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Europaweit kommen jedes Jahr mehr als 600.000 Kinder zu früh zur Welt. Trotz der immensen Fortschritte, die die neonatologische Intensivmedizin gemacht hat, bleibt die Entwicklungsprognose eines sehr unreif geborenen Kindes bis heute ungewiss. In der 2., vollständig überarbeiteten Auflage des Buches werden die Forschungsergebnisse zur Entwicklungsprognose und ihren Einflussfaktoren, zu den Möglichkeiten individualisierter Pflege auf der Station sowie zu den Belastungen der Eltern beschrieben. Weiterhin wird auf die Herausforderungen der Eltern eingegangen, vor denen sie während der stationären Behandlung und in den folgenden Jahren stehen. Differenziert werden die pädagogisch-psychologischen Aufgaben in der Betreuung der Familien nach der Entlassung aus der Klinik dargestellt. Dazu gehören die Stärkung der elterlichen Bewältigungskräfte, die Unterstützung entwicklungsförderlicher Interaktionen im Alltag und der Umgang mit Regulationsstörungen der Kinder. Es werden auch besondere Belastungen, wie z.B. die Technologieabhängigkeit der Kinder, die Auseinandersetzung mit traumatisierenden Erfahrungen, die Begleitung der Eltern sterbender Kinder, berücksichtigt. Das Vorgehen bei der Beratung und Betreuung der Familien wird anhand von Fallbeispielen veranschaulicht.
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Klaus Sarimski
Frühgeburt als Herausforderung
Psychologische Beratung als Bewältigungshilfe
2., vollständig überarbeitete Auflage
Klinische Kinderpsychologie
Band 1
Frühgeburt als Herausforderung
Prof. Dr. Klaus Sarimski
Begründer der Reihe:
Prof. Dr. Franz Petermann
Prof. Dr. rer. nat. Klaus Sarimski, geb. 1955. 1980–1981 Psychologe in einer Frühförderstelle. 1981–2007 Psychologe in der Klinik und Ambulanz des Kinderzentrums München. Seit 2007 Professor für Sonderpädagogische Frühförderung und Allgemeine Elementarpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg.
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2., vollständig überarbeitete Auflage 2021
© 2000, 2021 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen
(E-Book-ISBN [PDF] 978-3-8409-2989-2; E-Book-ISBN [EPUB] 978-3-8444-2989-3)
ISBN 978-3-8017-2989-9
https://doi.org/10.1026/02989-000
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Kinder
Sind so kleine Hände
winzge Finger dran.
Darf man nie drauf schlagen
die zerbrechen dann.
Sind so kleine Füße
mit so kleinen Zehn.
Darf man nie drauf treten
könn sie sonst nicht gehen.
Sind so kleine Ohren
scharf, und ihr erlaubt.
Darf man nie zerbrüllen
werden davon taub.
Sind so schöne Münder
sprechen alles aus.
Darf man nie verbieten
kommt sonst nichts mehr raus.
Bettina Wegner
© AnarMusikverlag c/o Bettina Wegner
Im Jahre 2000 ist das Buch „Frühgeburt als Herausforderung – Psychologische Beratung als Bewältigungshilfe“ in einer ersten Auflage erschienen. Seither hat sich die Versorgung frühgeborener Babys verändert und der Forschungsstand zur Entwicklungsprognose sowie das empirische Wissen um Maßnahmen zur familienorientierten Pflege und Unterstützung der Eltern während der stationären Betreuung und in der Nachsorge unreif geborener Kinder wesentlich erweitert. In Büchern zur psychologisch-sozialmedizinischen Versorgung von Familien Frühgeborener (Reichert & Rüdiger, 2013) und zur Begleitung von Familien unter Hochstress (Brisch, 2019) wurden erste Erfahrungen zur psychologischen Betreuung in der Neonatologie vorgestellt.
Ich habe mich deshalb sehr gefreut, dass der Hogrefe Verlag mich gebeten hat, eine vollständig neu bearbeitete und aktualisierte Auflage dieses Buches vorzubereiten. Die Gliederung der ersten Auflage wurde im Wesentlichen beibehalten. Auch die Erfahrungen aus meiner klinischen Praxis als Psychologe im Kinderzentrum (bis 2007, bevor ich auf eine Professur für Sonderpädagogische Frühförderung an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg berufen wurde) habe ich übernommen, da sich die Bedürfnisse der betroffenen Eltern in dieser Zeit nicht grundlegend verändert haben. Sie gehen als Einzelfallbeispiele und Ergebnisse einer retrospektiven Befragung von 50 Elternpaaren auch in diese zweite Auflage des Buches ein.
Völlig neu ausgearbeitet wurde dagegen das Kapitel zur Entwicklungsprognose frühgeborener Kinder. Dies war mir ein besonderes Anliegen, weil sich die Entwicklungschancen sehr und extrem unreif geborener Kinder durch die Weiterentwicklung der intensivmedizinischen Versorgung in den letzten zwanzig Jahren in vielerlei Hinsicht – aber nicht in allen Entwicklungsbereichen – deutlich verbessert haben.
Weitgehend neu gestaltet wurden auch die Kapitel zur Evaluation familienorientierter, individualisierter Pflege und zur Elternberatung auf der Station sowie zu den Konzepten, die sich auf die Entwicklungsförderung der Kinder und die Unterstützung der Eltern nach der Entlassung der Kinder beziehen, und den Erfahrungen von Müttern und Vätern, die sich zusätzlichen Belastungen gegenübersehen. Hier können wir mittlerweile auf eine große Zahl von empirischen Studien |VI|und einige Metaanalysen zurückgreifen, die einen verlässlichen Eindruck davon vermitteln, was sich in diesem Arbeitsfeld bewährt hat. Fast alle Studien, die hier einbezogen wurden, wurden nach dem Jahre 2000 veröffentlicht.
Ich hoffe sehr, dass diese vollständig neu bearbeitete und aktualisierte Auflage das Interesse eines möglichst großen Leserkreises findet, denn die bestmögliche Unterstützung frühgeborener Babys und ihrer Familien ist und bleibt eine Herausforderung für das Gesundheitssystem dieses Landes.
Heidelberg/München, im Sommer 2020
Prof. Dr. Klaus Sarimski
Zitat/e
Vorwort zur zweiten Auflage
Einführung: Wenn das Leben zu früh beginnt …
1 Entwicklungsprognose frühgeborener Kinder
1.1 Akute medizinische Risiken für die Entwicklung
1.1.1 Risiko für neurologische Störungen und Sinnesschädigungen
1.1.2 Betreuungsbedarf in der Nachsorge
1.2 Entwicklungspsychologische Risiken
1.2.1 Kognitive Entwicklungsstörungen
1.2.2 Auswirkungen des Grades der Unreife bei Geburt
1.2.3 Vorhersagekraft von Entwicklungstests
1.2.4 Einflussfaktoren auf den kognitiven Entwicklungsverlauf
1.2.5 Einfluss der sozialen Umwelt
1.2.6 Auswirkungen auf die sprachliche Entwicklung
1.2.7 Defizite in exekutiven Funktionen
1.2.8 Auswirkungen auf das schulische Leistungsvermögen
1.2.9 Sozial-emotionale Auffälligkeiten
1.2.10 Bedeutung einer entwicklungsförderlichen Eltern-Kind-Interaktion
2 Individualisierte, beziehungsorientierte Pflege
2.1 Neurobehaviorale Entwicklung des frühgeborenen Babys
2.2 Beziehungsorientierte, entwicklungsfördernde Pflege
2.2.1 Schutz vor Reizüberflutung
2.2.2 Beachtung der individuellen Fähigkeiten und Signale
2.2.3 Beziehungsförderung durch die Känguruh-Pflege
2.2.4 Unterstützung der oralen Ernährung
2.2.5 Einbeziehung der Eltern in die Pflege
2.2.6 Entwicklungschancen bei individualisierter, beziehungsorientierter Pflege
2.2.7 Vorbereitung auf die Entlassung aus der stationären Pflege
2.3 Herausforderungen für das stationäre Behandlerteam
3 Elternberatung in den ersten Wochen nach der Geburt
3.1 Emotionale Herausforderungen durch eine zu frühe Geburt
3.1.1 Vorgeburtliche Beziehungsentwicklung
3.1.2 Mütterlichkeits-Konstellation
3.1.3 Ängste und Niedergeschlagenheit nach der frühen Geburt
3.1.4 Ausdrucksformen der emotionalen Belastung
3.1.5 Risiko einer Posttraumatischen Belastungsstörung
3.1.6 Beziehungsaufbau unter erschwerten Bedingungen
3.2 Unterstützung während der stationären Zeit
3.3 Gelingen des Bewältigungsprozesses
3.4 Psychologische Beratung der Eltern
3.4.1 Indikation zur Beratung
3.4.2 Einschätzung des Beratungsbedarfs – Diagnostik
3.4.3 Einzel- und Paarberatungsgespräch
3.4.4 Erfahrungen mit Elterngruppen
3.4.5 Wirksamkeit psychologischer Beratungsangebote auf der Station
3.5 Interdisziplinäre Kooperation in der Nachsorge
4 Beziehungsentwicklung in der Zeit nach der Entlassung
4.1 Frühe Eltern-Kind-Beziehungen und ihre Störungen
4.2 Risiken für die Beziehungsentwicklung bei Frühgeborenen
4.3 Belastungen der Eltern in der Zeit nach der Entlassung
4.3.1 Erinnerungen an die Zeit nach der Entlassung
4.3.2 Erlebte Unterstützung
4.4 Individuelle Bewältigung der Belastung
4.4.1 Verlauf der psychischen Belastungssymptome
4.4.2 Zusammenhänge zwischen psychischer Belastung und Interaktionsqualität
5 Pädagogisch-psychologische Aufgaben in der Nachsorge
5.1 Entwicklungskontrolle
5.2 Einschätzung der Beziehungsqualität
5.2.1 Elterngespräche und belastungsorientierte Fragebögen
5.2.2 Beobachtung der Eltern-Kind-Interaktion
5.3 Beziehungsfördernde Begleitung und Beratung
5.3.1 Ergebnisse von standardisierten Frühförderprogrammen
5.3.2 Wirksamkeit von interaktions- und familienorientierten Konzepten
5.4 Umgang mit Regulationsstörungen als Beratungsaufgabe
5.4.1 Regulationsstörungen im frühen Kindesalter
5.4.2 Regulationsstörungen bei frühgeborenen Kindern
5.4.3 Beratung bei extremer Unruhe, Schlaf- oder Fütterproblemen
6 Familien unter besonderer Belastung
6.1 Betreuung von Kindern mit technischen Hilfen
6.1.1 Beatmung und Monitorüberwachung
6.1.2 Emotionale Anpassung der Eltern an die besonderen Anforderungen
6.1.3 Entlassungsvorbereitung und Zusammenarbeit mit professionellen Helfern
6.2 Gefährdung der Beziehung bei Eltern mit eigenen psychischen Erkrankungen
6.2.1 Häufigkeit psychischer Störungen
6.2.2 Auswirkungen auf die frühe Eltern-Kind-Beziehung
6.2.3 Unterstützung in der Nachsorge durch spezifische Behandlungsangebote
6.3 Traumatisierung durch die Mitteilung einer dauerhaften Behinderung
6.4 Nachwirkung von tragischen Verlusten bei früheren Schwangerschaften
6.5 Verlust des Babys während der stationären Behandlung
Literatur
Beispiel: Anna kam vierzehn Wochen zu früh zur Welt
Nachdem die Herzschläge des Kindes immer schlechter wurden, entschieden die Ärzte, das Kind durch Kaiserschnitt zu holen. Als ich aufwachte, hörte ich meinen Mann sagen, dass Anna verhältnismäßig groß sei, nämlich 34 cm und 730 g schwer. Ich war im ersten Moment nur glücklich, dass Anna überhaupt am Leben war. Am nächsten Tag bekam ich gleich ein Foto von ihr, wie sie im Inkubator liegt. Ich war wahnsinnig stolz auf sie.
Als ich sie zum ersten Mal sehen konnte, war ich sehr aufgeregt. Fasziniert. Diese wahnsinnig winzigen Händchen und Füße! Finger wie ein Streichholz, die Füße so lang wie ein Daumenglied von mir! Aber es war alles dran an ihr, nur wahnsinnig winzig. – Die vielen Kabel, Elektroden und Schläuche, mit denen fast der ganze Körper bedeckt war, störten mich nicht. Nur wenn der Monitor Alarm gab, erschreckte ich mich.
Es beruhigte mich, wenn ich sah, dass es ihr gut ging. Ganz anders war jedoch die Zeit zu Hause. Ein Telefonanruf zu einer außergewöhnlichen Zeit erschreckte mich sehr, immer in Angst, es könnte das Krankenhaus sein. Es überkam mich auch plötzlich die Angst, sie könnte doch noch sterben. Ich hatte Alpträume, wie es weitergehen würde, wenn sie doch noch sterben würde.
Ein ganz großer Moment war es für mich, als ich sie das allererste Mal auf den Arm nehmen durfte. Sie bekam eine kleine Mütze auf und wurde in ein angewärmtes Tuch gehüllt. Endlich hatte ich meine kleine Tochter, nicht einmal ein Kilogramm schwer, auf meinem nackten Oberkörper liegen. Es war ein unbeschreiblich schönes Gefühl.
Trotz der immensen Fortschritte, die die neonatologische Intensivmedizin gemacht hat, bleibt die Entwicklungsprognose eines sehr unreif geborenen Kindes – wie Anna – bis heute ungewiss. Ein Teil der Kinder ist dauerhaft behindert in ihrer körperlichen oder geistigen Entwicklung, bei einem anderen Teil der Kinder zeigen sich leichtere Entwicklungsprobleme, die die Bewältigung der späteren Anforderungen in der Schule und im sozialen Leben erschweren. Andere Kinder entwickeln sich trotz des schwierigen Starts ins Leben völlig altersgemäß (vgl. Kapitel 1).
|2|Eine bestmögliche Prävention durch die Früherkennung von Entwicklungsabweichungen, eine auf die individuellen Bedürfnisse des Kindes abgestimmte Pflege und Förderung sowie Hilfen zur Entwicklung einer stützenden, tragfähigen Eltern-Kind-Beziehung sind wichtige Ziele, die mit hoher Priorität verfolgt werden sollten. Beginnend schon auf der Station, denn die Welt dort ist ganz anders als die Welt im Mutterleib: laut, hell und schmerzhaft (vgl. Kapitel 2).
Aber nicht nur für das Baby ist die zu frühe Geburt ein Schock. Viele Eltern beschrieben sie als Alptraum: Trennung vom Kind, Sorge um sein Überleben, dann Angst vor der Zukunft und drohender Behinderung, Gefühle der Zerrissenheit zwischen häuslichen und beruflichen Anforderungen, womöglich der Versorgung anderer, älterer Kinder, und dem Wunsch, dem Frühchen nahe zu sein, Hilflosigkeit und Ohnmacht, so wenig für sein Wohlergehen tun zu können (vgl. Kapitel 3).
Sie sehnen den Tag der Entlassung herbei – wenn keine zusätzlichen Komplikationen eintreten, nach zwei, drei Monaten, etwa zum errechneten Geburtstermin. Doch die Zeit danach erweist sich oft als auf andere Weise schwierig. Die Last der Verantwortung, die Angst, etwas falsch zu machen, die fortbestehende Sorge um die künftige Entwicklung des Kindes usw. (vgl. Kapitel 4).
Die Eltern von Anton, geboren in der 25. Schwangerschaftswoche (SSW) mit einem Geburtsgewicht von 490 g, zu diesem Zeitpunkt über drei Jahre alt, erzählen:
Beispiel: Anton, geboren in der 25. SSW
Während des fast sechsmonatigen Krankenhausaufenthalts waren wir sehr zuversichtlich, dass dann zu Hause alles besser laufen würde. Die Fahrerei ins Krankenhaus würde wegfallen, täglich eine bzw. mehrere Besuchsfahrten. Als Anton dann nach Hause kam, waren wir zuerst sehr glücklich und zufrieden über das Erreichte. Doch schon nach kurzer Zeit ergaben sich neue Probleme, ganz anders als im Krankenhaus. Er musste alle drei Stunden gefüttert werden, rund um die Uhr. Alle anderen Arbeiten im Haushalt, die bereits während der Krankenhauszeit völlig zu kurz kamen, konnten jetzt auch nicht zufriedenstellender erledigt werden. Er ging vor, die beiden anderen Kinder, die ganze Hausarbeit litten darunter.
In der Folgezeit kam es laufend zu Erkrankungen von Anton. Die Arztbesuche, Therapien (Ergotherapie, Krankengymnastik, Sehbehindertenfrühförderung) verschafften uns einen vollen Terminkalender. Nahezu jeden Tag war ein Termin wahrzunehmen. Hinzu kam, dass bei manchen Problemen der Facharzt, der Kinderarzt und auch die Ärzte der Neugeborenenstation, die ihn und seine zurückliegenden Komplikationen kannten, zu unterschiedlichen Bewertungen kamen. Wir fühlten uns oft überfordert und ratlos. Wir wollten ja nur das Beste für Anton.
|3|Einige der frühgeborenen Babys schreien sehr viel, finden kaum zur Ruhe, lassen sich schlecht füttern und schlafen sehr unruhig. Es gilt, problemorientierte Lösungsstrategien zu finden, ohne dass die Eltern sich selbst die Schuld an diesen alltäglichen Schwierigkeiten geben und die Freude an ihrem Kind verlieren (vgl. Kapitel 5). Manche Babys kommen auch nach der Entlassung nicht ohne apparative Hilfen zur Überwachung ihrer Körperfunktionen (Monitor) oder zur Beatmung (externe Sauerstoffversorgung) aus und stellen ihre Eltern vor besondere Herausforderungen (vgl. Kapitel 6). Noch einmal erinnert sich Annas Mutter:
Beispiel: Anna (Forts.)
Ein paar Anmerkungen zum Thema Monitor: Unser Monitor war so groß wie ein Kofferradio, den man immer dann in Betrieb nahm, sobald Anna schlief. Das bedeutete auch, dass, wenn ich mit ihr unterwegs war, er unser ständiger Begleiter war. Meine Nerven wurden durch dieses Gerät sehr strapaziert. Auf der einen Seite verlieh mir das Gerät eine Art von Sicherheit. Ich konnte nachts schlafen und war beruhigt, denn im Notfall würde er Alarm geben. Auf der anderen Seite machte ich mir oft große Sorgen, wenn ich die Herz- und Atemfrequenz von Anna sah, da sie teilweise sehr stark abfielen. Aber es gab dann immer drei Möglichkeiten: (1) Diese Werte sind völlig normal bei einem Säugling. (2) Das Gerät funktioniert nicht richtig, weil vielleicht die Elektroden nicht richtig sitzen. (3) Dem Kind fehlt etwas, was man aber als Laie nur schwer feststellen kann.
Als Anna etwas älter wurde, wurde sie natürlich auch immer beweglicher in ihrer Wiege. So kam es vor, dass sie selber Alarm auslöste, indem sie einfach die Elektroden abriss. Meistens war sie von dem schrillen Ton selber so erschrocken, dass sie froh war, wenn wir den Lärm wieder abstellten.
Ein weiteres Problem war, dass wir Anna nicht einfach jemandem für ein paar Stunden geben oder uns abends einen Babysitter gönnen konnten. Wir mussten ja immer davon ausgehen, dass das Gerät wirklich einmal einen ernsthaften Alarm auslösen konnte und dann musste derjenige auch richtig handeln können. Das konnte und wollte ich nicht jedem zumuten.
Nicht immer können Eltern ihre Fürsorge für das Kind auf eine stabile eigene Persönlichkeitsentwicklung und sichere Beziehung zu ihrem Partner aufbauen. Manchmal sind sie selbst nicht in stützenden, vertrauensvollen Beziehungen aufgewachsen oder ihr Vertrauen auf sich selbst ist durch einen schweren Verlust – z. B. den frühen Tod eines anderen Kindes – erschüttert worden (vgl. Kapitel 6). Psychotherapeutische Hilfen sind hier angezeigt, um die durch die zu frühe Geburt des Babys reaktivierten Trennungs- und Verlusterlebnisse oder ungelöste Trauer bearbeiten zu helfen. Eine Mutter von Zwillingen erzählt:
|4|Beispiel: Früher Tod eines Kindes
Nicht hilfreich war, dass mir immer wieder gesagt wurde: Na ja, sei froh, dass du das eine Kind wenigstens hast! Ich hatte Zwillinge entbunden nach Feto-fetalem Transfusionssyndrom. Meine ältere Tochter ist nach einem Tag relativ unerwartet doch noch verstorben. Vielleicht hätte ich es gebraucht, um meine verstorbene Tochter zu trauern, wie mir zumute war. Aber fast jeder erwartete von einem, dass man sich „zusammenreißt“. Anfangs bin ich bei jedem Zwillingspärchen in Tränen ausgebrochen. Auch heute bekomme ich noch ein komisches Gefühl in der Magengegend.
Als frühgeborene Kinder gelten alle Kinder, die vor der 37. Schwangerschaftswoche (SSW) zur Welt kommen. Das waren im Jahr 2018 z. B. 64.417 Kinder, d. h. fast 9 % aller Neugeborenen. Innerhalb dieser Gruppe werden drei Gruppen nach der Dauer der Schwangerschaft („Gestationsalter“) unterschieden:
späte Frühgeborene (Geburt zwischen der 32. und 36. SSW),
sehr unreif geborene Kinder (Geburt zwischen der 28. und 31. SSW) und
extrem unreif geborene Kinder (Geburt vor der 28. SSW).
Diese Kinder haben in der Regel ein Geburtsgewicht unter 1.000 g. Bezogen auf die Gesamtzahl der frühgeborenen Kinder machen sehr unreif geborene Kinder etwa 10 %, extrem unreif geborene Kinder zusätzlich etwa 6 % aus. Das sind etwa 6.000 bzw. 4.000 Kinder jedes Geburtsjahrgangs (Netzwerk Neonatologie1).
Europaweit handelt es sich um mehr als 600.000 Kinder, die jedes Jahr zu früh zur Welt kommen. In den letzten 20 Jahren hat die Frühgeborenenrate in vielen Ländern zugenommen. In Deutschland stieg sie im Zeitraum von 1990 bis 2010 von 7,6 % auf 9,2 % und der Anteil der sehr unreif geborenen Kinder von 0,7 % auf 1,3 % (Zimmer, 2012). Dies gilt allerdings nicht für alle Länder. So ist sie z. B. in Schweden im gleichen Zeitraum weitgehend stabil bei 6,2 % (bzw. 0,5 %) geblieben. Das deutet darauf hin, dass die Häufigkeit zu früher Geburt auch mit Bedingungen im sozialen und gesundheitlichen Versorgungssystem eines Landes zusammenhängt.
Es ist beeindruckend, wie viele dieser Kinder den schwierigen Start meistern und welche individuellen und sozialen Bewältigungskräfte ihre Eltern mobilisieren, um mit den besonderen Herausforderungen der Frühgeburt und der Zeit danach fertigzuwerden. Nicht alle brauchen fachliche Unterstützung auf ihrem Weg. Viele Eltern, die sich in Selbsthilfegruppen unter dem Dach des Bundesverbandes „Das frühgeborene Kind e. V.“ zusammengeschlossen haben, berichten jedoch, dass sie sich mit ihren z. T. langanhaltenden Sorgen und Belastungen während und nach der stationären Betreuung ihres Kindes von den Fachleuten nicht ausreichend un|5|terstützt fühlen. In einer Umfrage bei mehr als 200 Eltern, die der Bundesverband im Jahre 2013 durchführte, gaben z. B. nicht wenige Eltern an, dass sie nur eingeschränkten Zugang zu ihrem Baby auf der Station hatten, keine Unterstützung beim Stillen erhalten hätten und die Mitteilungen von Ärzten und Schwestern auf der Station wenig einfühlsam gewesen seien. Ein Viertel der befragten Eltern vermisste explizit eine psychologische Betreuung auf der Station (Bundesverband „Das frühgeborene Kind”, 2016).
Der Bundesverband „Das frühgeborene Kind“ e. V. tritt vor diesem Hintergrund seit Jahren für eine familienorientierte psychosoziale Betreuung auf der Station und in der Nachsorge ein. Sie umfasst eine entwicklungsfördernde Pflege und Betreuung im Krankenhaus, eine begleitende psychologische und psychosoziale Betreuung der Eltern und für alle Frühgeborene und ihre Eltern einen Zugang zur ambulanten Nachbetreuung (Bundesverband „Das frühgeborene Kind”, 2016).
Ein familienorientiertes, psychosoziales Beratungskonzept muss individuell auf die spezifischen Entwicklungsbelastungen des Babys, die Bedürfnisse seiner Eltern und die familiäre Situation abgestimmt werden, um von ihnen angenommen zu werden. Das setzt Verständnis voraus für die Besonderheiten der kindlichen Entwicklung in dieser frühen Phase und die Belastungsreaktionen der Eltern auf dieses kritische Lebensereignis, das ihre Bewältigungskräfte in ihrem persönlichen, biografisch geprägten Zusammenhang herausfordert. Es gilt, die individuellen Ressourcen von Kind und Eltern für die Bewältigung dieses „Starts unter erschwerten Bedingungen“ wahrzunehmen, ausgeglichene, förderliche Eltern-Kind-Beziehungen zu stärken und das Zutrauen der Eltern in ihre Fähigkeiten, die schwierige Situation zu meistern, zu fördern. Die Form der Betreuung muss flexibel sein und die Lebenssituation, aber auch die Autonomie der Eltern in der Entscheidung respektieren, welchen Weg sie wählen und ob sie überhaupt fachliche Unterstützung zum jeweiligen Zeitpunkt annehmen wollen. Sie muss im stationären Rahmen beginnen und sollte dezentrale und mobile Formen der Nachbetreuung umfassen, um auch Familien in besonders schwierigen Lebenssituationen erreichen zu können.
Die viel zu frühe Geburt stellt nicht nur eine Herausforderung an die Bewältigungskräfte von Kind und Familie dar, sondern auch eine Herausforderung an die Kooperationsfähigkeit der verschiedenen Fachleute. Neonatologen, Kinderärzte, Fachärzte, Schwestern im Pflegedienst, Psychologen bzw. Psychologinnen, Krankengymnastinnen bzw. Krankengymnasten, evtl. Ergotherapeuten und -therapeutinnen, Logopäden bzw. Logopädinnen und Frühpädagogen und -pädagoginnen2 müssen sich auf eine gemeinsame Philosophie der Betreuung frühgeborener Kin|6|der verständigen und bereit sein, im eigenen Fach und miteinander zu lernen, um ihr Behandlungskonzept konstruktiv weiterzuentwickeln. Dem Psychologen kommt dabei eine wichtige Rolle zu. Er kann die Eltern ab der stationären Betreuung begleiten, bis sie ihrer eigenen Kompetenz zur Erziehung und Förderung ihres Kindes (wieder) vertrauen. Auf eine solche interdisziplinäre Zusammenarbeit sind die Fachleute nicht immer vorbereitet. Zudem stehen ihr institutionelle Grenzen zwischen stationärer und ambulanter Betreuung, organisatorische und berufspolitische Hindernisse entgegen.
Die Verbesserung der psychosozialen und familienorientierten Betreuung sehr unreif geborener Kinder setzt eine gesellschaftliche Bereitschaft zur Solidarität mit denen voraus, die sich nicht nach der Norm entwickeln, und erfordert eine gesundheitspolitische Entscheidung für präventive Konzepte zur Vermeidung dauerhafter Entwicklungs- und Beziehungsstörungen. Wenn die technischen Fortschritte der Medizin dazu genutzt werden, um immer kleinere und jüngere Babys durchzubringen, müssen auch Betreuungskonzepte finanziert werden, die die Qualität des Lebens für Kind und Familie verbessern.
In diesem Sinne wurden am 28. 11. 2018 europäische „Standards für die Versorgung von Frühgeborenen und kranken Neugeborenen“ im Europäischen Parlament der Öffentlichkeit präsentiert und in einem Editorial des Fachmagazins „The Lancet Child & Adolescent Health“ publiziert. Diese Standards wurden von etwa 220 internationalen medizinischen Experten und Patientenvertretern erarbeitet und werden von mehr als 150 medizinischen Fachgesellschaften und Elternorganisationen in 31 Ländern unterstützt. Die Standards beschreiben Qualitätsmerkmale der perinatalen Versorgung frühgeborener Kinder, der Unterstützung beim Übergang nach Hause sowie der weiteren Betreuung von Kind und Eltern.
Es soll nun ein solches psychosoziales, familienorientiertes Betreuungskonzept vorgestellt werden, in das die empirischen Forschungsergebnisse eingehen, die zum Entwicklungsverlauf frühgeborener Kinder, der Belastung ihrer Eltern und zur Unterstützung einer harmonischen, auf die Bedürfnisse des Kindes abgestimmten Eltern-Kind-Interaktion vorliegen. Darüber hinaus beruht das Konzept auf den Erfahrungen des Autors in der Nachbetreuung ehemals frühgeborener Kinder und ihrer Eltern in einem Sozialpädiatrischen Zentrum sowie der konsiliarischen Erstberatung in einem Perinatalzentrum. Mitteilungen aus einer Befragung von 50 Eltern zu ihren Erfahrungen während der stationären Betreuung ihrer Kinder und in der Zeit danach wurden jeweils eingefügt, um die Elternsicht zu dokumentieren.
Der Schwerpunkt der Darstellung liegt auf den Möglichkeiten von psychologischer Beratung als Bewältigungshilfe. Sie richtet sich an alle Fachkräfte, die in diesem Bereich tätig sind. Dabei wird auf die Beschreibung und Bewertung einzelner medizinischer Behandlungsverfahren und Konzepte der Krankengymnastik, Mund- und Esstherapie, Sensorischen Integrationstherapie und Frühförderung verzich|7|tet. Das soll nicht ihre Bedeutung schmälern oder dem Psychologen einen Vorrang im Behandlungsteam zumessen. In der Praxis gilt es, die fachspezifischen Ansätze zu einem gemeinsamen Konzept früher Hilfen zu integrieren.
Vgl. www.netzwerk-neonatologie.de
Im weiteren Verlauf des Textes wird zur besseren Lesbarkeit auf die getrennte Nennung der weiblichen und männlichen Form verzichtet, wenn die einzelnen Berufsgruppen angesprochen werden. Es sind jeweils beide Geschlechter gemeint.
Es kann aus sehr unterschiedlichen Gründen zu einer Frühgeburt kommen. Zu den Risikofaktoren gehören bakterielle Infektionen von Mutter und Kind, eine Mehrlingsschwangerschaft, eine chronische Erkrankung der Mutter und Nikotin- oder Drogenkonsum während der Schwangerschaft. Aber auch genetische Faktoren, eine Frühgeburt in einer früheren Schwangerschaft oder sozial belastete Lebensumstände erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einer Frühgeburt kommt.
Die Unreife des Neugeborenen, die mit der zu frühen Geburt und dem sehr niedrigen Geburtsgewicht einhergeht, stellt ein erhebliches Risiko für die körperliche und psychosoziale Entwicklung der Kinder dar. In Deutschland – wie auch in anderen Ländern – wurden an vielen Orten geburtshilfliche und neonatologische Abteilungen zu sogenannten Perinatalzentren zusammengelegt und Qualitätsstandard für ihre Einrichtung festgelegt. Wenn eine Frühgeburt unter 32 Schwangerschaftswochen oder ein Geburtsgewicht unter 1.500 g vorhersehbar sind, sollte die Geburt nach den Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses3 in einem solchen Perinatalzentrum stattfinden.
Es gibt Perinatalzentren Level 1 und Level 2. Die beiden Levels unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Spezialisierung, ihrer Ausstattung und des Personals. Seit 2015 werden ihre Behandlungsergebnisse im Auftrag des Gemeinsamen Bundesausschusses vom Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen nach einheitlichen Kriterien bewertet und veröffentlicht.4 Durch eine personell und technisch hochspezialisierte Versorgung soll an diesen Zentren eine optimale Betreuung kritischer Neugeborener gewährleistet werden. Deutschlandweit gibt es mehr als 210 solcher Perinatalzentren.
|10|Mit der Einführung von Perinatalzentren und der Verbesserung von intensiv-medizinischen Behandlungsmethoden konnte die Sterblichkeit von sehr und extrem unreif geborenen Kindern wesentlich reduziert werden. Wilson-Costello et al. (2005) verglichen die Entwicklungsdaten von etwa 1.500 Kindern, die vor und nach der Einführung der Surfactant-Behandlung – ein wesentlicher Fortschritt in der Prävention von Atemnot-Syndromen – in den 1990er Jahren zur Welt kamen. Die Überlebensrate stieg von 49 % auf 67 %. Im gleichen Zeitraum nahm jedoch die Häufigkeit von Sepsis (von 37 bis 51 %), einer Periventrikulären Leukomalazie (PVL) (von 2 % auf 7 %) und einer Bronchopulmonalen Dysplasie (BPD) (von 32 % auf 43 %) zu. Die Zahl der Kinder mit neurologischen Störungen einschließlich Cerebralparese stieg von 16 % auf 25 %, die Zahl von Kindern mit kognitiven Beeinträchtigungen im Alter von zwei Jahren von 26 % auf 36 %. Diese Ergebnisse sprechen dafür, dass die verbesserte Versorgung zwar zu einer Reduzierung der Sterblichkeit führte, jedoch mit einem höheren Anteil von Kindern einherging, die mit nachfolgenden Schädigungen überlebten.
Eine Studie, bei denen die Daten der Schweizer Gesellschaft für Neonatologie ausgewertet wurden, liefert Informationen über die Entwicklung der Überlebensrate und der Zahl von akuten medizinischen Komplikationen in neuerer Zeit. Danach blieb die Sterblichkeitsrate von sehr unreif und extrem unreif geborenen Kindern zwischen 1996 und 2008 konstant bei etwa 13 %. Die Sterberate war am höchsten bei Kindern, die vor der 26. SSW zur Welt gekommen waren, hatte aber in dieser Gruppe im Laufe dieser Zeit deutlich abgenommen. Sie lag noch 2008 allerdings bei 46,6 %, unter den Kindern mit einer Schwangerschaftsdauer von 26 bis 27 Wochen bei 18,4 % (Rüegger et al., 2012).
Die häufigsten akuten medizinischen Komplikationen sind ein Atemnotsyndrom (respiratory distress syndrome, RDS), Bronchopulmonale Dysplasie (BPD), Hirnblutungen sowie Periventrikuläre Leukomalazie (PVL). Auch darüber gibt die Studie von Rüegger et al. (2012) bei 3.090 sehr unreif geborenen Kindern, die zwischen 1996 und 2008 in der Schweiz zur Welt kamen, beispielhaft Auskunft. Abbildung 1 zeigt exemplarisch die Häufigkeit medizinischer Komplikationen in Bezug auf 702 Kinder im Geburtsjahrgang 1996 und 803 Kinder im Geburtsjahrgang 2008.
Die unreife Lungenfunktion stellt ein hohes Risiko für eine Sauerstoff-Mangelversorgung (Hypoxie/Asphyxie) dar. Seitdem ein (bei sehr unreifen Kindern noch nicht hinreichend gebildeter) Stoff zur Verminderung des Lungendrucks (Surfactant) über eine Sonde ergänzt werden kann bzw. bereits eine vorgeburtliche Steroidprophylaxe möglich geworden ist, kann das Überleben vieler hochbedrohter Kinder dennoch gesichert und Atemnot-Syndromen vorgebeugt werden. Auch die Notwendigkeit einer Beatmung konnte seit den 1980er Jahren des vergangenen Jahrhunderts dadurch deutlich reduziert werden. In der Studie von Rüegger et al. (2012) lag sie im Jahre 2008 bei 14,7 %.
|11|Angesichts der Unreife der Lungenfunktion besteht allerdings auch bei maschineller Beatmung ein erhöhtes Risiko, dass wiederkehrende Dyspnoen und Apnoen (Atempausen von einer Dauer über 15 Sekunden mit dem Risiko einer Hypoxie) oder ein Pneumothorax (das Reißen der Lungenbläschen mit der Folge eines akuten Blutdruckabfalls und Sauerstoffmangels) auftreten können, die bei längerer Dauer der Unterversorgung des Gehirns mit einem erhöhten Risiko für Hirnschädigungen einhergehen. Bei längerer Beatmungsnotwendigkeit droht zudem eine Bronchopulmonale Dysplasie. Sie ist definiert als eine chronische Atemwegerkrankung (Versteifung der Lungen) von Frühgeborenen, die über sieben Tage maschinell beatmet wurden und über den 28. Lebenstag hinaus einen erhöhten Sauerstoffbedarf aufweisen. Zusätzlich gehören typische röntgenologische Zeichen wie unterschiedlich belüftete Lungenareale zur Diagnose der BPD.
Abbildung 1: Akute Komplikationen bei sehr unreif geborenen Kindern in den Jahren 1996 und 2008 (Rüegger et al., 2012; NEC = Nekrotisierende Enterocolitis, PVL = Periventrikuläre Leukomalazie, BPD = Bronchopulmonale Dysplasie)
Durch die Fragilität der Blutgefäße im Gehirn kann es auch zu einer Hirnblutung kommen. Ihr Schweregrad wird in die Grade I° bis IV° unterteilt. Bei einer leichten Hirnblutung wird das ausgetretene Blut in der Regel von selbst resorbiert, ohne dass Folgeschäden entstehen. Bei einer Hirnblutung Grad III° oder IV° gelangt Blut in das Ventrikelsystem und schädigt die weiße Hirnsubstanz (Periventrikuläre Leukomalazie, PVL). Je nach Ausmaß der Hirnblutung und der daraus entstandenen Läsion sowie der Schwere weiterer Komplikationen kann es in der Folge zu neurologischen Störungen, vor allem einer Cerebralparese kommen.
Gleichfalls erhöht ist das Risiko für einen Hydrocephalus, eine Vergrößerung des Kopfes durch zunehmende Ansammlung von Hirnwasser (Liquor) im Schädelinneren. Der ständig neu gebildete Liquor kann als Folge der Hirnblutung nicht mehr abfließen, staut sich in den Ventrikeln an und dehnt dabei die noch nicht zusammengewachsenen Schädelknochen aus. Eine rechtzeitige Operation (Ventrikel|12|drainage) kann Folgeschäden durch ein Zusammenpressen der Hirnmasse bei sich stark vermehrender Liquormenge vermeiden. Eine Folgeerscheinung von Hirnblutungen können überdies Krampfanfälle sein.
Frühgeborene Kinder sind darüber hinaus von akuten Erkrankungen im Magen-Darm-Trakt bedroht. Relativ häufig kommt es zu einer Nekrotisierenden Enterocolitis (NEC), einer hämorrhagisch-dekrotisierenden und ulzerierenden Entzündung des Darms. Der Krankheitsbeginn liegt meist zwischen dem 5. und 10. Lebenstag. Bei schwerer Beeinträchtigung der Vitalfunktionen des Babys ist eine medikamentöse Behandlung bzw. ein operativer Eingriff (Resektion des betroffenen Darmabschnitts, zeitweise Anlage eines Anus praeter) erforderlich.
Hirnblutungen (III° und IV°) und die Periventrikuläre Leukomalazie sind schon in den ersten Lebenstagen oder -wochen erfassbare Zeichen für ein deutlich erhöhtes Risiko für die Ausbildung einer cerebralen Bewegungsstörung. Vohr (2010) gab in einer Übersicht eine Rate von 8 bis 15 % bei sehr unreif geborenen Kindern und 15 bis 23 % bei extrem unreif geborenen Kindern an. In den meisten Fällen handelte es sich um eine spastische Parese, bei etwa der Hälfte betraf sie alle vier Extremitäten. Die Rate einer Periventrikulären Leukomalazie wird mit 2 % angegeben. In der französischen EPIPAGE-Studie, bei der mehr als 1.800 sehr unreif geborene Kinder in neun französischen Regionen nachuntersucht wurden, die im Jahre 1997 zur Welt gekommen waren, berichteten Larroque et al. (2008), dass 9 % eine Cerebralparese ausgebildet hatten.
Einige Daten sprechen dafür, dass die Raten für die infantile Cerebralparese in den letzten Jahren insgesamt abgenommen haben (Wilson-Costello et al., 2007). In einer Metaanalyse, die sich ausschließlich auf sehr und extrem unreife Kinder bezog, die nach 2006 zur Welt kamen, ermittelten Pascal et al. (2018) in 25 Studien eine Prävalenz von 6,8 % Cerebralparesen – allerdings mit erheblicher Heterogenität der Studienergebnisse.
Die Häufigkeit variiert mit dem Grad der Unreife der Kinder und ist bei extrem unreif geborenen Kindern immer noch hoch. Mehrere Studien, die sich speziell auf diese Teilgruppe beziehen, belegen dies. Marlow et al. (2005) stellten in der EPICure-Studie bei der Nachuntersuchung von 241 extrem frühgeborenen Kindern (Gestationsalter < 26 Wochen) im Alter von sechs Jahren bei 20 % eine Cerebralparese fest. In der EPIPAGE-Studie lag sie bei dieser Teilgruppe bei 15,9 % (Larroque et al., 2008). In einer Nachuntersuchung von 351 extrem frühgeborenen Kindern in Finnland stellten die Autoren im Alter von fünf Jahren bei 14 % eine Cerebralparese fest; unter den Kindern mit einem Gestationsalter < 27 Wochen lag die Rate bei 19 % (Mikkola et al., 2005).
|13|Weiterhin besteht ein erhöhtes Risiko für die Sehfähigkeit des Babys durch eine Netzhautablösung (Retinopathie, ROP) mit der Gefahr einer Erblindung. Auch in dieser Hinsicht haben Verbesserungen in der intensiv-medizinischen Versorgung – eine bessere Regulation des Gefäßwachstums durch medikamentöse Behandlung sowie eine verbesserte Dosierung der Sauerstoffzufuhr – zu einer deutlichen Reduzierung der Risiken geführt. Bei frühzeitiger Diagnose kann zudem durch eine Laser- oder Kryotherapie einer dauerhaften Sehschädigung in vielen Fällen vorgebeugt werden. Eine behandlungsbedürftige Retinopathie gehört jedoch noch immer zum Spektrum der akuten Risiken bei einer sehr unreifen Geburt. Ihre Häufigkeit wird mit 1 bis 3 % angegeben.
Das Risiko variiert auch hier mit dem Grad der Unreife. Hack et al. (1994) ermittelten eine Häufigkeit von 17 % Sehschädigungen bei Kindern mit einem Geburtsgewicht unter 750 g (6 % blind) und 3 % bei Kindern mit einem Geburtsgewicht von 750 bis 1.500 g. Die EPICure-Studie stellte eine Erblindung bei 2 % der Kinder fest (Marlow et al., 2005). In der finnischen Studie wurde bei 30 % eine Einschränkung der Sehfähigkeit ermittelt, 2,6 % der Kinder waren ein- oder beidseitig blind (Mikkola et al., 2005).
Auch das Risiko von Hörstörungen ist – in Abhängigkeit vom Grad der Unreife – gegenüber reifgeborenen Kindern deutlich erhöht. Zu den Einflussfaktoren gehören Schädigungen des Innenohrs, bakterielle Hirnhautentzündungen, Sauerstoffunterversorgung oder Medikamente mit toxischer Wirkung auf das Innenohr. Hack et al. (1994) berichteten eine Häufigkeit von 22 % Hörschädigungen bei Kindern mit einem Geburtsgewicht unter 750 g (darunter 1,5 % hochgradig), und 3 % bei Kindern mit einem Geburtsgewicht von 750 bis 1.500 g. In der EPICure-Studie war bei 6 % eine Versorgung mit Hörgeräten notwendig, in der finnischen Studie traf das bei 4 % der Kinder zu (Marlow et al., 2005; Mikkola et al., 2005).
Neben diesen dauerhaften Bewegungsstörungen und Sinnesschäden ist die körperliche Entwicklung vieler Kinder auch durch wiederkehrende Infektionen (z. B. Otitis media), häufigere Lungenentzündungen oder Gedeihstörungen belastet, die eine medizinische Behandlung und u.U. eine Rehospitalisierung erforderlich machen. Die Erkrankungsanfälligkeit ist besonders hoch bei Kindern mit einer Bronchopulmonalen Dysplasie (BPD).
Die akuten medizinischen Risiken bei sehr unreif geborenen Kindern legen es nahe, dass viele dieser Kinder in der Nachsorge auf spezifische Unterstützungsmaßnahmen angewiesen sind. Dies bestätigte sich in einer populationsbasierten internationalen Studie („Effective Perinatal Intensive Care in Europe“, EPICE). Es wurden die perinatalen Daten von 4.322 sehr unreif geborenen Kindern (Ge|14|stationsalter < 32 Wochen, durchschnittliches Geburtsgewicht 1.230 g) in elf europäischen Ländern ausgewertet und die Eltern im Alter von zwei Jahren befragt, mit welchen Berufsgruppen sie in der Nachsorge zusammengearbeitet haben (Seppanen et al., 2018).
12,6 % der Kinder wiesen eine Bronchopulmonale Dysplasie auf. Bei 6,1 % lag eine Hirnblutung Grad III° oder IV° vor, bei 3,8 % eine Retinopathie und bei 1,6 % eine Nekrotisierende Enterocolitis, die eine Operation erforderlich machte. Der Anteil der Eltern, die spezifische Unterstützungsmaßnahmen in Anspruch genommen hatten, variierte in den elf Ländern beträchtlich. Von den 435 Eltern, die sich aus Deutschland an der Erhebung beteiligten, gaben 78,5 % an, dass sie ihr Kind neben der kontinuierlichen Betreuung durch den Kinderarzt bei einem Augenarzt vorgestellt hatten. 63,8 % gaben die Zusammenarbeit mit einem Physiotherapeuten, 10 % mit einem Entwicklungspsychologen an.
In der Epipage-Studie, bei der mehr als 1.500 sehr unreif geborene Kinder in neun französischen Regionen im Alter von fünf Jahren nachuntersucht wurden, arbeiteten zu diesem Zeitpunkt noch 7 % mit einem Physio- oder Ergotherapeuten, 12 % mit einem Logopäden und 10 % mit einem Entwicklungspsychologen zusammen (Larroque et al., 2008).
Die Raten langfristiger kognitiver, sprachlicher und sozial-emotionaler Entwicklungsstörungen variieren gleichfalls in Abhängigkeit von der Unreife des Babys bei der Geburt, aber auch in Abhängigkeit vom Auftreten von Komplikationen mit Auswirkungen auf die Hirnreifung und von der Entwicklungsumgebung, in der die Kinder aufwachsen. Die Gruppe der sehr unreif geborenen Kinder zeigt auch in dieser Hinsicht ein vielfach höheres Risiko als „späte Frühgeborene“ oder reifgeborene Kinder (vgl. Abbildung 2).
In verschiedenen Ländern wurden prospektive Entwicklungsstudien durchgeführt, um die Fragen nach der Häufigkeit und Schwere einzelner Entwicklungsstörungen, ihrer Frühzeichen und dem Einfluss der biologischen und sozialen Faktoren bei ihrer Entstehung zu beantworten. Diese Studien zeichneten sich durch methodische Qualität und große Stichproben aus. Allerdings wurden sie häufig mit Kindern durchgeführt, die in den 80er oder 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts geboren wurden.
Eine jener Entwicklungsstudien untersuchte alle sehr unreif geborenen Kinder, die 1985/86 in Südbayern zur Welt kamen. Diese Studie umfasste 264 sehr unreif geborene Kinder und eine Kontrollgruppe, deren Entwicklung zunächst bis ins Schulalter (Wolke & Meyer, 1999) verfolgt wurde. Viele dieser Kinder wurden auch |15|im frühen Erwachsenenalter nachuntersucht. Unter den sehr unreif geborenen Kindern wurde z. B. im Alter von sechs bis acht Jahren bei 26 % eine intellektuelle Behinderung (IQ < 70) diagnostiziert. Leichte Störungen der motorischen Koordination, Teilleistungsschwächen, z. B. im Bereich der visuomotorischen Koordination oder des Kurzzeitgedächtnisses, sowie umschriebene Schulleistungsdefizite (Lesen, Schreiben, Rechnen) fanden sich bei weiteren 30 % der Kinder. Ein Drittel aller sehr unreif geborenen Kinder entwickelten sich dagegen in den Nachuntersuchungen völlig altersgemäß. Zu sehr ähnlichen Ergebnissen kam eine ebenfalls longitudinal angelegte Studie in den Niederlanden, die von Hille et al. (1994) publiziert wurde.
Abbildung 2: Auswirkungen einer unreifen Geburt auf verschiedene Entwicklungsbereiche
Auch wenn solche Studien wichtige Ergebnisse liefern, wie sich diese Kinder im Schul-, Jugend- und Erwachsenenalter entwickelt haben, können sie angesichts der beträchtlichen Veränderungen in der intensiv-medizinischen Versorgung nicht auf die Entwicklungsprognose von Kindern angewendet werden, die heutzutage zur Welt kommen. Um ein aktuelles Bild von der Entwicklungsprognose zu erhalten, sollen im weiteren Verlauf deshalb die Ergebnisse von neueren Studien und Metaanalysen zusammengefasst werden.
Studien, die sich auf spätere Geburtsjahrgänge beziehen, in denen die intensiv-medizinische Versorgung weiter entwickelt war, geben für eine intellektuelle Behinderung niedrigere Häufigkeitszahlen an. Anderson und Doyle (2003) berichteten über eine Nachuntersuchung an 298 sehr und extrem unreif geborenen Kindern bis zum Alter von acht Jahren, die in Australien in den Jahren 1991 bis 1992 zur Welt kamen. Der mittlere IQ lag um 9,4 Punkte unter dem mittleren IQ einer Kontrollgruppe reifgeborener Kinder. 17 % wiesen eine leichte kognitive Beeinträchtigung (IQ 70 bis 84), 5 % eine intellektuelle (geistige) Behinderung (IQ < 70) auf. Besonders gefährdet waren Kinder mit einem Geburtsgewicht zwischen 500 und 750 g.