7,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 7,99 €
Topfigur, Topjob, jetzt noch mal richtig durchstarten, Himalaya-Trekking oder wenigstens Marathon in New York; ja, so sieht das Leben aus, wenn man zur vielumworbenen Zielgruppe 50+ gehört - jedenfalls wenn man Werbestrategen und Herstellern von Anti-Age-Produkten Glauben schenkt. Aber wollen wir das überhaupt? Lotte Kühn pfeift auf den Jugendwahn, eckt bei den Missionaren der Seniorengruppe an und lässt am Ende ihren Sohn beim Schwimmen gewinnen...
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 235
Lotte Kühn alias Gerlinde Unverzagt ist alleinerziehende Mutter von vier Kindern und freiberufliche Journalistin. 2006 veröffentlichte sie den Bestseller DasLehrerhasserbuch. Seither gilt sie als Expertin in Erziehungsfragen, bei Radioeins wird sie als Erziehungsberaterin zu Wort gebeten, sie schreibt u. a. für die Zeitschriften Psychologie heute, Berliner Morgenpost und ist Kolumnistin in der Stuttgarter Zeitung.
Lotte Kühn
50 ist das neue 30
Das Jahr, in dem ich beschloss, doch nicht alt zu werden
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Originalausgabe
Die notwendigen Fragen vom 30. September,
mit freundlicher Genehmigung der Autorin/des Verlags, zitiert nach:
Luisa Francia: Zaubergarn, Verlag Frauenoffensive, München 1989
Copyright © 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Dr. Ulrike Strerath-Bolz, Friedberg
Titelillustration: © getty-images/juanmagarcia
Umschlaggestaltung: Mediabureau di Stefano, Berlin
Datenkonvertierung E-Book:
hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-2609-3
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Schon wieder dreißig! So launig fangen meine Geburtstagseinladungen an, und das schon seit vielen Jahren. Anfangs fand ich das witzig, später toll ironisch und habe insgeheim darauf gesetzt, in der Verleugnung der grassierenden Altersverleugnung einen souveränen Standpunkt durchblitzen lassen zu können. Einen Hauch von Protest wollte ich damit bekunden angesichts der merkwürdig wolkigen Befangenheit, die sich jenseits der dreißig einstellt und selbst rundum vernünftige und kein bisschen jugendwahnsinnige Menschen dazu bringt, ihr wahres Alter nicht mehr nennen zu wollen. Als handelte es sich um eine geheime Kennziffer, an der sich bestimmte Qualitäten ablesen lassen. Dabei haben wir doch alle als Kinder schon in den ersten Wochen nach dem vierten, siebten oder neunten Geburtstag stolz und vorfreudig verkündet, wir seien jetzt fast fünf, acht oder zehn! Die Zeiten, in denen jedes Jahr mehr auf dem Zähler neue Freuden und vor allem neue Freiheiten brachte und man den nächsten Geburtstag kaum erwarten konnte, scheinen endgültig vorbei zu sein. Irgendwo auf der Strecke zwischen der ersehnten Volljährigkeit und dem dräuenden dreißigsten Lebensjahr wird offenbar der Umkehrschub eingelegt und die Freude am Wachsen und Größerwerden geht verloren.
Wer hat uns diesen koketten Blödsinn eingeflüstert, dass wir die verlautbarte Jahreszahl klein halten und immer jung und schön aussehen müssen, damit man uns ein interessantes und aufregendes Leben zutraut? Wer hat uns eigentlich eingetrichtert, dass wir Frauen nur noch als attraktiv durchgehen, wenn wir ab dreißig, vierzig oder spätestens fünfzig auf zehn Jahre jünger machen? Frauen lügen und schweigen notorisch über ihr Alter in der Hoffnung, der Behauptung von Angesicht zu Angesicht standhalten zu können. Früher haben wir auch schon mal über unser Alter gelogen, um in Clubs und Discos und Filme reinzukommen oder Spirituosen zu erwerben, für die andere uns für zu jung hielten. Bei solchen Gelegenheiten haben wir steif und fest behauptet, schon lange sechzehn oder achtzehn zu sein.
Hört das denn nie auf? Darf man nicht einfach mal so alt sein, wie man ist, um zu bekommen, was man will? Vielleicht steht ja das am Urgrund der Schwindelei: Nicht die Jahreszahl muss man wegmogeln, sondern die Begrenzung und Fremdbestimmung überwinden, die damit einhergeht, wenn es mal wieder heißt: In deinem Alter solltest du … und zack, geht die Schublade zu. Dabei könnten mir die Schubladen der anderen noch ganz egal sein, aber immer wieder springt in meinem eigenen Kopf eine Schublade auf und heraus springt eine übellaunige Unke, die mich mit ihren boshaften Kommentaren nervt. Genüsslich streut sie Salz in meine Wunden, fährt mir in die Parade und tröpfelt Wermut in meine besten Absichten. Ich brauche sie so nötig wie einen Kropf, schon damals nicht. Immer wenn ich auf eine Party gehen wollte, rechnete sie mir die überzähligen Kilos, die Pickel, die strähnigen Haare vor, bis ich’s sein ließ und zu Hause blieb. Irgendwann vor vielen Jahren ist sie verschwunden, jetzt ist sie wieder da. Und ich habe keine Ahnung, wie ich sie wieder loswerden könnte. Auch das noch! Kriegt man es denn nie mit sich und seinen eigenen Wünschen, sondern nur mit den Bildern zu tun, die andere sich von einem machen, wenn man mit vierzehn gerne Wodka kaufen und mit vierzig gerne Miniröcke und Jeansjacken statt Hosenanzügen tragen möchte oder sich mit fünfzig immer noch von zarten Röschen auf Sommerblusen magisch angezogen fühlt?
Die haben dir doch früher auch schon nicht gestanden!
»Act your age« heißt es, und so verlangen andere, wir sollten ihre Vorstellungen davon bestätigen, was in einem bestimmten Alter angemessen ist und was nicht. Dass wir eigene Vorstellungen und eigene Haltungen entwickeln, ist in dieser Scharade nicht vorgesehen. Es mag dahingestellt bleiben, ob es in Ordnung ist, dass Sechzehnjährige bei uns zwar keinen Schnaps kaufen dürfen, aber man sich durchaus für ihr kommunales Wahlrecht oder den Führerschein auf Probe öffentlich stark macht. In den USA dürfen Achtzehnjährige noch immer keinen Schnaps kaufen, aber sie dürfen in den Krieg geschickt und totgeschossen werden.
Was sich für Frauen in welchem Alter gehört und was nicht, ist noch viel undurchschaubarer. Doch aus allen Rohren wird gefeuert, auf allen Kanälen gewispert: Da wird gelogen und betrogen, bemäntelt und verborgen, da werden alle möglichen Geschichten erfunden, nur damit man möglichst oft zu hören bekommt, was an Supermarktkassen neuerdings auf Plakaten höhnt: Dein Alter sieht man dir gar nicht an. Oder beim überraschenden Wiedersehen nach Jahren: Du hast dich aber gut gehalten! (Und hinterm Rücken: Manno, die ist aber auch alt geworden!) Immer wieder gern gehört: Du siehst aber richtig gut aus für dein Alter.
Wieso für mein Alter? Ist mein Alter an sich schon hässlich? Ich möchte schön und klug und beliebt sein, ganz einfach. Oder meinetwegen auch hässlich und dumm und einsam, aber beides unabhängig von meinem Alter.
Irgendwann habe ich meine immer gleiche Geburtstagseinladung noch ein bisschen nachgewürzt und mit einem goldenen Versprechen zum Verlauf der Party gekrönt: Wer’s glaubt, wird selig! Und jetzt kann ich mir den Quatsch allmählich sparen. Ich werde bald neunundvierzig, na und? Ist doch nichts dabei – außer, dass ich in einem Jahr dann fünfzig werde. Es ist nicht nur eine Zahl, wer immer das auch behauptet. Sondern eine Wirklichkeit, die sich heranschleicht und immer wieder plötzlich im Bewusstsein detoniert. Es liegen mehr Jahre hinter mir als vor mir, und ja, der Tod rückt näher. »Too old to die young«, wie Johannes, der immer noch darauf besteht, als Joe angesprochen zu werden, einem Gastgeber vor Kurzem zu dessen fünfzigsten Geburtstag gratulierte, zu dem ich eingeladen war. Eine etwas jämmerliche Replik auf unsere wilden Zwanziger, in denen wir alle mehr oder weniger überzeugte Vertreter des stilisierten Lebensüberdrusses waren. Mittlerweile sind wir klüger geworden: Noch schlimmer, als alt zu werden, ist, nicht alt zu werden. Genau genommen gibt es nur eine einzige Möglichkeit, für immer neununddreißig zu bleiben – und die ist nicht attraktiv. Deshalb bin ich sehr zufrieden vierzig geworden. Das starke Gefühl, mitten im Leben zu stehen, gestresst, aber energiegeladen, stark und unbesiegbar, hat’s mir leicht gemacht, das Älterwerden einfach zu vergessen. Doch den kommenden Jahren jenseits der Fünfzig traue ich noch nicht über den Weg.
Joe seufzte, lächelte gequält und nahm einen Schluck Rioja. Dass man als freier Künstler wie er jetzt bei Google seinen Geburtsjahrgang schönen müsse, um überhaupt noch beruflich ernst genommen zu werden, hat er später gestanden. Dann schüttelte er seinen Kopf mit dem spärlichen Haar, das in einem dünnen Zopf bis zu den hängenden Schultern reicht. Die Lederjacke konnte den Bauch zwar ein wenig verbergen, gab aber trotzdem den Blick auf die Harley Davidson frei, die auf seinem T-Shirt prangte. Sie schien den steilen Hang des dicken Bauches, der sich unter ihren Rädern wölbte, kopfüber herauftuckern zu wollen. Gleich seufzten etliche andere Gäste mit, andere rollten mit den Augen, richtig gelacht hat keiner. Und wenig später kursierten schon wieder intime Geständnisse über Arztbesuche, die den Stellen am Körper galten, die jetzt wehtun. »Well my friends are gone and my hair is grey. I ache in the places where I used to play«, singt Leonard Cohen in Tower of Song.
Alle haben irgendwas: Rücken, Schulter, Nacken. Alle machen irgendwas: Yoga, Pilates, Fitnessstudio, Schwimmen. Und auf allen runden Geburtstagen in dieser Liga, die es neuerdings zu feiern gilt, sickert das Thema in die Gespräche, Witze und Sprüche und verdrängt die Leichtigkeit. Ist man so jung, wie man sich fühlt? Oder doch so alt, wie es im Pass steht?
Mich irritiert unsere neue Beschlagenheit in diesen Dingen, die wir in Bezug auf Krankheiten, Therapien und Prognosen vorweisen können. Zweifellos lückenhaft und laienmäßig, aber wir haben ein Faible für Fachbegriffe und Details, das mich nervös macht: Craniosacraltherapie, Cox-Arthrose, Hypertonie, Spiraldynamik, Chirotaping, Mikroneedeling, Discus Prolaps. Wir können nicht nur schlechter sehen, sondern vergleichen die Dioptrien-Zahlen unserer Lesebrillen, können die systolischen Normwerte unseres Blutdrucks herunterbeten, mit beunruhigenden Fakten aufwarten und unter Berufung auf den letzten Hörtest aufs Dezibel genau das Defizit aufsagen.
Ich kann mir nicht helfen. Riecht das Alter nicht etwas schlecht, nach Pipi, Verfall und Langeweile? Je nach Blickwinkel und eigenem Alter beginnt es jenseits der Fünfundzwanzig, Vierzig, Fünfzig. Als geriete man völlig überrumpelt in einen Hinterhalt, in dem ein Sog lauert, dem man von nun an so gut es geht standhalten muss, aber letztendlich nicht entgehen kann. Es hieß doch mal: Alt ist, wer fünfzehn Jahre älter ist als ich. Jetzt bugsiert uns eine dunkle Macht an einen zugigen Ort, an dem wir eigentlich nicht sein wollen, bestimmt die Gesprächsthemen, lenkt die Gedanken, taucht die Ereignisse in ein anderes Licht, legt einen dunklen Firniss übers Gemüt und Plissee über die Haut. Da hilft es auch nicht, sich über die Klischees lustig zu machen, die Medien so gern hochjazzen: Siebzigjährige wie Chuck Norris, die Actionfilme drehen, zweiundachtzigjährige Marathonläufer, die tatsächlich durchs Ziel rennen, hyperaktive, unnachgiebig fit trainierte, leistungsstarke Frauen jenseits der Fünfzig, tiefenentspannte Silver-Ager in beigefarbenen Klamotten, die mit wonniger Konsumlust in ihr letztes Lebensdrittel rauschen, glatzköpfige Berufsjugendliche, die angestrengt der längst vergangenen Jugend hinterherzappeln, unnatürlich glatte Gesichter stark geschminkter Frauen mit erstarrten Mienen, in denen kein Spiel mehr wohnt, oder Werbe-Ikonen wie der coole Graubart (oder peinliche Lustgreis?) Friedrich Liechtenstein, der seit seinem Internetspot »Supergeil« unwidersprochen behaupten darf: »Alt sein ist sehr cool, sehr funky.« Soll ich jetzt auch im Keller pfeifen? »Fünfzig ist das neue Dreißig!«
Alter ist kein Zustand, sondern ein Werden. Ha! Und zwar von Anfang an. Meist unmerklich, dann in Schüben eilt der Körper voran, während Geist und Seele sich bemühen, Schritt zu halten und in das neue Alter hineinzuwachsen. So stelle ich mir das manchmal vor. Den Kindern geht’s nicht schnell genug, den Erwachsenen viel zu schnell. Bis vor Kurzem habe ich noch nicht einmal gemerkt, dass ich einmal ganz jung gewesen bin und später weniger jung und jetzt nicht mehr jung und noch nicht alt. Vielleicht ist das ja die Jugend: Vielleicht dauert sie nur so lange, wie sie selbstverständlich ist, und dass sie vorbei ist, merkt man innerlich daran, dass man über sie nachdenkt. Äußerlich sieht man’s natürlich viel früher. Wo ich mich doch so oft in meinem Leben schon alt fühlte, müde, fertig, erschöpft und verbraucht – welcher Zauber erspart mir jetzt die Angst vor dem Vorbei, dem Nie-wieder, diesen dummen Worten?
Ich versuch’s mal: Süßer Vogel Jugend, du kannst mich mal.
Mein Geburtstag rückt näher, und ich grüble immer noch darüber nach, was ich jetzt wieder Originelles auf die Einladung schreiben könnte. »Save the date« war schon mal ganz gut, und mir gefällt der kleine angelsächsische Doppelsinn. Rettet den Termin! Spar’s dir auf! Geburtstage haben mich bislang nur insoweit interessiert, als sie willkommene Anlässe abgaben, es richtig krachen zu lassen. Partys, wilde ausgelassene Partys auf höchstem Niveau und die beste Ausrede dafür, das Niveau später noch tiefer sinken zu lassen als sonst erlaubt. Jetzt erlebe ich ein Fuffzigerfest nach dem anderen und keines ohne wortgewaltige Altersbeschwerdeführer. Es geht um Zahnimplantate, Hörgeräte, Gleitsichtbrillen, wo bis vor Kurzem noch über Musikgeschmack gestritten, mit Sexabenteuern geprahlt, das Schweinesystem und seine Finanzämter verwünscht oder möglichst unterhaltsam über neue Phasen im ach so phasenreichen Leben mit Kindern gestöhnt wurde. Finden wir jetzt denn nur noch unter dem Gesetz der großen Zahl zusammen, die es nach Leibeskräften so lange wie möglich zu vertuschen und dann trotzig mit großem Tamtam zu feiern gilt?
Nicht mehr jung und noch nicht alt. Aber älter. Wie viel Angst hat schon die Grammatik vor dem Alter, wenn sie »alt« in der Steigerung das Gegenteil davon bedeuten lässt. Älter heißt jünger, noch nicht so richtig alt. Mittelalt eben, was nur beim Gouda Qualität verbürgt. Aber bei mir? Nicht Fisch und nicht Fleisch, geht mir durch den Kopf, und auf den Vorgebirgen des mittleren Alters hole ich tief Luft und mache mir Mut. Komplettgleichgültigkeit gegenüber dem Geburtsjahr des Gegenübers und lässiges Altern, das wäre doch die angemessene Haltung. Doch wie kommt man dahin? Eigentlich habe ich keine Lust, meinen neunundvierzigsten Geburtstag groß zu feiern. Vielleicht sollte ich es einfach sein lassen und alles absagen.
Ich hab’s. Die rettende Idee geht so: Die Party fällt aus. Nächstes Jahr kann ich ja feiern, dass ich fünfzig bin, und vorab nassforsch zum Sechzigsten einladen. Das könnte ein Spaß werden … Wenn ich das überzeugend rüberbringe und gestehe, in Wahrheit schon sechzig zu sein, wird’s Komplimente für mich wie rote Rosen regnen …
Diese Idee ist natürlich ausgesprochen albern, aber für den Moment habe ich Freude an diesem tollen Trick. Save the date, ich spare mir den Tag und nehme mir Zeit zum Älterwerden. Ein Jahr lang könnte ich mir genau ansehen, was da eigentlich passiert, und versuchen, dabei meine zwiespältigen Gefühle auf den Stand der Dinge zu bringen. Detailliert körperliche Veränderungen aufzeichnen (igitt! Nein, das mach ich nicht!) und versuchen, die damit einhergehenden Gedankengefühle und Gefühlsgedanken einzufangen und im Tagebuch festzuhalten. Vielleicht wachsen ja auch bei mir Geist und Seele in den alternden Körper hinein. Das wäre vielleicht eine Möglichkeit, nicht nur Opfer, sondern auch Nutznießer dieser Veränderung zu werden. Ich möchte immer noch gerne daran glauben, dass das Altwerden nicht nur zum Fürchten ist. Das kann man ja mal versuchen: Ein Protokoll in eigener Sache, so wie andere das getan haben, die eine krasse Diät machen, schwanger sind, mit dem Rauchen aufhören, den Fernseher verschenken, den Facebook-Account löschen, das Handy wegwerfen oder ausprobieren, wie sich ein Jahr Verzicht auf Plastiktüten, elektrischen Strom, Schminke, Karriere, Spiegel, Fleisch anfühlt. Oder eben Jugend.
»Verstehe«, lachte DHL, dieser wunderbare Mann, dem ich auch heute wieder ins Hotelzimmer folgen werde, sobald wir alles aufgegessen haben. Kann’s kaum erwarten, mein Stundenglück. Er ließ Messer und Gabel sinken und hob sein Glas. »Du willst also über das Jahr zwischen dem neunundvierzigsten und fünfzigsten Geburtstag schreiben. Super.« Er schwang mit kontrollierter Eleganz den Rotwein im Glas gegen den Uhrzeigersinn. Ich ahne die Charmebombe, als er mich nur mit den Augen umarmt und mir einen Schauer über die Haut jagt. »Auf dich und die zehn besten Jahre im Leben einer Frau!«
Das Wichtigste wird sein, nicht in die Falle zu gehen, der großen Verschwörung zu entkommen, mich den schmerzlindernden Beteuerungen und den freundlichen Lügen, auf die sowieso keiner reinfällt, zu entziehen. Nichts leugnen, nichts idealisieren, nichts schönfärben und nichts schlechtreden, einmal unhysterisch und so gelassen wie möglich meiner eigenen Vorstellung vom Älterwerden beim Wachsen zuschauen. Annehmen, Raum geben, loslassen – so habe ich das in den Ratschlägen aus einem buddhistischen Bildkalender mal gelesen. Einfach schauen, so klar wie möglich. Nicht durch die rosarote Brille, nicht durch die dunkle, sondern durch die mit der besten Sehschärfe.
Brille, verdammt, auch so ein Thema. Gerade habe ich mich mit der Lesebrille abgefunden, und schon wieder passieren komische Sachen. Die Preisschilder an Klamotten kann ich nicht mehr lesen. Was das Obst bei Aldi kostet, auch nicht. Stadtpläne schon lange nicht mehr. Aber ich finde es zu peinlich, die Lesebrille jetzt schon beim Shoppen rauszuholen. Schon mal gar nicht werde ich die Lesebrille vor dem Busen anketten oder als Münchner Haarspange tragen. Da frage ich lieber meine Kinder, was das tolle T-Shirt kostet, das sie mir da entgegenhalten. Wie lange wird das noch gut gehen?
Quatsch. Das kann man auch positiv sehen: Die nüchterne Sicht auf die Dinge ist doch wohl das größte Privileg des Alters. Erkennen, wie es ist, und sich nicht mehr groß darüber aufregen, dass es so ist, wie es ist. Der Sieg der Neugier über die Eitelkeit, wie der Optiker so falsch flötete, nur weil er mir eine Gleitsichtbrille andrehen wollte. Doch die Portion Einstimmung auf die neue Lebensphase ist mir zu groß. Noch reicht die Lesebrille für die klare Sicht!
Den Versuch ist’s allemal wert. Was verbergen die dunstigen Schlieren, die um diese Lebensphase wabern? Was kommt auf mich zu? Wie kann ich mich darauf vorbereiten? Gibt es wirklich Grund, die Unsichtbarkeit zu fürchten, wie mir die Stimme der Unke in meinem Kopf zuraunt, die mich neuerdings wieder öfter mit ihren hämischen Kommentaren nervt? Das geht schon länger so. »Im Leben einer Frau geht’s mit vierzig bergab, denk an meine Worte.« So beendete meine Mutter damals ihren Geburtstagsanruf. »Jetzt will dich doch sowieso keiner mehr. Jetzt bist du auf dich allein gestellt.« Fast zehn Jahre ist das her, und neuerdings quakt die Unke wieder öfter.
Du wirst schon sehen, mit fünfzig existierst du als Frau nicht mehr. Du wirst eine Silhouette. Du wirst nicht mehr angeschaut.
Das wollen wir doch erst mal sehen, du blöde Unke.
Nachtrag. Unsichtbarkeit, die: Kleine Kinder stellen diesen Zustand her, indem sie beide Augenlider fest aufeinanderpressen und manchmal sogar noch beide Hände über die Augen legen. Diese erstaunliche Fähigkeit, sich unsichtbar zu machen, geht beim Heranwachsen verloren.
Heute habe ich zum ersten Mal in meinem Leben einen Orthopäden aufgesucht. Dabei fehlt mir gar nichts, also fast nichts. Gut, eigentlich schmerzt meine Schulter seit Wochen. Aber das ist nichts, was sich mit ein bisschen Bewegung nicht wieder ins Lot bringen ließe, habe ich meiner Nachbarin versichert, die mich dabei überrascht hat, als ich im Treppenhaus die Taschen abstellte, um leise fluchend meine brennende Schulter zu kneten. »Könnte auch Arthrose sein!«, sagte sie und zog die Augenbrauen hoch. »Nicht doch, das liegt an der ewigen Schreibtischhockerei«, wehrte ich ab, und sie zuckte nur mit den Schultern, raunte vielsagend: »Na, in unserem Alter!« Dann zog sie mit ihrer Mülltüte, in der wie immer Flaschen schepperten, von dannen. »Ich geh dann mal die Marmeladengläser zum Container bringen«, rief sie von unten.
Später wurde mir dann doch mulmig, und bevor ich mich beim Googeln selbst in den Wahnsinn treibe, weil Arthrose etwas Altersbedingtes, Superschmerzhaftes ist, gegen das es kein Heilmittel gibt, habe ich dann doch lieber einen Termin beim Orthopäden vereinbart. Nur eine Verschreibung wollte ich ergattern, um in den Genuss einer lindernden Nackenmassage aus den begnadeten Händen des unfassbar gut aussehenden und sehr jungen und wirklich heißen Physiotherapeuten zu kommen, von dem etliche meiner Freundinnen derzeit schwärmen. Und mein Nacken schmerzte wirklich höllisch …
Also wirklich, meine Liebe, hast du’s jetzt schon so nötig? Egal, wie gut der Kerl aussieht. Du könntest glatt seine Mutter sein!
Halt die Klappe, Unke, hätte ich beinahe laut gesagt. Doch ich saß dem Orthopäden schon gegenüber. Er warf einen flüchtigen Blick auf meinen ausgefüllten Patientenbogen und lachte kurz auf. »Na, bei unseren Namen weiß man ja auch sofort, wie alt wir sind, oder?« Ich war sprachlos und habe ihn nur angestarrt. Vergnügt hackte er mit dem Zeigefinger auf das Blatt Papier, das auf dem Schreibtisch zwischen uns lag. Er weidete sich kurz an meiner Verblüffung und sagte dann freundlich, während er sich etwas nach vorne beugte: »Kleiner Scherz. Mein Name ist Rüdiger, Rüdiger Brandt. So heißt heute doch kein Mensch mehr unter vierzig.« Rüdiger. O je! Wie Schuppen fiel’s mir von den Augen. Monika, Beate, Christiane, Gerlinde, Uwe, Klaus, Volker, Peter, Andrea, Angelika, Antje, Petra, Erika, Sabine, Susanne, Stefan, Thomas, Michael, Matthias … In Windeseile ging ich die Vornamen meiner Freunde und Bekannten durch. »Jaha«, kicherte Herr Dr. Rüdiger, »das sind wir, die geburtenstarken Jahrgänge aus den Sechzigern!« Er warf die Hände in die Luft. »Wir sind viele, so viele wie nie zuvor in der Geschichte!«
Dann untersuchte er meine Schulter, verdrehte meine Arme und tastete in meinem Nacken herum. Ob die Schmerzen unter Belastung zu- oder abnehmen würden, wollte er wissen, und noch während ich darüber nachdachte, welche Antwort mich schneller in die begnadeten Hände dieses Physiokings bringen würde, erklärte er: »Für Osteoporose sind Sie nämlich noch ein bisschen zu jung! Das sind nur Verspannungen oder Verschleißerscheinungen«, murmelte er zufrieden. »Aber ich verschreibe Ihnen jetzt sechs Einheiten manuelle Therapie, am besten mit Fango vorher. Das wird Ihre Blockaden lösen.«
Als ich die Praxistür hinter mir schloss, dachte ich darüber nach, dass Fango sehr nach Rentnerbehandlung, Wassergymnastik und Kurschatten klingt, und dann fiel mir ein, dass der Physiotherapeut Jonas heißt.
Bücher sind auch nicht immer nur hilfreich. Sogar große Literatur hat kleine Schwachstellen. Selbst die klugen Schriftstellerinnen haben sich einreden lassen, dass für eine Frau mit der Hälfte des Lebens das ganze Leben beendet sei. Simone de Beauvoir hat mit fünfzig Jahren der Zukunft die Tür gewiesen und dramatische Sätze geschrieben: »Nie wieder werde ich, trunken vor Erschöpfung, im duftenden Heu zusammensinken … Nie wieder ein Mann … Es ist seltsam, kein Körper mehr zu sein. Es gibt Augenblicke, da lässt diese Absonderlichkeit mich innerlich erstarren, sie hat so etwas Endgültiges …«
»Und? Was sagst du jetzt? Ist doch kein Wunder, dass ich mich vor dem Fünfzigsten fürchte.« Kaum hatte ich diese Sätze laut vorgelesen, das Buch zugeknallt und auf den Tisch geworfen, fing meine Freundin Christiane an zu lachen. »Nu mach mal halblang. Mit deiner Pollenallergie konntest du doch noch nie trunkene Erschöpfung im Heu feiern.«
Ich schwieg ein bisschen beleidigt, während sie sich mit dem Korken der Sektflasche abmühte. »Kein Körper mehr, so ein Quatsch! Wie würdest du das Ding nennen, womit du deinen Kopf an den Schreibtisch trägst oder was du viel zu selten auf den Crosstrainer hievst?« Sie sah mich übertrieben mitleidig aus großen, braunen Augen an. »Oh, warte mal. Du hast recht, im Fitnessstudio hast du echt keinen Körper mehr. Da tauchst du nur noch als Karteileiche auf.« Sie funkelte angriffslustig mit den Augen.
»Nicht witzig!«, versuchte ich streng zu wirken. Wir wetteifern noch immer um den Pokal, lieber einen Freund zu verlieren als eine Pointe. Heute ging er leider an sie.
Ungerührt betrachtete sie mich wie etwas, das sechs Beine hat und morgens durch die Butter kriecht. »Schon gut. Ich war ja auch schon länger nicht mehr. Aber sag mal, was ist denn los mit dir? Hat DHL, der Geheimnisvolle, schon nach vier Wochen Schluss gemacht? Wegen einer Älteren etwa?« Sie kicherte. »Tolle Drehbuchidee, das merk ich mir. Hat man noch nie gesehen.«
Nein, DHL hat nicht Schluss gemacht, aber er wird es vielleicht noch tun, wenn ich weiter so rasant vor mich hin welke. »Ja, geht’s noch?«, schnaubte sie. Wenn der wirklich so alt ist wie du, sieht er auch nicht mehr so gut! Hat er eigentlich eine Brille? Sorg einfach dafür, dass er sie abnimmt.« Christiane gab sich wirklich alle Mühe, mein Faltengejammer auf hohem literarischem Niveau, wie sie das nannte, einfach wegzuscheuchen. Auch meinen Entschluss, den letzten Geburtstag mit einer Vier davor in Schweigen zu hüllen und zu übergehen, hatte sie nicht gelten lassen und war am Abend überraschend mit einer gut gekühlten Flasche Sekt aufgetaucht, um, wie sie leichthin sagte, meine aufkeimende Altersdepression im perlenden Glas zu ersticken. Dass ich nicht die Spur davon hätte, sondern einfach nur ein bisschen nachdenken wollte und außerdem gerne beim Nachdenken allein sei, quittierte sie mit einem entschlossenen Kopfschütteln. »Gut, wie du willst. Dann sind wir eben zusammen allein«, sagte sie, stellte die Flasche auf den Tisch, setzte sich und schaute mich herausfordernd an. »Gläser? Sag mal, ich habe manchmal schon überlegt, ob es DHL eigentlich wirklich gibt. Es könnte doch sein, dass du ihn erfunden hast, um nicht mehr als Single bedauert zu werden. Oder damit dich niemand mehr nach deinem Sexleben fragt, jetzt, wo du bald fünfzig wirst. Ich meine, keine von deinen Freundinnen kennt ihn. Du redest kaum von ihm. Erzähl doch mal! Was ist DHL eigentlich für ein Name? So was wie DSK, also Dominique Strauß-Kahn? Aber DHL? Kommt auf Bestellung?« Sie kicherte vor sich hin.
Während ich brav die Gläser auf den Tisch stellte, versuchte ich abzulenken und auf meine Sorgen zurückzukommen. »Netter Versuch. Du hast gut reden. Du hast noch vier Jahre bis zum Fünfzigsten, ich dagegen nur noch …«
»Vier Minuten!«, rief sie entzückt und goss die Gläser randvoll. »Schau mal, keine Angst vor der Fünfzig! Neunundvierzig ist doch viel fieser als Fünfzig. Neunundvierzig nimmt man im Drehbuch gerne für eine ganz und gar uninteressante Frau!«
Treffer, versenkt. Ich zuckte zusammen, und gleich darauf lachten wir uns beide schlapp. »Was soll ich dir wünschen? Alles Liebe zum Geburtstag! Hoch sollst du leben! Und stell mir DHL endlich mal vor!«, prustete sie und nahm mich in die Arme. Ich hab’s versprochen, aber mit gekreuzten Fingern. Beim Abschied fing sie wieder an zu bohren, und mit dem Rückenwind von zwei Flaschen Sekt bin ich schwach geworden. Aber ich habe mein Geständnis kurz gehalten.
»DHL gibt’s wirklich, und zwar schon seit vielen Jahren. Ein Mann, vielleicht der Mann, aber nicht mein Mann. Verheiratet, aber nicht mit mir. Und deshalb ist er DHL: Der Heimliche Liebhaber. Und weil er glaubt, der Teufel sei ein Eichhörnchen, darf uns nie jemand zusammen sehen.«
Christiane pfiff anerkennend durch die Zähne. »Und das machst du mit? Donnerwetter! Aber immer schön über die Beziehungskisten der Paarhufer ätzen, du Supersingle!«
Ich habe ihr nicht widersprochen, weil ich ihn plötzlich wieder so deutlich vor Augen hatte, dass mir ein bisschen schwindelig wurde. Vor ein paar Tagen, als er leise pfeifend die Spuren der letzten zwei Stunden von Haut und Haaren duschte. Die langen, feingliedrigen Finger versprachen zarteste Berührungen, seine breiten Schultern, gestählten Oberarme, der kühne Schwung eines trainierten Hinterteils, das auf einen männlich zupackenden Stil schließen ließ, seine strahlenden Augen, die von einer unwiderstehlichen Begeisterungsfähigkeit kündeten – lauter Details, die hervorragenden Sex versprachen. Er hat sie alle eingelöst. Dieser Mann ist nicht auf der Suche nach einer Frau, die Verantwortung für sein emotionales Wohlergehen übernimmt, das sagte mir schon sein unbeeindruckter, verwegener Blick, mit dem er mich musterte, als wir uns in seiner Kanzlei kennenlernten. »Garantieren kann ich für nichts«, sagte dieser Anwalt, den ich damals auf der Suche nach rechtlichem Beistand aufgesucht hatte. Dabei tauchte das Senkblei seines tiefblauen Blicks in meine Augen. »Die Erfolgschancen stehen fifty-fifty«, erklärte er leise und setzte, heiser plötzlich, hinzu: »Aber bisher habe ich all diese Angelegenheiten gewonnen.« Augenblicklich schoss mir die Glut in den Bauch, und ich dachte nur: Ich will diesen Mann. Ich will eine Affäre mit ihm. Schön im handelsüblichen Sinne war er nicht, aber ungeheuer magnetisch. So klar und wach im Kopf wie an diesem Tag war ich schon lange nicht mehr. Und ich bin dabei gleich vor mir selbst erschrocken. »Bist du eigentlich völlig irre?«, fragte ich mich und malte mir augenblicklich all die lächerlichen Klischees aus, die ich bedienen würde, wenn ich das wirklich täte: das von der smart gelangweilten Tussi Ende dreißig, die plötzlich in Torschlusspanik gerät. Das ist jetzt zehn Jahre her, und er weiß immer noch ganz genau, was er will. Hoffentlich noch sehr lange mit mir.
Gleich darauf schlüpfte er wieder in seinen Anzug und kehrte in sein anderes Leben zurück. Ich schaute ihm bei der Verwandlung vom wilden Kerl zum glatten Rechtsanwalt zu, tat dann genau dasselbe und kaufte auf dem Weg nach Hause noch einen Laib Brot fürs Abendessen mit meiner Familie. Den Ort des ungeheuerlichen Geschehens verließen wir wie immer heimlich und nacheinander.