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Was ist über die Entwicklung von Kindern mit Beeinträchtigungen in den unterschiedlichen Entwicklungsbereichen bekannt? Wie wirken sich biologische und soziale Risiken auf die Entwicklung aus? Welche Methoden stehen zur Förderung zur Verfügung und was lässt sich aus der Entwicklungsforschung über die Wirksamkeit dieser Methoden sagen? Das Handbuch gibt Antwort auf all diese Fragen und bietet so eine Grundlage für alle, die in der Frühförderung von Kindern mit einer kognitiven, sprachlichen oder motorischen Beeinträchtigung, einer Hör- oder Sehschädigung, einer sozial-emotionalen Entwicklungsstörung oder einer schweren Mehrfachbehinderung tätig sind. PraktikerInnen erhalten so einen umfassenden Überblick über das Arbeitsfeld und Leitlinien für die Praxis der Frühförderung.
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Seitenzahl: 748
Beiträge zur Frühförderung interdisziplinär – Band 20
Klaus Sarimski
Handbuch interdisziplinäre Frühförderung
Mit 22 Abbildungen und 10 Tabellen
2., aktualisierte Auflage
Ernst Reinhardt Verlag München
Prof. Dr. Klaus Sarimski, Dipl.-Psych. lehrte bis 2021 sonderpädagogische Frühförderung und allgemeine Elementarpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg mit den Arbeitsschwerpunkten: Fragen der sozialen Teilhabe und Umgang mit Verhaltensauffälligkeiten von Kindern mit unterschiedlichen Behinderungen.
Im Ernst Reinhardt Verlag ebenfalls erschienen:
Sarimski, K.: Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten in der Kita (2. Aufl. 2021; ISBN 978-3-497-03081-1)
Sarimski, K., Hintermair, M., Lang, M.: Familienorientierte Frühförderung von Kindern mit Behinderung (2. Aufl. 2021; ISBN 978-3-497-03067-5)
Sarimski, K.: Soziale Teilhabe von Kindern mit komplexer Behinderung in der Kita (1. Aufl. 2016; ISBN 978-3-497-02588-6)
Hinweis
Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnungen nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.
ISBN 978-3-497-03157-3 (Print)
ISBN 978-3-497-61661-9 (PDF-E-Book)
ISBN 978-3-497-61662-6 (EPUB)
2., aktualisierte Auflage
© 2022 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München
Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Verlag Ernst Reinhardt GmbH & Co KG behält sich eine Nutzung seiner Inhalte für Text- und Data-Mining i.S.v. § 44b UrhG ausdrücklich vor.
Printed in EU
Cover unter Verwendung eines Fotos von © Volker Witt / Fotolia
Satz: JÖRG KALIES – Satz, Layout, Grafik & Druck, Unterumbach
Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München
Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: [email protected]
Inhalt
1 Grundlagen und Arbeitsprinzipien der Frühförderung
1.1 Geschichte, Organisation und Versorgungsstrukturen
1.1.1 Entstehung des „Hilfesystems Frühförderung“
1.1.2 Medizinisch-therapeutische und pädagogische Leistungsangebote
1.1.3 Herausforderungen für die Praxis
1.1.4 Frühförderung als Komplexleistung
1.1.5 Rahmenbedingungen und Leistungsstrukturen der allgemeinen Frühförderung
1.1.6 Frühfördersystem im Wandel – die Diskussion über die „Große Lösung“
1.2 Grundprinzipien der Frühförderung
1.2.1 Resilienzorientierung
1.2.2 Familienorientierung
1.2.3 Interaktions- und Beziehungsorientierung
1.2.4 Interdisziplinäre Kooperation und Teamorientierung
1.2.5 Qualitätssicherung
1.3 Diagnostik
1.3.1 Diagnostik im Kontext des ICF-Systems
1.3.2 Rahmenbedingungen der Untersuchung
1.3.3 Auswahl von Testverfahren
1.3.4 Einschätzung des sozialen Umfeldes und der familiären Belastung
1.3.5 Planung diagnostischer Arbeitsschritte
1.3.6 Integration diagnostischer Befunde
2 Kernaufgaben der Frühförderung
2.1 Frühförderung bei Beeinträchtigung der kognitiven Entwicklung
2.1.1 Entwicklung unter den Bedingungen einer globalen Entwicklungsbeeinträchtigung
2.1.2 Soziale Teilhabe von Kindern im Vorschulalter
2.1.3 Förderung zur Prävention schulischer Lernschwierigkeiten
2.2 Förderung bei Beeinträchtigung der sprachlichen Entwicklung
2.2.1 Verspäteter Sprechbeginn
2.2.2 Spezifische Sprachentwicklungsstörung
2.2.3 Einschränkungen der sozialen Teilhabe
2.3 Förderung bei Beeinträchtigung der motorischen Entwicklung
2.3.1 Entwicklung unter den Bedingungen einer motorischen Störung
2.3.2 Physiotherapeutische Behandlung
2.3.3 Behandlung von umschriebenen motorischen Entwicklungsstörungen
2.3.4 Spiel- und Kommunikationsförderung
2.4 Förderung bei Beeinträchtigung der sozial-emotionalen Entwicklung
2.4.1 Bindungsentwicklung und frühe Regulationsstörungen
2.4.2 Sozial-emotionale Verhaltensauffälligkeiten im Kindergartenalter
2.4.3 Autismus-Spektrum-Störung
2.5 Förderung der Entwicklung unter der Bedingung einer Hörschädigung
2.5.1 Sprachentwicklung hörgeschädigter Kinder
2.5.2 Laut- und gebärdensprachliche Konzepte der Förderung
2.5.3 Praxis der familienorientierten Förderung
2.5.4 Förderung der sozialen Teilhabe in Kindertagesstätten
2.6 Förderung unter den Bedingungen einer Sehschädigung
2.6.1 Entwicklung sehbehinderter und blinder Kinder
2.6.2 Behinderungsspezifische Förderbedürfnisse
2.6.3 Soziale Teilhabe in Kindertagesstätten
2.7 Förderung bei schwerer und mehrfacher Behinderung
2.7.1 Komplexe Behinderung
2.7.2 Unterstützung der sozialen Teilhabe
2.7.3 Elternbegleitung bei spezifischen Pflegebedürfnissen
3 Kooperationsaufgaben der Frühförderung bei ausgewählten Entwicklungsstörungen
3.1 Entwicklungsrisiken und Begleitung von frühgeborenen Kindern
3.1.1 Entwicklungsverlauf nach unreifer Geburt
3.1.2 Unterstützungsbedarf von Eltern frühgeborener Kinder
3.1.3 Effektivität früher Beratung und Förderung
3.1.4 Kooperation in der interdisziplinären Nachsorge
3.2 Unterstützung von Kindern in Armutslagen
3.2.1 Kinderarmut in Deutschland
3.2.2 Kompensation sozialer Benachteiligung
3.3 Unterstützung für Familien mit Migrationshintergrund
3.3.1 Pädagogischer Unterstützungsbedarf
3.3.2 Kinder mit Behinderungen
3.4 Unterstützung von Kindern mit psychisch kranken Eltern
3.4.1 Psychische Erkrankungen der Eltern als Risikofaktor
3.4.2 Aufgaben der Frühförderung
3.4.3 Alkohol- oder Drogenabhängigkeit in der Familie
3.4.4 Umfassender Hilfebedarf
3.5 Zusammenarbeit mit den „Frühen Hilfen“ bei Gefährdung des Kindeswohls
3.5.1 Gefährdung des Kindeswohls
3.5.2 Prävention von Vernachlässigung und Misshandlung
3.6 Beratung von Früh- und Elementarpädagogen in inklusiven Kindertagesstätten
3.6.1 Aufgaben von Früh- und Elementarpädagogen
3.6.2 Unterstützung der sozialen Teilhabe bei besonderem Förderbedarf
3.6.3 Konsultative Beratung und Coaching
4 Belastungen und Beratung von Familien mit Kindern mit Behinderungen
4.1 Herausforderungen für Familien und Ressourcen zur Bewältigung
4.1.1 Erste Reaktionen auf die Diagnose
4.1.2 Elterliches Belastungserleben im weiteren Verlauf
4.1.3 Persönliche und soziale Ressourcen zur Bewältigung
4.2 Empowerment als Ziel familienorientierter Frühförderung
4.2.1 Stärkung der persönlichen Bewältigungskräfte
4.2.2 Stärkung der sozialen Ressourcen
4.2.3 Förderung von Erziehungskompetenzen
4.2.4 Partnerschaftliche Kommunikation mit den Eltern
4.2.5 Vermittlung von sozialrechtlichen Hilfen
4.3 Väter, Geschwister und Großeltern
4.3.1 Erlebte Belastung und Bewältigungsstile von Vätern
4.3.2 Belastungen und Bedürfnisse von Geschwistern
4.3.3 Großeltern behinderter Kinder
Literatur
Sachregister
Vorwort zur zweiten Auflage
Ich habe mich gefreut, dass das „Handbuch Interdisziplinäre Frühförderung“ in der Fachöffentlichkeit auf eine sehr positive Resonanz gestoßen ist und mir der Ernst Reinhardt Verlag die Möglichkeit zu einer Überarbeitung für die zweite Auflage angeboten hat. Ich habe dazu Bezug auf einige Veröffentlichungen genommen, die in den letzten fünf Jahren erschienen sind und aus meiner Sicht zu Weiterentwicklungen im Arbeitsfeld der Frühförderung beigetragen haben. Statistische Angaben wurden aktualisiert. Außerdem wurde das Handbuch um ein Kapitel zu den Aufgaben der Frühförderung im Kontext von Kindeswohlgefährdung und zur Zusammenarbeit mit den Einrichtungen der „Frühen Hilfen“ erweitert, um dem Stand der aktuellen Fachdiskussion gerecht zu werden. Ich hoffe, dass auch diese zweite Auflage das Interesse der Fachkräfte in der Frühförderung findet.
München, im Frühjahr 2022
Prof. i.R. Dr. Klaus Sarimski
Vorwort
Als ich vor mehr als 35 Jahren meine Tätigkeit in der Frühförderung begonnen habe, hätte ich mir ein Handbuch gewünscht, das umfassend über dieses Arbeitsfeld informiert: Was ist über die Entwicklung von Kindern mit Beeinträchtigungen in den unterschiedlichen Entwicklungsbereichen bekannt? Wie wirken sich biologische und soziale Risiken auf die Entwicklung aus? Welche Methoden stehen zur Förderung zur Verfügung? Was lässt sich aus der Entwicklungsforschung und aus Evaluationsstudien über die Wirksamkeit dieser Methoden sagen? Welche Schlussfolgerungen für die praktische Arbeit lassen sich daraus ziehen?
Damals standen Praxis und Forschung zur Frühförderung von Kindern mit Behinderungen und Entwicklungsgefährdungen noch am Anfang. Mittlerweile hat sich ihr Arbeitsfeld um viele neue Aufgaben erweitert und ausdifferenziert. Die Vielfalt der Forschungsergebnisse – insbesondere in der internationalen Fachliteratur – und ihre Relevanz sind für den Praktiker kaum noch zu überblicken.
Hans Weiß (2005) hat die Aufgaben der Frühförderung in einem Aufsatz unter dem Titel „Woher und Wohin – Entwicklungslinien und Perspektiven“ in Kernaufgaben und kooperative Beiträge gegliedert. Zu den Kernaufgaben gehören die Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder vom Säuglings- bis zum Kindergartenalter und die Beratung ihrer Eltern. Darüber hinaus unterstützt die Frühförderung mit kooperativen Beiträgen andere Systeme mit dem Ziel, die soziale Teilhabe aller Kinder zu sichern, deren Entwicklung von unterschiedlichen biologischen und sozialen Risiken bedroht ist.
Ein Handbuch über ein solch umfassendes Arbeitsfeld „aus einer Hand“ anzubieten, birgt Chancen und Risiken. Leserinnen und Leser werden darin Leitlinien für die Arbeit finden, die sich für mich in meiner praktischen Tätigkeit in einer Frühförderstelle, in einem Sozialpädiatrischen Zentrum und in der Lehre an einer Hochschule sowie in der stetigen Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur herausgebildet haben. Diese Leitlinien folgen konsequent familienorientierten und evidenz-basierten Prinzipien. Allerdings: Die Auswahl der Methoden, ihre Beurteilung – es ist eben meine Sicht der Dinge. Andere Autoren würden den einen oder anderen Akzent anders setzen, Forschungsergebnisse anders bewerten. Für sie wäre es vielleicht weniger wichtig, ob sich eine Methode auf nachvollziehbare empirische Forschungsergebnisse stützen kann. So bleibt es den Leserinnen und Lesern überlassen, zu entscheiden, was sie aus diesem Handbuch überzeugend finden und in ihre Arbeit integrieren möchten. Meine Hoffnung ist, dass ihnen die Darstellung der Kern- und Kooperationsaufgaben der Frühförderung für ihre praktische Tätigkeit nützlich ist – so wie ich es nützlich gefunden hätte, vor 35 Jahren ein Handbuch dieser Art vorzufinden.
Heidelberg / München, im Frühjahr 2017
Prof. Dr. Klaus Sarimski
1 Grundlagen und Arbeitsprinzipien der Frühförderung
Das System „Frühförderung“ ist ein System im Wandel. Um seine Entwicklung zu verstehen, ist es sinnvoll, sich seine Struktur, seine Finanzierungsgrundlagen und seine Arbeitsprinzipien bewusst zu machen.
1.1 Geschichte, Organisation und Versorgungsstrukturen
Der systematische Aufbau des „Hilfesystems Frühförderung“ geht in Deutschland auf den Beginn der 1970er Jahre zurück. Von Anfang an entwickelten sich dabei zwei Teilsysteme: die allgemeinen (interdisziplinären) Frühförderstellen (IFS) und die Sozialpädiatrischen Zentren (SPZ).
1.1.1 Entstehung des „Hilfesystems Frühförderung“
Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf das Hilfesystem Frühförderung in Deutschland. Auch in Österreich und der Schweiz bestehen vielfältige Angebote zur Frühförderung. Das Versorgungssystem in diesen beiden deutschsprachigen Ländern ist jedoch teilweise anders organisiert.
Die ersten Sozialpädiatrischen Zentren wurden 1968 und 1971 in München und Mainz durch die Professoren Hellbrügge und Pechstein gegründet. In diesen überregional organisierten Zentren arbeiten interdisziplinäre Teams aus Ärzten, Psychologen, Pädagogen und Therapeuten. Die Leitung liegt in ärztlicher Hand. Die Finanzierung ist nach dem Sozialgesetzbuch V (SGB V) als Leistungen der Krankenkasse geregelt. Im Jahre 2021 gab es in Deutschland ca. 160 Sozialpädiatrische Zentren.
Die ersten allgemeinen Frühförderstellen wurden zur gleichen Zeit gegründet. Treibende Kraft war dabei die Bundesvereinigung Lebenshilfe e. V. als Elternverband sowie Professor Speck in München, auf dessen Initiative zunächst in Bayern ein flächendeckendes Netz von Frühförderstellen aufgebaut wurde. Im Unterschied zu den SPZs werden diese Einrichtungen von Pädagogen oder Psychologen geleitet. Sie bieten (heil-) pädagogische Leistungen und medizinisch-therapeutische Leistungen (Sprachtherapie, Physiotherapie, Ergotherapie) an und sind regional organisiert. Im Jahre 2021 gibt es etwa 750 solcher allgemeinen Frühförderstellen im Bundesgebiet. Die Arbeit der Frühförderstellen umfasst folgende Aufgaben (Weiß et al. 2004):
■Früherkennung von Entwicklungsrisiken und Entwicklungsproblemen,
■kindbezogene Hilfen durch Entwicklungsdiagnostik, Therapie und Förderung,
■Eltern-Kind-bezogene Hilfen durch Information, gemeinsame Beobachtung und Zielsetzung, Anleitung und Beratung der Eltern,
■Eltern- und familienbezogene Hilfen durch Information, Begleitung und Unterstützung der Familie und
■Integrationshilfen für Kind und Familie durch umfeld- und netzwerkbezogene Maßnahmen, z. B. Vermittlung von Kontakten, Elterngruppen, Zusammenarbeit mit Kindergärten, Öffentlichkeitsarbeit.
Eine Sonderstellung nimmt das Land Baden-Württemberg ein. In diesem Bundesland wurden nur etwa 35 interdisziplinäre Frühförderstellen gegründet. Die Aufgabe der frühen pädagogischen Förderung von Kindern, die behindert oder von einer Behinderung bedroht sind, wurde schwerpunktmäßig an 338 Sonderpädagogische Beratungsstellen übertragen. Diese Beratungsstellen sind den Sonderschulen (Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren) angegliedert. Ihre Aufgaben werden vom Kultusministerium finanziert.
Für Kinder mit Sinnesbehinderungen (Hör- oder Sehschädigungen) sind die meisten pädagogischen Frühförderstellen bundesweit ebenfalls an die jeweiligen Sonderschulen bzw. Förderzentren angegliedert. Ihr Einzugsgebiet ist in der Regel größer als das Einzugsgebiet der allgemeinen Frühförderstellen bzw. der Sonderpädagogischen Beratungsstellen. Es stehen etwa 100 solcher spezifischer Frühförderstellen zur Verfügung.
Die Zahl der Frühförderstellen und Sozialpädiatrischen Zentren ist bis 2021 in den neuen Bundesländern niedriger als in der „alten“ Bundesrepublik. Dies ist dadurch bedingt, dass in der ehemaligen DDR ein umfassendes flächendeckendes System der frühen Kinderbetreuung in Krippen und Kindertagesstätten bestand, in das auch Kinder mit Behinderungen einbezogen waren. Ein Unterstützungssystem zur Betreuung von Kindern mit besonderem Förderbedarf in der Familie wurde erst mit der Übernahme der gesetzlichen Grundlagen aus den alten Bundesländern nach der Wiedervereinigung entwickelt.
1.1.2 Medizinisch-therapeutische und pädagogische Leistungsangebote
Die Zuständigkeit für medizinisch-therapeutische Leistungen in der Frühförderung liegt bei den Krankenversicherungen. Sie finanzieren die kinderärztlichen Vorsorgeuntersuchungen zur Früherkennung von kindlichen Entwicklungsstörungen und sozialpädiatrische Basisleistungen, die in der Praxis des Kinderarztes angeboten werden, sowie auf der Basis der Heilmittelverordnung die Behandlung von Kindern mit Physiotherapie, Ergotherapie oder Sprachtherapie (Logopädie) in den entsprechenden Praxen.
Mit der Einführung der gesetzlichen Grundlagen für die Sozialpädiatrischen Zentren im SGB V wurden sowohl Kriterien für die Zulassung von Einrichtungen als SPZ, Richtlinien für die Zusammensetzung ihres Personals sowie die Finanzierung der Leistungen festgelegt. Die meisten Sozialpädiatrischen Zentren rechnen ihre Leistungen im Rahmen von Quartalspauschalen ab, die von den Krankenkassen für jedes Kind gezahlt werden, das im SPZ betreut wird. Im § 119 SGB V ist ihr Aufgabenbereich geregelt. Sie sollen als überregionale Zentren für Kinder mit einer besonderen Schwere und Dauer der Entwicklungsbeeinträchtigung zuständig sein und sind zur Behandlung von Kindern bis zum Alter von 18 Jahren ermächtigt. Eine strikte Trennung zu den Aufgaben der allgemeinen Frühförderstellen ist jedoch nicht intendiert, so dass auch beide Einrichtungen parallel mit jeweils spezifischer Fragestellung in Anspruch genommen werden können und eine Kooperation der SPZ mit niedergelassenen Ärzten und Frühförderstellen vorgesehen ist.
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In der Praxis erfolgen die Klärung der Ursache einer Entwicklungsstörung und die Behandlung komplexer Entwicklungsstörungen häufig in einem Sozialpädiatrischen Zentrum. Die kontinuierliche Behandlung oder pädagogische Förderung findet dagegen mit engmaschigeren Terminen meist in einer allgemeinen Frühförderstelle statt.
Zielgruppe für die Förderung in allgemeinen Frühförderstellen sind alle Kinder, die durch eine Behinderung in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, wesentlich eingeschränkt sind oder von einer solchen Behinderung bedroht sind (§ 53, SGB XII). Die Altersspanne ist auf Kinder beschränkt, die noch nicht eingeschult sind (§ 55, SGB IX). Die Einbeziehung von Kindern, die von einer Behinderung bedroht sind, bedeutet, dass auch Kinder gefördert werden können, die eine Entwicklungsgefährdung aufweisen, während die Kostenübernahme medizinisch-therapeutischer Leistungen durch die Krankenkasse an eine ärztliche Diagnose (nach ICD-10 oder DSM-5) gebunden ist.
Die Einbeziehung von Kindern mit Entwicklungsfährdung in die Zielgruppe der Frühförderung entspricht den Ergebnissen der entwicklungspsychologischen Forschung, die die Bedeutung von ungünstigen Lebens- und Sozialisationsbedingungen für die Entwicklung von Kindern aufgezeigt hat. Die Zielgruppe ist damit grundsätzlich erweitert von Kindern mit Behinderungen auf Kinder mit sehr unterschiedlichen Entwicklungs- und Verhaltensauffälligkeiten, die in Wechselwirkungen zwischen kindlichen Dispositionen, deprivierenden sozialen Entwicklungsbedingungen und dysfunktionalen Familienbeziehungen entstehen. Die Zahl der Kinder, die damit potenziell für eine Frühförderung infrage kommen, ist damit sehr groß und übersteigt – als Hilfesystem für so breit gefächerte Bedürfnisse von Kindern und Familien – die Kapazität der meisten Frühförderstellen.
Für die Perspektiven der Weiterentwicklung des Systems Frühförderung bedeutet dies, dass zwischen „Kerngeschäft“ und „kooperativen Beiträgen“ unterschieden werden muss (Weiß 2005). Die Kernaufgaben betreffen die Beratung und Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder vom Säuglings- bis zum Kindergartenalter und im Kindergartenalter. Kooperative Beiträge können von den Frühförderstellen z. B. zur Nachsorge frühgeborener Kinder, zur Früherkennung von Entwicklungsproblemen im Kindergarten, zur Unterstützung der Integration von Kindern im allgemeinen Kindergarten oder bei niedrigschwelligen Hilfen für Kinder und Eltern in Armutsquartieren geleistet werden. Die Angebote müssen bedarfsgerecht differenziert und flexibilisiert werden, um den unterschiedlichen Bedürfnissen hinsichtlich Entwicklungsproblemen, Lebenslagen, Familienstrukturen und Herkunft gerecht zu werden.
1.1.3 Herausforderungen für die Praxis
Die Erweiterung der Zielgruppe der Frühförderstellen bringt verschiedene Herausforderungen für die Praxis mit sich. Die Fachkräfte bedürfen zum einen einer hohen fachlichen Qualifikation für die Diagnostik und eines fundierten Wissens über die Wirksamkeit verschiedener Förder- und Behandlungsansätze, um zu entscheiden, bei welchen Kindern eine Förderung in der Frühförderstelle angezeigt ist und bei welchen Kindern eine Überweisung an eine andere Einrichtung sinnvoll ist. Zum anderen müssen sie verbindliche Kooperationsstrukturen aufbauen, z. B. zu Nachsorge-Einrichtungen für frühgeborene Kinder, Einrichtungen der Frühen Hilfen zur Prävention von Kindeswohlgefährdungen, sozialpsychiatrischen Hilfesystemen für Familien, in denen die Entwicklung eines Kindes im Kontext einer psychiatrischen Erkrankung eines Elternteils gefährdet ist, und Kindertagesstätten, die sich als inklusive Einrichtungen für Kinder mit sozialen Benachteiligungen und Kinder mit Behinderungen verstehen.
Die Konfrontation mit Familien mit komplexen Unterstützungsbedürfnissen stellt das Selbstverständnis vieler Fachkräfte der Frühförderung infrage. Einige entscheiden sich für eine kindorientierte Förderung in der Annahme, damit „wenigstens etwas für das Kind zu tun“. Sie unterschätzen jedoch, dass eine Förderung nur dann nachhaltig effektiv sein kann, wenn sich auch die Eltern im Alltag auf die besonderen Bedürfnisse ihrer Kinder einstellen und entwicklungsförderliche Impulse setzen. Andere Fachkräfte nehmen die Wechselwirkungen zwischen kindlichen Entwicklungsproblemen und sozialen Entwicklungsbedingungen zum Anlass, sich familientherapeutisch-systemische Kompetenzen anzueignen. Sie überfordern damit jedoch vielfach ihre fachlichen, persönlichen und zeitlichen Ressourcen.
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Weder eine rein auf die Förderung des Kindes ausgerichtete Arbeit der Fachkraft noch familientherapeutische Interventionen werden dem Unterstützungsbedarf der Kinder und ihrer Familien gerecht, die in den Frühförderstellen vorgestellt werden. Es geht vielmehr um ein familienorientiertes Konzept der Förderung und verbindlich geregelte Kooperationen mit anderen Unterstützungssystemen.
1.1.4 Frühförderung als Komplexleistung
Der Gesetzgeber ist dem komplexen Unterstützungsbedarf von Kindern, die behindert oder von einer Behinderung bedroht sind, nachgekommen, indem er im SGB IX die Frühförderung als Komplexleistung definiert hat. Danach sind medizinisch-therapeutische Leistungen und (heil-)pädagogische Leistungen gleichwertig und sollen auf einer gemeinsamen Grundlage finanziert werden. Der Gesetzgeber folgt damit der Empfehlung der Bundesarbeitsgemeinschaft der Rehabilitationsträger (BAR 2002, 7f.):
„Wesentliche Merkmale aller Leistungen der Früherkennung und Frühförderung sind Ganzheitlichkeit, Familien- und Lebensweltorientierung sowie die Beachtung der Ressourcen von Kind und Familie. Alle Elemente werden interdisziplinär und nahtlos in diesen Kontext eingebunden und sind darauf gerichtet, sowohl die Kompetenzen des Kindes zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft als auch die Entwicklungskräfte der Familie zu erkennen, zu fördern und zu stärken.“
Das Konzept der Frühförderung als Komplexleistung in interdisziplinären Frühförderstellen entspricht dem Verständnis der Einschränkungen von Aktivitäten und gesellschaftlicher Teilhabe, wie es die WHO im Rahmen der „Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen“ (ICF-CY; WHO 2011) festgeschrieben hat. Die Grundlage für die Finanzierung von Komplexleistungen wurde mit der Verabschiedung der „Frühförderverordnung“ (FrühV) 2003 gelegt. Die konkrete Auslegung dieser Verordnung wurde jedoch den einzelnen Bundesländern überlassen, die dieser Verpflichtung in unterschiedlicher Form und z. T. erst mit mehrjähriger zeitlicher Verzögerung nachkamen. Die Frühförderverordnung regelt die Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und heilpädagogische Leistungen, die unter Inanspruchnahme von fachlich geeigneten Frühförderstellen und sozialpädiatrischen Zentren unter Einbeziehung des sozialen Umfelds der Kinder ausgeführt werden.
Eine Frühförderstelle gilt dann als interdisziplinär, wenn sowohl medizinisch-therapeutische als auch pädagogische Fachkräfte zu ihrem Team gehören oder wenn verbindliche Kooperationsvereinbarungen getroffen sind, die eine Zusammenarbeit der pädagogischen Fachkräfte mit niedergelassenen Therapeuten sicherstellen. Wie diese Zusammenarbeit ausgestaltet wird, bleibt den Einrichtungen vor Ort überlassen.
Die Umsetzung der Komplexleistung Frühförderung bringt wesentliche Veränderungen in den Leistungsstrukturen mit sich (ISG 2008; Engel et al. 2009). Für die Entscheidung über die Indikation hat sich eine „Zwei-Kreuze-Regelung“ als Konsens durchgesetzt. Eine Komplexleistung ist dann indiziert, wenn bei einem Kind sowohl medizinisch-therapeutische Leistungen als auch pädagogische Leistungen vom behandelnden Kinderarzt bestätigt werden. Diese Interpretation der Vereinbarung lässt allerdings die Möglichkeit offen, dass die Diagnostik zunächst in beiden Bereichen unabhängig voneinander erfolgt und u. U. die Notwendigkeit einer pädagogischen Leistung vom Kinderarzt nicht bestätigt wird (und damit die Kostenübernahme nach den Finanzierungsvorschriften der FrühV nicht gedeckt ist).
Weiterhin wurde in der FrühV geregelt, dass Frühförderstellen auch als offene Anlaufstellen zur Verfügung stehen sollen, wenn Eltern sich um die Entwicklung ihrer Kinder sorgen. Ein Erstkontakt und eine diagnostische Einschätzung, um den Förderbedarf des Kindes zu klären und die Eltern zu beraten, sollen möglich sein, ohne dass zuvor eine förmliche Antragstellung und ärztliche Begutachtung erfolgt. Dies ist allerdings nur in einigen Landesrahmenempfehlungen (z. B. in Nordrhein-Westfalen und Bayern) explizit so vorgesehen.
Nach der Diagnostik ist ein Förder- und Behandlungsplan zu erstellen. Er soll in der Regel die Diagnosestellung nach ICD-10 oder DSM-5, die wesentlichen Befunde zu Kompetenzen und Förderbedürfnissen des Kindes, die geplanten Förder- und Behandlungsangebote für das Kind unter Einbeziehung seiner Bezugspersonen, die Behandlungsform und die Zielsetzung beinhalten. Für den Förder- und Behandlungsplan sind jedoch keine formalen Kriterien vorgesehen, die die fachliche Qualität sichern.
Der Förderplan ist mit dem behandelnden Kinderarzt abzustimmen, wenn die Maßnahmen als Komplexleistung durchgeführt und finanziert werden sollen. Die konkrete Ausgestaltung des damit intendierten Genehmigungsverfahrens wird in den einzelnen Regionen sehr unterschiedlich gehandhabt. Teilweise wird für die Kostenübernahme von heilpädagogischen Leistungen in einer Frühförderstelle von den Eltern erwartet, dass sie ihr Kind zusätzlich einem Arzt im Gesundheitsamt vorstellen. Dies erleben viele Eltern als zusätzliche Belastung.
Leistungen für die Beratung, Unterstützung und Anleitung der Eltern werden unterschiedlich gehandhabt. Bei einem Teil der Einrichtungen sind sie im pauschalen Vergütungssatz pro gefördertem Kind enthalten, in anderen können sie analog zu heilpädagogischen Förderleistungen für das Kind abgerechnet werden, ohne dass zwischen kind- und elternbezogenen Leistungen unterschieden wird. In einer dritten Variante ist dieser Teil der Aufgaben in die Zeitwerte und Vergütungssätze einer heilpädagogischen Fördereinheit integriert. Grundsätzlich ist damit die Einbeziehung der Eltern in die Förderung gesichert. Die Vergütungssätze für einzelne heilpädagogische und medizinisch-therapeutische Leistungen variieren nach den Ergebnissen einer bundesweiten Datenerhebung in den einzelnen Bundesländern zwischen 31 und 53 Euro / Stunde (ISG 2008). In Bayern betragen sie für eine ambulante Frühförderung z. B. 47 Euro, für eine mobile Leistung 63 Euro.
Ort der Leistungserbringung kann die Frühförderstelle oder die Wohnung der Familie sein. Mobile (Hausfrüh-)Förderung ist dabei nur im Leistungskatalog der allgemeinen und spezifischen Frühförderstellen vorgesehen. In einigen Bundesländern muss jede Hausfrühförderung gesondert begründet werden. Dies widerspricht der Intention des Gesetzgebers und ist lediglich durch das Streben der Kostenträger nach einer Kostensenkung begründet, da mobile Frühförderung durch die damit verbundenen An- und Abfahrten mehr zeitliche Ressourcen der Fachkräfte bindet.
Zusätzlich werden von einigen Sozialpädiatrischen Zentren stationäre Leistungen angeboten. Sie dienen der Abklärung von medizinischen Ursachen einer Entwicklungsstörung oder Erkrankung (z. B. eines Anfallsleidens) oder der Einleitung von intensiven Behandlungsmaßnahmen bei komplexen Störungsbildern unter Einbeziehung der Eltern.
Leistungen der Frühförderung können auch in teilstationären Einrichtungen (Kindertagesstätten) erbracht werden. Dies trägt einerseits der Entwicklung Rechnung, dass zunehmend mehr Eltern von ihrem Rechtsanspruch Gebrauch machen und ihr Kind ab dem ersten Geburtstag in einer Kinderkrippe anmelden. Somit ergibt sich für die Frühförderung der Auftrag, sowohl die familiären Erziehungs- und Bewältigungskompetenzen zu stärken als auch die Fachkräfte in der Kindertagesstätte darin zu unterstützen, sich auf die besonderen Bedürfnisse der Kinder einzustellen (Sarimski et al. 2013a). In der Praxis sehen die meisten kommunalen Kostenträger mobile oder ambulante Leistungen der Frühförderstelle und Leistungen in einer Kindertagesstätte als äquivalent an und schließen eine gleichzeitige Finanzierung als „Doppelbetreuung“ aus.
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Damit die soziale Teilhabe eines Kindes mit besonderem Förder- und Unterstützungsbedarf in einer Krippe oder einem Kindergarten gelingt und seine Entwicklung umfassend unterstützt wird, bedarf es der Kompetenz von Fachkräften der Frühförderung. Sie müssen sowohl die Mitarbeiter in der Gruppe im Umgang mit den besonderen Bedürfnissen des Kindes beraten als auch die Eltern in ihren Möglichkeiten bestärken, die Entwicklung im familiären Alltag zu fördern. Ein Ausschluss von familienorientierten Frühförderleistungen im Moment der Aufnahme in eine Krippe oder einen Kindergarten, wie er pauschal von einigen Kostenträgern gehandhabt wird, ist deshalb nicht zu akzeptieren.
1.1.5 Rahmenbedingungen und Leistungsstrukturen der allgemeinen Frühförderung
Im Auftrag der Bundesregierung hat das Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik (ISG) die Rahmenbedingungen und Leistungsstrukturen der deutschen Frühfördereinrichtungen untersucht (ISG 2008). Engel et al. (2009) fassen die Ergebnisse zusammen. „Steckbriefe“ der Frühförderstrukturen in den einzelnen Bundesländern auf der Grundlage dieser Daten beschreibt Sohns (2010). Es wurde eine schriftliche Befragung von 265 allgemeinen Frühfördereinrichtungen, 35 spezifischen Frühförderstellen sowie 86 Sozialpädiatrische Zentren in Deutschland durchgeführt. Nicht berücksichtigt wurden die 338 Frühförderstellen in Baden-Württemberg, die an Sonderschulen angegliedert sind. Die schriftliche Befragung wurde durch die Erstellung anonymer „Kinder-Fallstudien“ auf der Grundlage von 905 Aktenanalysen ergänzt, Diskussionen der lokalen Situation der Frühförderung mit den Beteiligten im Rahmen von „Runden Tischen“ sowie eine schriftliche Befragung von 1236 Eltern, deren Kinder in den teilnehmenden Frühförderstellen betreut werden.
Nach den Ergebnissen dieser bundesweiten Erhebung sind zwei Drittel der Einrichtungen interdisziplinär besetzt, ein Drittel ist (heil-)pädagogisch ausgerichtet. Der Anteil der interdisziplinär besetzten Stellen schwankt zwischen 20 % (Sachsen-Anhalt) und 87 % (Bayern). Nach den Ergebnissen der Erhebung verfügt eine allgemeine Frühförderstelle im Bundesdurchschnitt über 9.45 fest angestellte Fachkräfte (mit 6.58 Vollzeitstellen). Abbildung 1 zeigt die Verteilung der Berufsgruppen auf der Basis der 2475 Fachkräfte, die in den teilnehmenden Einrichtungen tätig waren.
Der Bundesdurchschnitt für ambulante Leistungen liegt nur bei 35 %, d. h. in 65 % aller Frühförderstellen liegt der Schwerpunkt auf mobil-aufsuchender Förderung. Der Anteil mobiler Arbeitsformen ist jedoch regional sehr unterschiedlich. In einzelnen Bundesländern (z. B. Schleswig-Holstein, Brandenburg) beträgt er weniger als 10 %.
10 % der heilpädagogischen Förderung und 4 % der medizinisch-therapeutischen Förderung werden als Gruppenförderung angeboten. Kooperationen mit anderen Frühförderstellen, therapeutischen Praxen, niedergelassenen Ärzten und Sozialpädiatrischen Zentren werden von fast allen allgemeinen Frühförderstellen angegeben, sind aber nur in wenigen Fällen vertraglich geregelt. Feste Vereinbarungen mit therapeutischen Praxen wurden z. B. in 21 % der Einrichtungen geschlossen.
Nach den Befragungsergebnissen förderten die befragten Frühförderstellen am Stichtag (31.12.2006) rund 32.500 Kinder. Die Betreuungszahlen pro Einrichtung schwanken stark. Die Hälfte der Einrichtungen versorgte weniger als 100 Kinder. 31 % der geförderten Kinder erhielten sowohl heilpädagogische als auch medizinisch-therapeutische Leistungen als Komplexleistung, 57 % ausschließlich heilpädagogische Leistungen. Aus diesen Daten lässt sich eine Hochrechnung über die Zahl der bundesweit versorgten Kinder erstellen.
Abb. 1: Verteilung der Berufsgruppen (fest angestellte Mitarbeiter) in allgemeinen Frühförderstellen (ISG 2008)
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Es werden 85.500 Kinder in Frühförderstellen versorgt, das sind 1.67 % aller Kinder in den 16 Bundesländern.
In den befragten 35 spezifischen Frühförderstellen (für Kinder mit Sinnesbehinderungen) sind insgesamt 252 Pädagogen (davon 154 Sonderpädagogen) mit 142 Vollzeitstellen beschäftigt. Fast alle kooperieren mit allgemeinen Frühförderstellen und niedergelassenen Therapeuten. Das Leistungsangebot konzentriert sich auf heil- und sonderpädagogische Leistungen, die in 90 % der Einrichtungen überwiegend mobil-aufsuchend erbracht werden. Insgesamt wurden in den spezifischen Frühförderstellen zum Stichtag 3.618 Kinder betreut (im Durchschnitt 113 Kinder je Frühförderstelle).
Die 128 Sozialpädiatrischen Zentren, die an der ISG-Erhebung teilnahmen, verteilen sich bundesweit sehr unterschiedlich. Über ein dichtes Netz verfügt z. B. Nordrhein-Westfalen mit 33 Zentren, während in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern zum Erhebungszeitpunkt nur jeweils zwei Zentren zur Verfügung standen, so dass die Eltern weite Anfahrtswege in Kauf nehmen müssen. Die Zusammensetzung der Mitarbeiterteams verteilt sich – entsprechend den Zulassungsvoraussetzungen für SPZ – auf Ärzte (17 %), Psychologen (15 %), medizinisch-therapeutische Fachkräfte (34 %) und heilpädagogische Fachkräfte (10 %).
Aus den Angaben der teilnehmenden SPZ lässt sich auch für dieses Teilsystem eine Hochrechnung erstellen. Danach wurden etwa 91.100 Kinder im Alter bis einschließlich sechs Jahren in Sozialpädiatrischen Zentren versorgt, was einer Versorgungsquote von 1.8 % entspricht. Das kleinste Zentrum versorgte zum Erhebungszeitpunkt 193 Kinder, die größte Einrichtung 2.883 Kinder.
Aus den Ergebnissen einer vertiefenden kinderbezogenen Aktenanalyse von 905 zufällig ausgewählten Akten kann schließlich die Zusammensetzung des geförderten Klientels abgeschätzt werden. 19 % der geförderten Kinder waren unter zwei Jahre alt, 33 % im Alter von drei bis vier Jahren, knapp die Hälfte der Kinder jedoch über fünf Jahre alt. Bei 13 % der Kinder begann die Frühförderung erst mit fünf Jahren oder später, d. h. viele Kinder erhalten erst dann Leistungen der Frühförderung, wenn sich abzeichnet, dass der Besuch einer allgemeinen Schule infrage gestellt ist.
Abb. 2: Ärztliche Diagnosen bei 905 Kindern (ISG 2008)
Aus den ärztlichen Diagnosen der Kinder, die in diese Aktenanalyse einbezogen wurden, ergibt sich, dass mehr als die Hälfte der Kinder wegen Entwicklungsstörungen des Sprechens und ein Fünftel der Kinder wegen allgemeiner Entwicklungsverzögerung vorgestellt werden (Abb. 2). Dies bestätigt sich in den Angaben der Eltern, die sich an der Befragung beteiligten. Etwa 40 % von ihnen gaben zudem an, dass ihr Kind sowohl Leistungen des SPZs als auch Leistungen von Frühförderstellen und/oder Therapeuten erhält.
Sonderpädagogische Frühberatungs- und Frühförderstellen in Baden-Württemberg
Zur Struktur der Angebote in den sonderpädagogischen Frühförderstellen in Baden-Württemberg, die an Sonderpädagogische Beratungs- und Förderzentren angeschlossen sind, liegt eine unveröffentlichte Erhebung vor, die im Jahre 2012 durchgeführt wurde (Sarimski 2013a). In die Auswertung konnten 525 Fragebögen von Fachkräften einbezogen werden, die 10.237 Kinder in diesem Bundesland mit 5166 Lehrer-Deputatsstunden betreuen. Das entspricht etwa 60 % der personellen Ressourcen, die dafür zur Verfügung stehen.
Die Mitarbeiterzahl der Frühförderstellen schwankt zwischen 2.12 (Schulen für erziehungsschwierige Kinder) und 8.94 (Schulen für Sprachbehinderte). Mehr als 70 % der Teilnehmer sind überwiegend im Schuldienst eingesetzt. Anders als in allgemeinen Frühförderstellen macht die Frühförderung somit nur einen Teil ihrer Aufgaben aus. Im Durchschnitt betreuen die Mitarbeiter 19.5 Kinder. 25 bis 30 % der Kinder, die in Frühförderstellen für Körperbehinderte, Geistigbehinderte, Hörgeschädigte und Sehbehinderte/Blinde betreut werden, sind unter drei Jahre alt.
Nur 13 % der Fachkräfte geben an, dass sie bei den von ihnen betreuten Kindern die Eltern regelmäßig in die Einzelförderung einbeziehen. Die kindbezogene Einzelförderung macht in vielen Frühförderstellen somit einen beträchtlichen Anteil der Leistungen aus. Für 26 % gehört die systematische Elternberatung und Elternanleitung bei den meisten von ihnen betreuten Kindern zu ihren Angeboten. Der Anteil solcher elternbezogener Maßnahmen ist in Frühförderstellen für Kinder mit Hörschädigungen relativ hoch, in Frühförderstellen, die an Förderschulen oder Schulen mit Schwerpunkt sozial-emotionale Entwicklung angegliedert sind, deutlich niedriger; dort nehmen diagnostische Aufgaben einen größeren Raum ein.
Leistungsangebot der bayerischen interdisziplinären Frühförderstellen
Weiteren Aufschluss über Leistungsangebote der interdisziplinären Frühförderung gibt eine flächendeckende Untersuchung, die 2010 in Bayern durchgeführt wurde (Thurmair et al. 2010). Ihre Ergebnisse sind in einem dreiteiligen Forschungsbericht im Internet zugänglich (https://www.fruehfoerderung-bayern.de/fileadmin/files/PDFs/FranzL_Resultate/Resultate_Teil_I.pdf, 21.02.22) und ergänzen die Erhebung des ISG mit weiteren Daten, exemplarisch erhoben in diesem Bundesland. Der ausführliche Fragebogen wurde von 89 Leiterinnen und Leitern aus 130 Frühförderstellen ausgefüllt. Zusätzlich machten 590 Mitarbeiter Angaben zu ihrer Arbeitssituation.
In den bayerischen interdisziplinären Frühförderstellen waren 22.8 % der betreuten Kinder unter drei Jahre alt. Dies entspricht dem relativen Anteil, der in der bundesweiten ISG-Studie ermittelt wurde. Auch diese Studie macht deutlich, dass sich die Zielgruppe der Frühförderung seit Ende des 20. Jahrhunderts gewandelt hat. Störungen der sozial-emotionalen Entwicklung und des Verhaltens nehmen einen hohen Anteil ein, Kinder mit körperlichen oder genetisch bedingten Behinderungen stellen die Minderheit dar.
Bei einem Drittel der Kinder, deren Eltern sich in Frühförderstellen melden, übernimmt die Frühförderstelle eine „Lotsenfunktion“ und nicht selbst die regelmäßige kind- und elternbezogene Förderung. Gegenüber den Aufbaujahren der Frühförderung hat die Hausfrühförderung als Angebotsform deutlich abgenommen. Nach den Angaben dieser bayerischen Studie beträgt der Anteil der mobilen Frühförderung noch 43 %. Fast die Hälfte der Frühförderstellen erbringen ihre mobilen Leistungen überwiegend in Kindertagesstätten. Dies wird damit begründet, dass die Kinder den ganzen Tag über in der Kindertagesstätte und beide Eltern berufstätig sind, so dass eine Förderung in der Familie nicht in Betracht komme.
Im Rahmen dieser Erhebung wurden die Fachkräfte auch nach den Konzepten gefragt, die sie bei den von ihnen geförderten Kindern einsetzen. Am häufigsten werden dabei für die kindbezogene Förderung die psychomotorische Übungsbehandlung (47.3 %), die Sensorische Integrationstherapie (43.3 %), Basale Stimulation (34.7 %) und das Frostig-Konzept (34.2 %) genannt (Kap. 2.1, 2.3, 2.7). Es folgen Konzepte der Verhaltenstherapie (21.6 %), personenzentrierten Spieltherapie (20.8 %) sowie der Physiotherapie nach Bobath (21.0 %), Castillo-Morales (13.4 %) oder Vojta (6.7 %; Kap. 2.3). Bei der Elternberatung werden klientenzentrierte Gesprächsführung (46.5 %) und Familientherapie / systemische Beratung (26.0 %) als Arbeitsgrundlagen genannt. Jeweils etwa 10 % der befragten Fachkräfte greifen auf verschiedene Konzepte der videogestützten Arbeit zurück (entwicklungspsychologische Beratung nach Ziegenhain, Marte Meo, Interaktionsberatung nach Papousek; Kap. 1.2.3).
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Das Spektrum der Methoden, die in der Frühförderung eingesetzt werden, ist sehr vielfältig. Für die Qualitätssicherung ist es deshalb unerlässlich, dass sich die Fachkräfte mit dem Forschungsstand zu ihrer Wirksamkeit vertraut machen und ihre Interventionen systematisch evaluieren.
1.1.6 Frühfördersystem im Wandel – die Diskussion über die „Große Lösung“
Die Leistungen für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen sind bisher in unterschiedlichen Sozialleistungssystemen geregelt. Bestimmungen für die Eingliederung von Kindern und Jugendlichen mit Lernbehinderung, geistiger und körperlicher Behinderung finden sich in §§ 53 ff im SGB XII (Sozialhilfe). § 35a SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfe) räumt seelisch behinderten Kindern und Jugendlichen, d. h. Kindern mit sozial-emotionalen Störungen mit erzieherischem Bedarf, einen Anspruch auf Leistungen zur Eingliederungshilfe ein.
Diese Zweiteilung führt zu Streitigkeiten über die Zuständigkeit der verschiedenen Ämter für die Kostenübernahme von Leistungen und Verzögerungen bei der Bewilligung. Uneinigkeit besteht über die Abgrenzung zwischen geistiger und / oder körperlicher und seelischer Behinderung, Wechselwirkungen werden ignoriert. Die Ämter bestehen nicht selten auf wiederholten Diagnoseverfahren, die allein das Ziel haben, Zuständigkeiten zu klären. Die Orientierung an Behinderungsformen und Institutionenlogik anstelle von individuellen Ressourcen und Bedürfnissen steht sinnvollen Kooperationsformen entgegen, wie sie insbesondere für die Verwirklichung inklusiver Konzepte erforderlich sind.
In der Fachöffentlichkeit besteht mittlerweile Einigkeit darüber, dass eine leistungsrechtliche Zusammenführung von erzieherischem und behinderungsbedingtem Bedarf zu einer Gesamtzuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe sinnvoll ist („Große Lösung“). In diesem Zusammenhang wird auch eine Aufnahme der Komplexleistung Frühförderung ins SGB VIII diskutiert, um die Kostenteilung zwischen Trägern der Sozialhilfe und der Krankenversicherung zu überwinden. Eine Leistungsgewährung aus einer Hand würde damit möglich, die an dem spezifischen Entwicklungs- und Förderbedarf des Kindes statt einer Behinderungsdiagnose orientiert wäre.
Die gesetzliche Zusammenführung aller Leistungen für Kinder und Jugendliche im System des SGB VIII bedeutet für sich allein allerdings noch keine Verbesserung. Sie bietet zwar die Chance, dass bei der Ausgestaltung der Hilfeangebote verstärkt (sozial)pädagogische Kompetenz einfließt und die umfassenden Unterstützungsbedürfnisse des Kindes bei der sozialen Teilhabe anerkannt werden. Auf Seiten der Jugendämter setzt dies aber fachliche Kompetenzen in allen Fragen von Pflege, Erziehung und Teilhabe von Kindern mit Behinderungen voraus, die meist dort nicht vorhanden sind, und erfordert eine ausreichende finanzielle und organisatorische Ausstattung, um den neuen Aufgaben gewachsen zu sein.
Die Mittel für Eingliederungshilfeleistungen müssten im Rahmen der „Großen Lösung“ dann von den Kommunen als Träger der Jugendhilfe finanziert werden. Viele Kommunen haben jedoch bereits große Schwierigkeiten, allein ihre Pflichtaufgaben in der Jugendhilfe zu erbringen. Das bedeutet unwägbare Risiken für die Finanzierung der Frühförderung als Komplexleistung und birgt die Gefahr, dass Leistungen der Frühförderung unter Kostengesichtspunkten gekürzt werden.
ZUSAMMENFASSUNG
Das System der Frühförderung umfasst interdisziplinäre Frühförderstellen, Sonderpädagogische Beratungsstellen und Sozialpädiatrische Zentren. Ihre Aufgaben umfassen die Früherkennung von Entwicklungsproblemen, Diagnostik, Förderung und Therapie sowie eltern- und familienbezogene Hilfen.
Pädagogische und medizinisch-therapeutische Leistungen werden in den meisten Einrichtungen als Komplexleistung angeboten und auf der Grundlage der bundesweit gültigen Frühförderverordnung finanziert. Die Zahl der Einrichtungen und die Vergütungsstrukturen variieren allerdings in den einzelnen Bundesländern erheblich. Heil- und Sozial- sowie Sonderpädagogen stellen den größten Anteil der fest angestellten Mitarbeiter in Frühförderstellen.
1.2 Grundprinzipien der Frühförderung
Frühförderung orientiert sich an einem bio-psycho-sozialen Entwicklungsmodell. Im frühen Kindesalter entwickeln sich Kinder eigenaktiv in ihrer sozialen Umwelt von Familie und Kindertagesstätte. Der Verlauf ihrer Entwicklung wird von biologischen und sozialen Risiko- und Schutzfaktoren beeinflusst, die miteinander in einer dynamischen Wechselwirkung stehen. Frühförderung hat das Ziel, die Resilienz der Kinder, d. h. ihr Potential für eine günstige Entwicklung trotz beeinträchtigender Risikokonstellationen, zu stärken (Kühl 2003).
1.2.1 Resilienzorientierung
Der Begriff der Resilienz bezieht sich auf die Erfahrung, dass es Kinder gibt, die entgegen aller Wahrscheinlichkeit extrem ungünstige Lebensbedingungen meistern.
DEFINITION
Resilienz bezeichnet eine psychische Widerstandsfähigkeit gegenüber biologischen, psychologischen und sozialen Entwicklungsrisiken.
Diese Widerstandsfähigkeit ist kein individuelles, stabiles Persönlichkeitsmerkmal des Kindes, sondern ergibt sich aus seinen Kompetenzen zur Bewältigung der alltäglichen Entwicklungsaufgaben und der Unterstützung, die es dabei in seiner sozialen Umwelt erfährt. Welche Faktoren dabei jeweils von Bedeutung sind, hängt von der individuellen Lebenslage des Kindes ab und kann sich über die verschiedenen Lebensphasen hinweg verändern.
Weltweit gibt es eine Reihe von Langzeitstudien, die den Entwicklungsverlauf von Kindern, die unter ungünstigen sozialen Bedingungen aufwachsen, bis in das spätere Schul- oder Erwachsenenalter begleiten (Bengel et al. 2009). Dazu gehört z. B. die Kauai-Studie, die bereits in den 1950er Jahren in Hawaii begonnen wurde (Werner 2011). In Deutschland wurde eine repräsentativ zusammengestellte Kohorte von Kindern mit unterschiedlichen biologischen und sozialen Risiken in der Mannheimer Risikokinderstudie (Laucht 2012) bis ins späte Schulalter begleitet. Im Minnesota-Parent-Child-Project (Sroufe et al. 2005) wurde die Entwicklung von Kindern in Armutslagen und zusätzlichen sozialen Belastungen bis zum Alter von 25 Jahren dokumentiert.
Die Langzeitstudien belegen einen kumulativen Effekt von Risikofaktoren, d. h., die Entwicklung eines Kindes wird umso stärker beeinträchtigt, je mehr Risikofaktoren vorliegen. Eine solche Kumulation findet sich häufig bei Kindern in Armutslagen. Armut bedeutet nicht nur reduzierte materielle Möglichkeiten zur Entwicklungsförderung, sondern geht häufig mit psychischer Belastung der Eltern, familiären Konflikten und sozialer Isolation einher, die es den Eltern erschweren, ihre Aufmerksamkeit den Bedürfnissen des Kindes zuzuwenden.
Weitgehend übereinstimmend kommen diese Studien zu ähnlichen Ergebnissen, welche personalen und sozialen Ressourcen die Entwicklung der Kinder auch unter den Bedingungen sozialer Risiken begünstigen (Bengel et al. 2009; Weiß 2010; Grotberg 2011). Zu diesen Schutzfaktoren gehören:
■Eigeninitiative zur Auseinandersetzung mit der Umwelt,
■Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten, Herausforderungen zu bewältigen (Überzeugung von Selbstwirksamkeit),
■Fähigkeit zur Selbstregulation von Emotionen und Handlungen und
■Fähigkeit zur Gestaltung positiver sozialer Beziehungen.
Günstige Bedingungen für die Entwicklung dieser „Schlüsselkompetenzen“ sind:
■mindestens eine stabile, verlässliche Bezugsperson, die Sicherheit, Vertrauen und Autonomie fördert und als positives Rollenmodell fungiert,
■wertschätzendes, unterstützendes Klima zuhause und in Bildungseinrichtungen,
■individuell angemessene Leistungsanforderungen, die Erfolgserlebnisse ermöglichen und
■gute Bewältigungsfähigkeiten der Eltern in Belastungssituationen.
Resilienzorientierung
Im Sinne einer Förderung von Schlüsselkompetenzen und sozialer Schutzfaktoren ersetzt Resilienzorientierung den Begriff der „Ganzheitlichkeit“, der traditionell zur Beschreibung eines Prinzips der Frühförderung verwendet wurde. Er diente den Autoren zur Abgrenzung von funktionalen Trainingsverfahren und Förderansätzen, die auf die isolierte Übung einzelner kindlicher Fertigkeiten in den Bereichen der Wahrnehmung, Motorik, Sprache oder Kognition ausgerichtet waren, war aber unzureichend definiert. Dies führte nicht selten dazu, dass Fachkräfte der Frühförderung ihre Angebote als allgemeine Förderung der Persönlichkeitsentwicklung der Kinder verstanden, ohne ausreichend zu spezifizieren, welche spezifischen Bedürfnisse das Kind hat, welche Kompetenzen es im Einzelnen erlernen und mit welchen Strategien dies geschehen sollte. Resilienzorientierung stellt dem gegenüber einen Bezug her zum empirischen Forschungswissen, welche Faktoren für die kindliche Entwicklung förderlich und durch gezielte Interventionen beeinflussbar sind.
Diese Grundprinzipien geben der Frühförderung von Kindern mit biologischen und sozialen Entwicklungsrisiken einen gemeinsamen Rahmen. Innerhalb dieses Rahmens vollzieht sich die Entwicklung von kognitiven, sprachlichen, motorischen und sozialen Kompetenzen in Verbindung mit den übergeordneten „Schlüsselkompetenzen“ der Eigeninitiative, des Zutrauens in die eigenen Fähigkeiten, der Selbstregulation von Emotionen und Handlungen sowie der sozialen Fähigkeiten.
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Das Kind erwirbt Schlüsselkompetenzen in den alltäglichen Interaktionen, die es inner- und außerhalb seiner Familie erlebt. Die Entwicklungsprozesse werden bestimmt von Anlagen und Dispositionen des Kindes, der Qualität der Eltern-Kind-Interaktionen und den Lerngelegenheiten, die es innerhalb der Familie, den sozialen Beziehungen zu weiteren Bezugspersonen und später in sozialen Gruppen erhält. Die Qualität der Eltern-Kind-Interaktionen und die Entwicklungsimpulse im Alltag hängen wiederum von den persönlichen und sozialen Ressourcen der Eltern ab (Guralnick 2011, 2019; Abb. 3).
Kinder mit biologischen Risiken und Behinderungen weisen eine erhöhte Verletzlichkeit auf und benötigen, „die kompetente, stützende, schützende und begleitende Interaktion mit einem Erwachsenen viel intensiver und viel länger als wenig vulnerable Kinder“ (Rauh 2008, 181).
Abb. 3: Entwicklungszusammenhänge bei biologischen und sozialen Entwicklungsrisiken (nach: Guralnick 2011, 2019)
1.2.2 Familienorientierung
Motivation zur eigenständigen Auseinandersetzung mit der Umwelt, Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten, Kompetenzen zur Selbstregulation und soziale Fähigkeiten entwickeln sich im Kontext sozialer Beziehungen in der Familie und in den sozialen Alltagserfahrungen des Kindes. Eltern haben um ein Vielfaches mehr Gelegenheiten, Entwicklungsanregungen zu setzen, als es Fachkräfte in einer Förderstunde oder in einer Kindertagesstätte können.
Elemente familienorientierter Arbeit
Es ist die Vielfalt von Aktivitäten, die sich zwischen den Förderstunden ergeben – nicht die einzelnen Stunden, in denen die Fachkraft anwesend ist –, in denen Entwicklungsförderung stattfindet. Familienorientierung der Frühförderung ist charakterisiert durch folgende Merkmale (McWilliam 2010; Guralnick 2011; Sarimski et al. 2021):
■Das übergeordnete Ziel ist es, die Familie in die Lage zu versetzen, ihre Probleme selbstständig erfolgreich zu lösen.
■Die Beziehung zwischen den Fachkräften und den Eltern ist durch gegenseitiges Vertrauen, Respekt, Ehrlichkeit und offene Kommunikationsformen bestimmt.
■Die Eltern sind aktive Partner bei allen Entscheidungsprozessen. Sie haben die letzte Entscheidung über die Art der Unterstützung, die sie wünschen.
■Der Arbeitsprozess von Familien und Fachkräften konzentriert sich auf die Identifizierung von Bedürfnissen, Zielen und Sorgen der Familie, ihre Stärken und die Hilfen, deren sie bedürfen, um ihre Ziele zu erreichen.
■Fachkräfte aller Fachrichtungen arbeiten mit den Familien zusammen, um die Ressourcen zu organisieren, die am besten den familiären Bedürfnissen entsprechen.
■Die Unterstützung wird flexibel und individuell auf die sich verändernden Bedürfnisse der Familien abgestimmt.
■Entwicklungsförderung im frühen Kindesalter gelingt, wenn die erwachsenen Bezugspersonen ihre Beziehung zum Kind so gestalten, dass seine Eigenaktivität in der Auseinandersetzung mit der Umwelt angeregt wird und es im Alltag und im gemeinsamen Spiel Impulse erhält, die Entwicklungsfortschritte in der „Zone der nächsten Entwicklung“ des Kindes anstoßen.
Familienorientierung ist jedoch nicht nur ein Prinzip der Frühförderung von Kindern in den ersten drei Lebensjahren. Auch in der Altersgruppe der drei- bis sechsjährigen Kinder ist es das Ziel der Förderung von kognitiven, sprachlichen, adaptiven und sozial-emotionalen Fähigkeiten, die soziale Teilhabe des Kindes an den Aktivitäten inner- und außerhalb der Familie zu stärken. Dieses Ziel kann nur durch aktive Partizipation der Eltern am Förderprozess und Abstimmung der Interventionen auf ihre Bedürfnisse und Ressourcen erreicht werden.
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Eine Förderung kindlicher Kompetenzen in einzelnen Entwicklungsbereichen, die ausschließlich in der Kindertagesstätte, Frühförderstelle oder Therapiepraxis ohne aktive Einbeziehung der Familie stattfindet, entspricht nicht den fachlichen Standards einer „guten Praxis“ in der Frühförderung.
Eine effektive Förderung im Alltag setzt voraus, dass die Eltern sich den Herausforderungen ihrer Lebenssituation gewachsen fühlen und auf die individuellen Bedürfnisse ihres Kindes einstellen können. Dies bedeutet, dass elterliche Belastungen, Sorgen und Nöte von den Fachkräften bei der Diagnostik und Planung von Fördermaßnahmen beachtet werden müssen. Dabei sind die Bedürfnisse aller Familienmitglieder zu berücksichtigen. Unterschiedliche Erziehungshaltungen und kulturelle Traditionen werden dabei respektiert. Die Maßnahmen der Frühförderung sind damit nicht allein auf die unmittelbare Förderung des Kindes, sondern auf die Unterstützung der gesamten Familie in ihrem sozialen Umfeld auszurichten.
Das Prinzip der Familienorientierung ist eng verbunden mit dem Begriff des „Empowerment“, der seit den 1990er Jahren zu einem zentralen Leitmotiv der Pädagogik für Menschen mit Behinderung und der Gesundheitspsychologie geworden ist (Hintermair 2014). Keupp (1992, 149) hat diesen Begriff prägnant definiert:
DEFINITION
Empowerment ist ein Prozess, innerhalb dessen Menschen sich ermutigt fühlen, ihre eigenen Angelegenheiten in die Hand zu nehmen, ihre eigenen Kräfte und Kompetenzen zu entdecken und ernst zu nehmen und den Wert selbst erarbeiteter Lösungen schätzen zu lernen.
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Eltern von behinderten oder von Behinderung bedrohten Kindern in diesem Prozess des Empowerments zu unterstützen, bedeutet, sie aktiv in den Förderprozess einzubeziehen und ihre eigenen Ressourcen zur Förderung zu nutzen und zu stärken.
Ressourcenorientierung und Verarbeitung der Diagnose der Behinderung durch die Eltern stehen dabei in einem engen Zusammenhang. Antonovsky (1997) hat dafür den Begriff des „Kohärenzgefühls“ geprägt. Eltern entwickeln dann Kompetenzen zur Förderung ihres Kindes, wenn sie die Entwicklungsprobleme ihres Kindes verstehen und das Gefühl haben, dass sie für ihr Leben eine Bedeutung haben und zu bewältigen sind. Eltern mit einem ausgeprägten „Kohärenzgefühl“ erleben z. B. die Diagnose einer Hörbehinderung mehr als Herausforderung denn als Bedrohung, betrachten die Probleme aus verschiedenen Perspektiven und finden geeignete Copingstrategien (Hintermair 2003). Hier kann die Beratung in der Frühförderung ansetzen.
TIPP
Säuglinge und Kleinkinder lernen am besten in Alltagssituationen mit vertrauten Bezugspersonen in vertrauter Umgebung. Die Eltern erkennen, wie sie mit den ihnen verfügbaren Spielsachen und in alltäglichen Situationen die Entwicklung fördern können. „Therapiematerialien“ oder isolierte Übungen einzelner Fertigkeiten sind nicht erforderlich.
Die Förderung muss von den Routinen ausgehen, die sich in einer Familie im Alltag ausgebildet haben. Fehlende „Mitarbeit“ der Eltern an der Förderung wird nicht als Desinteresse oder fehlende „Compliance“ interpretiert, sondern als Anlass, die Empfehlungen besser auf die Sichtweise und die vordringlichen Bedürfnisse der Eltern abzustimmen.
Die primäre Aufgabe der Fachkraft ist es, die Familie in einer vertrauensvollen Zusammenarbeit mit Informationen und emotionaler Unterstützung beim Umgang mit der Behinderung des Kindes sowie bei der Gestaltung entwicklungsförderlicher Interaktionen und Beziehungen zu unterstützen („Coaching“). Die Eltern bleiben weder passive Zuschauer der Förderung noch werden sie in eine Co-Therapeutenrolle gedrängt.
Familien- und Alltagsorientierung in der Praxis
Von den Fachkräften der Frühförderung erfordert dies, sich einen fundierten Überblick über den Alltag der Familie und ihre sozialen Beziehungen zu verschaffen und die Unterstützung auf ihre Ressourcen und individuellen Bedürfnisse abzustimmen. Die Kommunikation mit den Eltern muss darauf ausgerichtet sein, ihre aktive Beteiligung an der Förderung des Kindes zu stärken und ihre eigenen Kompetenzen zur Bewältigung von besonderen Herausforderungen zu mobilisieren (McWilliam 2010).
Sie setzt ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen den Fachkräften und den Eltern voraus. Dabei sollte die Fachkraft über folgende Kompetenzen zur Gesprächsführung verfügen:
■aktives Zuhören,
■offenes Fragen, um die elterlichen Sichtweisen kennenzulernen,
■paraphrasierendes Zusammenfassen, um das wechselseitige Verstehen zu sichern,
■Verzicht auf rasche Ratschläge,
■Respekt vor den Erfahrungen der Eltern und
■Sensibilität und Empathie für Äußerungen, die die elterliche Belastung erkennen lassen.
Eltern müssen bereits im Erstgespräch die Familien- und Alltagsorientierung der Angebote der Frühförderstelle wahrnehmen können. Es sollten möglichst beide Elternteile in das Erstgespräch einbezogen werden. Neben der Erhebung von Daten zum Entwicklungsverlauf des Kindes und seinen Auffälligkeiten sollte genügend Zeit vorhanden sein, um die „Geschichte“ der Beziehung zwischen dem Kind und seinen Eltern, ihre Sichtweise der Probleme, ihre Erwartungen und Sorgen kennen zu lernen. Die Eltern sollten von Beginn an wissen, dass ihre aktive Beteiligung an der Diagnostik und Förderung erforderlich ist.
TIPP
Um die Förderung am familiären Alltag und am Ziel der sozialen Teilhabe des Kindes zu orientieren, sollten die Fachkräfte die Eltern bitten, einen typischen Tagesablauf mit dem Kind zu erzählen („routine-based interview“, McWilliam 2010, 2012). Auf diese Weise gewinnen sie einen ersten Eindruck von den familiären Ressourcen, der aktuellen Belastung und den Alltagsabläufen.
Es sollten dabei möglichst viele Aktivitäten, die zur Routine des Alltags gehören, angesprochen werden – vom Wecken des Kindes über das Anziehen, Frühstücken, Spielen, Einkäufe, Besuche, Therapien bis hin zum Abendessen und Zu-Bett-Gehen. Für die Förderplanung werden einige dieser Aktivitäten ausgewählt, d. h. sie wird individuell darauf abgestimmt, was der jeweiligen Familie wichtig ist und was zu ihren Alltagsgewohnheiten gehört. Eine direkte Beobachtung der Aktivitäten ist nützlich, um den Unterstützungsbedarf des Kindes einzuschätzen und mit den Eltern zu besprechen, wie sie seine Kompetenzen zur Teilhabe an der Aktivität gezielt fördern können.
Wirksamkeit der Förderung
Die Wirksamkeit von alltagsorientierten Fördermaßnahmen ist hoch, wenn
–Lernsituationen ausgewählt werden, die im Familienleben bedeutsam sind und sich als Kontext eignen, um sozial-adaptive „Schlüsselkompetenzen“ zur Teilhabe am Geschehen zu erwerben.
–Lernsituationen ausgewählt werden, die dem Kind die Möglichkeit zu Eigeninitiative und zum Erwerb von Fähigkeiten geben, mit denen es eigene Ziele erreichen kann. Sie können von den Vorlieben und Interessen des Kindes ausgehen, d. h. vom Kind initiiert sein, oder von den Eltern und Fachkräften vorbereitet werden.
–die Beratung der Eltern darauf ausgerichtet ist, ihr Zutrauen in ihre eigenen Fähigkeiten zu stärken, dass sie die Entwicklung ihres Kindes wirksam beeinflussen können.
–die Fachkraft konkrete Strategien vermittelt, wie kindliche Fähigkeiten unter den Bedingungen einer bestimmten Behinderung nachhaltig gefördert werden können.
Die Fachkraft gibt somit keine Anregungen zur Förderung aus einem standardisierten Förderprogramm vor; ihre Aufgabe ist es vielmehr, die Eltern zu beraten, wie sie im „natürlichen Kontext“ ihr Kind beim Erwerb von Kompetenzen zur aktiven sozialen Teilhabe unterstützen können. Sie macht ihnen bewusst, welche Handlungsmöglichkeiten sie im Alltag haben, bestärkt sie in ihrer Sensibilität für die kindlichen Bedürfnisse und ermutigt sie, Lösungen zu erproben, die für sie selbst und ihren Familienalltag passend sind.
Pretis (2014a, 2015) befragte 1428 Eltern zu ihren Eindrücken von der Frühförderung. Sie schätzten die Familienorientierung der Frühförderstelle im Allgemeinen hoch ein – unabhängig von der Frage, ob die Förderung zuhause oder in einer Frühförderstelle stattfand. Sie erlebten die Fachkraft überwiegend als verlässlichen Ansprechpartner, der dazu beiträgt, dass sie sich über die Entwicklung des Kindes gut informiert fühlen, Sicherheit gewinnen, wie sie das Kind im Alltag fördern und Probleme in der Erziehung lösen können und die Stärken des Kindes sehen können.
Checkliste: Alltagsintegrierte Förderung planen und evaluieren
–Habe ich Alltagsaktivitäten erfragt, an denen sich das Kind mit Interesse beteiligt?
–Habe ich die Eltern dabei unterstützt, selbst Entscheidungen zu treffen, welche Alltagsaktivitäten sie für die Förderung auswählen möchten?
–Habe ich mit den Eltern Aktivitäten ausgewählt, die im Alltag häufig vorkommen?
–Habe ich mit ihnen Aktivitäten ausgewählt, in denen sich unterschiedliche Entwicklungsimpulse setzen lassen?
–Im Verlauf: Hat sich die Häufigkeit und Vielfalt der Lerngelegenheiten des Kindes bei unterschiedlichen Alltagsaktivitäten erhöht?
–Hat sich die Beteiligung des Kindes an Alltagsaktivitäten erhöht?
–Hat sich die Selbstständigkeit des Kindes in Alltagsaktivitäten erhöht?
–Ist es mir gelungen, die Eltern für die vielfachen Möglichkeiten zu sensibilisieren, ihr Kind im Alltag zu fördern?
Zufriedenheit der Eltern mit der Frühförderung
Zahlreiche Studien, die in den USA, in verschiedenen europäischen Ländern und in Deutschland durchgeführt wurden, sprechen dafür, dass die Eltern mit den Angeboten der Frühförderung ganz überwiegend zufrieden sind. Dies ergibt sich aus qualitativen Studien, in denen Elterngruppen persönlich befragt wurden, ebenso wie aus quantitativen Erhebungen, in denen die Zufriedenheit der Eltern mit den Angeboten mittels standardisierter Fragebögen ermittelt wurde (Bailey et al. 2004; Mahoney/Filer 1996; Peterander 2000; Lanners/Mombaerts 2000; Ziviani et al. 2010; Thätner/Vogel 2012; Pighini et al. 2014; Pretis 2015).
In einer umfangreichen bayerischen Studie (Peterander 2000) gaben z. B. 70 bis 80 % der befragten Mütter an, dass sie aktiv in die Förderung des Kindes einbezogen sind und Vorschläge zur Förderung in den Alltag integrieren. 85 % fühlten sich zufriedenstellend einbezogen in die Planung von Fördermaßnahmen, 60 % zufriedenstellend aufgeklärt über die Ursachen der Behinderung und die Prognose des Kindes. Über 90 % äußerten sich insgesamt sehr zufrieden mit der Förderung und der Zusammenarbeit mit den Fachkräften.
Die Qualität der Beziehung zu einer Fachkraft, die erlebte Unterstützung beim Verständnis der Bedürfnisse des Kindes und die Stärkung der eigenen Kompetenz, die Situation zu meistern, bestimmen dabei die Wirksamkeit der Frühförderung aus der Sicht der Eltern (Lanners et al. 2003; Thätner/Vogel 2012).
Allerdings gilt die hohe Zufriedenheit nicht für alle Eltern und alle Aspekte der Frühförderung gleichermaßen. So ergibt sich z. B. aus amerikanischen Studien der Eindruck, dass gerade die Familien, die selbst über relativ gute und stabile Ressourcen (z. B. hinsichtlich des familiären Zusammenhalts und ihrer zeitlichen und finanziellen Möglichkeiten) verfügten, mit den erhaltenen Hilfen zufrieden waren, nicht aber Familien aus benachteiligten Bevölkerungsgruppen, die ihrer am stärksten bedurften. In anderen Studien äußern sich Eltern, die berufstätig sind und deren Kinder ausschließlich in der Kindertagesstätte gefördert werden, tendenziell weniger zufrieden mit der Frühförderung (Thätner/Vogel 2012).
Im Vergleich zur Förderung des Kindes werden die erlebte emotionale Unterstützung und die Berücksichtigung der Bedürfnisse der Familie als Ganzes von den Eltern deutlich weniger positiv bewertet. So äußerten sich die Eltern, die Pretis (2015) befragte, z. B. zu Items wie „Durch Frühförderung kann ich besser über meine Sorgen sprechen“, „… kann ich auftretende Probleme in der Familie alleine lösen“, „… komme ich besser mit meinen Gefühlen klar“ deutlich weniger zufrieden als zu Items, die sich auf die Förderung des Kindes selbst bezogen.
Einen differenzierten Aufschluss über die Zufriedenheit mit den erhaltenen Hilfen und der Zusammenarbeit mit den Fachkräften gibt eine Studie von Sarimski et al. (2012a, 2013b), in der 125 Eltern von Kleinkindern mit geistiger Behinderung, Hör- oder Sehschädigung befragt wurden. Der Bereich „Zufriedenheit mit den erhaltenen Hilfen“ umfasste Fragen zu Hilfen zur Bewältigung von Schwierigkeiten im Alltag, zum Umgang mit Verhaltensproblemen des Kindes, zur Entwicklungsförderung in den einzelnen Bereichen, zur Klärung von Zukunftsperspektiven sowie zur Mobilisierung von sozialen Ressourcen zur Bewältigung. Der Bereich „Zufriedenheit mit der Zusammenarbeit“ umfasste Fragen wie die Offenheit der Fachkraft für Fragen der Eltern, Berücksichtigung der Bedürfnisse aller Familienmitglieder, Aufklärung über die Ursache und die Entwicklungsaussichten des Kindes, emotionale Unterstützung bei der Bewältigung der besonderen Herausforderungen. Abbildung 4 zeigt die Bedürfnisse, zu denen mindestens 25 % der befragten Eltern aus ihrer Sicht nicht die Hilfe erhalten haben, die sie benötigt hätten. Dies betrifft besonders Informationen zu finanziellen (sozialrechtlichen) Hilfen und Unterstützung beim Umgang mit Krankenkassen und Behörden – die auch Eltern in anderen Studien vermisst haben (Lanners/Mombaerts 2000) – sowie Unterstützung beim Umgang mit schwierigen Verhaltensproblemen.
Auch hinsichtlich der Zusammenarbeit mit den Fachkräften zeigen sich einige Bereiche, mit denen die Eltern nicht zufrieden sind (Abb. 5). So hätten sich mehr als 25 % der befragten Eltern mehr Berücksichtigung der Familienbedürfnisse, mehr Aufklärung zu Entwicklungsaussichten der Kinder, mehr Hilfen zur persönlichen Stärkung und emotionalen Unterstützung sowie generell mehr Verständnis der Fachleute und mehr Alltagsbezug der Fördervorschläge gewünscht. 40 % der Eltern sehen die Bedürfnisse der Familie als Ganzes nicht ausreichend in der Frühförderung wahrgenommen. Die allgemeine Zufriedenheit der Eltern mit der Frühförderung korreliert mit ihrer erlebten Belastung. Zufriedene Eltern zeigen sowohl eine geringere Belastung in der Interaktion mit ihrem Kind als auch weniger familiäre Belastungsmomente. Die Ergebnisse der Studie unterstreichen, dass die Qualität familienorientierter Arbeit hinsichtlich der emotionalen Unterstützung der Eltern, der Berücksichtigung der Bedürfnisse aller Familienmitglieder, der Vermittlung von sozialrechtlichen Hilfen sowie der Unterstützung beim Umgang mit belastenden Verhaltensproblemen der Kinder verbessert werden kann.
Dass familiäre Belastungen in der emotionalen Auseinandersetzung mit der Behinderung und der Interaktion mit dem Kind in Alltagssituationen in der Praxis der Frühförderung oft nicht ausreichend thematisiert werden, ergibt sich auch aus einer Studie von Krause (2012). Er befragte Fachkräfte nach der Zeit, die sie im Rahmen der Frühförderung für Elterngespräche vorsehen. Zwar nehmen sich danach die meisten Pädagogen pro Kontakt 10 bis 15 Minuten Zeit für Gespräche mit den Eltern. Fast die Hälfte der befragten Frühförderer gibt jedoch an, nur bis zu maximal zwei Stunden je halbes Jahr für Elterngespräche aufzubringen, die nicht unmittelbar im Kontext der Förderung des Kindes stehen und sich auf die Belastungen und Zukunftssorgen der Eltern im Allgemeinen beziehen.
Wirkungen von familienorientierter Arbeit
Erfolgreiche familienorientierte Förderung zeigt sich nicht nur in der Zufriedenheit der Eltern mit den angebotenen Hilfen. Dunst et al. (2007) und Dempsey & Keen (2008) legten zwei Meta-Analysen zum Zusammenhang zwischen familienorientierten Prozessen in der Frühförderung und Effekten für die Kinder und die Eltern vor. Sie kamen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass familienorientierte Konzepte der Frühförderung sich nicht nur positiv auf die Zufriedenheit der Eltern mit der Frühförderung auswirken, sondern auch ihr Gefühl von Selbstwirksamkeit, die erlebte soziale Unterstützung und Verfügbarkeit von Hilfen stärken sowie ihre psychische Belastung reduzieren. Eltern schätzen dabei sowohl eine vertrauensvolle, partnerschaftliche Beziehung zur Fachkraft als auch die erlebte Unterstützung in der eigenen Gestaltung förderlicher Interaktionen im Alltag als wichtig ein (Abb. 6).
Abb. 6: Prozesse und Wirkungen in einem familienorientierten Konzept der Frühförderung bei Kindern mit Entwicklungsbeeinträchtigungen (nach Dempsey & Keen 2008)
In einer pfadanalytischen Auswertung der Daten zu mehr als 900 Kindern ließen sich zudem indirekte Effekte auf den kindlichen Entwicklungsverlauf belegen. Je mehr Unterstützung die Eltern für die Gestaltung entwicklungsförderlicher Interaktionen erhalten, desto größer ist ihr Zutrauen in die eigene Kompetenz und desto mehr Gelegenheiten nutzen sie im Alltag zur Förderung. Die Förderung des Zutrauens in die eigene Kompetenz und der psychischen Stabilität der Eltern wirken sich indirekt über die Qualität der Eltern-Kind-Interaktion auf den kindlichen Entwicklungsverlauf aus (Trivette et al. 2010).
Diese US-amerikanischen Befunde ließen sich in zwei Studien zur Evaluation familienorientierter Praxis in Spanien bestätigen, an denen sich insgesamt 415 Familien beteiligten (Mas et al. 2019). Die Eltern wurden nach ihrer Einschätzung der Realisierung familienorientierter Prinzipien durch die Fachkräfte befragt, nach ihrem Zutrauen in ihre eigenen Kompetenzen zur Erziehung und Förderung des Kindes sowie nach ihrem psychischen Wohlbefinden. In den Pfadanalysen fanden sich direkte und indirekte Effekte. Je positiver die familienorientierte Arbeit der Fachkräfte bewertet wurde, umso höher war das Zutrauen der Eltern in ihre eigenen Kompetenzen zur Bewältigung der Herausforderungen; dieses wiederum bestimmte indirekt ihr psychisches Wohlbefinden.
In einer zweiten spanischen Studie analysierten Garcia-Grau et al. (2019) u. a. Zusammenhänge zwischen Merkmalen des Frühförderangebots und der familiären Lebensqualität. Hier wurden 250 Familien befragt. Eltern, die von einem Zentrum mit familienorientiertem Konzept begleitet wurden, schätzten ihre materielle und gesundheitliche Lebensqualität positiver ein und fanden einfacher Zugang zu Informationen und Unterstützungsangeboten. Hinsichtlich der Einschätzungen der Familienbeziehungen und der sozialen Beteiligung des Kindes im Alltag zeichneten sich keine signifikanten Unterschiede im Vergleich zu Eltern ab, die in einem Frühförderzentrum mit eher „traditionellem“ Konzept betreut wurden.
Ob es im Einzelfall gelungen ist, ein familienorientiertes Konzept von Frühförderung in der Praxis zu verwirklichen, lässt sich grundsätzlich an folgenden Kriterien erkennen (Bailey et al. 2008; Dempsey/Keen 2008):
■Die Eltern kennen die Fähigkeiten und individuellen Hilfebedürfnisse ihres Kindes.
■Sie sind in der Lage, Entwicklungsprozesse ihres Kindes selbst erfolgreich zu unterstützen.
■Sie verfügen über befriedigende Unterstützungssysteme.
■Sie kennen ihre Rechte und können für die Bedürfnisse ihres Kindes eintreten.
■Sie nehmen teil an den alltäglichen Aktivitäten ihres Lebensumfeldes.
1.2.3 Interaktions- und Beziehungsorientierung
Ein zentrales Element der familienorientierten Arbeit in der Frühförderung ist die Beratung der Eltern in der Gestaltung entwicklungsförderlicher Interaktionen im Alltag.
Kindorientierte Arbeit und Interaktionsberatung als Spannungsfeld
Interaktions- und Beziehungsberatung und kindorientierte Förderung stehen jedoch in einem Spannungsfeld. In der Praxis erleben die Eltern nicht selten, dass die Förderung primär darin besteht, dass die Fachkraft mit dem Kind eine Förderaktivität gestaltet und am Schluss den Eltern Vorschläge macht, was sie im Laufe der Woche bis zum nächsten Termin mit ihrem Kind „üben“ sollten. Sie geht dabei von der Annahme aus, dass sie den Eltern durch ihre „Förderstunde“ ein Modell bietet, wie sie ihr Kind fördern können – sofern die Eltern überhaupt bei der Therapie im Raum sind. Nur einen geringen Teil der Zeit verwendet sie aber darauf, sich den Eltern direkt zuzuwenden und ihnen Strategien zur Entwicklungsförderung zu erklären, ihre Fragen aufzugreifen und sie zu beraten, wie sie eine solche Strategie in den Alltag integrieren können.
Es liegen inzwischen mehrere Studien vor, bei denen Videoaufzeichnungen von Förderstunden bei Kindern mit unterschiedlichen Behinderungen ausgewertet wurden (McBride/Peterson 1997; Hebbeler/Gerlach-Downie 2002; Peterson et al. 2007; Campbell/Sawyer 2007; Sawyer/Campbell 2017). Sie kommen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass die direkte Interaktion zwischen Fachkraft und Kind deutlich überwiegt und die Fachkräfte nur einen geringen Anteil ihrer Zeit auf die Beratung der Eltern zur Gestaltung ihrer Interaktion mit dem Kind verwenden (Dunst/Espe-Sherwindt 2016; Tomeny et al. 2021).
Dies zeigt sich auch in Befragungen von Fachkräften und Eltern. Sawyer & Campbell (2012) befragten anhand von sechs typischen Fördersituationen mehr als 1500 Fachkräfte, welche Prioritäten sie in der Förderung setzen würden. Etwa die Hälfte der Fachkräfte konzentrierte sich auf die direkte Förderung der Kinder, fast ebenso viele waren der Meinung, dass die Eltern aus der Beobachtung ihres Vorgehens ebenso viel lernen könnten wie aus Situationen, in denen sie aktiv beteiligt sind und ein Feedback erhalten. Insbesondere Fachkräfte mit geringer Berufserfahrung bevorzugten die direkte Arbeit mit dem Kind bzw. die Demonstration des Vorgehens, statt die Eltern aktiv einzubeziehen und zu beraten.
Die Befunde aus anglo-amerikanischen Studien bestätigten sich in zwei Untersuchungen, die in deutschsprachigen Ländern durchgeführt wurden. Lütolf et al. (2018) baten 121 Fachkräfte in der Schweiz, über fünf Arbeitstage ihre Tätigkeiten mit Hilfe elektronischer Dokumentationsmedien in gleichbleibenden Zeitintervallen zu protokollieren. Zu 52 % der Zeit waren sie danach mit der direkten Förderung des Kindes beschäftigt, lediglich 14 % der Arbeitszeit konnten den Aufgabenfeldern der Elternberatung und Elternbegleitung zugeordnet werden.
Sarimski/Lang (2018) werteten Beobachtungen der (Hausfrüh-) Förderstunden bei 49 Kindern aus, die blind oder sehbehindert waren. Danach wendeten sich in 47 % der Zeit die Fachkräfte mit Förderangeboten ausschließlich an das Kind, in 25 % wurden die Eltern einbezogen. 27 % der Zeit waren primär von Gesprächen mit den Eltern über die Förderplanung und den Entwicklungsverlauf des Kindes bestimmt. Themen, die sich auf die Belastung der Eltern und ihre Beziehungen bezogen, machten insgesamt weniger als 10 % der Beobachtungszeit aus.
Eine gezielte Interaktions- und Beziehungsberatung unterscheidet sich deutlich von traditionellen, kindorientierten Formen der Förderung und lässt sich als „Coaching“ der Eltern bezeichnen. Die Eltern reflektieren ihre Handlungen in der Interaktion mit dem Kind, bewerten ihre Wirkungen und entwickeln einen Plan, wie sie den Kompetenzerwerb des Kindes systematisch unterstützen können (Rush/Sheldon 2011). Fachkraft, Eltern und Kind interagieren in der Förderung als Triade, die Eltern nehmen aktiv an der Förderung teil, die Fachkraft kommentiert die gemeinsamen Interaktionen und berät die Eltern in der Art und Weise, wie sie ihre Interaktionsformen an die individuellen Bedürfnisse ihres Kindes beim Erwerb neuer Kompetenzen anpassen können („guided practice with feedback“; Dunst/Trivette 2009; Friedman et al. 2012; McLeod et al. 2021).
Ein solches Verständnis der Zusammenarbeit mit Eltern ist nicht gleichbedeutend mit einer Anleitung von Eltern zu Co-Therapeuten, wie sie in den Anfängen der Frühförderung vorherrschte. Bei Coaching-Prozessen treten die Fachkraft und die Eltern in einen wechselseitigen Dialog über ihre Erfahrungen, respektieren ihre Sichtweisen als gleichberechtigt, suchen gemeinsam nach Lösungen für Probleme und reflektieren die Erfahrungen bei der Umsetzung von Lösungsideen gemeinsam (Lorio et al. 2020). Das setzt seitens der Fachkraft die Fähigkeit zu einer offenen, respektvollen Kommunikation, Wissen über entwicklungsförderliche Interaktionsformen und effektive Formen der Rückmeldung an die Eltern bei der Anpassung ihrer Interaktion an die Bedürfnisse des Kindes voraus.
Kompetenzen zur Gestaltung von Coaching-Prozessen können im Rahmen von Professionalisierungsmaßnahmen von Fachkräften erworben werden. So zeigten Campbell/Sawyer (2009) und Salisbury/Cushing (2013), dass Fachkräfte nach einer solchen Fortbildung die Förderung mehr als dreimal so häufig als eine Vergleichsgruppe als gemeinsame Interaktionen gestaltete und Gelegenheiten zur Anwendung der Prinzipien des Coachings in der Interaktion mit den Eltern nutzten. In Förderprozessen, bei denen diese Prinzipien beachtet wurden, waren die Eltern wesentlich aktiver an der Förderung ihrer Kinder beteiligt (Campbell/Sawyer 2007).
Aus Sicht der Fachkräfte sind familien- und interaktionsorientierter Konzepte in der Frühförderung allerdings nicht in jedem Fall zu verwirklichen. Sie nennen auf Seiten der Eltern eine geringe Motivation zur aktiven Partizipation, ein geringes Bildungsniveau und spezifische Belastungen (z. B. psychische Erkrankungen) als Hindernisse (Fleming et al. 2011).
Videoaufzeichnungen als Beratungsgrundlage