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Das Rett-Syndrom ist eine schwere neurologische Entwicklungsstörung bei Mädchen, die nach zunächst weitgehend unauffälliger Entwicklung innerhalb der ersten beiden Lebensjahre eintritt. Im weiteren Verlauf des Lebens beeinträchtigt es u.a. die Kommunikation und Bewegungsabläufe der Mädchen. Häufige Kennzeichen sind ein (zumindest) partieller Verlust von bereits erlernten sprachlichen, fein- und grobmotorischen Fähigkeiten sowie exzessive stereotype Handbewegungen. Das Buch beschreibt kognitive, kommunikative und adaptive Kompetenzen der Betroffenen. Neben der diagnostischen Praxis werden Konzepte der Behandlung durch Physio-, Ergo-, Sprach- und Musiktherapie in ihrer Wirksamkeit bewertet. Prinzipien der pädagogischen Förderung der Kommunikation und sozialen Teilhabe in der Schule werden ausführlich vorgestellt. Das letzte Kapitel erörtert die Unterstützung von Eltern bei der Bewältigung der Herausforderungen im Alltag.
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Seitenzahl: 218
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Cover
Titelei
Vorwort
1 Diagnose: Rett-Syndrom
Diagnosekriterien und Verlaufsstadien
Prävalenz
Genetische Ursache
Atypische Formen des Rett-Syndroms
Entwicklungsverlauf in den ersten Lebensmonaten
Rett-Syndrom und Autismus-Spektrum-Störung
Auswirkungen auf die Beteiligung an Alltags- und Lernaktivitäten
2 Individuelle Variabilität im Entwicklungsverlauf
Variabilität des Entwicklungsverlaufs
Probleme bei der Nahrungsaufnahme
Störungen der Atemregulation
Schmerzwahrnehmung
Schlafstörungen
Variabilität des Verhaltensphänotyps
Handstereotypien
Ängstliches Verhalten, Stimmungsschwankungen und selbstverletzendes Verhalten
Bewertung der Symptome aus Sicht der Eltern
3 Kognitive, kommunikative und adaptive Kompetenzen
Herausforderungen bei der Beurteilung kognitiver Fähigkeiten
Beurteilung der Aufmerksamkeit mittels Eye-Tracking-Technologie
Beurteilung des Sprachverstehens mittels Eye-Tracking-Technologie
Kommunikative Fähigkeiten
Eigene Untersuchung zur Form und Funktion vorsprachlicher Kommunikation
Gebrauch von Kommunikationstafeln und elektronischen Kommunikationsgeräten
Adaptive Kompetenzen
4 Behandlungsansätze und ihre Wirksamkeit
Förderung grobmotorischer Fähigkeiten durch Physiotherapie
Förderung grobmotorischer Fähigkeiten durch Hydro- oder Reittherapie
Reduzierung von Handstereotypien durch Hand- oder Ellbogenschienen
Förderung des Handgebrauchs
Förderung sozialer Teilhabe in der Musiktherapie
Selbständiges Essen, Schlafen und Toilettentraining
Behandlung der Symptome mit Medikamenten und gentherapeutische Ansätze
Förderung der Kommunikationsfähigkeiten
Nutzung von Mitteln der Unterstützten Kommunikation
5 Diagnostische Praxis
Einschätzung des Schweregrads der Symptome
Einschätzung der grobmotorischen Kompetenzen
Einschätzung der adaptiven Kompetenzen
Einschätzung der kognitiven und sprachlichen Verarbeitungsfähigkeiten
Untersuchung von Fähigkeiten mittels Eye-Tracking-Gerät
Fragebögen und Beobachtungen zur Einschätzung kommunikativer Fähigkeiten
6 Förderung alternativer Kommunikationsformen
Leitlinien zur Förderung kommunikativer Fähigkeiten
Grundlegende Prinzipien
Professionelle Kompetenz
Gestaltung der Umgebung
Auswahl von Symbolsystemen und Steuerungsmöglichkeiten
Aufbau eines Kommunikationssystems
Auswahl eines komplexeren elektronischen Kommunikationsgeräts
Auswahl des Vokabulars
Anleitung von Bezugspersonen
7 Pädagogische Förderung in der Schule
Kooperation bei der pädagogischen Förderung
Zufriedenheit der Eltern mit der pädagogischen Förderung
Rahmenbedingungen der Förderung in der Schule
Soziale Teilhabe in der Klasse
Auswahl der Bildungsinhalte und Anpassungen im pädagogischen Vorgehen
Förderung des Schriftspracherwerbs
8 Bewältigung der Herausforderungen in der Familie
Einschätzung der Belastung von Eltern
Erfahrungen in der deutschen Eltern- Selbsthilfegruppe
Psychologische Begleitung der Familien
Literatur
Der Autor
Prof. i. R. Dr. Klaus Sarimski war Psychologe am Kinderzentrum München und Professor für sonderpädagogische Frühförderung an der Pädagogischen Hochschule in Heidelberg.
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1. Auflage 2024
Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:ISBN 978-3-17-045171-1
E-Book-Formate:pdf:ISBN 978-3-17-045172-8epub:ISBN 978-3-17-045173-5
Im Jahr 1983 war ich im Kinderzentrum München, einem Sozialpädiatrischen Zentrum mit stationärer Abteilung, als Stationspsychologe beschäftigt. Zusammen mit meinem ärztlichen Kollegen nahmen wir ein Mädchen namens Tatjana auf. Die Eltern berichteten in der Anamnese einen dramatischen Verlauf der Entwicklung ihrer Tochter. Diese habe in den ersten beiden Lebensjahren ganz unauffällig gewirkt. Dann habe sie plötzlich die Worte, die sie schon sprechen konnte, nicht mehr produzieren, ihre Hände nicht mehr gezielt zum Spielen, Essen oder anderen Alltagstätigkeiten einsetzen können. Sie habe unvermittelt zu schreien begonnen und sei auch nachts sehr unruhig gewesen, sei oft aufgewacht, habe geschrien, manchmal auch unmotiviert gelacht.
Statt zu spielen, habe sie stereotype Bewegungen mit den Händen entwickelt, sie in der Körpermitte zusammengeführt, geklatscht, eine Hand zum Mund geführt, dann dieses Bewegungsmuster fast ununterbrochen wiederholt. Sie habe diese Bewegungen auf Ermahnungen oder Ansprache nicht steuern können, obwohl sie am sozialen Kontakt interessiert schien und häufig Blickkontakt zu den Eltern gesucht habe. Diese Stereotypien beherrschten sie nach Auskunft der Eltern bis zu dem Tag, als wir sie mit etwas über drei Jahren in die Klinik aufnahmen. Schreien und nächtliche Unruhe hätten mittlerweile nachgelassen, Sprechen und ein gezielter Handgebrauch seien ihr aber weiterhin nicht möglich.
Dieses Entwicklungs- und Verhaltensmuster Tatjanas war für mich und meinen ärztlichen Kollegen rätselhaft. Es wurden neurologische Untersuchungen durchgeführt, mit der die damals bekannten degenerativen Erkrankungen ausgeschlossen werden konnten, die mit einem Verlust bereits erworbener Fähigkeiten aufgrund hirnorganischer Abbauprozesse einhergehen – ohne ein klärendes Ergebnis. Als verhaltenstherapeutisch geschulter Psychologe versuchte ich, Bedingungen zu identifizieren, unter denen die Handstereotypien variierten. Die funktionale Verhaltensanalyse zeigte keine Zusammenhänge mit bestimmten Aktivitäten im Alltag oder der Anwesenheit von unterschiedlichen Bezugspersonen. Sie traten auf, wenn das Mädchen allein im Raum war, wenn man ihr Spielangebote auf einem Tisch vorbereitete, wenn man ihr kleine Aufgaben stellte, wenn man gar nicht auf die Stereotypien einging oder wenn man sie nachdrücklich ermahnte, die Hände still zu halten. Wenn man ihre Hände für kurze Zeit festhielt und dann wieder losließ, intensivierten sich die Stereotypien. Es wirkte, als ob sie diese aus innerem Drang »nachholen« müsse.
Über mehrere Wochen versuchten wir, die exzessiven Handstereotypien mit intensiven verhaltenstherapeutischen Programmen zu modifizieren. Die Lehrbücher empfahlen dazu eine Kombination aus differenzieller Verstärkung kleiner Ansätze zu gezielten Handbewegungen (z. B. Berühren von Spielzeug) mit einer Unterbrechung der Stereotypien (z. B. durch Festhalten einer Hand). Mehrmals täglich durchgeführte, ausgedehnte Übungen brachten keinen Erfolg. Die Verhaltensprotokolle, die angefertigt wurden, zeigten allenfalls eine Reduzierung der Häufigkeit der Stereotypien während der Übungen und dann eine Zunahme ihrer Häufigkeit in der Zeit unmittelbar nach dem Ende der Übungssitzung.
Wir blieben ratlos und konnten Tatjana nicht helfen. Ihre Eltern fühlten sich mit der Situation völlig überfordert und entschieden sich für eine Anmeldung in einer Heimeinrichtung. Wir begleiteten sie bei dieser Entscheidung und dem Übergang Tatjanas an diesen neuen Wohnort. Auf dem Entlassungsbericht stand »Diagnose unbekannt«.
Dass keine Diagnose gestellt werden konnte, war nicht mangelndem Bemühen unseres Teams um eine Klärung der Ursache geschuldet. Mein ärztlicher Kollege war ein junger, sehr engagierter Arzt, der später eine Ausbildung zum Kinder- und Jugendpsychiater abschloss, viele Jahre eine entsprechende Klinik leitete und für einige Zeit zum Vorsitzenden der Fachgesellschaft der Kinder- und Jugendpsychiater gewählt wurde. Die Diagnose war damals unter Ärzt:innen schlicht nicht bekannt: das Rett-Syndrom.
Professor Andreas Rett, ein Wiener Neuropädiater, hatte im Jahr 1966 einen Fallbericht veröffentlicht, in dem er mehrere Mädchen mit einem Entwicklungsverlauf, wie die Eltern ihn von Tatjana berichteten, und ähnlichen Verhaltensmerkmalen beschrieb. Es handelte sich um eine kleine Publikation in einem österreichischen Verlag, die wenig beachtet wurde. Die Fachöffentlichkeit wurde auf diese Entwicklungsstörung erst aufmerksam, als Professor Bengt Hagberg in Schweden im Jahr 1983 mit Bezug auf die Erstbeschreibung durch Andreas Rett weitere 35 Fälle in einer internationalen Fachzeitschrift beschrieb. Als wir einige Zeit später diesen Fachartikel lasen, war uns klar: Tatjana war ein Mädchen mit Rett-Syndrom.
In den folgenden Jahren meiner Tätigkeit als klinischer Psychologe im Kinderzentrum München habe ich etwa zehn Mädchen mit Rett-Syndrom kennengelernt und ihre Familien ein Stück weit auf ihrem Weg begleitet. Auch als Professor an der Pädagogischen Hochschule in Heidelberg (2007 – 2021) habe ich mich weiter mit den besonderen Bedürfnissen von Mädchen mit dieser Entwicklungsstörung beschäftigt und Studierende der Sonderpädagogik auf sie – und die spezifischen Entwicklungs- und Verhaltensmerkmale bei anderen genetischen Syndromen – aufmerksam zu machen versucht.
Die Einschränkungen in den Handlungsfähigkeiten, der Verlust bereits erworbener Fähigkeiten, die begleitenden Verhaltensauffälligkeiten und körperlichen Probleme stellen für die betroffenen Mädchen und ihre Eltern eine ganz außerordentlich hohe Belastung dar. Sie bedeuten eine sehr schwere Einschränkung der Möglichkeiten zur sozialen Teilhabe, wie sie sonst nur bei Kindern mit schwerster intellektueller Behinderung vorkommt. Mädchen mit Rett-Syndrom unterscheiden sich jedoch in ihrem Verhaltensphänotyp sowie ihrem Lernpotenzial von Kindern mit schwerster intellektueller Behinderung – dies machten viele Eltern aus ihren Alltagsbeobachtungen deutlich und wurde in den letzten Jahren durch wissenschaftliche Untersuchungen vielfach belegt (▸ Kap. 3). Auch innerhalb der Gruppe der Mädchen mit Rett-Syndrom gibt es erhebliche individuelle Unterschiede in der Ausprägung von Verhaltensmerkmalen und in den kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten, die sie zeigen können.
Das komplexe Krankheitsbild stellt bis heute eine Herausforderung dar – für Kinderärzt:innen und Humangenetiker:innen, Therapeut:innen, Pädagog:innen und Familien, in denen ein Mädchen mit Rett-Syndrom aufwächst. Die Forschung konzentrierte sich auf die Klärung der genetischen Ursache, die Möglichkeiten einer medikamentösen Behandlung der Symptome, die Wirksamkeit von Physio-, Ergo-, Sprachtherapie und anderen Behandlungsmaßnahmen sowie spezifische Ansätze zur pädagogischen Förderung.
Das dadurch gewonnene syndromspezifische Wissen ist in deutscher Sprache bisher nur in begrenztem Maße zugänglich. Eine ältere Publikation stammt von einer schwedischen Kollegin, Barbro Lindberg. Sie veröffentlichte zunächst in englischer Sprache ein Fachbuch zu ihren Erfahrungen, das dann auch übersetzt und in einem kleinen österreichischen Verlag publiziert wurde (Lindberg, 1991). Ein Sammelband zu Möglichkeiten der Unterstützten Kommunikation bei Mädchen mit Rett-Syndrom wurde von Braun et al. (2014) vorgelegt. Die Fachzeitschrift der Gesellschaft für Unterstützte Kommunikation enthielt über die Jahre hinweg immer wieder einzelne Fallberichte zu den Erfahrungen, die Eltern von Mädchen mit Rett-Syndrom bei der Anbahnung von alternativen Kommunikationsformen machten. Ein berührendes Buch erschien schließlich von Leslie Malton (2015), einer deutsch-amerikanischen Schauspielerin, in dem sie die Geschichte ihrer Beziehung zu ihrer Schwester mit Rett-Syndrom schildert – die sie »Das Mädchen mit den sprechenden Augen« nennt.
Ich selbst habe in Zusammenarbeit mit dem Eltern-Selbsthilfeverband in Deutschland eine Studie zur individuellen Variabilität des Verhaltensphänotyps, zu den kommunikativen Fähigkeiten und den familiären Belastungen beim Rett-Syndrom durchgeführt und in zwei Fachartikeln im Jahr 2003 veröffentlicht (Sarimski, 2003a, b). In den verschiedenen Auflagen meines Buches »Entwicklungspsychologie genetischer Syndrome« (zuletzt 4. Auflage, 2014) habe ich u. a. das Wissen um die Entwicklungsbesonderheiten des Rett-Syndroms zusammengestellt, das für Pädagog:innen und Psycholog:innen von Bedeutung ist, wenn sie Kinder mit dieser Entwicklungsstörung und ihre Familien begleiten.
Rüdiger Retzlaff, ein Kollege aus der Universitätsklinik Heidelberg, hat 2006/2007 eine umfangreiche qualitative und quantitative Studie zu der Frage publiziert, wie es Eltern gelingt, diese besondere Herausforderung möglichst gut zu bewältigen. Auf der Basis dieser Erfahrungen hat er – selbst Vater einer Tochter mit Rett-Syndrom – ein Buch veröffentlicht, in dem es um die Lebenssituation von Familien geht, in denen ein Kind mit einer solch schweren Behinderung aufwächst. Er beschreibt darin die Grundlagen für eine ressourcenorientierte Beratung aus systemischer Sicht, wie Familienmuster und Einstellungen gestärkt werden können, die ein erfülltes Leben »trotz alledem« ermöglichen (Retzlaff, 2016³).
Die umfangreichste Quelle zur Information für Eltern stellt bis heute das »Rett-Syndrom Handbuch« dar, das von der »International Rett Syndrome Association« im Jahr 2007 in zweiter Auflage zusammengestellt wurde und über die »Elternhilfe für Kinder mit Rett-Syndrom Deutschland e. V.« (www.rett.de) auch in deutscher Sprache erhältlich ist. Dieses Handbuch wendet sich primär an Eltern und enthält eine Fülle von Einzelinformationen zu allen Aspekten dieser Entwicklungsstörung, illustriert mit zahlreichen kurzen Berichten und Beobachtungen von Eltern von Mädchen mit Rett-Syndrom.
In den letzten Jahren haben sich zahlreiche Forschungsgruppen mit der individuellen Variabilität der Entwicklungs- und Verhaltensmerkmale beim Rett-Syndrom, der Wirksamkeit therapeutischer Ansätze sowie der Analyse von kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten und ihrer Förderung beschäftigt. Neue technologische Möglichkeiten, vor allem die Nutzung von elektronischen Kommunikationsgeräten durch Augensteuerung (Eye-Tracking-Technologie), haben Wesentliches dazu beigetragen, das Wissen um diese Entwicklungsstörung zu erweitern.
Ich habe mich gefreut, dass der Kohlhammer Verlag meine Anregung aufgegriffen hat, dieses Wissen auf aktuellem Stand in deutscher Sprache zugänglich zu machen. Das Buch richtet sich an (Sonder-)Pädagog:innen, Psycholog:innen und Therapeut:innen, die sich mit den Bedürfnissen und dem Lern- und Entwicklungspotenzial von Mädchen mit Rett-Syndrom vertraut machen möchten. Es soll dazu beitragen, die Unterstützung der Mädchen in der Familie, in Kindertagesstätten und in Schulen möglichst gut auf diese Bedürfnisse abzustimmen.
Dabei geht es nur einleitend um genetische und medizinische Aspekte des Syndroms. Im Mittelpunkt stehen vielmehr die Befunde zu therapeutischen Möglichkeiten, insbesondere zur Erweiterung der kommunikativen Fähigkeiten, und Empfehlungen zur Integration der spezifischen Forschungsergebnisse in die Praxis der Förderung. Vorschläge zur diagnostischen Einschätzung der Fähigkeiten von Mädchen mit Rett-Syndrom und Erfahrungen zum Belastungserleben von Eltern ergänzen diese Darstellung. Ich hoffe, dass dieser Band dazu beitragen wird, dass Mädchen mit Rett-Syndrom eine möglichst spezifische Unterstützung für ihre Entwicklung erhalten.
München, im Frühjahr 2024 Prof. i. R. Dr. Klaus Sarimski
Der Wiener Neuropädiater Professor Andreas Rett (1924 – 1997) beschrieb im Jahr 1966 erstmals eine schwere Entwicklungsstörung bei acht Mädchen, die nach einer Periode scheinbar unauffälliger Entwicklung im ersten Lebensjahr einen (zumindest partiellen) Verlust von sprachlichen und kommunikativen, fein- und grobmotorischen Fähigkeiten erlitten und stereotype Handbewegungen entwickelten, die er als »Waschbewegungen« bezeichnete. Die Publikation von Rett (1966) erschien in einer österreichischen Reihe und fand zunächst wenig Beachtung. Die Diagnose wurde dann von Doktor Hagberg und seinem Team aus Schweden (Hagberg et al., 1983) anhand der Beschreibung von 35 Fällen in einem Beitrag zu den viel gelesenen »Annals of Neurology« einer internationalen Fachöffentlichkeit bekannt gemacht und das Erscheinungsbild der Erkrankung von ihm nach dem Erstbeschreiber als Rett-Syndrom benannt.
Es handelt sich um eine schwere neuropathologische (aber nicht degenerative) Störung, für deren Diagnose nach der »Rett Syndrome Diagnostic Criteria Work Group« (revidierte Form; Neul et al., 2010) vier Hauptkriterien gelten:
Partieller oder vollständiger Verlust von bereits erworbenen Fähigkeiten zum Handgebrauch
Partieller oder vollständiger Verlust von bereits erworbenen Fähigkeiten zur sprachlichen Verständigung
Störung der Bewegungsabläufe (Dyspraxie) oder Verlust der Fähigkeit zum freien Laufen
Stereotype Handbewegungen
Ausschlusskriterien sind eine nachgewiesene Hirnschädigung oder eine wesentlich auffällige psychomotorische Entwicklung in den ersten sechs Lebensmonaten. Weitere Auffälligkeiten gelten als unterstützende, aber nicht obligatorische körperliche Diagnosemerkmale:
Verlangsamung des Kopfwachstums
Störungen der Atmungsregulation (periodische Apnoen, intermittierende Hyperventilation, Anhalten der Luft, forciertes Ausatmen)
Epileptische Anfälle oder EEG-Abnormitäten
Spastizität oder erhöhter Muskeltonus
Gastrointestinale Probleme
Periphere vasomotorische Störungen
Reduzierte Reaktion auf Schmerzen
Skoliose
Wachstumsretardierung
Das Rett-Syndrom kommt (fast) nur bei Mädchen und Frauen vor. Der Entwicklungsverlauf lässt sich in vier Stadien gliedern. Nach zunächst unauffällig erscheinender Entwicklung (Stufe I) kommt es im Alter zwischen sechs und 18 Monaten zu einer regressiven Phase, die mit dem Verlust bereits erworbener Fähigkeiten, der Entwicklung exzessiver Handstereotypien, Störungen der motorischen Steuerung und Phasen der besonderen Irritierbarkeit mit unmotiviertem Lachen oder Schreien in der Nacht einhergeht (Stufe II). Zwei Mütter beschreiben die Veränderungen so:
»Bald nach ihrem ersten Geburtstag war sie innerhalb von ein paar Wochen total verändert. Sie wurde inaktiv und sehr ruhig, hörte auf zu spielen und zu plaudern und die paar Worte, die sie schon gelernt hatte, verschwanden wieder. Sie fürchtete sich vor allem – Geräusche, Fremden, Wasser und überhaupt vor allen möglichen Veränderungen. Wenn sie sich erschreckte, begann sie zu schreien, hysterisch und untröstlich. Wenn man versuchte, sie aufzunehmen, blieb sie verzweifelt und versuchte mit Gewalt loszukommen. Sie konnte auch nicht mehr auf einem Stuhl sitzen, sie musste auf dem Boden essen. Nur im Bett und mit ihrer Puppe fühlte sie sich sicher.« (zit. nach Lindberg, 1991, S. 22, Übers. K. S.)1
»Sie hörte von einem Tag zum anderen auf zu greifen – wenn man ihr einen Löffel in die Hand gab, tat sie so, als ob der heiß wäre.« (zit. nach Lindberg, 1991, S. 22)
Nach dieser Regressionsphase, die sich auf die Zeitspanne zwischen acht Monaten und viereinhalb Jahren erstrecken kann, kommt es zu einem Entwicklungsplateau, einer Stabilisierung der Emotionen und des Verhaltens der Mädchen, oft verbunden mit einer leichten Verbesserung des Umweltinteresses (Stufe III). Eine Mutter:
»Ashley hat, wenn auch langsam, Fortschritte in den Bereichen Kommunikation, Aufmerksamkeit und soziale Fähigkeiten gemacht. Sie kann immer noch gehen, hilft beim Anziehen, indem sie die Arme hebt und die Ärmel anstreift, und hilft beim Essen und Trinken. Sie kann das Besteck mit dem darauf befindlichen Essen nehmen, es in den Mund führen, essen und das Besteck zurücklegen. Sie hilft mit, in der Hand ein Glas zu halten und auf die Toilette zu gehen.« (zit. nach Hunter, 2007, S. 8, Übers. K. S.)
In dieser Phase beginnen die Mädchen in gewissem Maße die Residualfunktionen zu nutzen und wieder ein etwas größeres Interesse an ihrer Umwelt zu entwickeln. Sprachfähigkeiten bessern sich etwas; so plappern die Mädchen oft wieder und einige sind in der Lage, Wortteile zu benutzen, die für die jeweilige Situation relevant sind. Kein Mädchen mit klassischem Rett-Syndrom kommt aber über dieses einfachste Sprachniveau wieder hinaus. Auch wenn sich lautsprachlich keine Fortschritte einstellen, verbessert sich die Interaktion nach dem Eindruck der Eltern vor allem durch gezieltere intentionale Blickausrichtung. Die stereotypen Handbewegungen werden dagegen intensiver und störender. Eine Mutter beschreibt die Art der Handlungen ihrer Tochter so:
»Sie steht vor ihrem Spielzeugregal, schaut und schaut, hyperventiliert, knirscht mit den Zähnen, reibt intensiv ihre Hände an den Daumen und ist am ganzen Körper steif und gespannt. Schließlich gelingt es ihr – manchmal – eine Hand von dem stereotypen Bewegungsmuster freizubekommen und dann schlägt sie auf ein Ding, so dass es zu Boden fällt. Vielleicht wollte sie es nehmen, aber es wurde ein Hinschlagen daraus. Vielleicht wollte sie damit spielen, aber in ihrer Unfähigkeit konnte sie es nur streifen und sobald sie das Ding berührt, ist die Bewegung zu abrupt und zu schnell, sie wirft es hinunter, anstatt es zu ergreifen.« (zit. nach Lindberg, 1991, S. 36)
Bei einem Teil der Mädchen tritt später eine Verschlechterung der körperlichen Symptomatik (Verlust der selbständigen Fortbewegung, Zunahme einer Skoliose und vegetativer Dysfunktionen; Stufe IV) ein. Die Verschlechterung betrifft allerdings nur die motorischen Bereiche, während das kognitive Niveau stabil ist und sich der interpersonale Kontakt wieder bessern kann. Anfälle, Stereotypien und dysfunktionale Atmung nehmen ab. Eine Mutter erzählt:
»Alice konnte bis zu ihrem zwölften Lebensjahr alleine laufen und bis zu ihrem fünfzehnten Lebensjahr mit Hilfe. Dann begann sie, sehr zu zittern im Stehen, und begann sich dann zu weigern, Gewicht zu übernehmen. Sie stellt intensiven Augenkontakt her und scheint alle Aktivitäten um sie herum zu erfassen. Wegen Kontrakturen in den Armen macht sie nicht mehr so viel Handstereotypien. Sie scheint glücklicher zu sein. Sie hat mehr Spaß als je zuvor in ihrem Leben und genießt es, mit Menschen zusammen zu sein und Ausflüge zu unternehmen.« (zit. nach Hunter, 2007, S. 9)
Die Prävalenz des Rett-Syndroms liegt bei etwa 1:10.000. Die Autor:innen der umfangreichsten Studie zur Auftretenshäufigkeit dieses Syndroms berichteten in Australien eine Inzidenz von 1.09 auf 10.000 Mädchen im Alter von zwölf Jahren (Laurvick et al., 2006a). Petriti et al. (2023) werteten in einer Übersichtsarbeit zehn epidemiologische Studien aus acht europäischen Ländern, Australien und Hongkong aus. In diesen Studien wurden 673 Mädchen und Frauen mit Rett-Syndrom unter einer Gesamtpopulation von fast 10 Millionen diagnostiziert. Die Prävalenzdaten schwankten deutlich, lagen aber in sieben der zehn Studien zwischen fünf und zehn Fällen auf 100.000. Die Autor:innen errechneten aus den Studien eine durchschnittliche Prävalenz von 0.71:10.000.
Für Deutschland ist auf der Grundlage dieser Studien davon auszugehen, dass – bei einer Geburtenrate von ca. 750.000 – jedes Jahr 60 – 75 Mädchen zur Welt kommen, bei denen sich im Entwicklungsverlauf ein Rett-Syndrom ausbildet. Das würde – über einen Zeitraum von 18 Jahren bis zur Volljährigkeit – eine Zahl von über 1.000 Mädchen bedeuten. In der (ersten und ältesten) deutschen Eltern-Selbsthilfegruppe (»Elternhilfe für Kinder mit Rett-Syndrom – Rett Deutschland e. V.«) sind derzeit etwa 700 Familien organisiert.
Das Syndrom tritt bei Jungen nur in seltenen Ausnahmefällen auf. In einer Übersichtsarbeit von Reichow et al. (2015) wurden 57 Fälle beschrieben, in denen bei Jungen das klinische Bild dem Rett-Syndrom entsprach. »Männliches Geschlecht« ist somit kein grundsätzliches Ausschlusskriterium für die Diagnose eines Rett-Syndroms. Auch wenn in den letzten Jahren weitere Jungen mit der dem Rett-Syndrom zugrunde liegenden genetischen Veränderung identifiziert wurden, tritt diese bei Jungen offenbar sehr selten auf.
Die klinische Diagnose eines Rett-Syndroms lässt sich durch eine genetische Untersuchung bestätigen. Amir et al. (1999) entdeckten, dass bei den meisten Mädchen und Frauen mit Rett-Syndrom eine Mutation im MECP2-Gen vorliegt. Dieses Gen reguliert die Transkription von Proteinen, die für die Differenzierung, Reifung und Erhaltung der Neurone und Synapsen in der postnatalen Entwicklung eine wichtige Rolle spielen. Der pathogenetische Mechanismus, wodurch Mutationen im MECP2-Gen die neurologischen Dysfunktionen bei Mädchen und Frauen mit Rett-Syndrom bedingen, ist jedoch bisher nicht vollständig aufgeklärt.
Allerdings ist das Vorliegen dieser Mutation selbst nicht ausreichend, um die Diagnose zu stellen, da sie auch mit anderen Entwicklungsstörungen einhergehen kann. In weiteren Forschungsarbeiten wurden zudem verschiedene andere Genveränderungen bei einem kleineren Teil der Mädchen und Frauen mit Rett-Syndrom festgestellt. Da Genotyp und Phänotyp somit nicht vollständig übereinstimmen, bleibt es dabei, dass die Diagnose des Rett-Syndroms sich primär auf die klinischen Kriterien stützen muss (Neul et al., 2010).
Die Diagnose einer atypischen Form des Rett-Syndroms (»Rett-Varianten«) wird gestellt, wenn eine Regressionsphase eingetreten ist sowie zwei der vier obligatorischen Kriterien und fünf der unterstützenden Kriterien vorliegen (Neul et al., 2010). Es handelt sich dabei um Mädchen, bei denen entweder grobmotorische Fähigkeiten oder sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten in gewissem Maße erhalten bleiben. Eine Mutter eines Mädchens mit einer atypischen Form des Rett-Syndroms berichtet:
»Molly ist drei Jahre alt und hatte immer tollen Blickkontakt. Sie sagt etwa zehn neue Wörter pro Monat. Die Worte sind immer der Situation angemessen, aber nicht konsistent... Molly kann fast laufen und kann ihre Hände gezielt bewegen, einen Zangengriff verwenden, bevorzugt aber einen offenen Griff. Sie kann beim Ausziehen und Anziehen helfen, Hosen hoch und runter ziehen, wenn sie aufs Töpfchen geht.« (zit. nach Hunter, 2007, S. 15)
Unter den atypischen Formen lässt sich ein leichterer und ein schwerer Verlauf unterscheiden. Sie werden nach ihren Erstbeschreibern als Zappella-Form (mit erhaltenen sprachlichen Fähigkeiten) bzw. Rolando-Form (congenitale Form) oder Hanefeld-Form (mit frühem Auftreten einer Epilepsie) bezeichnet. Bei diesen atypischen Formen wurden teilweise Mutationen an anderen Genen statt des MECP-2 Gens identifiziert.
In einer nationalen Erhebung in den USA in 819 Familien, in denen Mädchen und Frauen mit Rett-Syndrom aufwuchsen, wurde die Diagnose eines klassischen Rett-Syndroms bei 85 % der Fälle gestellt, bei 14.6 % eine atypische Form (Neul et al., 2008). Bei 95 % der Mädchen und Frauen mit klassischem Rett-Syndrom ließ sich eine Mutation im MECP2-Gen nachweisen. In 3 – 5 % der Fälle lag keine Mutation dieses Gens vor; in diesen Fällen finden sich häufig Veränderungen am CDKL5-Gen oder FOXG-1-Gen, in einzelnen Fällen auch eine Vielzahl von Mutationen an anderen Genorten (Ehrhart et al., 2018; Gold et al., 2018). Die Form, bei der bereits früh epileptische Anfälle auftreten, ist meist mit einer CDKL5-Mutation assoziiert, die Form, bei der sprachliche Funktionen erhalten bleiben, mit einer FOXG1-Mutation (Neul et al., 2014).
In den letzten Jahren wurde von mehreren Arbeitsgruppen die ursprüngliche Annahme in Frage gestellt, dass die Entwicklung von Mädchen, bei denen später das Rett-Syndrom diagnostiziert wird, in den ersten sechs bis 18 Monaten unauffällig verläuft (Einspieler & Marschik, 2019). Dazu wurden private Videoaufzeichnungen analysiert, die Eltern von Mädchen gemacht hatten, bei denen sich später das Rett-Syndrom ausbildete. Es fanden sich nur in den ersten sechs Monaten keinerlei Auffälligkeiten. Ab der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres zeigten sich bei diesen Mädchen ein Verlust der Reaktion auf den eigenen Namen, atypische Vokalisationsmuster und ein verzögerter Übergang zu ersten Gesten. Diese Befunde sprechen dafür, dass bereits vor der Phase der Regression erste Zeichen auf neurologische Dysfunktionen hindeuten, die jedoch unspezifisch sind, sodass eine Früherkennung der komplexen Störung zu diesem Zeitpunkt noch nicht möglich ist.
Die klinischen Merkmale des sozialen Rückzugs der Mädchen, der ausgeprägten Irritierbarkeit (verbunden mit Schreien, Weinen oder unangemessen wirkendem Lachen) und der Entwicklung von Stereotypien legten es zunächst nahe, das Syndrom dem Autismus-Spektrum zuzuordnen. Daher wurde das Rett-Syndrom in älteren Versionen des DSM-IV als Untergruppe der Autismus-Spektrum-Störung klassifiziert. Die Ähnlichkeiten betrafen vor allem die vorübergehenden Verhaltensänderungen in der Regressionsphase.
Nach der Regressionsphase zeigen sich bei den meisten Mädchen deutliche Unterschiede im Verhaltensphänotyp im Vergleich zu Kindern mit einer autistischen Störung. Mädchen mit Rett-Syndrom zeigen Interesse am sozialen Kontakt, suchen z. B. den Blickkontakt zu ihren Bezugspersonen, scheinen aber in ihren Handlungsfähigkeiten so blockiert, dass keine soziale Interaktion zustande kommt (Munde et al., 2016). Ihre Stereotypien sind wesentlich häufiger, ausgeprägter und rhythmischer als bei Kindern mit einer autistischen Störung und sie beziehen keine Gegenstände in stereotype Handlungen ein. Nur bei wenigen Mädchen mit einer atypischen Form des Rett-Syndroms sind auch im weiteren Verlauf autistische Symptome zu beobachten (Kaufmann et al., 2012). Aufgrund dieser Befunde wird in der aktuellen Version des DSM-V das Rett-Syndrom nicht mehr als Subdiagnose der Autismus-Spektrum-Störung geführt.
Abb. 1:Wechselwirkungen zwischen den Komponenten der ICF
Nach dem bio-psycho-sozialen Modell von Behinderungen, das dem System der »Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit« (ICF) zugrunde liegt, sind Beeinträchtigungen der Körperfunktionen in ihren Auswirkungen auf die Beteiligung an Aktivitäten und Partizipation und im Kontext von Umweltfaktoren zu betrachten, die diese soziale Beteiligung beeinflussen (▸ Abb. 1).
Die neurologischen Dysfunktionen, die beim Rett-Syndrom vorliegen, haben gravierende Auswirkungen auf die Möglichkeiten der Mädchen und Frauen, sich an Aktivitäten zu beteiligen. Dazu gehören die Einschränkungen in den grob- und feinmotorischen Fähigkeiten (Dyspraxie bzw. Apraxie), Handstereotypien, Schwierigkeiten bei der sensorischen Verarbeitung, reduzierte Aufmerksamkeit und erhöhte Ängstlichkeit, aber auch die eingeschränkten oral-motorischen Fähigkeiten, Probleme der Atemregulation, irreguläre Schlafmuster und gastrointestinale Störungen. Eine Mutter erzählt:
»Es scheint, dass Lisa das, was sie sieht, nicht verarbeiten und gleichzeitig betrachten kann. Sie sieht etwas, das ihr wirklich gefällt, schaut dann eine Weile weg, dann wieder dorthin. Es kam uns immer sehr seltsam vor, als Lisa zum ersten Mal zu laufen begann. Wir mussten immer noch ihre Hand festhalten. Sie schloss die meiste Zeit, während wir auf dem Bürgersteig gingen, die Augen. Aber sie wusste immer, wann wir wieder am Straßenrand ankamen.« (zit. nach Hunter, 2007, S. 133)