21,99 €
Für pädagogische Fachkräfte in Kitas ist die Arbeit mit Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten oft herausfordernd. Wie damit umgehen, wenn Kinder sich nicht an Regeln halten, rücksichtslos auf andere Kinder reagieren oder sich sozial zurückziehen? Der Autor geht in seinem Buch auf die unterschiedlichen Formen von Verhaltensauffälligkeiten ein, gibt wichtige Hinweise zur Diagnostik und liefert auf Basis der "Positiven Verhaltensunterstützung" ein praktisches Konzept zum Umgang mit Verhaltensauffälligkeiten. Er beschreibt, was Fachkräfte präventiv tun können, wie sie Bedingungen, die problematisches Verhalten auslösen, verändern und sozial-emotionale Kompetenzen fördern können. Ein Kapitel zur Zusammenarbeit im Team, mit den Eltern und externen Fachkräften rundet das Buch ab.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Prof. Dr. Klaus Sarimski, Dipl.-Psych., lehrt sonderpädagogische Frühförderung und allgemeine Elementarpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg.
Außerdem im Ernst Reinhardt Verlag erschienen:
Sarimski, K.: Handbuch interdisziplinäre Frühförderung
(2017, ISBN 978-3-497-02691-3)
Sarimski, K.: Soziale Teilhabe von Kindern mit komplexer Behinderung in der Kita (2016, ISBN 978-3-497-02588-6)
Sarimski, K., Hintermair, M., Lang, M.: Familienorientierte Frühförderung von Kindern mit Behinderung (2013, ISBN 978-3-497-02354-7)
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.
ISBN 978-3-497-03081-1 (Print)
ISBN 978-3-497-61519-3 (PDF-E-Book)
ISBN 978-3-497-61520-9 (EPUB)
2. Auflage
© 2021 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München
Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Verlag Ernst Reinhardt GmbH & Co KG behält sich eine Nutzung seiner Inhalte für Text- und Data-Mining i.S.v. § 44b UrhG ausdrücklich vor.
Printed in EU
Cover unter Verwendung eines Fotos von © iStock.com/Lordn
Satz: JÖRG KALIES – Satz, Layout, Grafik & Druck, Unterumbach
Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München
Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: [email protected]
Inhalt
Vorwort
1Verhaltensauffälligkeiten in der Kita
1.1Bedarf an systematischen Interventionskonzepten
1.2Psychische Störungen im frühen Kindesalter
Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS)
Störungen des Sozialverhaltens
Emotionale Störungen
Autismus-Spektrum-Störung
1.3Diagnostik
2Sozial-emotionale Entwicklung
2.1Emotionswissen und -regulation
2.2Soziale Kompetenzen
2.3Selbstregulationsfähigkeiten
2.4Temperamentsmerkmale
2.5Familiäre Entwicklungsbedingungen
3Konzept der Positiven Verhaltensunterstützung
3.1Kompetenzorientierter Ansatz
3.2Positive Beziehungen
3.3Entwicklungsförderliche Umgebung
Pädagogische Angebote
Tagesstrukturierung
Soziale Regeln und Verhaltensanweisungen
Positive Aufmerksamkeit für erwünschtes Verhalten
3.4Förderung sozial-emotionaler Kompetenzen
Förderung von Emotionswissen
Förderung der Fähigkeit zur Emotionsregulation
Problemlösefähigkeiten
3.5Funktionale Analyse zur Vorbereitung individualisierter Interventionen
3.6Interventionsplanung
3.7Wirksamkeit von Interventionen
4Kooperation mit Kollegen, Eltern und externenFachkräften
4.1Zusammenarbeit mit Eltern
Förderung der elterlichen Erziehungskompetenz
4.2Zusammenarbeit im Team
4.3Interprofessionelle Kooperation mit anderen Fachkräften
Kinder mit besonders herausforderndem Verhalten
Kinder mit hoch belastetem Familienhintergrund
Kinder mit Behinderungen
5Selbsteinschätzung: Positive Verhaltensunterstützung
Literatur
Sachregister
Vorwort
Jungen und Mädchen, die sehr unruhig sind, sich kaum an Regeln halten, Aufforderungen missachten, rücksichtslos auf andere Kinder reagieren, schlagen, treten, beißen – nicht selten erleben sich pädagogische Fachkräfte in Kindertagesstätten als ohnmächtig und hilflos, wenn sie Kinder mit diesen Verhaltensweisen in ihrer Gruppe haben. Das gilt nicht nur für impulsive, aggressive oder destruktive Verhaltensweisen. Manchmal sind es auch sehr ängstliche Verhaltensweisen, der soziale Rückzug eines Kindes oder autistische Verhaltensmerkmale, bei denen die Fachkräfte nicht weiter wissen und nach Konzepten suchen, die in der Gruppe praktikabel sind und die eine Aussicht auf eine erfolgreiche Veränderung des belastenden Alltags versprechen.
Hilflosigkeit und Zweifel an der eigenen pädagogischen Kompetenz spiegeln sich in der Art und Weise wider, wie ein auffälliges Verhalten von den Fachkräften erlebt und beschrieben wird. Manchmal hört man Erzieherinnen, die klagen: „Das Kind ist ein Monster! Das alles wird sich niemals ändern!“, „Ich bin es so leid, immer nur Feuerwehr zu spielen, wenn das Kind wieder etwas angestellt hat!“ oder „Dieses Kind macht die ganze Gruppe kaputt. Das ist das schlimmste Jahr meiner Berufstätigkeit!“
Verhaltensauffälligkeiten der Kinder sind belastend; sie belasten die Beziehungen zwischen den Kindern einer Gruppe ebenso wie die Beziehungen zwischen den Fachkräften und dem Kind. Nicht selten kommt es auch zu Belastungen der Beziehungen zwischen den Fachkräften untereinander sowie den Fachkräften mit den Eltern, wenn in einer Gruppe ein Kind oder mehrere Kinder mit kritischem Sozialverhalten betreut werden müssen. Es ist deshalb von größter Bedeutung, dass in der Kindertageseinrichtung ein Konzept besteht, wie mit Verhaltensauffälligkeiten in einer systematischen und einheitlichen Weise umgegangen wird. Ein solches Konzept wirkt als Unterstützung und Entlastung für alle Beteiligten – sowohl die pädagogischen Fach- und Assistenzkräfte als auch die Eltern.
Das Konzept der „Positiven Verhaltensunterstützung“ beschreibt ein solches systematisches Vorgehen. Es geht davon aus, dass sozial auffälliges Verhalten für die Kinder die (zunächst) einzige Möglichkeit ist, mit sozialen Herausforderungen umzugehen, weil es ihnen an sozialen und emotionalen Kompetenzen fehlt. So gesehen macht das sozial auffällige Verhalten für die Kinder Sinn. Es gilt, die Auslöser und Zusammenhänge des sozial auffälligen Verhaltens zu verstehen, um ihm vorzubeugen und dem Kind alternative Verhaltensweisen zu vermitteln, damit es sich sozial verträglicher verhalten kann. Dazu müssen sich die pädagogischen Fachkräfte die Zeit nehmen, das Kind sorgfältig zu beobachten und Hypothesen zu entwickeln, unter welchen sozialen Bedingungen es sich auffällig verhält. Auf dieser Grundlage können sie dann pädagogische Handlungsstrategien entwickeln, um das kindliche Verhalten zu verändern und den Erfolg dieser Strategien zu prüfen.
Forschungsarbeiten belegen, dass sich sehr belastende Verhaltensweisen erfolgreich verändern lassen, wenn sich die pädagogischen Fachkräfte auf ein solches Konzept verständigen und es gemeinsam im Alltag umsetzen. Der folgende Text soll ihnen das „Handwerkszeug“ vermitteln, was sie dazu benötigen. Natürlich: Nicht alle Verhaltensauffälligkeiten lassen sich aus sozialen Bedingungen und Zusammenhängen erklären. Deshalb müssen die Fachkräfte auch wissen, wann sie die Unterstützung anderer Experten benötigen. Das können Mitarbeiter von Frühförderstellen oder Erziehungsberatungsstellen sein, Kinderpsychotherapeuten oder ärztlich-psychologische Tandems, wie sie in sozialpädiatrischen Zentren oder kinderpsychiatrischen Ambulanzen zu finden sind.
Im Folgenden werden zunächst die wichtigsten Formen von Verhaltensauffälligkeiten im frühen Kindes- und Vorschulalter beschrieben und die sozial-emotionale Entwicklung in dieser Altersgruppe skizziert, bevor die aufeinander aufbauenden Elemente des Konzepts der „Positiven Verhaltensunterstützung“ dargestellt werden. Herausforderungen bei der Zusammenarbeit mit Eltern, im Team und mit externen Kooperationspartnern werden abschließend diskutiert.
Aufgrund der Tatsache, dass die meisten Personen, die in Kitas arbeiten, weiblichen Geschlechts sind, wird für den Erzieher die weibliche Form („Erzieherin“) verwendet. Aufgrund der besseren Lesbarkeit ist für alle anderen Berufsgruppen im Buch die männliche Form zu finden.
1Verhaltensauffälligkeiten in der Kita
1.1Bedarf an systematischen Interventionskonzepten
Welche Verhaltensweisen als auffällig angesehen werden, hängt von der subjektiven Bewertung ab. Je nachdem, wie viel Erfahrung jemand in seinem Beruf gesammelt, welche Aus- und Fortbildung er erhalten hat und wie seine persönlichen Maßstäbe sind, kann ein Verhalten von einem Mitarbeiter als auffällig und veränderungsbedürftig angesehen werden, während ein anderer kein Problem darin sieht. Obwohl die Maßstäbe, was als auffällig angesehen wird, unterschiedlich sind, würden sich die meisten Fachkräfte in Kindertagesstätten grundsätzlich auf den folgenden Grundsatz einigen können:
!
Eine Veränderung sollte dann angestrebt werden, wenn ein Verhalten
□über einen längeren Zeitraum und häufig auftritt,
□jemand anderen zu verletzen oder einen Gegenstand zu beschädigen droht,
□zu einem subjektiven Leid führt,
□das Beziehungsklima zwischen den Kindern oder den Kindern und den Erwachsenen in der Gruppe nachhaltig beeinträchtigt.
Im Wesentlichen sind es vier Formen von auffälligem Verhalten, die diese Kriterien erfüllen:
■aggressive soziale Verhaltensweisen,
■impulsiv-hyperaktives Verhalten,
■ängstlicher Rückzug aus dem sozialen Kontakt und
■Schwierigkeiten der Kommunikation mit anderen Kindern.
In einer Befragung von 101 Fachkräften aus Kindertageseinrichtungen wurden am häufigsten aggressive Verhaltensweisen (59,6%), Hyperaktivität (42,6%) und Probleme im Bereich der Konzentration und des Durchhaltevermögens (28,7%) genannt. Fast jedes vierte Kind wurde von ihnen als verhaltensauffällig wahrgenommen (Fröhlich-Gildhoff et al. 2013).
BEISPIEL
Christoph spielt sehr gern mit Baufahrzeugen, Autos und Flugzeugen. In der Spielecke beansprucht er immer wieder diese Spielsachen für sich. Wenn sich ein anderes Kind nähert und auch damit spielen möchte, reagiert er mit heftiger Abwehr, schreit es an, schubst es weg oder schlägt nach ihm.
Lukas ist ein sehr lebendiger, temperamentvoller Junge. Er ist auf alles neugierig, wechselt rasch von einem Spielzeug zum nächsten, kann sich kaum länger auf eine Sache konzentrieren. Bei gemeinsamen Spielen, Bastelarbeiten oder im Morgenkreis kann er sich wenig beteiligen, springt oft auf, hält sich nicht an Regeln, ärgert sich heftig, wenn ihm etwas misslingt oder er nicht an die Reihe kommt und wendet sich rasch ab.
Klara ist eigentlich ein sehr ruhiges Kind, das in der Gruppe keine Schwierigkeiten macht. Wenn man sie beobachtet, sieht man aber schnell, dass sie gern mit den anderen mitspielen möchte, aber nicht zu wissen scheint, wie sie sich beteiligen kann. Sie schaut aus der Gruppenecke zu, was die anderen machen, geht aber nicht auf die anderen Kinder zu und reagiert mit ängstlichem Rückzug, wenn sie von der Erzieherin zu etwas aufgefordert wird.
Jannis interessiert sich nur für technische Spielsachen. Er tüftelt aus, wie sich etwas bewegen lässt, scheint dabei ganz in seiner eigenen Welt. Wenn man ihn anspricht, reagiert er nicht, scheint auch gar kein Interesse an den anderen Kindern zu haben. Auch im Freispielgelände bleibt er für sich, hüpft oder rennt durch den Garten, spricht vor sich hin und bleibt isoliert.
Der pädagogische Begriff der Verhaltensauffälligkeiten ist eng verbunden mit dem Begriff der „psychischen Störung“, wie er in der kinderpsychologischen oder kinder- und jugendpsychiatrischen Praxis verwendet wird. Verhaltensauffälligkeiten, wie sie in den Beispielen beschrieben sind, können, müssen aber nicht Symptome einer psychischen Störung sein. Die Diagnose einer psychischen Störung orientiert sich an diagnostischen Kriterien, die in internationalen Klassifikationssystemen (DSM-V bzw. ICD-10) festgelegt sind. Zu diesen Kriterien gehören auch Verhaltensmerkmale, die für ein Störungsbild als charakteristisch angesehen werden.
Die Klassifikationssysteme vermitteln den Eindruck einer hohen Objektivität. Gerade im frühen Kindesalter zeigt sich jedoch, dass auch die Diagnose einer psychischen Störung von Bewertungen des Untersuchers abhängt, ob ein Verhalten hinsichtlich seines situationsübergreifenden Charakters und Ausprägungsgrades noch als erwartungsgemäß für das Lebens- oder Entwicklungsalter eines Kindes oder als auffällig betrachtet wird.
!
Statt von psychischen Störungen des Kindes sollte man meist besser von Störungen der Beziehung des Kindes zu seiner Umwelt sprechen. D.h., in bestimmten Situationen verhält sich das Kind auffällig, weil es mit einer sozialen Anforderung überfordert ist.
Die Kenntnis kinder- und jugendpsychiatrischer Diagnosen ist für pädagogische Fachkräfte in Kindertagesstätten wichtig, um Prävalenzangaben und Forschungsbefunde zu Entstehungsbedingungen, Auswirkungen sowie Ergebnissen der Therapieforschung einordnen zu können. Darüber hinaus ist die Kenntnis von Diagnosen eine Voraussetzung für das Verständnis von Untersuchungsbefunden, wie sie z.B. in Arztbriefen formuliert werden, und für die Verständigung mit Kinderärzten, Kinderpsychologen und Kinder- und Jugendpsychiatern in der interdisziplinären Zusammenarbeit. Das Vorliegen der Diagnose einer psychischen Störung ist jedoch nicht Voraussetzung für die pädagogische Entscheidung, ob eine systematische Intervention angezeigt ist. Sie gibt auch keine unmittelbaren Hinweise, wie eine Veränderung problematischer Verhaltensweisen im sozialen Kontext einer Kindertagesstätte erfolgversprechend eingeleitet werden kann.
In der bereits erwähnten Befragung von Fachkräften erhoben Fröhlich-Gildhoff et al. (2013) Daten zu den Kenntnissen der pädagogischen Fachkräfte über Verhaltensauffälligkeiten sowie den Handlungskonzepten, die im pädagogischen Alltag im Umgang angewendet werden. Die Hälfte der Befragten führte die Verhaltensauffälligkeiten der Kinder auf familiäre Ursachen (Unsicherheit in der Erziehung, mangelnde Regeln, Über- oder Unterforderung, mangelnde elterliche Feinfühligkeit mit der Folge unsicherer oder ambivalenter Bindungsmuster) zurück.
Lediglich 20% der Einrichtungen verfügten über ein schriftlich ausgearbeitetes Konzept zum Umgang mit Verhaltensauffälligkeiten. Nur bei knapp 30% war eine klare Systematik im Vorgehen (Beobachtung des Kindes, Reflexion im Team, Gespräch mit den Eltern, evtl. Hinzuziehen externer Experten, Planung von Interventionen) zu erkennen.
Auf die Frage, welche Maßnahmen im Umgang mit Verhaltensauffälligkeiten eingesetzt werden, nannten 80% der Erzieherinnen sozialen Ausschluss (Auszeiten), besondere Aufmerksamkeit und spezifische Kleingruppenarbeit mit den betroffenen Kindern, etwa 50% eine Reduzierung von Reizen, rund 20% spezifische verhaltenstherapeutisch orientierte Maßnahmen (z.B. Verstärkerprogramme). Obwohl selten eingesetzt, wurde den verhaltensorientierten Interventionen die mit Abstand höchste Wirksamkeit zugemessen.
Von einer externen Unterstützung durch Ergotherapeuten, Sprachtherapeuten oder Integrationshelfern in der Kindertagesstätte versprach sich die Hälfte der Erzieherinnen eine Veränderung des kritischen Verhaltens. Zwei Drittel der Einrichtungen kooperieren dabei mit anderen Institutionen (z.B. Frühförderstellen, niedergelassenen Therapeuten, Sozialpädiatrischen Zentren, Erziehungsberatungsstellen oder dem Jugend- bzw. Gesundheitsamt). Solche Kooperationen wurden grundsätzlich positiv eingeschätzt.