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Katrin kann es nicht fassen: Sie hat das große Los gezogen – und eine Woche Skiurlaub im Fünf-Sterne-Hotel gewonnen. Unverhofft findet sich die Supermarktkassiererin in einem Kreis von reichen und attraktiven Hotelgästen. Ihr kleines Geheimnis behält sie für sich und wird für die Männer nur umso interessanter. Das Leben ist süß – bis Katrin merkt, dass da noch andere Kräfte am Werk sind. Als das Hotel eingeschneit wird, verdichten sich die Turbulenzen … Mit einer erfrischenden Portion schwarzem Humor schaut Gaby Hauptmann auf die Welt der Reichen und Schönen. So amüsant und kurzweilig wie eine Woche Skiurlaub in den österreichischen Bergen!
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Die Personen
Katrin (Cathrin)
Gewinnerin des Aufenthalts in einem österreichischen Fünf-Sterne-Hotel
Ronny
Katrins Freund in Stuttgart
Tante Ruth
Katrins Tante, bei der sie in Stuttgart lebt
Fredy
Hotelier des
Residenz
Toni
arbeitet an der Rezeption des
Residenz
Jan
Staatsanwalt, exzellenter Skifahrer, verheiratet mit Roxana
Roxana
Jans Frau
Eli
Roxanas Freundin
Oliver
Zahnarzt, fährt am zweiten Tag mit Katrin zusammen
Matthias
undurchsichtig, zahlt meist alles
Alfons
Skilehrer von Matthias
Gerhard
gefällt Katrin gut, knackst sich die Rippen an
Rudi
verheirateter Lebemann, lebt auf Kosten seiner Frau
Benita
eloquente Frau, paßt auf Rudis Geld auf
Isabelle
Elkos Frau, Veganerin
Elko
Isabelles Mann mit speziellen Vorlieben
Lilly
23jährige Barbie
Micky
steckt viel Geld in Lilly
Der Brief lag zwischen anderen und sah eher unscheinbar aus. Katrin sah sich ihre Post jeden Tag aufs neue mit einer Mischung aus Neugierde und Furcht an. In jedem der länglichen Umschläge befürchtete sie eine Rechnung und erhoffte sich zugleich den Liebesbrief eines Unbekannten. Letzteres war eigentlich illusorisch, das wußte sie, aber es war ihr Anreiz, nach dem Brieföffner zu greifen.
Heute war die Lage klar. Zwei Werbebriefe, eine Postkarte ihrer Kollegin, die sich dank betuchter Eltern im Winter in der Karibik austoben durfte, eine Rechnung ihres Autohauses – diesen Brief würde sie frühestens morgen aufmachen, besser noch am Wochenende, wenn ihre Laune die Summe aushielt – und ein taubenblaues Kuvert mit einem Absender, der ihr nichts sagte. Katrin drehte und wendete es, dann entschloß sie sich, den Brief zu öffnen. »Herzlichen Glückwunsch« stand da fettgedruckt und daß sie gewonnen habe: einen siebentägigen Urlaub in einem österreichischen Skihotel. Fünf Sterne. Katrin hielt den Brief in der Hand und überlegte. Sie war bereits einmal in einem Fünf-Sterne-Hotel gewesen. Das war in Italien und nichts Besonderes, eher antik heruntergekommen. Trotzdem! Es war keine Rechnung, und es hörte sich irgendwie gut an. Sie beschloß, sich eine Cola aus dem Kühlschrank zu holen und diesen Brief in Ruhe zu lesen.
Katrin hatte während ihrer dreiundzwanzig Lebensjahre noch nie etwas gewonnen. Nicht einmal als kleines Mädchen bei den Weihnachtsfeiern im Turnverein, bei denen sie ihren Eltern jedes Jahr unendlich viele Tombolascheine abbettelte. Ihre Schwester dagegen hatte immer Glück. Sie gewann meist die größten Teddybären, später machte sie das Abitur mit links und angelte sich einen angehenden Arzt. Katrin mochte ihre Schwester nicht besonders. Sie tat immer so, als sei sie etwas Besseres, dabei waren sie ja beide in dem kleinen Reihenhäuschen am Ortsrand einer verschlafenen Kleinstadt aufgewachsen. Nur daß Katrin die Ältere und Zurückhaltende war und Beate die Jüngere und Verzogene.
Katrin wohnte bei ihrer Tante Ruth in einer kleinen Einliegerwohnung, die diese ursprünglich für ihren Sohn Michael vorgesehen hatte. Sie war vor einem halben Jahr in der Erwartung, daß die Großstadtluft etwas Besonderes aus ihr machen, sie irgendwie formen würde, nach Stuttgart gezogen. Zuvor hatte sich Katrin schon in den Zeitungen nach Jobangeboten umgesehen, doch es war aussichtslos. Die Mieten waren ein reiner Schock, für diese Zimmerpreise bekam man im Schwarzwald ganze Häuser, da kam es ihr ganz recht, daß der Sohn ihrer Tante zum Nestflüchter wurde. Ihm schien Stuttgart zu klein und provinziell, er zog nach Berlin.
Für Katrin war Stuttgart goldrichtig, und sie war glücklich über das Angebot ihrer Tante, zu ihr kommen zu können, und dann fand sie auch gleich Arbeit bei Schlecker an der Kasse. Das war zwar nicht ihr Traumjob, aber sie vertraute ihrem Schicksal. Immerhin hatte sich ihr neues Leben nicht schlecht angelassen. Und vor kurzem hatte sie auch noch Ronny kennengelernt, mit dem sie jetzt zusammen war.
Katrins neue Wohnung war zwar klein, aber sie hatte ihr eigenes Reich. Michael hatte seine Möbel stehen lassen, weil ihm der Transport zu nervig war und sie ihm im Hinblick auf die Loveparade-Metropole zu kleinbürgerlich vorkamen. Damit lag er nicht falsch, alles sah gewaltig nach Ruths in die Jahre gekommenem Geschmack aus, aber Katrin war dennoch froh. Es ersparte ihr eine Menge Kohle. Die Wohnung hatte nur einen Fehler, sie war überaus hellhörig. Wenn Ruth im Haus war, und das war sie oft, weil sie nach der Scheidung von ihrem Mann nichts mehr zu tun hatte, hörte Katrin jedes Geräusch im Haus. Es war, als ob zum Beispiel die Wasserleitungen direkt durch ihre vierzig Quadratmeter Wohnfläche hindurchgehen würden.
Katrin setzte sich mit dem Brief und einer Dose Cola an den kleinen Tisch am Fenster. Sie nahm es eigentlich noch immer nicht ernst, denn sie konnte sich auch an keinen einzigen Wettbewerb erinnern, an dem sie teilgenommen hätte. Sie mutmaßte eine versteckte Kaffeefahrt oder die andere Masche à la: Hier ist Ihr Gewinn, jetzt müssen Sie nur noch einen Liebestöter bestellen und Ihre Glücksnummer freirubbeln. Aber bei genauerem Hinsehen waren in dem Umschlag noch ein Prospekt des angeblichen Fünf-Sterne-Hotels und einige Gutscheine, deren Sinn sie nicht verstand. Dafür erschloß sich ihr die Preisliste des Hotels recht schnell. Die Zimmerpreise lagen über 250 Euro pro Nacht. Jetzt glaubte Katrin überhaupt nichts mehr. Das war ganz eindeutig irgendein blöder Werbetrick. Als ob jemand 250 Euro für eine Nacht hinblättern würde.
Sie hörte das Gartentor quietschen, schaute hinaus und schob den Brief zur Seite. Ruth kam zurück. Es war die ständig gleiche Prozedur. Der Jägerzaun, der das kleine Grundstück begrenzte, war alt und an manchen Stellen bereits morsch, und so hing auch das Gartentor durch. Ruth mußte es anheben, damit es sich überhaupt öffnen ließ. Dann zirkelte sie den Wagen über die reifenbreit ausgelegten Steinplatten in den Garten, öffnete anschließend das krächzende Garagentor und schloß das Gartentor. Es mußte eine Marotte sein, überlegte Katrin, während sie ihrer Tante zusah, denn Ruth ließ ihren Wagen nicht einmal für eine halbe Stunde an der Straße stehen. Ganz am Anfang hatte Katrin sie einmal danach gefragt, aber nur eine unbefriedigende Antwort bekommen, es passiere so viel in Stuttgart. Aber das hier war eine Wohngegend, die eher ruhig war. Die Straße führte durch eine Kolonie von Nachkriegshäusern, alle gleichermaßen klein, viereckig, eintönig, eine Siedlung, die vom Stolz des Wiederaufbaus zeugte, den Zug der Zeit aber verpaßt hatte. Absichtlich, weil man in dem Haus, in dem man die Kinder großgezogen hatte, nichts ändern wollte, oder zwangsläufig, weil das Geld zum Umbau fehlte. Hier und da zeigte sich etwas Phantasie, andere Farben, vereinzelt Wintergärten, aber wer wirklich zu Geld gekommen war, hatte sich an anderer Stelle für einen Neubau entschieden.
Ruth war hiergeblieben, denn hier hatte ihr Leben einen Sinn bekommen, zuerst durch die Hochzeit mit Manfred und später durch die Geburt ihres Sohnes. Als ihr Mann eine andere erwählte, versuchte sie der Katastrophe auszuweichen, indem sie sich auf Michael konzentrierte. Noch hatte sie ja einen Mann im Haus, und er genügte ihr auch. Sie nahmen ihre Mahlzeiten regelmäßig gemeinsam ein, fuhren zusammen in den Urlaub, er erzählte ihr alles aus seinem jungen Leben. Sie führte ihm den Haushalt, und er gab ihr das Gefühl, wichtig zu sein. Daß er sie irgendwann verlassen könnte, hatte sie nie bedacht. Seitdem machte es keinen Sinn mehr, das Haus zu putzen, einzukaufen und zu kochen. Sie verfiel in Todesstarre und dämmerte vor sich hin, bis ihre Schwester anrief und wegen ihrer Tochter Katrin nach der kleinen Einliegerwohnung fragte. Katrin war zwar kein Ersatz für Michael, aber wieder ein Mensch im Haus und ein Grund, wieder zu leben.
Katrin wartete auf das knarrende Schließen des Garagentors und schaute zu, wie ihre Tante ins Haus ging. Es mußte in der letzten Stunde noch kälter geworden sein, denn sie sah, wie Ruths Atem weiß vor ihrem Gesicht stand, während sie in ihrer Tasche nach dem Haustürschlüssel suchte. Es war Januar und nach einem viel zu warmen Jahreswechsel plötzlich richtig eisig geworden. Katrin dachte flüchtig an ihre Kollegin in der Karibik, dann drehte sie ihre Zentralheizung höher. Ruth sah das zwar nicht gern, sie war eher für eine dicke Strickjacke im Haus, aber Katrin war das jetzt egal. Irgendwie war das Leben schon ungerecht, fand sie und legte beide Hände auf die weißen Rippen der Heizung, um sich zu wärmen. Dann fiel ihr der Brief wieder ein. Vielleicht hatte sie ihn doch zu hastig gelesen. Es war eine alte Unart von ihr, Texte nicht richtig zu lesen, sondern nur zu überfliegen. Anschließend wußte sie immer nur halb, aber nie richtig, was Sache war. Das hatte sie das Abitur gekostet, und sie war nicht ehrgeizig genug, die Prüfung noch einmal zu wiederholen. Sie wollte direkt durchstarten, voll ins Leben – und da war sie nun.
Der Brief sah seltsamerweise seriös aus. Sie hatte nun bereits alles zum dritten Mal gelesen, aber sie fand keinen Haken. Gewonnen hatte sie, weil sie sich kürzlich in einem Reisebüro nach einem Winterurlaub erkundigt hatte. Sie bekam alle möglichen Angebote vorgelegt, gab aber vor, sich nicht zwischen Kanada, Frankreich oder Österreich entscheiden zu können. Die junge Frau gab sich redlich Mühe, aber Katrin überlegte nur noch, wie sie aus dieser Situation wieder herauskommen könnte. Sie konnte ja schlecht offenbaren, daß ihr Geld höchstens für den Winterberg in Schonach reichen würde. Sie wolle mit ihrem Freund noch einmal wiederkommen, meinte Katrin schließlich. Das sei in Ordnung, sagte die Angestellte und fragte Katrin nach ihrer Adresse. Katrin ging davon aus, nun weitere Angebote per Post zu erhalten, und grinste darüber. Mit keinem Gedanken dachte sie an ein Preisausschreiben. Eher daran, sich mit jedem neuen Vorschlag hinwegträumen zu können.
Nun hatte sie tatsächlich gewonnen. Als glückliche Gewinnerin wurde sie laut Anschreiben zu einer kleinen Feier gebeten, zu der auch ein Fotograf für das hauseigene Werbemagazin kommen sollte. Und die Stuttgarter Zeitung, die Stuttgarter Nachrichten, das Stuttgarter Anzeigenblatt Flohmarkt und verschiedene Stadtmagazine seien auch geladen worden. Man hoffe auf einen schnellen Rückruf der Hauptgewinnerin. Katrin zögerte. Sie hatte um vier Uhr zu arbeiten aufgehört, es war auch jetzt noch verhältnismäßig früh. Die Läden hatten offen, das Reisebüro sicherlich auch, sie könnte direkt dort anrufen. Aber es war ihr alles noch zu frisch. Zu unheimlich. Sie mußte sich erst mit dem Gedanken anfreunden.
Ronny, ihr Freund, sah das nicht so. Er bedauerte, daß der Preis nur für eine Person galt.
»Meinst du nicht, ich könnte mich da mit einschmuggeln?« fragte er, als sie sich endlich durchgerungen hatte, wenigstens ihm von ihrem Gewinn zu erzählen.
Katrin mußte lachen. Ronny war ein Typ, den sie ihren Eltern bisher vorenthalten hatte. Mit rot gemustertem Kopftuch, goldenem Ohrring und zu weiten Hosen hätte er nicht in ihr Bild von einem möglichen Schwiegersohn gepaßt.
Aber für Katrin war wichtig, daß er vor allem nach Großstadt roch, und mit diesem Duft hoffte sie, den Kleinstadtmief ihrer Vergangenheit zu vertreiben. Tante Ruth, die bei seinem ersten Anblick erwartungsgemäß erschrak, beruhigte sie. Er sei einfach ein Sportkamerad, erklärte Katrin, und so sah er auch meist aus. Problematisch war nur, daß sie und Ronny keinen wirklichen Platz für sich hatten. In Katrins Wohnung blieb kein Niesen ungehört, geschweige denn ein feuriger Liebesakt. Und da Ronny auf bürgerliche Konventionen keine Rücksicht nahm, ließ sie es gar nicht erst darauf ankommen. Geliebt wurde in seiner Bude, die er mit zwei anderen Typen teilte und die daher auch nicht gerade das geeignete Liebesnest war. Spontan ging da nichts. Aber immerhin zwischendurch geplant, und Katrin fand, daß es so schon okay sei.
»Ich bin ein Meister auf dem Snowboard«, sagte er gerade am Telefon. »Habe ich dir das schon gesagt?«
»Du hast mir gesagt, daß du bereits zweimal auf dem Brett gestanden hast, ja.«
»Ja! Und daß es super ging!«
»Auch das, ja!« Sie mußte wieder lachen. Sie, die auf Skiern aufgewachsen war, was im Schwarzwald kein Luxus, sondern pure Selbstverständlichkeit war, konnte sich Ronnys Meisterschaft lebhaft vorstellen.
»Vielleicht kannst du ja so mit«, überlegte sie laut. Aber es war klar, daß es keine Chance gab. Ronny jobbte in einer Pizzeria und tauschte zwischendurch den roten Panda, mit dem er die Bestellungen ausfuhr, gegen sein Rennrad, das er zu Kurierfahrten einsetzte. Da war kein Urlaub am Arlberg drin. Er hatte ja schon Mühe damit, seine laufenden Kosten unter Kontrolle zu halten.
»Jedenfalls schön für dich«, sagte er gerade, und das fand Katrin wiederum nett an ihm. Er gönnte es ihr. »Und nimm bloß keine heißen Klamotten mit. Die sind da alle scharf!«
»Blödsinn!« Was er sich nur dachte? Erstens hatte sie keine heißen Klamotten, sie war eher auf T-Shirts und Jeans gepolt, und zweitens war das eine typisch männliche, völlig alberne Unterstellung. »Es gibt so viele tolle Frauen am Arlberg, da warten die gerade auf mich!«
»Woher willst du wissen, daß es dort so viele tolle Frauen gibt?«
Aus eigener Erfahrung nicht, das mußte sie zugeben. Aber immerhin las sie zwischendurch die einschlägigen Magazine.
»Wir werden ja sehen!«
In dieser Nacht konnte Katrin kaum einschlafen, und in der nächsten auch nicht. Da wußte sie nämlich, was alles auf sie zukam: ein siebentägiger Urlaub, dazu Gutscheine im Wert von je 150 Euro für verschiedene Skihütten im Skigebiet. Für die Fahrt zeichnete ein Stuttgarter Sportgeschäft verantwortlich, auch für die Leihskier und Skischuhe in Zürs. Dafür mußte sie im Gegenzug für die Werbebroschüren der Sponsorfirmen zur Verfügung stehen, und ein Fotograf würde zudem an einem Tag entsprechende Bilder im Schnee, im Hotel und an einer Bar machen. Nachdem Katrin umfassend informiert worden war, rechnete sie sich alles zusammen und fand, daß ihr eine entsprechende Bargeldausschüttung besser gefallen würde. Zudem plagte sie die Angst. Die Angst vor dieser Veränderung, die Angst vor dem Neuen, und überhaupt. Es war wieder typisch. Da gewann sie zum allerersten Mal in ihrem Leben etwas – und dann mußte es gleich so etwas Hochkompliziertes sein.
Der Termin rückte näher. Katrin hatte bei Schlecker für die entsprechenden Tage Urlaub bekommen und sich im Secondhandshop nach einigen Teilen umgesehen, die ihr arlberggemäß erschienen. Durch die ganze Aufregung hatte sie zwei Kilo abgenommen und wirkte bei ihrer Größe von einem Meter fünfundsiebzig jetzt fast zu schlank. Aber sie nahm sich vor, keinen der Gutscheine auszulassen, eher würde sie sich kugelrund futtern. Ihr dunkelbraunes Haar hatte sie bei einer Meisterschule schneiden lassen, das kostete wenig, und die angehenden Friseurmeister hatten meist gute Ideen. Jetzt fiel ihr vorher rückenlanges, glattes Haar nur noch bis auf die Schultern, aber der stufige Schnitt eröffnete neue Möglichkeiten. Bei einem Mittelscheitel konnte sie rechts und links vor den Ohren zwei Strähnen bis zum Kinn fallen lassen und den Rest hinter die Ohren klemmen. Und bei einem Seitenscheitel konnte sie eine Seite mit einer Klammer wegstecken oder mit Gel nachhelfen. Beides sah frisch aus und gefiel ihr. Für ihre grünen Augen hatte sie sich nur einen leichten gelblichgrünen Puder geleistet und für ihren vollen Mund etwas bräunlichen Lippenstift und Lipgloss. Sie schminkte sich in ihrem kleinen Badezimmer und fand sich recht hübsch. Das passierte ihr nicht oft, denn Selbstbewunderung lag ihr nicht, aber die Frisur machte einen anderen Typ aus ihr, und es gefiel ihr. Sie fuhr mit dem Zeigefinger über ihre Stupsnase und mußte lachen. »Abenteuer Arlberg«, sagte sie laut und nickte sich zu. Dann mußte sie schnell auf die Toilette, weil ihr der morgige Fototermin mit den Zeitungen fürchterlich im Magen lag.
Es war halb so glamourös, wie sie sich das vorgestellt hatte. Irgendwie dachte sie schon an einen schillernden Empfang, wahrscheinlich lag es daran, daß sie entsprechende Fotos aus Magazinen vor Augen hatte. Die Filmfestspiele in Cannes, Abendgalas bei der Formel 1 in Monte Carlo oder was eben sonst so aus dem Jet-set-Leben abgedruckt wurde. Sie hatte Angst vor diesem Termin, aber sie spürte auch ein aufgeregtes Gefühl, etwas, das in ihrem Körper zwischen Kopf und Zehenspitzen kreiste und mal zu einer unvermittelten Gänsehaut, mal zu plötzlicher Überhitzung führte. Es war wie die erste, besinnungslose Verliebtheit.
Trotz dieser Vorgefühle wäre sie dann doch fast zu spät gekommen. Geschlagene zwei Stunden stand sie vor dem Spiegel, weil ihr das Outfit, das sie sich nach langen Überlegungen und Anproben für diesen großen Auftritt zurechtgelegt hatte, plötzlich nicht mehr gefiel. Sie wurde von Minute zu Minute unglücklicher. Hastig zog sie sich andere Kleidungsstücke aus dem Schrank, aber was sie auch anzog, es gefiel ihr nichts. Erschien ihr das eine zu gewollt, fand sie das andere zu leger, das nächste zu bieder und den Fummel, den sie extra für diesen Auftritt gekauft hatte, nach nochmaliger Anprobe zu unvorteilhaft. Es fehlte ihr ein Berater, eine gute Freundin, irgend jemand, der ihr hätte weiterhelfen können. Schließlich entschied sie sich für ein schwarzes Kleid, das seit der Beerdigung ihrer Großmutter im Schrank hing und seit dieser Zeit auch keine Verwendung mehr gefunden hatte. Es hatte einen dezenten Ausschnitt, war schmal geschnitten und endete knapp über dem Knie. Es war nichtssagend schlicht, aber Katrin hatte keine Zeit mehr für weitere Experimente. Sie legte sich ein schmales Silberband um den Hals, suchte die passenden schwarzen Schuhe, die bei genauer Betrachtung eigentlich noch zum Schuster gemußt hätten, nahm einen dicken Mantel und fuhr los, hin zu dem Reisebüro, dem sie nun einen Fünf-Sterne-Skiurlaub zu verdanken hatte.
Das Blitzlichtgewitter hielt sich in Grenzen, denn es war nur ein einziger Mann gekommen; dieser erklärte allerdings, daß er als freier Journalist und freier Fotograf für alle Zeitungen in Stuttgart zuständig sei. Katrin konnte sich das nicht so recht vorstellen, aber sie hatte auch keine Zeit, länger darüber nachzudenken, denn der Geschäftsführer des Reisebüros stürzte aus seinem Büro und schüttelte für die Kamera lang und ausdauernd ihre Hand. Dazu lächelten sie sich lang und ausgiebig an. Dann stellten sie sich auf Anweisung des Fotografen nebeneinander, hielten den auf gelbes Papier gedruckten Hotelgutschein fest, auf der einen Seite die Hand des Geschäftsführers, auf der anderen ihre eigene, so als sollte das Stück Papier in der Mitte zerrissen werden, und lächelten erneut. Als drittes Motiv hatte sich der Fotograf für Katrin eine Skibrille und für den Geschäftsführer ein paar Skier ausgedacht. Sie sollten das möglichst locker-flockig präsentieren, aber Katrin fand, daß sie mit einer Skibrille über den Augen im kleinen Schwarzen blöd aussähe, und so bekam eben jeder einen Ski, den sie rechts und links hielten, während sie in der Mitte den Geschenkgutschein übergaben. Der Journalist wollte noch Namen und Alter von Katrin wissen und ob sie schon am Arlberg gewesen sei und darüber hinaus überhaupt Ski fahren könne. Sie könne Ski fahren, sei noch nie am Arlberg gewesen und hieße Katrin mit K und ohne h. Das sei ihr wichtig. Der Journalist notierte, und damit war die Pressekonferenz beendet. Der Geschäftsführer hatte auch keine Zeit mehr, nur die junge Frau, die sie damals beraten hatte, schenkte ihr noch ein strahlendes Lächeln.
»Sind heute alle fürchterlich busy«, sagte sie entschuldigend, »eigentlich hatte der Chef Sekt und Häppchen vorgesehen, auch für alle Mitarbeiter, aber gestern lief ein Beitrag über Reiseveranstalter im Fernsehen, der uns jetzt fürchterlich viel Streß bringt!«
»Da kann ich doch nichts dafür«, war Katrins erste Reaktion.
»Nein, natürlich nicht!« Die Frau lachte und zuckte die Achseln. »Es geht um Kinderrabatte, die, wenn man es genau nachrechnet, gar keine sind. Und wir haben jetzt natürlich erst mal die Leute am Hals, die vor kurzem bei uns gebucht haben!«
Auch das ging Katrin nichts an. Sie hatte nicht gebucht, sie wurde gebucht. Daß sie dafür aber keinen Sekt bekommen sollte und überhaupt alles abgekürzt wurde und lieblos war, fand sie trotzdem gemein.
»Beim nächsten Mal wird’s besser«, sagte die junge Angestellte, drückte ihr die Hand und wies mit einer knappen Kopfbewegung in Richtung der ständig läutenden Telefone. »Tut mir leid, ich muß jetzt auch wieder! Trotzdem schöne Ferien!«
»Ja, danke«, murmelte Katrin.
»Und schicken Sie uns mal ’ne Postkarte!«
Tante Ruth hatte ihr bei der Abfahrt 50 Euro zugesteckt, im Auftrag ihrer Mutter, wie sie sagte, aber Katrin konnte es nicht so recht glauben. Ihre Mutter war die resolute Wächterin über das ihr zugewiesene Haushaltsgeld, und sie würde nie etwas davon abzwacken, wenn es nicht wirklich erforderlich wäre. Und ein gewonnener Urlaub gehörte sicherlich nicht in diese Kategorie. Sie vermutete eher, daß Ruth selbst dahintersteckte und es ihr peinlich war, ihrer Nichte Geld zu geben. Aber sie freute sich darüber und beschloß, ihrer Tante auf jeden Fall etwas vom Berg mitzubringen.
Ein Kleinbus des Sportgeschäfts hatte sie zu Hause abgeholt, und sie hätte sich auf der Fahrt gern ein wenig unterhalten, aber der Fahrer hatte ganz offensichtlich schlechte Laune, und die beiden anderen Fahrgäste waren ein Pärchen, das ausschließlich mit sich selbst beschäftigt war. Katrin dachte an Ronny. Er war gestern abend noch zu ihr gekommen, um sich von ihr zu verabschieden und ihr eine Xtra-Card für ihr Handy zu bringen. Sie fand es süß.
»Damit der Kontakt nicht abbricht«, sagte er dazu und küßte sie.
»Damit du immer nachprüfen kannst, wo ich gerade stecke«, antwortete sie grinsend.
»Das auch«, gab er zu und zog kurz an ihrer kleinen Nase. »Brich dir nichts und stell auch sonst nichts an!« Sie standen mitten in ihrem kleinen Wohnzimmer und schauten sich in die Augen. Katrin zupfte an seinem Gürtel und hätte gern mit ihm geschlafen, aber sie wußte nicht, wie sie das vor Tante Ruth hätte geheimhalten können. Ronny zog die Augenbraue spöttisch hoch. Mit seinem roten Kopftuch, das er in die Stirn gezogen hatte, sah er aus wie ein Pirat. Das machte sie noch mehr an.
»Vielleicht sollten wir sie mal ins Kino schicken«, flüsterte Ronny und streichelte ihren Busen durch ihren dünnen Pullover.
»Oder zum Eisessen«, schlug Katrin vor.
»Nichts gegen Quickies«, Ronny knabberte an ihrem Ohrläppchen, »aber so ein vierstündiger Ben Hur würde mir besser gefallen!«
Katrin saß schräg in ihrem Sitz und beobachtete das Pärchen vor ihr. Wahrscheinlich hatten die auch keine Heimat, sonst würden sie wohl kaum so übereinander herfallen. Sie schaute hinaus. Die Wettervorhersage für die nächsten Tage war gut, der Schnee reichlich, die Arbeit lag hinter ihr, und Geldsorgen hatte sie in diesem Urlaub auch nicht zu befürchten, es war phantastisch. Einfach unfaßbar. Sie war tatsächlich auf dem Weg zum Arlberg! In ein unglaubliches Fünf-Sterne-Hotel.
In Stuben wurde sie langsam aufgeregt. Laut ihrer Straßenkarte, die sie zu Hause schon ausgiebigst studiert und sich zur Orientierung eingesteckt hatte, war es jetzt nicht mehr weit bis nach Zürs. So bedeutungslos die kleine rote Linie aussah, die sich auf der Karte dahinschlängelte, so grandios war die Wirklichkeit. Vor ihr schraubte sich die Straße in Serpentinen durch den glitzernden Schnee hinauf, rechts lockten weiße Hänge, die sich in der Unendlichkeit zu verlieren schienen, über ihr spannte sich der blaue Himmel, und linker Hand, weit oben im Fels, konnte sie einen Tunnel entdecken. Er klebte förmlich in der Wand und sah aus der Ferne völlig spielzeughaft aus, Marke Märklin. Überhaupt erinnerte sie die Landschaft an eine Modelleisenbahn: Stück für Stück liebevoll von Menschenhand zusammengebaut, ineinandergefügt und zu Weihnachten von allen bestaunt.
Sie hatte es nicht für möglich gehalten, aber der Tunnel war befahrbar. Er war eng, und die behauenen Steine und unübersichtlichen Kurven gaben ihm eine Urtümlichkeit, die ihr den Atem nahm. Ihre Aufregung steigerte sich noch. Vor jeder Biegung hielt sie die Luft an, weil sie sicher war, daß dahinter eine Überraschung lauerte. An Gegenverkehr mochte sie schon gar nicht denken. Als plötzlich ein riesiger blauer Bus vor ihnen wie aus dem Nichts auftauchte, glaubte sie an ihr vorzeitiges Ende, aber die beiden Wagen kamen ohne Schwierigkeiten aneinander vorbei. Während sie noch aufatmete, hatten sie schon das Tunnelende erreicht. Sie mußte ihre Augen zusammenkneifen. Gleißendes Licht empfing sie, es überzog eine sich weit ausbreitende Landschaft, die von steil aufragenden Bergen begrenzt wurde. Es war unvergleichlich schön. Begierig schaute sie auf die Tiefschneehänge, genoß das Bild, das parallel nebeneinandergelegte Spuren in die weiße Pracht gezaubert hatten. Ganz offensichtlich gab es in diesem Gebiet gute Skifahrer. Sie konnte gespannt sein. Und sich messen. Diese Aussicht bereitete ihr jetzt schon Spaß. Ihr Blick glitt zu den Skipisten, die breit und offensichtlich gepflegt waren, und blieb an einer kleinen Hütte hängen, die, von einem hohen Schneewall fast verdeckt, etwas neben der Straße lag. Sah irgendwie niedlich aus, ganz aus Holz, grün-weiß gestrichene Fensterläden, sie hoffte, Gelegenheit zu haben, dort mal einzukehren. Sie hatte sich nach der Hütte umgedreht, und als sie jetzt wieder nach vorne sah, bot sich ihr am Fuß der Straße ihr Ziel dar, der Skiort Zürs. Eingebettet in die Berge, war es ein toller Anblick, es wirkte gemütlich und mondän zugleich. Was war sie doch bloß für ein Glückspilz! Sie holte tief Luft und dachte an Ronny.
Der Bus hielt vor der bunt bemalten Fassade eines großen Hotels. Katrins Herz schlug bis zum Hals. Das Paar vor ihr, das bisher weder nach links noch nach rechts geschaut hatte, schälte sich aus den Sitzen und kletterte aus dem Bus. Katrin folgte. Der Busfahrer war schon dabei, ihr Gepäck auszuladen und neben den Hoteleingang zu stellen. Katrins zwei Sporttaschen aus dickem, grünem Plastik sahen neben dem, was er für das verliebte Pärchen zutage förderte, direkt unscheinbar aus. Ein Berg aus edlen Taschen und Koffern türmte sich daneben auf, und Katrins Selbstbewußtsein sank ins Bodenlose. Sie blieb vor dem Eingang stehen und überlegte, was sie tun sollte. Das Pärchen beachtete seine auf- und nebeneinander gestapelten Koffer nicht weiter, sondern ging daran vorbei einfach hinein. Katrin sah ihnen unentschlossen nach. Ein knappes »Tschüs dann« ließ sie herumfahren. Der Fahrer nickte ihr mit unverändert finsterer Miene kurz zu, schwang sich in seinen Bus und fuhr rückwärts die Einfahrt hinaus.
Jetzt war sie wirklich allein, jede Rückzugsmöglichkeit, jede Fluchtmöglichkeit war abgeschnitten. Es blieb nur noch der Weg nach vorn. Sie nahm ihre beiden Taschen und ging durch die sich automatisch öffnende Tür hinein. Dicke Teppiche, das war, was sie zuerst fühlte, und eine Frau, wie eben aus der Vogue gefallen, war, was sie zuerst sah. Und gleichzeitig schoß ihr durch den Kopf, daß sich diese gepflegten Teppichböden unmöglich mit Skistiefeln vertragen konnten, und als nächstes befürchtete sie, alle könnten hier so aussehen wie diese Frau, die eben an ihr vorbeigegangen war. Dieses Gefühl war stärker als die Sorge um den Teppich. Sie wollte nicht eine Woche lang wie Aschenbrödel in einer Ecke sitzen.
An der Rezeption standen schon das Pärchen aus Stuttgart und einige andere Leute. Katrin blieb in der zweiten Reihe stehen und wartete ab. Die Angestellten im Trachtenlook wirkten unglaublich beschäftigt, und immer mehr Leute drängten sich von rechts und links vor sie. Sie stellte fest, daß sie schlichtweg übersehen wurde. Zwei livrierte Männer, offensichtlich Hausdiener, brachten mit einem Gepäckwagen die Koffer des Stuttgarter Pärchens. Bei denen ging das fix, sie standen mit dem Zimmerschlüssel in der Hand bereits knutschend vor dem Lift. Irgend etwas machte sie ganz offensichtlich falsch. Vielleicht war es aber auch nur ein ungünstiger Zeitpunkt, und sie sollte sich einfach erst einmal umsehen und dann wiederkommen. Zudem wollte sie auch die anderen Gäste nicht unbedingt über ihren Status als Preisausschreibengewinnerin aufklären. Sie versuchte also, einen möglichst gleichgültigen Gesichtsausdruck aufzusetzen, und schlenderte los.
Von der Rezeption aus führte ein breiter Gang zu einer Art Tagesbar. Ein Feuer brannte im Kamin, dicke Sessel, mit festem Stoff in modernem Blumenmuster in Ocker, Bordeaux und Kornblumenblau überzogen, standen um kleine Tische; sie sah ein älteres Paar, das Kaffee trank und einen Kuchen vor sich stehen hatte, aber sonst war es gähnend leer. Kein Wunder, bei dem schönen Wetter, dachte sie und kämpfte mit sich, ob sie an der Bar etwas trinken sollte. Irgendwie kam sie sich seltsam vor, so allein, auf der anderen Seite war sie eine junge, emanzipierte Frau von dreiundzwanzig Jahren, was sollte sie also daran hindern, sich an die Bar zu setzen und ein Getränk zu bestellen? Sie hatte sich schon zum Gehen entschlossen, da kam aus der Tür hinter dem Tresen ein junger, gutaussehender Mann heraus, der sie sofort ansprach.
»Kann ich Ihnen etwas bringen?«
Katrin fühlte sich ertappt und überlegte. Sie wußte nicht was. »Darf ich erst einmal in die Karte schauen?«
»Bitte sehr!« Er legte sie auf den Tresen und zwang Katrin somit näherzukommen.
Sie setzte sich auf einen der Barhocker und beäugte ihn an der Getränkekarte vorbei. Sein schwarzer Pferdeschwanz erinnerte sie ein bißchen an Ronny, und das tat ihr gut. So als hätte sie in der Fremde einen Freund gefunden. Dann verschluckte sie sich. Fünf Euro für einen Orangensaft? Das war ja abartig! Selbst wenn er frisch gepreßt war! Instinktiv fing sie zu rechnen an. 150 Euro waren ihr hier für dieses Hotel als Spielgeld mitgegeben worden. Die anderen Gutscheine bezogen sich auf andere Orte und waren nicht übertragbar. Sie rechnete schnell, und es war ihr gleich klar, daß sie sich mit ihrem Taschengeld gewaltig einschränken mußte. Sie schaute sich die Preise für Mineralwasser an, aber die erschienen ihr noch verrückter. Dann eben ein Kaffee, das war vertretbar. Sie seufzte und gab ihre Bestellung auf.
Der Kellner nickte ihr zu, und sie beobachtete ihn. Er hatte eine lange, weiße Schürze um die Hüfte gebunden und bewegte sich schnell und sicher. Er erinnerte sie an einen Pianisten, dessen Hände über die Klaviatur huschten und der nicht mehr zu denken brauchte, wenn er in die Tasten griff. Er ließ ihr einen Kaffee aus einer großen, fauchenden Maschine heraus, stellte die zierliche, in Blütendekor gehaltene Tasse samt Untertasse auf ein kleines Silbertablett, füllte Kaffeesahne mit genau bemessenen Schwung in ein kleines, silbernes Kännchen und richtete die winzige Zuckerdose. Zum Schluß legte er eine Praline dazu und stellte alles elegant vor sie hin. »Bitte sehr, Ihr Kaffee!«
Ohne das ganze Silber wäre der Kaffee wahrscheinlich um die Hälfte billiger, dachte Katrin nüchtern und nahm einen kleinen Schluck. Er schmeckte ihr nicht, war viel zu bitter. Und wenn sie es recht bedachte, hatte sie früher schon einmal gehört, daß österreichischer Kaffee eher gewöhnungsbedürftig sei. Katrin süßte ihn, was sie sonst nie tat, aber es half nicht viel. Dann goß sie mehr Milch nach. Er wurde kälter, aber nicht besser. Schließlich trank sie ihn mit leicht krauser Nase und steckte sich sofort die Praline in den Mund. Es sollte ein Urlaub voll neuer Erfahrungen werden, das hatte sich ihr von der ersten Sekunde an offenbart.
»Kann ich noch etwas für Sie tun?«
Es war offensichtlich, daß er zuviel Zeit hatte.
»Nein danke, ich möchte bitte bezahlen.« Gleichzeitig fiel ihr ein, daß sie ihr Geld in der Sporttasche hatte, und die stand an der Rezeption. Wie leichtsinnig von ihr.
»Aufs Zimmer?«
»Ich habe noch keines!«
Er warf ihr einen fragenden Blick zu.
»Ich bin eben erst angereist«, erklärte Katrin und spürte, wie sie rot wurde.
»Dann sagen Sie mir die Zimmernummer einfach, sobald Sie eingecheckt haben«, schlug er vor und wandte sich ab.
Katrin kam sich wie eine professionelle Betrügerin vor und spürte ihr Herz bis zum Hals schlagen. »Ich komme bestimmt wieder«, hörte sie sich sagen und biß sich für diese unüberlegte Äußerung auf die Lippen.
»Ich habe keine Sorge!« Jetzt drehte er sich doch noch einmal um und lächelte ihr kurz zu.
Katrin kam sich fürchterlich naiv vor. Sie hatte sich gleich als völliges Greenhorn zu erkennen gegeben, dabei wollte sie doch vor allem cool und erfahren wirken. Sie rutschte schnell vom Barhocker und ging zur Rezeption zurück.
Gott sei Dank, das sah ganz gut aus. Kein Mensch zu sehen. Aber auch hinter der Rezeption nicht. Nur ihre zwei Taschen standen verwaist da, irgend jemand hatte sie neben den Lift getragen. Sie stellte sich an die Theke und überlegte. Die Angestellten waren sicherlich im Büro, bloß: Wie konnte sie sich bemerkbar machen?
Sie überlegte noch, als sie aus dem Augenwinkel neben sich eine große Männergestalt auftauchen sah.
»Toni!« rief er und schlug mit der flachen Hand auf das polierte Holz.
Aus der Tür zum Büro trat der Mann, den Katrin vorher schon gesehen hatte. »Brennt’s?« fragte er.
»Matthias wollte eine Nachricht für mich hinterlassen. Hat er?«
Toni zog kurz die Stirn kraus und schüttelte den Kopf. »Bei mir nicht«, er drehte sich zu dem Schlüsselregal um, »und in Ihrem Fach liegt auch nichts!«
»Saftsack!«
Katrin warf dem Mann neben sich einen erstaunten Blick zu. Der hatte ja Nerven! Er war braungebrannt, groß und sah gut aus, war in Skikleidung und hatte einen knallroten Rucksack auf dem Rücken.
Aber Toni schien von der Beschimpfung nicht beeindruckt zu sein. Er grinste sogar. »Ich werde es ihm ausrichten«, sagte er.
»Hoffentlich!« Damit drehte sich der Gast um und stapfte in seinen riesigen Skistiefeln hinaus. Katrin schaute ihm hinterher. Irgendwie war er eine Erscheinung.
»Und was kann ich für Sie tun?«
Sie mußte sich sammeln.
»Ich bin Katrin Hübner und habe«, sie senkte unbewußt die Stimme, »bei einem Preisausschreiben einen Aufenthalt in diesem Hotel gewonnen.«
Toni musterte sie.
»Sieben Tage«, setzte Katrin noch hinzu und fühlte sich unter seinem Blick unwohl. Wie eine Bittstellerin.
»Ja, ich erinnere mich«, sagte Toni, griff nach einer randlosen Brille und schaute in seinem Buch nach. »Katrin Hübner«, sagte er dann, »sieben Tage, ja, exakt!« Mit einem kleinen Lächeln schaute er auf. »Herzlich willkommen bei uns, Frau Hübner.« Er griff nach einem der Zimmerschlüssel. »Zimmer 468, dort drüben ist der Lift. Ich rufe jemanden für Ihr Gepäck!«
»Nein, danke, da steht es schon!« Katrin wies zu ihren beiden Taschen. »Das kann ich alleine!«
Er warf einen schnellen Blick hinüber und nickte ihr zu. »Herzlichen Glückwunsch!«
Katrin war sich nicht so sicher, ob der Glückwunsch ihren Gewinn betraf oder ihre Fähigkeit, zwei Sporttaschen selbst tragen zu können, aber sie bedankte sich und ging zum Lift.
Zimmer 468 war klein, ein winziges Einzelzimmer, wahrscheinlich im ehemaligen Speicher, mit einer Gaube und drei kleinen Sprossenfenstern, aber absolut süß eingerichtet. Katrin fühlte sich sofort wie in einer Höhle, völlig sicher, und ihr erster Impuls war, sich die nächsten sieben Tage nicht mehr hinauszubewegen. Sie warf sich aufs Bett und zog das Handy heraus.
Ronny war sofort dran. »Na, und?« fragte er. »Wie ist es?«
»Ja …«, Katrin überlegte, wie sie es beschreiben könnte. »Das Zimmer hier ist im Ashley-Stil eingerichtet, wenn dir das was sagt. So bunter, gemütlicher Landhausstil …«
Ronny unterbrach sie. »Das Zimmer interessiert mich jetzt am wenigsten, und diese Äschli sagt mir auch nichts – wie sind die Leute?«
»Ja«, Katrin zögerte, »wie soll ich sagen. Irgendwie zweideutig kommt mir das alles vor.«
»Was!?!« Katrin hörte an seinem Tonfall, wie er sich aufbaute. »Machen die dich etwa an?«
Katrin mußte lachen. »Quatsch! Das meine ich doch gar nicht. Im Gegenteil, die übersehen mich hier pausenlos – nein, wie sie sich so unterhalten. Ich weiß nie so richtig, was eigentlich gemeint ist!«
»Ach so!« Er atmete auf. »Da darfst du dir nichts dabei denken, das sind halt die Österreicher, die können sich nicht richtig ausdrücken.«
»Meinst du?« fragte Katrin zweifelnd. Sie wollte nicht nach seiner Erfahrung mit Österreichern fragen, denn sie vermutete, daß er überhaupt noch nie in Österreich gewesen war.
»Solange dich die anderen Kerle in Ruhe lassen, ist alles paletti!«
Sie wußte zwar nicht, wo der Unterschied zwischen Österreichern und den anderen Kerlen war, im Zweifel war alles eins, aber sie wollte ihn auch nicht weiter beunruhigen.
»Das Skigebiet sieht jedenfalls super aus«, lenkte sie ab.
»Ich nehme an, du fährst gleich los?« hörte sie Ronny, und sie spürte einen Kloß im Magen.
Wie sollte sie nur alles bewerkstelligen? Wo bekam sie ihre Skier, die Skischuhe her? Auf Anraten des Sportgeschäfts hatte sie nichts mitgenommen, denn es hieß, sie bekäme die Möglichkeit, in ihrem Urlaub das Neueste vom Neuen zu testen. Und das Neueste vom Neuen hatte sie zu Hause wahrlich nicht mehr im Keller stehen. Eher den Beweis für Materialermüdung nach jahrelangen Dauertests.
»Ich muß mich erst mal zurechtfinden, Ronny«, sagte sie, und dann mit einem Seufzer: »Ich wünschte, du wärst hier. Bei mir. Ich vermisse dich so!«
»Ein Zimmer für uns allein«, hörte sie ihn sagen.
»Du denkst auch nur an das eine!«
»Ja, und?« Er lachte. »Du etwa nicht?« Sein Lachen erstarb. »Ist das Bett breit?«
Sie hob etwas ihren Hintern und schaute es sich an. »Ein normales Doppelbett, würde ich mal sagen, längs an der Wand, mit einer dunkelroten, von kleinen gelben Blümchen überzogenen Tagesdecke, ja.«
»Wozu braucht man denn in einem Einzelzimmer ein Doppelbett?« Seine Stimme klang mißtrauisch.
»Vielleicht braucht man das nach sieben Tagen Gewichtszunahme«, versuchte Katrin zu spötteln. »Die österreichische Küche soll schließlich ziemlich nahrhaft sein. Dampfnudeln, Germknödel, Apfelstrudel, Kaiserschmarren, Vanillesauce, Speckpfannkuchen …«
»Hör schon auf! Ich glaube, ich hätte mich doch einschmuggeln sollen!«
«Kannst ja immer noch. Das Bett ist breit genug, wie gesagt.«
»Ich will’s mir nicht vorstellen!«
»Ich mach ein Foto!«
Toni klärte sie über ihre verschiedenen Gutscheine auf und zeigte ihr dann den Weg zu dem Sportgeschäft, wo sie für einen davon Skier und Schuhe erhalten würde. Bis sie zurückkäme, läge auch der siebentägige Skipaß für sie bereit, versprach er ihr. Das ging einfacher als gedacht, und Katrin war ihm dankbar. Er hatte ein offenes, freundliches Gesicht und sah überhaupt gut aus. Das war ihr vorher gar nicht aufgefallen. Sie schätzte ihn auf etwa Fünfzig. Und was ihr besonders gut gefiel, war, daß er anscheinend genauso auf Diskretion bedacht war wie sie. Als ein weiterer Gast zu ihnen trat, brach er mit seinen Erklärungen ab.
»Falls Sie noch etwas wissen wollen oder brauchen, wissen Sie ja, wo Sie mich finden!«
»Vielen Dank!« Sie hätte gern ein »Toni« hinzugefügt, war sich aber nicht sicher, ob das nicht zu vertraulich gewesen wäre.
Katrin ging die Hauptstraße von Zürs entlang und schaute sich um. Es war um die Mittagszeit, und sicherlich waren entweder alle auf der Piste oder in irgendeiner Hütte beim Mittagessen. Viel war jedenfalls nicht los. Das beschriebene Sportgeschäft fand sie schnell, aber anstatt direkt in das Untergeschoß zur Skiabteilung zu gehen, nahmen sie die Stockwerke für Bekleidung gefangen. Sie stöberte ein bißchen herum, bis ihr Blick an einer Skijacke hängenblieb, die ihr auf Anhieb gefiel. Der funktionelle neue Schnitt, nüchtern in schlichtem Weiß, aber mit schmalen roten Streifen an den Seitennähten. Sie griff danach und schlüpfte hinein. Zu ihren dunklen Haaren sah das wirklich gut aus, und der Vorteil war, daß sie nicht nach einer reinen Skijacke aussah. Man würde sie auch gut zu Hause zu Jeans tragen können. Ein Rundumstück sozusagen, eine Freizeitjacke.
»Steht Ihnen gut!«
Sie drehte sich schnell um, fast ein bißchen wie ertappt und mit dem peinlichen Gefühl, bereits eine Verkäuferin im Nacken zu haben. Aber es war eine andere Kundin, die ebenfalls eine Jacke anprobierte.
»Ich habe die vorhin auch angehabt«, sagte sie und wies auf Katrins Jacke, »aber sie steht mir nicht halb so gut wie Ihnen. Die müssen Sie nehmen!«
»Vielen Dank«, stotterte Katrin. Liebend gern hätte sie nach dem Preisschild gegriffen, aber das traute sie sich nicht. Das sah so spießig aus.
»Ich werde es mir überlegen«, sagte sie deshalb und schälte sich wieder aus der Jacke heraus. Die andere, Katrin schätze sie wenig älter als sich selbst, nickte ihr freundlich zu und zog ihre Skijacke ebenfalls aus. Die war von Bogner, das erkannte Katrin auch auf die Entfernung an dem B am Reißverschluß, und sicherlich auch nicht gerade für ein monatliches Schlecker-Einkommen zu kriegen. Katrin hängte ihre Jacke zurück und sah dabei im Spiegel, wie eine Verkäuferin zielstrebig näher kam.
»Die nehme ich auch«, hörte sie die junge Frau sagen.
Die nehme ich auch? Jetzt war Katrin doch neugierig geworden, warf den beiden Frauen hinter ihr einen Blick zu und schlenderte dann wie ziellos durch den Raum. Auf dem Verkaufstresen lagerten schon mehrere Kleidungsstücke aufeinander. Sie hörte die Verkäuferin hinter sich und drehte sich nach ihr um. Die Jacke kam obendrauf.
»Wollen Sie sich noch weiter umschauen?« fragte die Verkäuferin die junge Frau freundlich. »Oder kann ich Ihnen sonst noch etwas zeigen?«
Die Kundin zuckte zunächst unentschlossen mit den Achseln, schüttelte dann aber doch den Kopf. »Ich denke, ich hab’s fürs erste.« Sie drehte sich leicht nach Katrin um. »Ich nehme die Sachen direkt mit zur Kasse, dann können Sie sich gleich um die Kundin dort drüben kümmern. Die weiße Jacke stand ihr hervorragend! Und vielen Dank, hat Spaß gemacht!«
Katrin spürte, wie ihr die Haare zu Berge standen, und beobachtete, wie sich die junge Frau alles, was bisher auf dem Tisch gelegen hatte, unter den Arm klemmte. Katrin wagte sich nicht auszumalen, was sie dafür würde hinblättern müssen.
Hinter ihrem Rücken hatte die Verkäuferin die besagte weiße Jacke schon wieder herausgezogen und trug sie zu ihr hin. »Wollen Sie noch einmal hineinschlüpfen?«
Katrin wollte nicht, tat es aber trotzdem.
»Sie steht Ihnen wirklich gut«, bestätigte das Mädchen vor ihr. Katrin schätzte sie auf knappe Zwanzig und überlegte, was sie als Verkäuferin in einem solchen Geschäft wohl monatlich verdiente.
»Nehmen!« rief die junge Frau mit singendem Tonfall durch den Raum, winkte ihnen mit der freien Hand kurz zu und ging mit ihrem Kleiderberg unter dem Arm die Treppe hinunter. Katrin atmete auf, als sie weg war. Dann schaute sie die Verkäuferin an.
»Danke. Finde ich auch.« Und nach kurzem Zögern. »Was soll sie denn kosten?«
Das Preisschild hing an ihrem Ärmel. Sie sahen beide darauf. Katrin zog die Luft ein. »1000 Euro? Kann das sein?« Sie glaubte an einen Umrechnungsfehler.
»Etwa 14 000 Schilling, ja, stimmt schon!«
»Für eine Jacke!!!« Katrin schüttelte den Kopf. »Tut mir leid«, sagte sie dann und zwang sich, der Verkäuferin in die Augen zu sehen, »das kann ich mir nicht leisten.«
Als keine Reaktion kam, setzte sie ein trotziges »Sie etwa?« nach.
»Nein«, sagte das Mädchen und half ihr beim Ausziehen, »aber ich bin hier ja auch nicht im Urlaub.«
Die Skier, die sie bekam, waren erstklassige Carvingskier, und sie freute sich schon darauf, sie auszuprobieren. Mit den Skistiefeln hatte sie mehr Schwierigkeiten, denn sie hatte einen extrem hohen Rist, und viele Stiefel drückten sie so stark, daß sie nach einer Weile einen Krampf bekam.
»Sie wären für einen geschäumten Stiefel eine geradezu prädestinierte Kundin!«
»Ja?« Katrin wäre zu allem bereit gewesen, aber als sie hörte, daß ein solcher Stiefel nicht verliehen werden kann, sondern für jeden Fuß eigens angefertigt und geschäumt werden muß und deshalb 500 Euro kostet, verzichtete sie.
»Hier kann man in einer Stunde mehr Geld ausgeben, als in einem Monat zu verdienen ist«, sagte sie laut, und der Verkäufer, der ihr ein geschäumtes Modell vor die Nase gehalten hatte, grinste.
»Leicht«, bestätigte er und stellte den Schuh wieder weg. Schließlich fanden sie dann doch noch einen normalen Schuh, zu dem sie Vertrauen hatte.
»Der dürfte passen«, sagte sie, nachdem sie eine Weile hin und her gestapft war. »Hoffentlich«, fügte sie an, nachdem sie ihn wieder ausgezogen hatte und dem Verkäufer hinhielt.
Er beruhigte sie. »Falls nicht, kommen Sie eben wieder, und wir suchen weiter! Wo wohnen Sie denn?«
»Im Residenz!«
Er nickte und sagte weiter nichts dazu.
Sie hätte gern etwas über den Ruf ihres Hotels erfahren, fand es aber albern nachzufragen. Also schwieg sie ebenfalls.
Eine halbe Stunde später war sie auf der Piste. Hier kostete die Welt nichts, hier war sie ebenbürtig, wenn nicht gar überlegen, hier war der gute Fahrer im alten Anorak noch immer mehr wert als umgekehrt. Die Skier waren phantastisch. Ihre eigenen hatten noch die alte Form, waren lang, viel zu lang, und durchgängig schmal. Den taillierten Carvingski hatte sie zwar schon aufs genaueste in verschiedenen Sportgeschäften begutachtet, aber er war ihr bislang zu teuer gewesen. Jetzt zeigten sich alle Vorteile. Sie beschloß, sich ausgiebig über die Eigenarten des Skis zu informieren, denn sie vermutete, daß noch mehr dahintersteckte als nur schnelle Bögen.
Da sie sich in dem Skigebiet rund um Zürs noch nicht auskannte, hatte sie einfach den nächsten Lift genommen, den sie sehen konnte. »Seekopf« las sie, es war ein Sessellift für vier Personen mit herunterklappbarer Haube bei schlechtem Wetter, und sie fühlte sich vom Schicksal völlig verwöhnt. Die Sonne knallte vom Himmel, für die Jahreszeit war es erstaunlich warm, der Schnee ausgezeichnet, die Hänge top präpariert, aber nachdem sie zum vierten Mal dieselbe Abfahrt gefahren war, entschloß sie sich zu einem weiteren Vorstoß ins Ungewisse.
An einem großen Bergrestaurant vorbei folgte sie einfach einer kleinen Gruppe mit Skilehrer. Zumindest würde der seine zahlenden Gäste nicht direkt in den Abgrund führen. Sie wollte sich nicht anhängen, sondern verstand ihn als einheimischen Wegweiser. Seine Route erwies sich indes als recht einfach. Es ging einen kleinen Hang hinunter, dann stand man bereits vor einem kleinen, versteckt liegenden Lift. Die Sessel waren der pure Gegensatz zum High-Tech von zuvor. Sie sahen noch herrlich altmodisch aus, Sitze und Lehne waren aus Holz mit einem einfachen zuklappenden Sicherheitsbügel, und sie boten gerade mal zwei Personen Platz.
Katrin setzte sich hinein und ließ die Landschaft unter sich vorbeischweben. Rechts unter ihr lag eine Piste, aber viel interessanter war der linke Hang. Ganz offensichtlich war dies der Babyhang für angehende Tiefschneefahrer. Unzählige Spuren kreuzten wild ins Tal hinunter, während oben ein ausgetretener schmaler Pfad parallel zum breiten Berggipfel lief. Das war sicherlich der Trampelpfad für die Könner, der direkte Weg ins Paradies. Katrin beschloß, sich das für morgen zu merken. Heute wollte sie sich auf die Pisten beschränken. »Muggengrat« las sie, als sie oben angekommen war. Die Gruppe vor ihr fuhr links an den Rand der Skipiste vor ein Absperrungsband und diskutierte. Katrin schob sich näher. Vor ihr riß der Fels senkrecht ab, der Blick war grandios. Sowohl ins Tal und auf die gegenüberliegenden Berge als auch in den Hang direkt unter ihr. Ob die Gruppe da hineinspringen würde? Der Schnee schien ausreichend hoch zu sein, aber der Einstieg war eindeutig gesperrt. Es sah so aus, als ob die Gruppe den Skilehrer überzeugen wollte, es doch zu tun, aber er fuhr einfach zu. Drei folgten ihm, einer nicht. Katrin beobachtete ihn im Gegenlicht. Und während sie ihn noch musterte und zu erraten versuchte, was er wohl vorhaben könnte, erkannte sie ihn. Es war der Typ mit dem Rucksack. Und in diesem Moment bückte er sich auch schon unter der Absperrung hindurch und sprang. Katrin hielt den Atem an. Gut zwei Meter unter ihr kam er auf und zog dann ungetrübt und ohne das kleinste Zeichen irgendeiner Unsicherheit sofort seine Bögen in den Tiefschnee. Er fuhr geradezu traumwandlerisch gut. Katrin schaute ihm nach. Am liebsten wäre sie hinterhergesprungen, traute sich aber nicht. Dafür stand sie in dieser Saison noch zu frisch auf den Skiern. Trotzdem war sie sich sicher, daß sie es ausprobieren würde. Wenn nicht heute, dann morgen. Sie wollte wissen, was sie draufhatte.
Die kleiner gewordene Gruppe fuhr an der breiten Einfahrt zur Piste vorbei und auf der anderen Seite in den Tiefschnee. Das schien einfach, und Katrin folgte ihnen mit gewissem Abstand. An ihren Bewegungen konnte sie sehen, wie das Gelände beschaffen war, ob der Untergrund unter der gleichförmigen Schneedecke harmlos war oder ob es Gefahrenstellen gab, denen alle auswichen. Sie überquerten unten die Piste und fuhren auf der anderen Seite erneut ins Gelände hinaus. Daß sie einen Mann verloren hatten, schien sie nicht weiter zu beunruhigen – oder sie waren es gewohnt.
Ende der Leseprobe