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Immer schon waren die Sprache der Moral und die Emotionen, die sie zu wecken vermag, ein Mittel der Politik. Gegenwärtig greifen Moralisierung und Emotionalisierung in Politik und Gesellschaft jedoch in einem für die Demokratie bedenklichen Ausmaß um sich – auch in den Kirchen. Wie es die Aufgabe der Ethik ist, vor zu viel Moral zu warnen, so ist es die Aufgabe der Theologie, die Unterscheidung zwischen Religion und Moral bewusst zu machen – in der Sprache der reformatorischen Tradition: die Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium. Sie ist das Herzstück theologischer Vernunft und fördert die politische Vernunft. Nur wenn beide in ein konstruktives Verhältnis gesetzt werden, lässt sich der Tyrannei des moralischen Imperativs in Politik und Kirche Einhalt gebieten. Der moralische Imperativ hat Hochkonjunktur. "Empört euch!", "Entrüstet euch!", "Entängstigt euch!" ... Sich aus hochmoralischen Gründen empören oder entrüsten zu dürfen, verschafft ein gutes Gefühl, enthält doch der moralische Imperativ die frohe Botschaft: Wir sind die Guten! Wer dagegen wie Max Weber für die Unterscheidung – nicht Trennung! – von Politik und Moral plädiert und Politik als nüchternes Handwerk, als beharrliches Bohren dicker Bretter versteht, hat in der moralisch aufgeladenen Gegenwartsstimmung einen schweren Stand. Ulrich H. J. Körtner plädiert ganz entschieden dafür, theologische und politische Vernunft wieder in ein konstruktives Verhältnis zu setzen.
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Seitenzahl: 179
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ULRICH H. J. KÖRTNER
FÜR DIE VERNUNFT
Wider Moralisierung und Emotionalisierung in Politik und Kirche
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© 2017 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig
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Cover: FRUEHBEETGRAFIK · Thomas Puschmann · Leipzig
Satz: makena plangrafik, Leipzig
ISBN 978-3-374-05000-0
www.eva-leipzig.de
Immer schon waren die Sprache der Moral und die Emotionen, die sie zu wecken vermag, ein Mittel der Politik. Gegenwärtig greifen Moralisierung und Emotionalisierung in Politik und Gesellschaft jedoch in einem für die moderne Demokratie bedenklichen Ausmaß um sich. Der moralische Imperativ hat Hochkonjunktur, auch auf dem Buchmarkt. »Empört euch!«, »Entrüstet euch!«, »Entängstigt euch!« Solche Buchtitel finden reißenden Absatz. Es lebe der moralische Imperativ! Sich aus hochmoralischen Gründen empören oder entrüsten zu dürfen, verschafft ein gutes Gefühl, enthält doch der moralische Imperativ die frohe Botschaft: Wir sind die Guten! Wer dagegen wie Max Weber für die Unterscheidung – nicht Trennung! – von Politik und Moral plädiert und Politik als nüchternes Handwerk, als beharrliches Bohren dicker Bretter versteht, hat in der moralisch aufgeladenen Gegenwartsstimmung einen schweren Stand.
Auch in den Kirchen lässt sich das Phänomen der Moralisierung beobachten. Vielerorts verbreitet ist die These, das Christentum sei in der Moderne in sein ethisches Zeitalter eingetreten. Die Umformung dogmatischer Gehalte in eine Ethikotheologie begünstigt die Gleichsetzung von Religion und Moral beziehungsweise die Reduktion des neutestamentlichen Evangeliums auf moralische Handlungsanweisungen, die in erhöhtem Ton vorgetragen werden.
Wie es die Aufgabe der Ethik ist, vor zu viel Moral und ihren Ambivalenzen zu warnen, so ist es die Aufgabe der Theologie, die Unterscheidung zwischen Religion und Moral in Gesellschaft, Politik und Kirche bewusst zu machen – in der Sprache der reformatorischen Tradition: die Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium. Diese Unterscheidung ist das Herzstück der theologischen Vernunft und fördert die politische Vernunft. Ohne theologische und politische Vernunft ineinanderfallen zu lassen, sind doch beide in ein konstruktives Verhältnis zu setzen, um der Tyrannei des moralischen Imperativs in Politik und Kirche Einhalt zu gebieten.
Györgyi Empacher-Mili, Mag. Ulrike Swoboda, Mag. Marcus Hütter und Severin Jungwirth waren mir bei den Korrekturen behilflich. Dafür sei ihnen herzlich gedankt. Dr.Annette Weidhas danke ich für die intensiven Gespräche, die den Anstoß zu diesem Buch gegeben haben, und auch für die kritische Begleitung der Niederschrift.
Wien, im Februar 2017
Ulrich H. J. Körtner
Cover
Titel
Impressum
Vorwort
Willkommen im postfaktischen Zeitalter!
Moral und Hypermoral
Politik der Gefühle
Re-Theologisierung der Politik
Verlust der Zukunft
Politische Vernunft
Theologische Vernunft
Öffentliche Theologie
Gesinnung und Verantwortung
Für Recht und Frieden sorgen
Die Welt verschonen
Zurück in die Zukunft
Anmerkungen
Weitere Bücher
Die politische Vernunft ist in Gefahr. Was heute als postfaktische Politik beschrieben und diskutiert wird, läuft auf die Paradoxie einer entpolitisierten Politik hinaus, in der nicht mehr die Kraft des Argumentes zählt, sondern die Macht von Emotionen und Effekten. Immer schon haben Gefühle in der Politik eine wichtige Rolle gespielt. Ohne die Kunst der Beredsamkeit, die das Argument mit Emotionen zu verbinden weiß, ist eine politische Debattenkultur nicht vorstellbar. Das lehren schon die Klassiker der Rhetorik, Gorgias, Aristoteles und natürlich vor allem Cicero. Allerdings bestand immer schon ein Unterschied zwischen Überzeugungsrede und Überredungskunst, die sich der Mittel der Verführung und der Lüge bedient. Auch über diesen Unterschied und den bisweilen schmalen Grat zwischen Überzeugen und Überreden belehren uns die Klassiker, allen voran die platonischen Dialoge, die uns Sokrates in der Auseinandersetzung mit den Sophisten zeigen. Postfaktische Politik aber bestreitet in Theorie und Praxis genau diesen Unterschied und ebnet ihn planvoll ein. Sie ist also im Grunde gar kein neuartiges Phänomen, sondern begegnet uns schon in der Antike.
Postfaktische Politik führt zur »Niederlage des Denkens« (Alain Finkielkraut) und gefährdet mit der Vernunft die Humanität in Politik und Gesellschaft. Politische Vernunft hält es hingegen für möglich und notwendig, zwischen Wahrheit und Lüge, Fakten und Deutungen zu unterscheiden, so schwierig diese Unterscheidung im Einzelfall auch zu treffen sein mag. Sie ist nicht nur davon überzeugt, dass die Wahrheit den Menschen zumutbar ist (Ingeborg Bachmann), sondern auch davon, dass man ihr im Bereich des Politischen verpflichtet sein kann, statt wie der Realpolitiker Pontius Pilatus achselzuckend zu fragen: »Was ist Wahrheit?« (Johannes 18,38) oder es mit dem antiken Schriftsteller Aulus Gellius zu halten, der erklärt, die Wahrheit sei eine Tochter der Zeit.
Das ist freilich ein mehrdeutiger Satz. Manche verstehen ihn so, als sei damit gemeint, dass das, was heute als unumstößliche Wahrheit gilt, sich schon morgen als Irrtum herausstellen kann. Bei wissenschaftlicher Wahrheit im modernen Sinne handelt es sich um Hypothesen, die immer unter dem Vorbehalt stehen, in der Zukunft falsifiziert zu werden, wobei freilich die Unterscheidung zwischen Verifikation und Falsifikation hinfällig würde, wenn man die Unterscheidung zwischen wahr und falsch grundsätzlich in Abrede stellen wollte. Auch die Geisteswissenschaften und die moderne Hermeneutik – also die Lehre vom Verstehen und Interpretieren – lassen sich von der Einsicht leiten, dass jede Erkenntnis kontextabhängig und geschichtlich relativ ist. Dass alle Wahrheitserkenntnis geschichtlich und somit vorläufig ist, wie Hans-Georg Gadamer in seinem Hauptwerk »Wahrheit und Methode« ausführt, bedeutet freilich nicht, die Idee der Wahrheit und die Suche nach ihr überhaupt aufzugeben. Eine skeptisch-relativistische Lesart, wie sie dem postmodernen Denken und den Grundideen des radikalen Konstruktivismus entspricht, meint hingegen, es sei am besten, auf die Rede von der Wahrheit ganz zu verzichten. Doch die These, es gebe keine Wahrheit, sondern bestenfalls Wahrheiten im Sinne von praxistauglichen Überzeugungen, deren Gültigkeit immer auf die Überzeugungsgemeinschaften, deren Mitglieder sie teilen, beschränkt bleibt, ist freilich selbstwidersprüchlich, weil sie ihrerseits beansprucht, wahr zu sein. Aulus Gellus oder Francis Bacon, der dessen Diktum aufgegriffen hat, wollten hingegen etwas ganz anderes sagen, nämlich dass sich die Wahrheit im Laufe der Zeit mehr und mehr durchsetzen wird. Bei Gallus hat der Ausspruch außerdem eine moralische Note. Gemeint ist, dass es sich nicht lohnt, schlecht zu handeln, weil die Schlechtigkeit der eigenen Taten früher oder später ans Licht kommen wird.
Postfaktisch agierende Politiker glauben hingegen, mit ihren Lügen, Verleumdungen und Verdrehungen der Tatsachen ungestraft davonzukommen. Der mahnende Hinweis auf das biblische Gebot: »Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten« prallt an ihnen ab. Von schlechtem Gewissen keine Spur. Es geht ihnen nicht einmal mehr darum, ihre offenkundigen Lügen zu verschleiern, und auch diejenigen, die ihnen applaudieren und ihre Stimme geben, wissen – wie etwa im Fall von Donald Trump – durchaus, dass es ihre Polithelden mit der Wahrheit nicht so genau nehmen. Sie sind nicht etwa nur die Opfer politischer Verführungskünste, sondern ein aktiver Teil des Geschehens, das zum Niedergang der politischen Vernunft führt. Sie lassen sich durch »Faktenchecks«, wie man das heute nennt, nicht beirren, weil sie die süße Lüge der bitteren Wahrheit vorziehen (Alard von Kittlitz) und die Nase voll haben von allen Fakten und allem Expertenwissen. Sie wählen die populistischen Lügner, weil sie auf demokratischem Weg das demokratische System liberaler Prägung selbst abwählen wollen und ihre sozialen Abstiegsängste durch autoritäre Führerpersonen gebannt wissen wollen, die wie Viktor Orbán und seine Fidesz-Partei in Ungarn für das Modell einer autoritären »Demokratie« nach dem Vorbild von Putins Russland oder Chinas werben und sich offen gegen die »westliche« Tradition einer liberalen Demokratie und ihre Werte stellen. Putins Staatsapparat betreibt wie in den Tagen des KGB eine gezielte Desinformationspolitik und nutzt das Internet als Waffe.
Der Grundsatz, man dürfe sich in der Politik nicht beim Lügen erwischen lassen, hat unter Populisten und ihren Anhängern ausgedient. Wer beim Lügen ertappt wird, ist erst recht erfolgreich, wenn er die Flucht nach vorn antritt und den lügenden Kreter gibt: »Ich lüge immer!« Das Paradox des lügenden Kreters, der die Wahrheit sagt, wenn er lügt, und lügt, wenn er die Wahrheit sagt, charakterisiert den Umgang postfaktischer Politiker und ihrer Wählerschaft mit der Wahrheit. Die als »Lügenpresse« diffamierten Medien dringen nicht durch und bringen die Filterblasen derer, die das Recht auf die eigene Meinung mit dem Recht auf eigene Fakten verwechseln (Sascha Lobo), nicht zum Platzen. Der »Lügenpresse« wird nämlich zum Vorwurf gemacht, einfach die Unwahrheit zu verbreiten, also zu lügen, ohne es zuzugeben. Sie ist damit dem lügenden Kreter moralisch unterlegen, der gerade in der Lüge der Wahrheitsliebe verpflichtet ist. Die den postfaktischen Politikern widersprechenden Realitäten aber werden – frei nach Hegel – mit dem vernichtenden Urteil zum Schweigen gebracht: »Um so schlimmer für die Wirklichkeit!« Vielleicht sollte man überhaupt besser von einem kontrafaktischen als einem postfaktischen Politikverständnis sprechen.
Was politisch zählt, sind nicht Fakten, sondern was die Bürger empfinden. Und ihre Empfindungen scheren sich nicht darum, ob sie der Überprüfung der Faktenlage standhalten oder nicht. Mehr noch: Die Grenze zwischen Fakten und Gefühlen wird derart verwischt, dass nun auch Emotionen als Fakten gelten, denen Politiker Rechnung zu tragen haben, wollen sie nicht von denen hinweggefegt werden, die sich für »das Volk« halten oder zu wissen vorgeben, was »das Volk« will und fühlt. Mit der Feststellung konfrontiert, dass 98 Prozent der Migranten in Deutschland gesetzestreu sind und nur ein kleiner Teil kriminell wird, konterte der AfD-Kandidat Georg Pazderski Anfang September 2016 im Berliner Wahlkampf: »Das, was man fühlt, ist auch Realität.«
Fakten wiederum werden zur reinen Ansichtssache erklärt. Mögen zum Beispiel auch 99 Prozent der Klimaforscher der Ansicht sein, die Erderwärmung sei zu einem erheblichen Teil auf den Menschen zurückzuführen, werden ihre Argumente, die sie für diese Annahme ins Feld führen, als interessengesteuerte Fehlinformationen abgetan. Allüberall blühen Verschwörungstheorien, und jeder Versuch, ihre Haltlosigkeit nachzuweisen, wird von ihren Anhängern nur als weiterer Beweis für die Richtigkeit ihrer Verschwörungstheorien gewertet.
So entsteht die paradoxe Situation, dass das vermeintliche Ende aller Fakten und Wahrheiten selbst neue Fakten schafft. Bestes Beispiel dafür ist der »Brexit«. Kaum hatten die Agitatoren, die für den Ausstieg Großbritanniens aus der EU getrommelt hatten, die Volksabstimmung gewonnen – womit wohl nicht einmal sie selbst gerechnet hatten –, erklärte Nigel Farage, es sei wohl ein Fehler gewesen zu behaupten, durch den Brexit ließen sich Millionen einsparen, die dann ins marode öffentliche Gesundheitswesen fließen könnten. Glaubt einer seiner Anhänger im Ernst, dass ihm dieser »Fehler« erst nach Schließung der Wahllokale aufgefallen ist? Doch ficht das keinen der Brexit-Befürworter an. Bezeichnenderweise hat Oxford Dictionaries, ein Department der Universität Oxford und Abteilung von Oxford University Press, im November 2016 »post thruth« – das englische Wort für »postfaktisch« – zum Wort des Jahres gekürt. »Postfaktisch« schaffte es einen Monat später zum Wort des Jahres in Deutschland. Oder sollte auch das bloß ein Gerücht gewesen sein?
Das deutsche »postfaktisch« stammt übrigens nicht aus der Politik-, sondern aus der Literaturwissenschaft. Man spricht z.B. von postfaktischer Holocaust-Literatur und meint damit (auto)biographische Darstellungen, die in größerem zeitlichen Abstand zu den Geschehnissen verfasst worden sind und sich weiter von den Fakten entfernen als Darstellungen, die unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geschrieben wurden.1
Den Begriff der »Post-Thruth Era« hat der Soziologe und Schriftsteller Ralph Keyes bereits 2004 in die Debatte eingeführt.2 Damals ging es um die Frage, wer für die Lügen verantwortlich war, mit denen die Regierung unter George W. Bush den Irakkrieg und den Sturz Saddam Husseins begründet hatten. Laut Oxford Dictionary tauchte der Begriff »Post-Thruth World« aber bereits 1992 in einem Artikel des Dramatikers Steve Tesich auf, der sich mit der Iran-Contra-Affaire und dem Golfkrieg 1990/91 beschäftigte. Tesich erklärte nicht etwa das amerikanische Volk zum Opfer politischer Intrigen, sondern machte es selbst für das Spiel mit der Lüge als Mittel der Politik verantwortlich, als er schrieb: »We, as a free people, have freely decided that we want to live in some post-truth world.«3
Täuschen und Tarnen als Mittel der hybriden Kriegsführung, von der man seit dem Ausbruch des Ukraine-Konflikts und der russischen Annexion der Krim spricht, sind letztlich nicht neu. Mittel des konventionellen Krieges werden mit Elementen der verdeckten Kriegsführung, des Einsatzes von Spezialkräften und der Desinformationspolitik verknüpft. Kriege werden nicht mehr förmlich erklärt; und wer gegen wen auf welcher Seite kämpft, lässt sich für Beobachter schwer ermitteln. Auch der Syrienkonflikt, bei dem es sich nicht um einen reinen Bürgerkrieg handelt, sondern in dem auch mehrere sich überlagernde Stellvertreterkriege geführt werden, ist ein weiteres Beispiel. Nicht nur die Interpretation der Fakten, sondern schon ihre Erhebung wird beinahe ein Ding der Unmöglichkeit, wenn neutralen Beobachtern systematisch der Zugang zu den Kampfgebieten verwehrt wird. Ähnlich mühsam hat sich die Erhebung der Faktenlage im Fall der iranischen Urananreicherungsanlagen gezeigt, weil die Kontrolleure der Internationalen Atomaufsichtsbehörde nicht ungehindert Zutritt zu den umstrittenen Anlagen erhielten. Bis heute ist das 2015 abgeschlossene internationale Atomabkommen mit dem Iran politisch umstritten. Israel, das sich durch mögliche iranische Atomwaffen bedroht fühlt, und seine Unterstützer bestreiten weiterhin, dass der Iran alle relevanten Fakten auf den Tisch gelegt hat.
Klassische Wahrheitstheorien gehen von dem Grundsatz des ausgeschlossenen Dritten aus, wonach etwas nicht gleichzeitig der Fall und nicht der Fall sein kann. Etwas ist somit entweder wahr oder falsch. Bereits Aristoteles hat dagegen eingewendet, dass Aussagen über die Zukunft nicht in diesem Sinne den Regeln der zweistelligen Logik unterworfen sind. Ob – so sein Beispiel – morgen eine Seeschlacht stattfinden wird oder nicht, können nicht einmal die mit Sicherheit sagen, welche die Schlacht für den kommenden Tag planen. Im Fall der Aussage: »Der gegenwärtige König von Frankreich hat eine Glatze« ist nicht nur dieser Satz, sondern auch sein Gegenteil falsch, weil die Monarchie in Frankreich längst abgeschafft worden ist.
Noch komplizierter liegen die Dinge im Bereich der Fuzzylogik. Damit ist jener Bereich der Logik gemeint, der sich mit dem Gebrauch von unscharfen (»fuzzy«) Wörtern wie »ein wenig«, »sehr«, »stark« oder »schwach« beschäftigt. Wo vage Aussagen gemacht werden, lässt sich schwerlich messerscharf zwischen wahr und falsch unterscheiden. Ab wieviel Grad Celsius ist es zum Beispiel »sehr warm«? Und wie lässt sich beweisen oder widerlegen, dass es mir sehr warm oder kalt ist? Wie lässt sich objektiv entscheiden, ob es in Deutschland zu viele Flüchtlinge gibt? Hängt das von der Zahl der freistehenden Wohnungen ab, von der Zahl der offenen Arbeitsstellen, von einem bestimmten Prozentsatz an Migranten in einem bestimmten Wohngebiet? Wer kann beweisen, ob die Bürger in einer Stadt sehr sicher leben? Entscheidet sich das anhand der Zahl der gemeldeten Einbrüche und Diebstähle? Deutet eine gestiegene Zahl an angezeigten Gewaltdelikten auf einen Anstieg der Gewalt hin oder auf eine größere Bereitschaft, gegen solche vorzugehen? Was sagt die Zahl an aufgeklärten Verbrechen über die tatsächliche Sicherheitslage aus? Schließlich lässt sich über Dunkelziffern trefflich spekulieren und streiten. »Im Dunkeln ist halt gut Munkeln«. Und wie weit ist das Sicherheitsgefühl der Bürger ein Faktum, um die Sicherheitslage einer Region objektiv einzuschätzen? Populismus und postfaktische Politik sind für die Fuzzylogik ein reiches Betätigungsfeld.
Postfaktischer Politikstil lässt sich aber nicht nur bei einer Partei wie der AfD und nationalistischen Populisten vom Schlage eines Viktor Orbán oder eines Donald Trump beobachten. »Postfaktisch« war zum Beispiel die Art und Weise, wie Regierung, Wirtschaft und Medien in den Anfangsmonaten die ungeregelte Masseneinwanderung schönredeten, die für Wirtschaft und Gesellschaft angeblich von größtem Nutzen sei, während bestehende oder sich abzeichnende Probleme bei der Integration kleingeredet oder schlichtweg geleugnet wurden.
Ebenfalls »postfaktisch« war – um ein Beispiel aus der Zeit vor der Flüchtlingskrise in Erinnerung zu rufen – die sogenannte Wulff-Affäre. Selbst Qualitätsmedien haben sich anfangs an der Skandalisierungsorgie rund um die angebliche Vorteilsnahme des Bundespräsidenten Christian Wulff beteiligt, der im Februar 2012 von seinem Amt zurücktrat, und auch die Ermittlungsbehörden missachteten das Gebot der Verhältnismäßigkeit. Sein Ruf wurde schwer beschädigt, er selbst aber am Ende von allen Anschuldigungen freigesprochen. Das siebente Gebot: »Du sollst nicht falsch Zeugnis reden«, das nach Luthers Auslegung nicht nur die Lüge verbietet, sondern auch von uns fordert, den Nächsten nicht zu verraten, zu verleumden oder seinen Ruf zu verderben, sondern ihn, wo es möglich ist, zu entschuldigen, Gutes von ihm zu reden und alles zum besten zu wenden, wurde in dieser Medienhatz mit Füßen getreten.
Populismus, der dem Volk nicht aufs Maul schaut, sondern nach dem Munde redet, gedeiht auf dem politisch rechten wie auf dem linken Flügel. Die komplizierte Welt der globalisierten Ökonomie lässt man sich lieber von Thomas Piketty oder Yanis Varoufakis als von seriösen Ökonomen erklären. Dass Piketty bei seinen historischen Analysen, mit denen er beweisen will, dass der Kapitalismus im 21. Jahrhundert zu steigender Vermögenskonzentration führt, die wiederum die Wirtschaft stagnieren lasse und dadurch die Demokratie bedrohe, vielfach falsch liegt,4 interessiert seine Anhänger nicht. Dass seine Thesen nicht nur bei Globalisierungskritikern an den politischen Rändern verfangen, sondern in der Mitte der Politik angekommen sind, beweist das Beispiel des deutschen Wirtschaftsministers Sigmar Gabriel. Ihn interessiere nicht so sehr, ob Pikettys Zahlen stimmen, sondern die politische Botschaft, dass eine neue Politik der staatlichen Umverteilung angesagt ist, meinte er nach einem Treffen mit dem französischen Ökonomen.
Ein anderes Beispiel: Hartnäckig hält sich unter Globalisierungskritikern die Legende, die Stiftung des Nobelpreises für Wirtschaftswissenschaften durch die schwedische Reichsbank im Jahr 1968 habe einzig und allein dem Ziel gedient, eine neoliberale Ökonomie zu fördern. Historisch entbehrt diese Behauptung jeder Grundlage, wie die Historiker Avner Offer und Gabriel Söderberg in ihrem Buch »The Nobel Factor« zeigen.5 Zwar begann zur gleichen Zeit, als der neue Nobelpreis gestiftet wurde, der Aufstieg des neuen Marktliberalismus. Tatsächlich wurden in den ersten Jahren aber Ökonomen ausgezeichnet, die einen keynesianischen Standpunkt vertraten. Korrelation und Kausalität müssen also auch in diesem Fall, wie so oft, auseinandergehalten werden.
Die Versuchung zum Populismus aus vermeintlich guter Absicht zeigt sich auch im Bereich der Armutsbekämpfung. Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, präsentierte 2015 seinen Armutsbericht mit der alarmistischen Botschaft, die Armut in Deutschland sei sprunghaft angestiegen, und warnte einmal mehr vor dem drohenden Untergang des Sozialstaates. Der Geschäftsführer der Caritas Deutschland Georg Cremer hielt dagegen, dass man zwischen Armutsrisiko und tatsächlicher Armut unterscheiden müsse und dass steigende Zahlen von Sozialleistungsempfängern eher auf eine Stärkung als eine Schwächung des Sozialstaates hinweisen.6 Doch solche differenzierten Betrachtungen lassen sich nicht so leicht in griffige politische Parolen zuspitzen. Mit alarmistischer Armutspolemik ist freilich keinem Menschen wirklich geholfen.
In ihrer Globalisierungskritik treffen sich linke und rechte Postfaktiker. Es soll gar nicht bestritten werden, dass die Globalisierung nicht nur Gewinner, sondern auch Verlierer kennt. Diese haben etwa in Gestalt weißer Arbeiter im »Rust Belt« und im Mittleren Westen der USA den Ausgang der Präsidentschaftswahlen bestimmt. Generell aber profitieren gerade die ärmeren Länder von der Globalisierung und vom Freihandel. Weltweit hat die Armut nicht etwa zu-, sondern abgenommen. Doch im Protest gegen Freihandelsabkommen wie TTIP oder CETA sind sich linke und rechte Populisten einig, wobei sie auch noch von kirchlichen Gruppen und Repräsentanten Unterstützung finden. Politiker in Regierungsverantwortung reagieren auf diesen Protest mit einer Taktik des Lavierens, die den kursierenden Verschwörungstheorien nicht etwa den Wind aus den Segeln nehmen, sondern nur neue Nahrung geben.
Dass das Phänomen postfaktischer Politik nicht gänzlich neu ist, zeigt ein Zitat von Hannah Arendt aus ihrer Studie über »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft«. Dort steht zu lesen: »Die Mentalität moderner Massen vor ihrer Erfassung in totalitären Organisationen ist nur zu verstehen, wenn man die Durchschlagskraft dieser Art Propaganda voll in Rechnung stellt. Sie beruht darauf, daß Massen an die Realität der sichtbaren Welt nicht glauben, sich auf eigene, kontrollierbare Erfahrung nie verlassen, ihren fünf Sinnen misstrauen und darum eine Einbildungskraft entwickeln, die durch jegliches in Bewegung gesetzt werden kann, was scheinbar universelle Bedeutung hat und in sich konsequent ist. Massen werden so wenig durch Tatsachen überzeugt, daß selbst erlogene Tatsachen keinen Eindruck auf sie machen.«7
Was also heißt hier eigentlich »Post Truth Era«? Wann, möchte man fragen, hat denn die Menschheit je in einem Zeitalter der Wahrheit oder einer Epoche der faktenbasierten Politik gelebt? Pressezensur war und ist in vielen Staaten der Welt ein Mittel der Politik, heute auch die Zensur des Internets in Staaten wie China, Nordkorea oder der Türkei. Im real existierenden, »wissenschaftlichen« Sozialismus galt nur das als unbestreitbare Tatsache, was der Ideologie des dialektischen Materialismus in den Kram passte. Dass das Zentralorgan der KPdSU »Prawda – Wahrheit« hieß, kam einer Verhöhnung derselben gleich. Noch heute erscheint das Blatt, nunmehr als Sprachrohr der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation. Die Linke im Westen verklärte nicht nur den Stalinismus, sondern redet sich auch die Verhältnisse im poststalinistischen Sowjet-Kommunismus schön und ebenso die Greueltaten der maoistischen Kulturrevolution. Aber auch der stramme Antikommunismus neigte zu einer selektiven Wahrnehmung von Fakten. Die McCarthy-Ära zu Beginn des Kalten Krieges war von antikommunistischen Verschwörungstheorien geprägt, die Zeit der RAF in Deutschland und der Roten Brigaden in Italien von teils hysterischen Reaktionen auf alles, was irgendwie als links galt.
Im Grunde kreisen auch die verzweigten wissenssoziologischen und politischen Diskurse über den Begriff der Ideologie von Beginn an um die Frage, ob es denn überhaupt so etwas wie eine objektive Faktenlage gibt. Die Debatte reicht von Marx über die Frankfurter Schule, den kritischen Rationalismus bis zu Jean-François Lyotards Behauptung, wir lebten inzwischen in einem postideologischen Zeitalter, und der Gegenthese Slavoj Žižeks, der Glaube, wir lebten ohne Ideologien, sei in Wahrheit der Nährboden für eine neue Form der Ideologie.
Vor neue Herausforderungen stellen uns das Internet und die sozialen Netzwerke mit ihren Filterblasen. Über die Folgen des Netzes schreibt Sascha Lobo: »Strukturell betrachtet hat die vernetzte Öffentlichkeit in der Jetzt-Form kein Gedächtnis, sondern lässt sich von emotionalen Sofortreaktionen leiten. Damit fehlt der Abgleich mit Fakten oder früheren Äußerungen.«8 Wie Lenz Jacobsen ergänzt, haben wir uns außerdem so »daran gewöhnt, fertiges Wissen aus dem Netz einfach herunterzuladen (Wikipedia!), dass wir verlernen, die Aussagen auf Plausibilität zu prüfen. So gerät die zweite Säule ins Wanken: Die Praxis der Vernunft.«9