ›positiven‹ Befunde.
Im Unterschied zu vielen genetisch bedingten Beeinträchtigungen haben umfängliche Schädigungen in den letzten Jahrzehnten eher zugenommen. Dies ist eine Folge der Fortschritte in der Pränatal- und Neonatalmedizin. Viele medizintechnisch hochkomplexe lebenserhaltende und -ermöglichende Maßnahmen verringern die Sterblichkeit von Kindern besonders bei Früh- und Risikogeburt. Sie tragen allerdings auch dazu bei, dass unvermeidlich Schädigungen entstehen sowie schwer geschädigten Kindern ein (Über-)Leben ermöglicht wird. Andererseits führen die Fortschritte der Neonatalmedizin inzwischen auch dazu, dass z. B. sehr frühgeborene Kinder nicht mehr mit so schweren Cerebralparesen aufwachsen wie noch in früheren Jahren.
Über die gesundheitliche Situation der Kinder und Jugendlichen heute wissen wir Genaueres vor allem durch den Kinder- und Jugend-Gesundheits-Survey des Robert Koch Instituts, die sog. KiGGS-Studie. Die Basiserhebung wurde zwischen 2003 und 2006 bei 17.641 Kindern und Jugendlichen zwischen 0 und 17 Jahren durchgeführt. Eine erste Folgebefragung (1. Welle) mit ausgewerteten Ergebnissen schloss sich in der Zeit von 2009 bis 2012 an.
Bereits in der Basiserhebung zeigten sich zwei deutliche Verschiebungen in der Morbidität von Kindern und Jugendlichen, zum einen von akuten zu chronischen Gesundheitsstörungen wie z. B. Adipositas und psychosomatischen Erkrankungen, zum anderen von somatischen zu psychischen (psychosozialen) Störungen. Zusammengefasst werden diese über die letzten Jahrzehnte gehenden Tendenzen als Neue Morbidität bezeichnet.
In der 1. Welle der KiGGS waren insgesamt 17,2 % der Jungen und Mädchen zwischen drei und sechs Jahren in ihrer psychischen Situation auffällig oder grenzwertig auffällig, insbesondere in Form von emotionalen und Verhaltensproblemen, Hyperaktivität und Peer-Problemen (Hölling et al. 2014).
Vor allem die Verschiebung von den somatischen zu den psychosozialen Beeinträchtigungen bildet sich in der Klientel der Frühförderung ab. So überstieg in der Totalerhebung der Frühförderstellen in Thüringen 2010 der Anteil der Kinder mit psychosozial bedingten Entwicklungsproblemen im kognitiven, perzeptiven, sprachlichen und/oder sozial-emotionalen Bereich deutlich den Anteil der Kinder mit manifesten Behinderungen (Sohns et al. 2015).
Insgesamt zeigt sich ein deutlicher Einfluss der sozialen Lage auf gesundheitliche Risiken: »Das Risiko für einen nur mittelmäßigen bis sehr schlechten allgemeinen Gesundheitszustand ist bei Jungen und Mädchen mit niedrigem sozioökonomischen Status um das 3,4- bzw. 3,7-Fache erhöht im Vergleich zu Kindern mit hohem sozioökonomischen Status« (Robert Koch Institut 2014). Frühe und für die weitere Entwicklung bedeutsame biologische Risiken wie Frühgeburtlichkeit, niedriges Geburtsgewicht, prä-, peri- und postnatale Komplikationen etc. treten bei Kindern mit niedrigem Sozialstatus häufiger auf, als bei Kindern aus besser gestellten Familien und erhöhen das Risiko für Schädigungen, besonders Cerebralparesen, Sehstörungen sowie geistige und Mehrfachbehinderungen (Lampert et al. 2010, 10).
Mithilfe bildgebender Verfahren wie der strahlungsfreien Magnetresonanztomographie (MRT) verfügen wir inzwischen über genauere Einblicke zur Frage, wie sich ein niedriger sozioökonomischer Status und damit verbundene familiäre Belastungen auf die Gehirnentwicklung von Kindern, speziell die Entwicklung des präfrontalen Cortex und des limbischen Systems, auswirken. Wichtige Funktionen von ihnen lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:
• Präfrontaler Cortex: zuständig für Handlungssteuerung, Handlungsplanung und die Regulation emotionaler Prozesse
• Hippocampus: Teil des limbischen Systems, wirkt mit bei der »Erzeugung«, der »Archivierung« und dem »Abruf« von Inhalten des Langzeitgedächtnisses
• Amygdala (Mandelkern): Teil des limbischen Systems, hat Einfluss auf das emotionale Gedächtnis, das Bewerten und Wiedererkennen von Situationen
Aufwachsen in Armut korreliert solchen MRT-basierten Studien zufolge mit einem geringeren Wachstum des Hippocampus (Noble et al. 2012). Ferner besteht eine Korrelation zwischen der Anzahl der Jahre, in denen ein Kind in einer sozioökonomisch benachteiligten Familie aufwächst, und einem verringerten Wachstum der Amygdala (ebd.). Die verschiedenen Ansatzpunkte problematischer Einwirkungen von ungünstigen familiären Umweltbedingungen auf die Entwicklung des kindlichen Gehirns fasst Azma (2013) dezidiert zusammen:
»Anregende Umgebungen fördern neuronales Wachstum, während belastende Umgebungen negative Effekte auf die Hirnentwicklung auf mehrfachen Ebenen haben, von der Systemebene, z. B. der Architektur des neurologischen Systems, das die Gehirnregionen einschließt, oder dem Umfang der vorhandenen Hirnstruktur bis zur Zellebene, z. B. der Synapsendichte auf einem einzelnen Neuron« (Übers. H. W.).
Der breite Bedingungszusammenhang von deprivierenden Entwicklungsbedingungen und erhöhten Schädigungsrisiken im Kontext von sozioökonomischer Benachteiligung spiegelt sich auch in einer Studie über soziobiografische Aspekte der Schülerschaft mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung in Bayern (Dworschak & Ratz 2012) wider. In dieser Studie mit rund 1.600 Schülerinnen und Schülern des Schuljahrs 2009/10 betrug der Anteil jener Schüler/innen aus Familien mit einem niedrigen sozialen Wohlstand (gemessen mit der Family Affluence Scale) 40,3 %, d. h. rund das Fünffache des vergleichbaren Anteils mit niedrigem sozialem Wohlstand in der Gesamtbevölkerung (7,8 %). Noch eklatanter ist dieser Unterschied, nämlich gut das Achtfache, bei Einelternfamilien und Familien mit Migrationshintergrund (rund 64 % zu 7,8 %) (ebd., 45 f.).
Armut und soziale Benachteiligung sind nicht nur ein Nährboden für intellektuelle Entwicklungsbeeinträchtigungen, die mit dem Begriff der ›Lernbehinderung‹ umschrieben worden sind. Aufgrund des Zusammenspiels von psychosozialen und biologischen Risiken ( Abb. 1) ist das Risiko, von einer Schädigung betroffen und z. B. geistig oder körperbehindert zu werden, bei Menschen aus erheblich benachteiligten Lebenslagen erhöht, wenn auch in geringerem Maße als bei ›Lernbehinderung‹ (BMFSFJ 2002). Beeinträchtigt- bzw. Behindertwerden muss somit als komplexes bio-psycho-soziales Geschehen verstanden werden.
Abb. 1: Entwicklungsbeeinträchtigendes Zusammenspiel von psychosozialen und biologischen Risiken
In den vielfältigen Zusammenhängen zwischen (neuro-)biologischen und (psycho-)sozialen Faktoren spielen die Eltern als handelnde und erleidende Personen eine wichtige Rolle. Dazu werde ich einige Schlaglichter auf die Erziehungswirklichkeit von Eltern werfen und dann den Blick speziell auf Eltern und Familien mit niedrigem sozioökonomischem Status richten.
»Eltern stehen heute unter enormem Druck, sowohl hinsichtlich ihrer subjektiven Befindlichkeit als auch hinsichtlich der objektiv gestiegenen Anforderungen« (Henry-Huthmacher 2008, 23). Ihnen wird »ein Maß an Verantwortung und Mitsprache für ihre Kinder zugewiesen, das es in früheren Elterngenerationen so nicht gab« (ebd., 1).
Ich beziehe mich hier auf eine sozialwissenschaftliche Untersuchung auf der Basis der Sinus-Studie über Lebensstile von Familien mit dem Titel »Eltern unter Druck« (Merkle & Wippermann 2008). Eltern, insbesondere jene in der sog. Mitte der Gesellschaft, nehmen die Sozialisations-, Erziehungs- und Bildungsaufgaben bei ihren Kindern als anspruchsvoll, verbunden mit entsprechenden gesellschaftlich untermauerten Erwartungen, wahr. Das gerade in Deutschland mit hohen Idealen konturierte Bild der ›guten Mutter‹ ist auch heute ein maßgebliches Leitbild.
Die »Überfrachtung der Elternrolle mit zunehmenden Ansprüchen und Erwartungen« (Henry-Huthmacher 2008, 24) und das Erleben, den verinnerlichten Selbstansprüchen oft nur annähernd oder unzureichend gerecht zu werden, führen nicht selten zu »massiver Verunsicherung der Eltern« (ebd., 6).
Zur elterlichen Verunsicherung in Erziehungsfragen trägt auch der Verlust eines einheitlichen Menschenbildes bei, der zu unterschiedlichen, z. T. auch konkurrierenden Werten und Erziehungszielen führt. Ausdruck dieser Verunsicherung ist die hohe Konjunktur von Erziehungsratgebern in Print- und digitaler Form.
Das ›Gebot der optimalen Förderung‹ hat nichts an Brisanz verloren. Um den Wettlauf um erfolgreiche Bildungsabschlüsse bestehen zu können, investieren viele Eltern der gehobenen Milieus viel Zeit, Kraft und Geld. »Zum Normbild guter moderner Eltern gehört offenbar, ›Architekten der Kindergehirne‹ zu sein« (Merkle & Wippermann 2008, 55).
Es zeigt sich ein deutliches räumliches und soziales Auseinanderdriften der Milieus (Henry-Huthmacher 2008, 8). »Kinder der Bürgerlichen Mitte haben heute kaum mehr Kontakt zu Kindern unterer Schichten« (ebd.).
Als Stichworte für diese räumliche und soziale Abgrenzung sind zu nennen:
• Umzug in bessergestellte Wohnviertel
• Gentrifizierung eines Stadtteils und faktisches Hinausdrängen der finanziell schwächeren Bewohner/innen
• Anmeldung der eigenen Kinder in öffentlichen Schulen mit einer gut situierten Schülerschaft
• Aufnahme der eigenen Kinder in teuren Privatschulen und privaten Kindertagesstätten
Somit sind milieuübergreifende Erfahrungen von Kindern eingeschränkt und Einblicke in die Kommunikationsweisen, Ziele und Sorgen anderer Milieus erschwert. Eine »Demarkationslinie« trennt »sozial-hierarchisch die Ober- und Mittelschicht von den Milieus am unteren Rand der Gesellschaft« (Merkle & Wippermann 2008, 51).
Der Druck der Eltern, den gestiegenen Anforderungen bei der Entwicklung, Erziehung und Bildung ihrer Kinder gerecht zu werden, hat gesellschaftliche Ursachen. Das für ein kapitalistisch-marktorientiertes Wirtschaftssystem bestimmende Leitbild des Wettbewerbs hat sich in das Bewusstsein der Menschen tief eingenistet. Menschen sollen als ›Unternehmer ihrer selbst‹ (Henry-Huthmacher 2008, 3) flexibel, kreativ, verantwortungsvoll und damit erfolgreich ihr Leben im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wettbewerb gestalten – im Sinne des bekannten Sprichworts: »Jeder ist seines Glückes Schmied.« Bis hinein in die ganz persönlichen Bereiche des Lebens mit Kindern hat dieses Leitbild seine nachhaltigen Spuren hinterlassen.
Bei dieser These sind zwei Aspekte in den Blick zu nehmen: zum einen die hohen Anforderungen, die mit dem Leitbild des »unternehmerischen Selbst« (Bröckling 2007), des verantwortlichen ›Selbstmanagers‹, für die Belange des eigenen Lebens und Lebensglücks verbunden sind, und zum anderen die Anforderungen der Eltern als ›Manager‹ der Entfaltungschancen ihrer Kinder. Beide Male wird gelingendes Leben verstanden als optimale Realisierung von Lebenschancen und Verwirklichungsoptionen.
Um dem Leitbild des »unternehmerischen Selbst« im persönlichen Leben wie in der Elternrolle gerecht zu werden, bedarf es finanzieller, sozialer und kultureller Ressourcen und Handlungsspielräume. Bei einem anhaltenden gravierenden Missverhältnis zwischen Anforderungen und verfügbaren Handlungsspielräumen wächst für die Betroffenen die Gefahr, den Anforderungen – ob für die eigene Lebensgestaltung oder in der Elternrolle – auch in der Selbsteinschätzung nicht gerecht zu werden, eben kein ›guter Schmied‹ für das eigene Lebensglück, das der Familie und die Entwicklung der eigenen Kinder zu sein.
Mit solchen leidvollen Diskrepanzerfahrungen sind vor allem Menschen in benachteiligten Lebenslagen konfrontiert. Sie laugen die Betroffenen auf Dauer aus, reduzieren ihre verfügbaren psychischen Kräfte und können allmählich dazu führen, sich mit dem Gegebenen resignativ abzufinden. Nach Lutz weisen solche Menschen eine »höhere soziale Verwundbarkeit« (2014a, 10) bzw. soziale Erschöpfung auf, die er so umschreibt:
»Soziale Erschöpfung ist eine soziale Situation, in der Menschen zwar initiativ sind, aber nicht im Sinne von Teilhabe, Reflexion und Gestaltung, sondern lediglich hinsichtlich eines Kampfes die Zumutungen des Alltags einigermaßen zu bewältigen. Der Blick auf die Zukunft fehlt, da die Gegenwart übermächtig wird. Sozial Erschöpfte verharren in einer Form der Verlangsamung, in einer Zeit ohne morgen, sie verfügen kaum noch über Energie und verschließen sich in einem Zustand des ›Nichts-ist-möglich‹ (Ehrenberg 2008). […]
Diese soziale Erschöpfung zeigt sich wesentlich in ›erschöpften Familien‹ […], bei Menschen, die dem Tempo und den Zumutungen der Gesellschaft nicht mehr folgen können. Durch vielfältige Formen der Entmutigung, hervorgerufen durch höhere Verwundbarkeit, Verunsicherung, Statusverluste, Armut und dauerhafte Belastungen, sind sie immer weniger in der Lage, ihre alltäglichen Verrichtungen eigenständig, sinnvoll und nachhaltig zu organisieren, vor allem zulasten der Kinder« (Lutz 2014b, 121 f.).
Die Zone der erhöhten Vulnerabilität beginnt schon vor der Armutsgrenze, im prekären Raum niedriger Statuslagen ( Abb. 2). Die auftretenden Phänomene sozialer Erschöpfung betreffen einzelne Menschen und Familien, die sich noch der Gesellschaft zugehörig, also im ›Drinnen‹, fühlen, sowie vor allem solche, die sich als ausgeschlossen und chancenlos im ›Draußen‹ verorten. Emotionale Erschöpfung äußert sich in emotionalen, mentalen und körperlichen Erschöpfungszuständen, »die das gesamte Leben, die sozialen Beziehungen und das Handeln durchdringen und prägen« (Lutz 2014a, 100). Lutz wird nicht müde, zu betonen,
Abb. 2: Erschöpfung in der Diskrepanz zwischen (hohen) Anforderungen und (geringen) Ressourcen
dass er mit dem Begriff der sozialen Erschöpfung keine individuellen Schuldzuschreibungen verbindet. Soziale Erschöpfung ist ein erklärend-analytischer Begriff, der dazu dient, die Verhaltensweisen von Menschen zu analysieren, jedoch nicht beschuldigend:
»Wir können gerade in Familien am unteren Rand der Gesellschaft vermehrt Symptome dieser sozialen Erschöpfung beobachten, die als Vernachlässigung, aber auch als Verantwortungslosigkeit den Kindern gegenüber diskutiert und angeprangert werden. Doch diese Diagnosen gehen völlig an der Realität vorbei, sie sind Ausfluss einer zunehmenden Moralisierung sozialer Ungleichheit und missachten, dass Erschöpfung sich aus sozialer Überforderung ergibt, resultierend aus der Ungleichverteilung von Gütern und Ressourcen, und das Sich-Einrichten möglicherweise die einzige Alternative darstellt, einigermaßen eine Form des Lebens zu finden« (Lutz 2014a, 13).
Das »Sich-Einrichten« in der hochbelasteten Lebenswelt mit all ihren – gerade für Kinder – problematischen Konsequenzen, das (resignative) Sich-Abfinden und Arrangieren mit den Einschränkungen des Hier und Jetzt, ohne konkrete Zukunftsperspektiven, wird auch als ›Kultur der Armut‹ bezeichnet. Trotz der fatalen Konsequenzen haben die betroffenen Menschen subjektiv ›gute Gründe‹ für dieses Sich-Einrichten in einer Kultur der Armut. So wissen wir aus Studien, dass viele Langzeitarbeitslose Erwerbsarbeit als ein normatives Ziel ihres ›Sinnens und Trachtens‹ aufgegeben haben. Warum? Nicht um sich in der scheinbaren Bequemlichkeit einzurichten, sondern um ein niederdrückendes Gefühl der eigenen Nutzlosigkeit von sich wegschieben zu können (Lutz 2014a, 129).
Gerade in sozial erschöpften Familien wachsen häufig Kinder auf, die entwicklungsgefährdet sind. Daher hat die Interdisziplinäre Frühförderung es oftmals mit diesen Familien zu tun. Und hier mag schon ein erster Einwand auftreten: Welchen Wert hat die Zusammenarbeit mit diesen Eltern, die sozial erschöpft sind? Sollte man sie nicht eher in Ruhe lassen und versuchen, alles Mögliche für ihre Kinder in außerfamiliären Einrichtungen zu tun? Genau dieses Bild wird in den fachlichen und bildungspolitischen Diskursen z. T. propagiert und dafür plädiert, die Kinder aus Familien mit niedrigem Sozialstatus frühzeitig in außerfamiliäre Betreuungs- und Bildungseinrichtungen aufzunehmen. Das ist sicher eine richtige Strategie, um diese Familien zu entlasten und Kindern aus unterschiedlichen sozialen Lagen Interaktions- und Kommunikationsgelegenheiten zu ermöglichen sowie Demarkationslinien zwischen den Milieus zumindest ansatzweise entgegenzuwirken. Jedoch ist die frühzeitige Aufnahme der Kinder sozial erschöpfter Eltern in Kitas oder eine Tagespflege keineswegs hinreichend. Vielmehr gilt es, diese Eltern nicht aufzugeben, sondern sie so gut es geht in ihrer Elternrolle trotz ihrer Erschöpfungszustände zu stützen und zu stärken. Dafür gibt es wichtige Gründe.
Erinnert sei an die Korrelation zwischen der Dauer, in denen Kinder unter deprivierenden familiären Bedingungen aufwachsen, und der verzögerten Gehirnentwicklung, speziell der Amygdala, was Hilfen zur Verbesserung der familiären Situation ›von Anfang an‹ herausfordert. Dem entsprechen auch die Ergebnisse von Längsschnittstudien wie die US-amerikanische NICHD Study of Early Child Care (Textor o. J.): Zwar beeinflusste die außerfamiliäre Betreuung der Kinder, speziell ihre Qualität hinsichtlich Art, Dauer und Stabilität, die kognitiv-sprachliche und sozio-emotionale Entwicklung der Kinder während der ersten drei Lebensjahre. Jedoch übten Familienfaktoren, z. B. die mütterliche Sensibilität, die Qualität des familialen Umfeldes und das Familieneinkommen, einen größeren Einfluss aus als die außerfamiliäre Betreuung.
Aus der Vielzahl insbesondere US-amerikanischer Evaluationsstudien zur nachhaltigen Wirksamkeit von Frühförderung lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, »dass eine einseitige Ausrichtung der Frühförderung auf die Arbeit in der Kindertagesstätte keineswegs dem Anspruch gerecht wird, die soziale Teilhabe und langfristig bestmögliche Entwicklung des Kindes zu sichern. Vielmehr muss die Beratung der Erzieherinnen verbunden werden mit Unterstützungsangeboten für die Eltern des Kindes […]« (Sarimski et al. 2013, 202). »Die ebenso wichtige Kooperation mit Kindergärten kann die Elternarbeit nicht kompensieren, da die Familie den zentralen und primären Erfahrungsraum des Kindes darstellt« (Peterander & Weiß 2017, 34).
Die Forschungslage spricht also eindeutig für die Notwendigkeit einer familienorientierten Frühförderung. Und doch scheint das Modell der Frühförderung mit den Eltern gefährdet zu sein, evtl. sogar ein Auslaufmodell zu werden. So brachten in einer explorativen Befragung von Krause rund 41 % der Frühförder-Fachpersonen »nur bis zu maximal zwei Stunden je halbes Jahr für Elterngespräche auf […]« (2012, 175). Sohns et al. ziehen aus den Ergebnissen ihrer Erhebung aller Thüringer Frühförderstellen im Jahr 2010 den Schluss, dass »die Förderung (des Kindes) in der Kindertagesstätte als die Regelförderung durch die Thüringer Frühförderstellen bezeichnet werden« kann (2015, 232).
Was sind die Gründe für diese Ausdünnung der Elternkomponente? Man kann systemexterne und systeminterne Gründe unterscheiden.
Systemexterne Gründe:
• Berufstätigkeit beider Elternteile
• mehr außerhäusliche Betreuung der Kinder
• Reduzierung der Frühförderung bei Kindern, die in inklusiven Kitas betreut werden
Systeminterne Gründe:
• Eltern- und familienorientierte Begrifflichkeiten haben offensichtlich nicht mehr die zentrale Bedeutung im Frühförderdiskurs (z. B. »pädagogisches oder therapeutisches Dreieck«; Weiß 1989, 55–60)
• Lebenswelt- oder Alltagsorientierung anstelle Familienorientierung – Zufall oder Ausdruck einer veränderten Gewichtung?
• resignative Tendenzen (»Mit manchen/vielen Eltern kann man sowieso wenig machen.«)
• Elternarbeit als »Angstarbeit« der heilpädagogischen Früherzieherinnen (so einmal pointiert von dem Schweizer Heilpädagogen Jörg Grond formuliert)
• oftmals nicht hinreichende Vorbereitung in der Ausbildung
Fatal wäre eine resignative Einstellung. Vielmehr gilt es mit Überzeugungskraft das Konzept einer Frühförderung mit den Eltern zu vertreten. »An der Frühförderung ist es auch hier, die Familien in ihren Entscheidungsfreiheiten wie -zwängen ernst zu nehmen und die eigenen Angebote so zu verdeutlichen, dass Eltern einen Nutzen darin für sich und ihr Kind erkennen, dem sie Raum geben möchten« (Klein 2013, 94). Mit welcher Überzeugungskraft und guter konzeptioneller Fundierung die Bedeutung der mobilen Frühförderung im häuslichen Kontext vertreten werden kann, zeigt z. B. die Praxis der Frühförderstelle im Landkreis Oder Spree.
Neben den klassischen Formen der Hausfrühförderung und der Frühförderung in der Frühförderstelle mit einem Elternteil sind auch folgende Kooperationsmöglichkeiten mit den Eltern denkbar:
• regelmäßige Gespräche mit den Eltern im Kindergarten unter Einbezug von Erzieherin und Frühförderin
• freie Zusammenkünfte von Eltern (Müttern) bei Eltern-Kind-Gruppen, Mütter-Nachmittagen, Mütter-Cafés usw.
• Phasen intensiverer Zusammenarbeit (z. B. im Rahmen des Blockteam-Konzepts nach Jourdant 2001)
• Elternseminare, Elternwochenenden
Aus der Erfahrung in einem Forschungsprojekt mit Familien mit vernachlässigten Kindern schlussfolgern Schone et al., dass die betroffenen Eltern ein hohes Interesse an regelmäßigen »Gesprächen über ihre Lebenssituation« sowie an »generellen Themen der Lebensgestaltung mit Kindern« haben, wenn angemessene Rahmenbedingungen (z. B. Kinderbetreuung) gesichert sind (1997, 215).
Für den Rundbrief Nr. 21 der VIFF-Bayern (Vereinigung für Interdisziplinäre Frühförderung Bayern 2016) führten eine Kollegin und ich Interviews mit Frühförderinnen, die mit drei Familien in hoch belasteten Lebenslagen arbeiteten. Uns interessierte die Frage: Wo haben diese Frühförderinnen eine Art Schlüssel gefunden, um damit die Türe zu der jeweiligen Familie öffnen zu können? Auch wenn jede der drei Familien natürlich anders war, gab es einige übergreifende Faktoren, die zum Erfolg der Zusammenarbeit beigetragen haben, so vor allem:
• geduldiges, einladendes ›Dranbleiben‹ (auch an den Vätern)
• Vorgehen in kleinen Schritten, Erfolge wahrnehmen und würdigen
• Respekt und Perspektivwechsel
• Herzlichkeit und Verständnis, Ernstnehmen des Gegenübers
Die Interdisziplinäre Frühförderung kann ein wichtiges und entwicklungsförderliches Bindeglied zu »erschöpften Familien« sein, auch zu jenen, die schon ›im Draußen‹ leben oder überleben.
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In der Prämisse Frühförderung wirkt in und mit Familien – Familienorientierung des ViFF-Symposion 2017 in Frankfurt spiegeln sich zwei Perspektiven wider, welche zurzeit in der theoretischen Auseinandersetzung mit dem Fachgebiet der Frühförderung intensiv diskutiert werden. Es sind dies Wirksamkeit und Familienorientierung. Diese gehören zusammen und lassen sich sowohl theoretisch wie auch empirisch darlegen. Der vorliegende Beitrag zielt darauf hin, ergänzend zur theoretischen Auseinandersetzung einen Blick auf die gelebte Praxis der Fachpersonen der Heilpädagogischen Früherziehung (HFE) (Schweizer Äquivalent zur Frühförderung in Deutschland) zu werfen.
Um sich der Perspektive der Familienorientierung zu nähern, ist es sinnvoll, vorgängig frühe heilpädagogische Interventionen unter dem Aspekt der Wirksamkeit zu betrachten. Nach Guralnick (2011) lassen sich drei Wirksamkeitsebenen beschreiben, die es zu beachten gilt und nicht isoliert voneinander angeschaut werden können. Neben der Ebene der kindlichen Entwicklung, welche im Besonderen die kognitiven und sozialen Kompetenzen des Kindes beachtet, ist es die Ebene der Familie, mit Blick auf die Eltern-Kind-Interaktion sowie die familiären und außerfamiliären Netzwerke, die als einflussreich betrachtet wird; im Weiteren die Ebene der familiären Ressourcen, welche persönliche psychische Merkmale der Eltern und materielle Ressourcen der Familie einschließt. Diese drei Ebenen wirken wechselseitig und gemeinsam. Sie beinhalten Themen der kindorientierten Förderung und weisen zudem auf eine Familien- und Lebensweltorientierung hin. Diese ist geprägt von intensiver Zusammenarbeit mit dem Kind, der Familie und weiteren Bezugspersonen, dem Fachteam und involvierten Institutionen.
Frühe heilpädagogische Interventionen, zu denen in der Schweiz die HFE gehört, welche sich der Familienorientierung verpflichtet fühlen, definieren sich demnach nicht nur über die Förderung der kindlichen Entwicklung, sondern beachten ebenso die Ressourcen und Bedürfnisse der Familien sowie deren Umfeld und beziehen die Familien in die Förderung ein. Es wird gefordert, den Fokus der Unterstützung sowohl auf die kindliche Entwicklung wie auch auf die Beratung der Eltern und die Eltern-Kind-Interaktion zu richten (Klein 2013). Damit dies garantiert werden kann, muss sich eine heilpädagogische Unterstützung an der Lebenswelt und dem Alltag der Familie und des Kindes orientieren. Im Wissen um die Tatsache, dass gerade der Alltag eine Vielzahl an Lerngelegenheiten bietet und diese für den Entwicklungsverlauf eines Kindes von hoher Bedeutsamkeit sind, wird die direkte Förderinteraktion zwischen dem Kind und der heilpädagogischen Fachperson zum Impulsgeber, damit die Eltern »… fachliche Anregungen in ihre Alltagsgestaltung mit dem Kind integrieren« (Sarimski 2017, 193) können. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, ist ein intensiver Einbezug der Familien unumgänglich, welcher in den Prinzipien der familienorientierten Förderung von Sarimski et al. (2013a) beschrieben wird. Es gilt, die Eltern als aktive Partner bei allen Entscheidungen und Unterstützungsfragen einzubeziehen. Die heilpädagogischen Angebote werden individuell und flexibel den Bedürfnissen des Kindes und der Familie angepasst. Dies erfordert die Bereitschaft, die Priorisierung der Anliegen und Bedürfnisse der Eltern wahr- und anzunehmen (Odom & Wolery 2001). Die interdisziplinäre Zusammenarbeit richtet sich ebenso nach den Anliegen der Familien und des familiären Umfelds. Die HFE hat demnach zum Ziel, »[…] die Familie in die Lage zu versetzen, ihre Probleme selbständig zu lösen, was sich wiederum positiv auf die Entwicklung des Kindes auswirkt« (Sarimski et al. 2013a, 37).
Ein wiederholt diskutierter Aspekt der familienorientierten heilpädagogischen Intervention lässt sich im örtlichen Setting der Unterstützung ansiedeln. Während geraumer Zeit wurde – im Besonderen im deutschsprachigen Fachdiskurs – die Möglichkeit aufsuchender Frühförderung (mobile Hausfrühförderung) als wesentliches Merkmal der Familienorientierung angesehen. Dabei fiel das Augenmerk auf die Berücksichtigung des natürlichen Lebensumfelds des Kindes, des möglichen Einbezugs von Geschwistern oder weiteren Familienmitgliedern (Pretis 2014). Es ist jedoch in den letzten Jahren zu beobachten, dass Kinder mit Behinderung oder Entwicklungsverzögerung vermehrt auch in familienergänzenden Einrichtungen wie Kindertagesstätten oder Spielgruppen betreut und heilpädagogisch begleitet werden. Gerade Praktiker weisen im Zuge dieser Veränderung darauf hin, dass sich diese Verlagerung dahingehend auswirken könnte, dass die Familien »verloren gehen« (Sarimski et al. 2013b) und das Postulat der Familienorientierung möglicherweise vernachlässigt werden könnte. Aus einer Elternbefragung von Pretis (2014) lässt sich jedoch sagen, dass nach Einschätzung der Eltern die erlebte Familienorientierung nicht vom Setting abhängig ist. Dies sowohl in Bezug auf die Frühförderung in der Kindertagesstätte, zuhause oder an der Frühförderstelle. Die Befragungsresultate zeigen, dass Familienorientierung in erster Linie eine Frage der Haltung der Fachkräfte darstellt. Diese Haltung bedingt, dass die Fachkräfte die bereits erwähnten Prinzipien der Familienorientierung unabhängig vom Förderort zu leben und umzusetzen gewillt sind.
Wird aber die Familienorientierung, wie sie oben beschrieben wurde, in der täglichen Arbeit der Fachpersonen der HFE sichtbar umgesetzt? Dieser Frage soll im Folgenden nachgegangen werden. Als Grundlage dienen Ergebnisse des Forschungsprojekts »Arbeitstätigkeiten und Aufgabenfelder der Heilpädagogischen Früherziehung«, welche die Autorenschaft an der Hochschule für Heilpädagogik Zürich durchgeführt hat. Ausgehend von einer Literaturanalyse und rechtlichen Richtlinien der HFE lassen sich fünf Aufgabenfelder definieren, in welchen die Fachpersonen tätig sind. Es sind dies Diagnostik, Förderung des Kindes, Beratung und Begleitung der Eltern und Bezugspersonen, Interdisziplinäre Zusammenarbeit und Präventive Massnahmen und Früherkennung (Lütolf et al. 2014). Das Forschungsprojekt hatte zum Ziel, die gelebte Praxis der Fachpersonen der HFE hinsichtlich dieser Aufgabenfelder zu beleuchten. Folgende Fragestellungen stehen im Rahmen dieses Beitrags im Zentrum:
1. Wie verteilen sich die zeitlichen Ressourcen der HFE in der beruflichen Praxis auf die verschiedenen Aufgabenfelder?
2. Werden die Eltern und Bezugspersonen aktiv in die Förderung einbezogen?
3. In welchem Setting finden die Tätigkeiten statt?
4. Welche Erkenntnisse lassen sich aus den Resultaten mit Blick auf die Familienorientierung gewinnen?
Nach Abschluss der ESM-Erhebung füllten die Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer einen konventionellen Fragebogen, den sogenannten Schlussfragebogen, aus. Dabei handelte es sich im Wesentlichen um Fragen zur Person, zum Ausbildungshintergrund und zu verschiedenen Aspekten der aktuellen Arbeitssituation. Im Weiteren wurden sie aufgefordert, ihren prozentualen Zeitaufwand für die fünf verschiedenen Aufgabenfelder einzuschätzen sowie die Wichtigkeit der einzelnen Aufgabenfelder zu beurteilen. Dazu verteilten sie insgesamt 100 Punkte auf die einzelnen Aufgabenfelder gemäß ihrer Wichtigkeit.
Aus Abbildung 1 lassen sich drei Haupterkenntnisse gewinnen: Erstens wird sichtbar, dass die Fachpersonen der HFE durchschnittlich 52 % der Arbeitszeit für den Aufgabenbereich Förderung des Kindes und damit im Vergleich zu den anderen Aufgabenfeldern klar am meisten Zeit aufwenden. Für die Beratung und Begleitung der Eltern und Bezugspersonen, die Interdisziplinäre Zusammenarbeit sowie die Diagnostik werden jeweils zwischen 12 % und 14 % der zeitlichen Ressourcen verwendet. Durchschnittlich 2 % der Arbeitszeit werden im Aufgabenfeld Präventive Massnahmen und Früherkennung eingesetzt. Je rund drei 3 % der Zeitressourcen werden zusätzlich für teambezogene Aufgaben und solchen Aufgaben benötigt, die keinem Aufgabenfeld zugeordnet werden konnten.
Abb. 1: Wichtigkeit der und Zeitverwendung für die Aufgabenfelder
Zweitens: Der Vergleich zwischen den einzelnen Aufgabenbereichen zugeschriebenen Wichtigkeit und der für die Aufgabenfelder effektiv verwendeten Zeit weist teilweise auf beträchtliche Differenzen hin. Für Förderung des Kindes wird deutlich mehr Zeit aufgewendet als dass ihr Bedeutung beigemessen wird. Gerade umgekehrt verhält es sich mit den Aufgabenbereichen Beratung und Begleitung der Eltern und Bezugspersonen sowie Präventive Massnahmen und Früherkennung. Die zeitlich aufgewendeten Ressourcen fallen deutlich tiefer aus als die eingeschätzte Wichtigkeit. Hingegen lässt sich eine vergleichbare subjektive Bedeutung der Tätigkeiten und Aufgaben festhalten, welche im Kern den Fokus der Unterstützung auf die kindliche Entwicklung wie auch auf die Beratung der Eltern und Bezugspersonen richten.
Drittens: Bei drei Aufgabenfeldern zeigt sich ein deutlicher Unterschied zwischen dem generell eingeschätzten und dem effektiv erbrachten Zeitaufwand. Für das Aufgabenfeld Förderung des Kindes wird der Zeitaufwand unterschätzt, derjenige für die Aufgabenfelder Beratung und Begleitung der Eltern und Bezugspersonen sowie Präventive Massnahmen und Früherkennung hingegen überschätzt. Aufgrund der hohen Zeitverwendung im Aufgabenfeld Förderung des Kindes und der relativ tiefen zeitlichen Beanspruchung im Aufgabenfeld Beratung und Begleitung der Eltern und Bezugspersonen soll folgend nun dargestellt werden, ob die Familie (Eltern und Bezugspersonen) gezielt in die unmittelbare Förderarbeit mit dem Kind einbezogen werden.
Abb. 2: Einbezug der Eltern in die Fördersequenz
Abbildung 2 ist zu entnehmen, dass innerhalb jener gemessenen Zeitpunkte, welche im familiären Setting stattfinden, die Eltern 308 Mal bei der Durchführung einer Fördersequenz aktiv einbezogen wurden. Dies entspricht rund 38 % der Zeitpunkte. Eltern und/oder Geschwister wurden 133 Mal einbezogen (16 %). In 46 % der Zeitpunkte ist die Fachperson der HFE bei der Familie allein mit dem Kind tätig. Wenn die Förderung nicht in der Familie durchgeführt wird, sondern im Rahmen einer Spielgruppe, einer Kindertagesstätte oder am Heilpädagogischen Dienst, werden die Eltern nur noch in 10 % der Zeitpunkte gezielt einbezogen.
Zur Klärung der dritten Fragestellung soll der Blick nun auf das Setting der HFE gerichtet werden. Jedes Aufgabenfeld umfasst Kerntätigkeiten und ergänzende Aufgaben. Am Beispiel des Aufgabenfelds Diagnostik können prototypische Tätigkeiten festgehalten werden: Kerntätigkeiten sind das Durchführen von Abklärungen, das Evaluieren des Prozessverlaufs, das Verfassen von Berichten, das Rückmelden diagnostischer Befunde an die Eltern sowie das Vor- und Nachbereiten. Im konkreten Berufsalltag fallen jedoch noch weitere Arbeitstätigkeiten unter dieses Aufgabenfeld. So müssen bspw. neue Testverfahren angeschafft und Weiterbildungen dazu besucht werden. Auch bestimmte administrative Aufgaben werden unter dieses Aufgabenfeld subsummiert. Tabelle 1 informiert über den Aufenthaltsort der Fachpersonen bei der Ausübung der Kerntätigkeiten der Aufgabenfelder Förderung des Kindes, Beratung und Begleitung der Eltern und Bezugspersonen, Interdisziplinäre Zusammenarbeit und Diagnostik sowie allen übrigen Arbeitstätigkeiten.
HPDFamilieAuswärts/unterwegsTotal
Tab. 1: Häufigkeiten von Kerntätigkeiten der HFE nach Aufenthaltsort
Mit 37.8 % aller Zeitpunkte ist die Kerntätigkeit »Fördern« am stärksten repräsentiert. Dies schließt sich logisch aus der Tatsache, dass Tätigkeiten im Aufgabenfeld Förderung des Kindes am meisten ausgeübt werden ( Abb. 1). »Eltern beraten« (10.9 %), »Interdisziplinär zusammenarbeiten« (8.8 %) und »Diagnostizieren« (8.8 %) folgen mit einem beträchtlichen Abstand. Ein weiteres Drittel der Zeitpunkte bezieht sich auf andere Tätigkeiten. In Bezug auf das Setting lässt sich festhalten, dass »Fördern« zu mehr als der Hälfte der Zeitpunkte im familiären Umfeld stattfindet (56.9 %) und zu einem Drittel (33.1 %) an der heilpädagogischen Dienststelle (HPD). Die Elternberatung findet ebenfalls mehrheitlich im Setting Familie statt und kontrastiert nur unwesentlich hinsichtlich möglicher anderer Arbeitsorte im Vergleich mit der kindorientierten Förderung. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit und Kerntätigkeiten der Diagnostik werden hingegen vermehrt am HPD ausgeführt. Über alle Tätigkeiten hinweg lässt sich zusammenfassend sagen, dass zu rund 75 % aller Zeitpunkte der Arbeitsort der Fachpersonen der HPD (39.3 %) oder die Familie (32.7 %) ist.
Der Blick auf die gelebte Praxis zeigt hinsichtlich der Familienorientierung ein Spannungsfeld auf. Zum einen wird deutlich, dass die Fachpersonen in der Studie die kindorientierte Förderung und die Elternberatung gleichermaßen bedeutsam einschätzen. Dies ist als klarer Hinweis auf die Einstellung und Haltung zugunsten der Familienorientierung zu verstehen. Hinsichtlich des effektiven Zeitaufwands fällt die starke zeitliche Priorisierung der Förderung ins Auge. Die Zeitpunkte für die Beratung fallen dagegen wesentlich geringer aus. Innerhalb der kindorientierten Arbeit lassen sich Beratungselemente erkennen, indem die Bezugspersonen in mehr als der Hälfte der Fördermomente direkt einbezogen werden. Gleichzeitig wird jedoch sichtbar, dass zu 46 % die Fachperson der HFE alleine mit dem Kind arbeitet. Dass die Eltern nicht immer bei der Förderung dabei sind, muss nicht im Widerspruch zur Familienorientierung stehen. Im Sinn der Individualisierung können die Prämissen der Familienorientierung unterschiedlich gewichtet werden. So kann es sein, dass eine Trennung von Bezugsperson und Kind während der Förderung im Sinne einer Ablösung bewusst als gemeinsam vereinbartes Arbeitsbündnis gewählt wurde. Eine weitere Möglichkeit ist der Einbezug der Bezugspersonen außerhalb der Fördersituation in Form von Gesprächen, welche garantieren, dass die Eltern in alle Entscheidungen einbezogen werden. Kritisch anzufügen ist, dass die Beachtung einer gelingenden Eltern-Kind-Interaktion für die Entwicklung des Kindes wesentlich ist (Sarimski 2017) und dazu der Einbezug der Eltern Voraussetzung ist.
Hinsichtlich des Arbeitsortes ist erkennbar, dass die vier Haupttätigkeiten der HFE mehrheitlich am HPD und zu Hause durchgeführt werden. Dem liegt zugrunde, dass in der Schweiz die aufsuchende HFE weiterhin von hoher Bedeutung ist. Hingegen ist die HFE eher selten an alternativen Förderorten tätig, was darauf zurückführen ist, dass die Begleitung der Kinder in Kitas sich in der Schweiz erst im Aufbau befindet. Diesbezügliche zukünftige Herausforderungen gilt es anzugehen. Vor dem Hintergrund, dass Familienorientierung in erster Linie eine Frage der Einstellung und Haltung der Fachkräfte ist (Pretis 2014), müssen die Fachkräfte die Prinzipien der Familienorientierung unabhängig vom Förderort umsetzen. Dazu gehören das fachliche Selbstverständnis, Förderziele mit den Eltern gemeinsam auszuhandeln, die Bedeutung der Eltern-Kind-Interaktion zu thematisieren und die Anwesenheit der Bezugspersonen (auch in der Kita) gezielt einzufordern.
Abschließend darf resümiert werden, dass Guralnicks Ebenen der Wirksamkeit (2011) sich durch die Studie auf der kindlichen Ebene belegen lassen. Die Ausrichtung auf die Ebene Familie und die Ebene der familiären Ressourcen lässt sich mehr erahnen als stützen. Hier müsste die vorliegende Studie durch qualitative Befragungen zur genauen Umsetzung ergänzt werden.
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Familienorientierung, verstanden als gemeinsames Arbeiten mit Eltern und Kind im Familienalltag mit dem Ziel, das Kind zu aktiverer Teilnahme zu befähigen, kann beeindruckende Entwicklungsprozesse anstoßen. Im folgenden Beitrag geht es darum, praxisbezogen Einblick in Chancen und Umsetzungsmöglichkeiten des familienorientierten Ansatzes zu geben und Wege aufzuzeigen, wie die Umstellung von eher traditionell kindorientierter Arbeit hin zu mehr Familien- und Teilhabeorientierung gelingen kann.
Ein häufiger Ansatz zur Umsetzung des Förderauftrags ist, ausgehend von einer Entwicklungsdiagnostik, bei der Fähigkeiten und Defizite des Kindes bestimmt werden, in wöchentlichen Förderstunden ein förderliches Spielangebot mit dem Kind durchzuführen. Das Material dafür wird von der Frühförderin mitgebracht und am Ende der Stunde wieder mitgenommen – zum großen Kummer vieler Kinder. Es ist erwünscht, dass die Eltern zumindest teilweise an den Förderstunden teilnehmen, um Förderstrategien zu beobachten und zu übernehmen. Flankierend finden Elterngespräche zur Förderplanung statt – hier und bei kurzen Gesprächen am Rand der Förderstunden werden auch Empfehlungen zur Bewältigung von Schwierigkeiten im Familienalltag gegeben.
Der traditionelle Ansatz stößt aber erfahrungsgemäß in vieler Hinsicht an Grenzen:
• Sehr kleine oder schwerer beeinträchtigte Kinder sind aufgrund von Wahrnehmungs- und Verarbeitungsproblemen häufig nicht in der Lage, sich sinnvoll bzw. länger mit den angebotenen Spielmaterialien zu beschäftigen. Oft stehen ganz andere Themen im Vordergrund: Ess- und Schlafprobleme, starke Unruhe, fehlender Blickkontakt, häufige Abwehr und Schreien bei Alltagsaufgaben wie Wickeln, Anziehen, Aufräumen, fehlende kommunikative Fähigkeiten, stereotypes und selbstverletzendes Verhalten, Probleme im Kontakt mit anderen Kindern usw.
• Die Eltern sind durch den erschwerten Alltag und die häufigen Therapietermine, durch Ängste hinsichtlich der weiteren Entwicklung der Kinder, durch ungünstige Beziehungsmuster und Familienkonflikte und teilweise auch durch schwierige sozioökonomische Bedingungen selbst stark belastet. Ein krankes oder behindertes Kind führt darüber hinaus zu einer Erschütterung des Grundvertrauens in die eigene Fähigkeit, gut für ein Kind sorgen zu können und bedingt eine hohe Verletzlichkeit bei Misserfolgen (Stern 1995). Gleichzeitig ist aber, wie wir alle aus Erfahrung wissen, eine einigermaßen gelingende Beziehung zum Kind eine Grundvoraussetzung für positive Entwicklung.
Somit stellt sich die entscheidende Frage, wie Frühförderung so gestaltet werden kann, dass auch in den o. g. Konstellationen eine nachhaltige Entwicklung beim Kind angestoßen wird und es zu einer Entlastung der Eltern und einer Verbesserung der Beziehung zum Kind kommt.
Der Ansatz der familienorientierten Frühförderung, wie er in amerikanischen Veröffentlichungen und im deutschsprachigen Raum von Sarimski et al. (2013) verstanden und konzeptualisiert wird, bietet ein Handlungsmodell mit drei ineinandergreifenden Schwerpunktsetzungen an, welches genau auf diese Fragestellungen zugeschnitten ist. Im Folgenden sollen die zentralen Ansatzpunkte kurz skizziert werden. Anhand eines Fallbeispiels zum Alltagskontext Essen werden dann exemplarisch Vorgehensweisen und Wirkungen des familienorientierten Vorgehens dargestellt. Abschließend soll es um mögliche erste Schritte hin zu einer familienorientierteren Vorgehensweise gehen.
Nachfolgend sollen drei zentrale Elemente differenziert werden. Zum einen gilt es, Kinder zu stärken, am Alltag teilzunehmen.
Wie Sarimski et al. (2013, 56) feststellen, bedeutet
»wirksame Impulse für die Entwicklung von Fähigkeiten in der frühen Kindheit zu setzen, […] viele einzelne Lern- und Übungsgelegenheiten im Tagesablauf zu nutzen.«
Darüber hinaus lernen Kinder am besten in Situationen, die für sie vertraut und emotional bedeutsam sind. Diese Kriterien erfüllen Alltagssituationen in Familie und Kindergarten in hohem Maße. Um sie gezielt nutzen zu können, ist es wichtig, alltägliche Abläufe und Routinen detailliert zu erfragen und sowohl den Grad der Beteiligung und Selbständigkeit des Kindes dabei zu erfassen als auch seine Vorlieben, Interessen und Abneigungen. Dieser »Alltags-Check« bildet dann die Basis, um Schlüsselkompetenzen (Kompetenzen, die in möglichst vielen Alltagssituationen von Bedeutung sind und geübt werden können) und Lerngelegenheiten (Aktivitäten, bei denen das Kind mit Aufmerksamkeit und Freude beteiligt ist und/oder die besonders bedeutsam für Selbstwirksamkeit und Selbständigkeit im Alltag sind) zu identifizieren, um dann mit den Eltern für die Alltagsroutinen integrierte Förderstrategien zu entwickeln und zu erproben.
Als zweites Ziel will familienorientierte Frühförderung Eltern stärken, den Familienalltag zu bewältigen und ihr Kind im Alltag zu unterstützen.
»Die Stärkung der personalen Ressourcen der Eltern, insbesondere ihres Zutrauens in ihre Kompetenzen, ihr Kind erziehen zu können, ist in der Beratung und Begleitung der Familien ein zentrales Anliegen« (Sarimski et al. 2013, 36).
Dies kann vor allem dann gelingen, wenn wir bei den Anliegen und Themen der Eltern ansetzen, also beginnen, indem wir ihre Veränderungswünsche erfragen. Sinnvoll ist auch hier wieder die Frage nach den konkreten Alltagsituationen, in denen sie sich eine Veränderung wünschen bzw. danach, in welchen Alltagssituationen sie einen ersten kleinen Fortschritt bezogen auf ein wichtiges Ziel (z. B. Sprechen) bemerken würden. In einem weiteren Schritt geht es darum, den Eltern wirksame Strategien zur Förderung kindlicher Fähigkeiten zu vermitteln, welche in die Alltagsroutinen eingebaut werden können.
Ein ganz wesentlicher Baustein zur Stärkung von Eltern und Kind ist die gezielte Unterstützung von positiven Interaktionen. Das Ehepaar Papousek beschreibt den Prozess der Ko-Regulation zwischen Eltern und Kind, welcher das Kind bei der Bewältigung der jeweils alterstypischen Entwicklungsaufgaben unterstützt. Hierzu greifen basale adaptive Verhaltensprogramme beim Kind und intuitives Elternverhalten ineinander und bestärken sich gegenseitig (Papousek, zit. nach Borke et al. 2015, 24 ff.). Kinder mit Behinderungen zeigen allerdings oft ein verändertes Rückmeldeverhalten: Ihre kommunikativen Signale sind weniger intensiv, weniger häufig und weniger verständlich (Oelze 2016). Auch nehmen sie Signale der Eltern infolge von Wahrnehmungsbeeinträchtigungen häufig nicht gut wahr. Dies hat zur Folge, dass Eltern für ihr intuitives Elternverhalten kaum Rückmeldung oder Bestärkung erhalten und dieses daraufhin zunehmend einstellen, wodurch dem Kind wichtige Hilfen zur Bewältigung von Entwicklungsaufgaben und zum Aufbau kommunikativen Verhaltens verlorengehen. Eltern brauchen Hilfestellung, die Kommunikation mit ihrem Kind so zu gestalten, dass sie es wirksam unterstützen können und dass es zu wiederholten positiven Kontaktmomenten und Freude an- und miteinander kommt. Zur Unterstützung von positiven Interaktionen können folgende Ansätze dienen:
• Belastung der Eltern reduzieren, indem mit den Eltern zum einen Strategien zur Bewältigung von schwierigen Situationen erarbeitet und zum anderen gezielt Entlastungsmomente geplant werden. Hierbei ist es wichtig, Problemlösefähigkeiten der Eltern zu aktivieren, indem man
• die Ressourcen der Eltern mit einbezieht. Hier sind vor allem Fragen hilfreich: nach bisherigen Lösungsversuchen, nach eigenen Lösungsideen und nach Ausnahmen vom Problem, weil sich hier oft erste Hinweise auf Lösungsmöglichkeiten erkennen lassen (Kim Berg 1992, 88 f.).
• Interaktionsberatung. Von Mechthild Papousek stammt der schöne Begriff der »Engelskreise« für Kreisläufe gelingender Interaktion mit ihren vielen positiven Auswirkungen für Kinder und Eltern (Papousek, 2000, 617). Für ihr Entstehen brauchen Eltern Hilfestellung, kleine Signale ihrer Kinder zu erkennen und auf diese adäquat zu »antworten«, wie auch ihre eigenen Kontaktangebote und Handlungen so auf Verarbeitungstempo und Wahrnehmungsfähigkeiten des Kindes abzustimmen, dass es diese aufnehmen und »antworten« kann. Besonders wirkungsvoll ist hier der Einsatz von Videointeraktionsberatung, die sowohl die kleinen Signale als auch erste »Engelskreis-Momente« und im Verlauf das Wachstum von Engelskreisen sichtbar machen kann.
Ein dritter Schwerpunkt ist die Berücksichtigung des sozialen Kontextes. Hier geht es darum, das soziale Umfeld der Familie zu erfassen und wo möglich mit einzubeziehen – Verwandte und Freunde können oft emotional und mit konkreten Hilfen zur Entlastung der Eltern beitragen. Für nachhaltige Entwicklungsprozesse ist es darüber hinaus notwendig, auch die anderen Alltagskontexte, in denen das Kind betreut und gefördert wird, miteinzubeziehen: Krippe, Kindergarten und Therapeuten. Wenn in allen Kontexten gleichzeitig und aufeinander abgestimmt an Schlüsselkompetenzen gearbeitet wird, sind nach meiner Erfahrung oft sehr schnell Fortschritte zu erzielen. Eine systematische Abstimmung der verschiedenen Beteiligten kann mit der Durchführung von regelmäßigen »Runden Tischen« mit klarer, schriftlich festgehaltener Absprache von Zielen und Vorgehensweisen erreicht werden.
Essen ist besonders in den ersten Lebensjahren ein zentraler Alltagskontext – neben der Nahrungsaufnahme geht es hier immer auch um Begegnung und Gestaltung von Beziehungen. Beim Essen werden viele wichtige Fähigkeiten gelernt und geübt, und es ist ein wichtiger Ort für die Verhandlung von Autonomiebedürfnissen (was, wie viel und wie lange wird gegessen – und wer entscheidet das). Gerade bei Frühgeburtlichkeit oder Behinderung entstehen häufig Probleme rund ums Essen infolge einer Wechselwirkung zwischen Schwierigkeiten des Kindes bei der Nahrungsaufnahme und Unsicherheiten der Eltern beim Füttern. In der Beratung geht es darum, günstige Rahmenbedingungen zu schaffen und bei der Auswahl der Speisen und der Interaktionsgestaltung zu unterstützen (Sarimski et al. 2013, 73).
Im folgenden Fall habe ich mit Videointeraktionsberatung nach Marte Meo gearbeitet. Marte Meo (Aarts, 2002) hat einen konsequent ressourcenorientierten Ansatz – es wird gezielt nach gelingenden Momenten gesucht und mit diesen weitergearbeitet. Gelingende Interaktionsmomente enthalten zum einen Informationen darüber, was funktioniert, und können so Anhaltspunkte für Lösungsmöglichkeiten geben. Gleichzeitig können Eltern mit Hilfe der Videobilder lernen, kleine Signale und Initiativen ihrer Kinder wahrzunehmen, sie dadurch zunehmend besser zu verstehen und ihr eigenes Verhalten besser auf die Bedürfnisse der Kinder abzustimmen. Besonders wirkungsvoll sind die Bilder positiver Kontaktmomente – sie können gezielt genutzt werden, um Engelskreise zu initiieren und zu verstärken.